Tourentyp | |
Lat | |
Lon | |
Mitreisende | |
Land: Großbritannien
Reisezeit: Mai/Juni 2010
Region/Kontinent: Nordeuropa
Von Pitlochry nach Faraid Head
Teil I
Nachdem ich 2009 den Cape Wrath Trail ohne bleibende Schäden vollendet hatte, reifte in langen Winternächten der Gedanke, so etwas ähnliches ganz auf eigene Faust zu unternehmen – ohne vorgekaute Route, nur gestützt auf Landkarten sowie die in "Scottish Hill Tracks" aufgeführten öffentlichen Fußwege. Dabei wollte ich quasi im Vorübergehen auch noch einige Wege laufen, die sich meinem Zugriff bisher entzogen hatten. Grob betrachtet schwebte mir eine Route vom nördlichen Ende der Lowlands bis ans nordwestliche Ende der Highlands vor. "Völlig illusorisch", sagte ich mir immer wieder, denn allein beim Berechnen der Luftlinie kam ich immer wieder auf mehr als 200 Kilometer – am Boden also praktisch nicht weniger als 400 Kilometer. Für die maximal zur Verfügung stehenden knapp drei Wochen arg viel, wenn man noch die unentbehrlichen Ruhe- und Fresstage einkalkuliert. Die Erfahrung von 2009 und 2010 hatte mich gelehrt, dass es unmöglich ist, meinen täglichen Kalorienbedarf von 4000 bis 5000 Kalorien an den Wandertagen allein zu decken. Dennoch ließ mich der Gedanke an die neue "Nordwestpassage" nicht los. Als günstiger Ausgangspunkt kristallisierte sich Pitlochry heraus, weitere Dreh- und Angelpunkte als potenzielle Ruhetagsorte waren Fort Augustus und Ullapool.

Aber bis zum Tag vor meinem Abflug war ich mir nicht sicher, ob ich das Projekt überhaupt in Angriff nehmen sollte. Die günstige Wettervorhersage für die Grampians gab schließlich den Ausschlag, zumindest den Anfang zu machen. Der historische "Minigaig"-Pass nach Kingussie stand schon ewig auf meiner To-Do-Liste. Nach dem Einkauf von Lebensmitteln und Gas in Glasgow schwang ich mich also in den Zug nach Pitlochry.
Aus dem Zug heraus organisierte ich mir noch ein Bettchen im Backpackers-Hostel in der Ortsmitte. Als ich am späten Samstagnachmittag ankam, lag Pitlochry nach der Abfahrt der letzten Touri-Busse bereits im Dämmerschlaf. Gut, dass ich die Futterfrage bereits in Glasgow geklärt hatte! Nach einem nicht besonders erquicklichen Fish&Chips-Abendessen sondierte ich bei einem abendlichen Spaziergang noch den Tour-Einstieg am kommenden Tag: Die Landranger-Karten von Ordnance Survey stoßen bei hoher landschaftlicher Ereignisdichte wie am Pass of Killiecrankie maßstabsbedingt an ihre Grenzen. Aber wozu gibt es Aushänge mit detaillierten Wanderwegedarstellungen? Zum Abfotografieren natürlich.

Still ruht der Stausee...
30. Mai
Gemütlich brach ich am Sonntag auf. Die erste Etappe bis zur Alter-Scheich-Bothy* hatte ich mit reichlich 20 km kalkuliert. Zuerst stand der Pass of Killiecrankie auf dem Plan. Hier war ich schon 2002 eine Tagestour gemacht, allerdings im Dauerregen. Geradezu idyllisch war es diesmal – sieht von den Midges ab, die es sehr begrüßten, dass ich im T-Shirt unterwegs war.
*) Nach bewährtem Usus sehe ich davon ab, die Bothies (unbewirtschaftete Berghütten) mit ihrem Klarnamen zu nennen. Wer meinen Weg auf den handelsüblichen Landkarten verfolgt, wird sie aber zweifelsfrei an der Beschriftung erkennen können.
Der Pass of Killiecrankie ist streng genommen gar kein "Pass" im Sinne einer Wasserscheide, sondern eine Schlucht. Hier drängeln sich die A9-Schnellstraße, die "alte" A9", die Bahnlinie Perth-Inverness, diverse Fußwege und der Fluss Garry durch ein enges V-förmiges Tal, das – für schottische Verhältnisse ungewöhnlich genug – auch noch rundum bewaldet ist.

Bekannt ist der Pass of Killiecrankie vor allem durch den "Soldier's leap": Hier soll ein englischer Soldat des Königs 1689 in einem waghalsigen Sprung von 18 Fuß über den Garry hinweg den ihn verfolgenden Schotten entkommen sein. Glauben muss man das nicht, aber für die Einrichtung eines Besucherzentrums hat es gereicht. Und dass sich gleich daneben ein Imbiss angesiedelt hat, fand ich auch nicht schlecht. So musste schon um elf Uhr ein Stück Schokoladentorte sein Leben im Kampf gegen potenziellen Underfill lassen.
Hic Soldier's leap, hic salta!

Schnell hatte ich denn Pass hinter mir und die Mühen der Ebene vor mir. Auf einer sehr ruhigen Landstraße – mir begegneten auf drei Kilometern nur zwei Autos – und danach einem Wirtschaftsweg ging es fast geradlinig nach Blair Atholl. Mein stets auf Unfug sinnendes Hirn nutzte die Unterbeschäftigung, grub eine Melodie aus und fing an zu dichten:
"Ich trage eine Schrankwand
und diese Schrankwand ist grün.
Es ist die Pfad-Finder-Schrankwand
voll Kram bis zu ihrem Rand.
Die Schrankwand ist niemals nur halbvoll
denn dann wär' sie keine Schrankwand
So trag ich sie über die Berge
Nur das Nötigste für den Tag."
(Sage mir, von welchem Lied die Melodie ist, und ich sage Dir, wie alt Du mindestens bist und in welchem Teil Deutschlands Du aufgewachsen bist
)
In Blair Atholl fanden im Park des Gutsherren gerade mit viel Getöse Highland Games statt. An denen wollte ich mich nicht beteiligen. Aber für das weitere Schrankwand-Stemmen musste ich mich erst einmal stärken. In der Bar des Hotels am Bahnhof genehmigte ich mir einen "Pheasant Burger", also Fasan. Zwar bin ich alles andere als ein Feinschmecker, aber dieses Urteil traue ich mir doch zu: Die Originalität der Fleischherkunft spiegelte sich nicht in der Originalität des Geschmacks wider. Es hätte auch ein normaler Kuh-Burger sein können. Vielleicht ist das Braten von Hackfleisch aber auch einfach nicht geeignete Methode, um Geschmacksunterschiede herauszuarbeiten? Unvergessen bis heute ist mir hingegen der mit einer Scheibe Schafskäse veredelte Hamburger im Cluanie Inn 2008. Der schmeckte wirklich erfrischend anders.
In der besten Mittagshitze machte ich mich wieder auf den Weg. Da mich am Eingang zum Gutspark, durch den eigentlich der kürzeste Weg geführt hätte, eine schwer interpretierbare Eintrittsgeldordnung überraschte, entschied ich mich für die Umgehung über Old Bridge of Tilt. Die Alte Brücke sieht aber nur von oben oldschoolmäßig aus, tatsächlich ist es eine schnöde Betonbrücke. Allerdings ist sie von allen Seiten so zugewachsen oder zugemauert, dass der Normalnutzer den Betrug nicht merkt. Nur wenige sind so bekloppt wie ich und hängen sich über die schulterhohe Steinbrüstung hinaus, um nachzugucken, ob es eine Wade-, eine Caulfield- oder eine Telford-Brücke ist...
Über Weiden und durch eine Birkenallee – ja, so etwas gibt es in Alt-Kaledonien – und einen geradezu mitteleuropäischen Laubwald ging es stetig bergauf. Plötzlich hörte der Wald auf. 
Von einem Moment auf den anderen fand ich mich in der klassischen Heidelandschaft der Highlands wieder. Sowohl verwaltungstechnisch wie auch orographisch war das natürlich Unfug, denn dafür fehlten noch gut und gerne 15 Kilometer. Aber das Gefühl konnte mir niemand nehmen. Dazu trugen auch die Hirsche bei, die mich von einem nahen Hügel misstrauisch beobachteten. Oder doch der einsame Radfahrer, der seinen Hund ausführte? Ich schätze die Länge seiner "Gassirunde" auf mindestens 15 km. Und das auf Schotterwegen... beeindruckend. 
Nach gut 25 Kilometern überquerte ich den letzten Buckel vor der Bothy. Das tief eingeschnittene Tal des Allt Scheichean war klar zu erkennen – aber wo war die Bothy? Hoffentlich doch nicht abgebrannt? Erst 200 Meter vor dem Bach tauchte ein Schornstein über dem Heidekraut auf. Das Dach folgte. Mir fiel ein Stein vom Herzen: Die Bothy lag unmittelbar am Flussbett und war deshalb so schwer zu sehen. Vielleicht hatte sie deswegen auch so wenig Besucher? Zwischen den Einträgen im Bothy-Buch lagen fast immer mehrere Tage. Dafür war sie picobello sauber – jedenfalls für Bothy-Maßstäbe. Nach dem Abendessen setzte ich mich noch vor die Tür und genoss einen kühlen, aber fast midgefreien Abend beim Kartenstudium.

Leicht entsetzt stellte ich fest, dass ich am nächsten Tag bis Kingussie 27 Kilometer Luftlinie vor mir hatte. Nach meiner Faustformel bedeutete das rund 40 km Weg. Nachmessen auf der Karte mit dem vorhandenen Präzisionsgerät – eine Zeigefingerbreite für einen Kilometer Track, eine Kleine-Finger-Breite für einen Kilometer Pfad – ergab dann aber nur 33 km. In zehn bis elf Stunden sollte das bequem zu schaffen sein.
Nach Sonnenuntergang versuchte ich mich noch mit wechselndem Erfolg an Aufnahmen des Sternenhimmels. Bald kroch ich in meinen Apatschen und ließ mich von Amy MacDonalds Album "This is the Life" in den Schlaf singen.
Technische Daten: 26,2 km in 8:27h
31. Mai
Als ich am nächsten Morgen aufstand, war es draußen schon wärmer als in der Bothy. Dort hatten sich 9 Grad gehalten, während vor der Tür die Sonne ungehindert von Wolken für 12 Grad gesorgt hatte. Das erste Wegstück bis zur Bruar Lodge waren Gamaschen angesagt, denn anders als am Tag vorher war wurde der Weg jetzt zum Pfad.
Am See kurz hinter Bruar Lodge wurde ich von einem sturzbombenden kleinen braunen Vogel attackiert. Der hatte wohl Angst um sein Nest und flog jetzt einen Scheinangriff nach dem anderen auf mich: Flatternd und schimpfend kam er auf meinen Kopf zugeflogen, um kurz vor dem Zusammenstoß nach oben zu ziehen. Das hatte ich zwar schon einige Mal erlebt, aber noch nie in derartig militanter Form.
Wenige Kilometer später stand ich vor einer steilen Wand, an der sich unverkennbar ein Pfad in Zickzackkurven hochschraubte: Hier begann der Minigaig-Pass nun ernsthaft. Bis zur Passhöhe lagen noch 400 Höhenmeter und reichlich vier Kilometer vor mir. Hier wünschte ich mir etwas mehr Wolken. Aber immerhin hatte ich nach den ersten 200 Höhenmetern die Hochebene erreicht, wo wieder ein frischer Wind wehte. Die Sicht an diesem Tag war phänomenal: Von Westen grüßten die Mamores und Ben Nevis. Rechts vor mir lagen die schneebedeckten Gipfel der Cairngorms. Ja, schneebedeckt: Nicht nur hatte es einen außergewöhnlich schneereichen und kalten Winter gegeben, sondern es hatte auch bis Ende Mai in den Hochlagen immer wieder frisch geschneit. Bis auf 700 Meter herunter lagen größere Schneefelder. Selbst die Skilifts in den Cairngorms waren teilweise noch in Betrieb. In normalen Jahren kann man von Glück sprechen, wenn man in Lagen unter 1000 Metern überhaupt noch Schneefitzel findet. Die Passhöhe beehrte ich mit einer längeren Pause, bevor ich zum Allt Bhran abstieg.
Dort hat das Wasser den Pfad – der eigentlich durchgehend am Nordufer verlaufen sollte – immer wieder weggespült, so dass ich häufiger zwischen den Flussseiten hin- und herwechselte. Irgendwann passierte das, was nach acht Jahren unfallfreiem Flussqueren fällig war: Der vermeintliche Trittstein entpuppte sich als Kippstein. Wie in einem falschen Fim sah ich mich einem halbseitigen Wasserbad entgegenfallen. Das kalte Wasser beendete dann aber die Filmvorstellung. Ich berappelte mich und krabbelte ans Ufer. Personenschaden gab es bis auf eine leichte Abschürfung am Ellbogen nicht. Auch die Kamera war trockengeblieben. Die Schrankwand vermeldete einen kleinen Wassereinbruch am Bodenfach – undramatisch, da dort sowieso nur das Schlechtwetterequipment untergebracht war. Kritischster Schaden schien mir das Wasser im rechten Stiefel zu sein. Gut, nasse Hose und Unterhose waren sicherlich auch nicht ohne, aber nicht kritisch. Ich schleppte mich etwa 200 Meter bis zu einem halbwegs bequemen Findling und begann mit der Trockenlegung. Die beiden nassen Hosen und die Socken fixierte ich außen an der Schrankwand. Als bekennender UH-Tourist hatte ich noch eine kurze UL-Sporthose dabei, die jetzt zum Einsatz kam. Das T-Shirt war quasi schon wieder trocken (Dank an Berghaus-Tech-T!). Blieb der Stiefel. Auch hier fand sich die Lösung im meinem UH-Fundus: Für genau solche Fälle hatte ich Sealskinz-Socken dabei. Nach einer halben Stunde ging es weiter.
Befreit von ihrem schweren Lose/trocknet hier im Wind die Unterhose
Bald erreichte ich das erste Wehr am Allt Bhran/Allt Coire nan Dearcag. Beim Versuch, schon aus größerer Entfernung schon eine geeignete Stelle zur Querung auszumachen, stellte ich dann fest, dass es doch einen größeren Wasserschaden gegeben hatte: "Steiner, das Eiserne Fernglas" war mit gerade soviel Wasser vollgelaufen, dass jetzt alle Linsen beschlagen waren. Mist...
Technischer Hinweis: Die Staumauer wird nicht durch eine Fußgängerbrücke ergänzt und ist zudem oben abgerundet, also praktisch unbegehbar. Allerdings verschwindet bei normalem Wetter der gesamte Abfluss in einer Rohrleitung, so dass man das Flussbett unterhalb der Staumauer trockenen Fußes durchqueren kann.
Wenig amüsiert stellte ich fest, dass an der Einmündung des Weges von der Gaick Lodge bereits eine Asphaltstraße begann. Die Karte hatte eine Schotterstraße suggeriert. Andererseits: Bei Gehen auf Asphalt kann man unbesorgt in der Landschaft umherschauen. Mir kam der von Werner Hohn geprägte Begriff der "Fußreise" in den Kopf. Da höchstens alle halbe Stunde ein Auto vorbeikam, war es ein ziemlich entspanntes Fußreisen.
An der Glentromie Lodge war die Fußreise zu Ende und der schottische Ernst des Lebens begann wieder. Der Pfad nach Kingussie führt keineswegs direkt an der Lodge vorbei, sondern am Zaun dahinter. Um dorthin zu gelangen, muss man unmittelbar hinter der Brücke über den Tromie River durch ein Loch im Zaun steigen. Wer die etwas missverständlichen Hinweispfeile nicht richtig deutet oder übersieht, wird von der Zerberine im Pförtnerhaus unmissverständlich darauf hingewiesen. Der Pfad durch den Wald ist mit Pfählen markiert. Für soviel Service hat es immerhin gereicht.
Vorsicht, im Wald hinter der Glentromie Lodge lauert der Rindenwahnsinn!
Schon nach wenigen Meter wurde mir klar, dass es jetzt wieder Zeit für die lange Hose war. Die Idee, das Umziehen bis zum Erreichen des Kamms zu verschieben, war dumm, wie die Einschläge und Schleifspuren auf meinen Unterschenkeln belegten. Wenigstens konnte ich bei der unverzüglich durchgeführten Fleischbeschau keinen Zeckenbefall feststellen.
Die Annäherung an die Ruinen der Ruthven Barracks, die sich ebenso unerwartet wie majestätisch über die Spey-Ebene erheben, gilt als normalerweise als spektakuläres Erlebnis. Eine Ausnahme ist, wie ich jetzt erfahren durfte, die Annäherung über die Anhöhe von Westen. Allerdings ist das der Weg, den die englischen Truppen von General Wade & Co. genommen haben, wenn sie nach Norden gingen.

Ruthven Barracks bei der Annäherung von Südwesten
Schon lange vor der Ankunft in Kingussie war mir klar, dass unter anderem mein gewässertes Fernglas nach einer Übernachtung unter einem festen Dach mit einer leistungsfähigen Heizung verlangte. Ich widersprach ihm nicht, zumal die geradezu bilderbuchartige Wolkenfolge von Cirrus zu Cumulus während des Tages viel Regen in der Nacht erwarten ließen. Nach meiner Erinnerung hatte ich nur die Wahl zwischen dem "Duke of Gordon" - vier Sterne – und dem Hostel vom Tipsy Laird. Der hatte keine Sterne, sondern ähnelte eher - um beim astronomischen Bild zu bleiben – einem Schwarzen Loch. Umso erleichterter war ich, gegenüber vom Duke of Gordon das "Hotel Osprey" zu entdecken, das für 35 Pfund inkl. Frühstück ein sehr ordentliches Preis-Leistungsverhältnis bot. Bis zum Morgen hatte ich alle noch feuchte Ausrüstung getrocknet. Sogar aus aus dem Fernglas war das Wasser verschwunden – nicht ohne allerdings eine kräftigen Grauschimmer auf den Linsen zu hinterlassen. Nicht alle Wasser der Highlands kommen aus der Destillerie.
Technische Daten: 35,6 km 11:10h
1. Juni
In der Nacht hatte es kräftig geregnet, und auch am Morgen nieselte es noch mit wechselnder Intensität. Beim Frühstück saß ich einem amerikanischen Pärchen aus Deutschland gegenüber – er war Biologe bei der US-Armee in Wiesbaden und betreute in dieser Funktion diverse Truppenübungsplätze. Außerdem waren beide Hobby-Ornithologen. Auf die Insel waren sie wegen des Vogelreichtums gekommen. Ein Hotel mit dem Namen Osprey ("Seeadler") war sicherlich ein guter Anfang.
Für mich begann der Tag mit der Suche nach Plan B. Plan A, die Durchquerung der teilweise pfadlosen Monadliath Mountains, erschien mir angesichts einer Wolkenuntergrenze von 600 m weder sinnvoll noch attraktiv. Ich musste allerdings irgendwie bei Fort Augustus herauskommen, denn im dortigen Postamt warteten die Karten für die nächsten Etappen auf mich. Die Topographie des Geländes ließ nicht viel Alternativen zu, und so landete ich wieder einmal in den Fußstapfen von General Wade: Der Military Road durch Upper Glen Spey und über den Corrieyairack-Pass.
Eine Abweichung erlaubte ich mir aber doch: Von Newtonmore bis Cluny Castle folgte ich Glen Banchor, also durch das Hinterland von Newtonmore. Dieser Weg zeichnete durch jene Perfidität aus, die viele Schottisch-Anfänger in den Wahnsinn treibt: Er beginnt als Asphaltstraße und geht in eine Schotterpiste über. Nach einer Weile verschwindet der Schotter und schließlich überhaupt jeglicher nachvollziehbarer Pfad. Was aber die Touristeninformation in Laggan Bridge nicht daran hindert, mit einem dicken bunten Strich auf der Aushangkarte so etwas wie einen markierten Wanderweg zu suggerieren. Scottish Hill Tracks war da ehrlicher und nannte die "pathless boggy section in the middle" beim Namen. Navigatorisch ist es Kinderkram – einfach dem Fluss folgen – aber mancher Anfänger wird wohl viel Zeit bei der Suche nach dem vermeintlich verlorenen Pfad vertrödeln.

Glen Banchor: Der harte Winter 2009/2010 hat dem so landestypischen Ginster übel zugesetzt.
Bei Cluny Castle hatte mich die Landstraße wieder. Nach vier Kilometern bog die Hauptstraße in Laggan Bridge nach Osten in Richtung Spean Bridge ab. Im letzten Shop vor Fort Augustus ließ ich es noch einmal richtig krachen: Ein Magnum Mandel, eine Cola, ein Kitkat Chunky. Vor mir lagen 17,4 km Asphaltreise, wie mir mein TAND verriet – nicht 15 km, wie Scottish Hill Tracks behauptete. Diese Ungenauigkeit hatte mir im Oktober 2009 einen deutlichen Tadel eines Mitreisenden eingebracht. 

Garva Bridge, ein Entwurf von Thomas Telford.
Aber wie schon damals besserte sich das Wetter im Upper Glen Spey schnell. Nur die Monadliath Mountains zu meiner Rechten hüllten sich ab 700 Meter weiterhin in Wolken. Die Richtigkeit meiner Entscheidung vom Morgen war am späten Nachmittag immer noch nicht widerlegt worden. Die Zeit verbrachte ich unter anderem damit, nach potenziellen Stellplätzen für Hogan (meine Silnylon-Schildkröte) Ausschau zu halten. Erstaunlicherweise entdeckte ich an den meisten schönen Stellen auch gleich ein Schild "No Camping".
17,4 km später hatte ich Upper Glen Spey nun auch aus der anderen Richtung gesehen. Ein drittes Mal brauche ich das nicht... da gäbe es entweder Daumenreise oder Taxi. Die Mehlgraben-Bothy begrüßte ich wie eine alte Bekannte, was sie ja auch war, mit dem Unterschied, dass ich diesmal auch dort übernachten würde. Fragen hinsichtlich der schottischen Landessitten warf jedoch folgender Hinweis auf: "No matter how lonely you feel – keep the sheep out." Nur weil der Kondomautomat fehlte oder wie jetzt?

Die Mehlgraben-Bothy am Fuß des Corrieyairack-Passes.
Technische Daten: 39,7 km in 10:26h
2. Juni
Als ich am Morgen aus dem Fenster blickte, war mir schon klar, dass es wie schon im Juni 2009 nichts mit großartigen Aussichten vom Corrieyairack-Pass werden würde. Eine geschlossene Wolkendecke hing über den Bergen, und im Westen waren die typischen Grauschleier von Nieselregen zu erkennen. Ich tröstete mich damit, dass bisher noch niemand den Pass für Openstreetmap kartiert hatte. Auch der Aufstieg durch den L-förmigen Talkessel ließ es trotz Schotterpiste an landschaftlicher Dramatik nicht vermissen. Störend mögen allein die Hochspannungsmasten wirken. Auch die britische Elektrizitätswirtschaft hat den Corrieyairack als beste natürliche Trasse entdeckt. Mein Auge gewöhnte sich schnell daran und blendete die Masten aus, der Fotoapparat zeigte sich weniger intelligent.
An der alten Funkstation auf dem Sattel legte ich traditionsgemäß meine Mittagspause ein, bis mich der inzwischen angekommene Nieselregen vertrieb. Die nun folgende Schotterstraße versäumte keine Gelegenheit, mich daran zu erinnern, dass ich sie schon beim ersten Mal als langweilig empfunden hatte. Um eine ausreichende landschaftliche Ereignisdichte zu erreichen, wäre ein Mountainbike sicherlich das Mittel der Wahl. Einziges Highlight war die "Schwarzbrenn"-Bothy, die ich 2009 übersehen hatte. Was nicht verwunderlich ist, liegt sie doch verborgen in einem Einschnitt abseits des Weges. Sie ist die bisher kleinste Bothy, die ich gesehen habe, noch kleiner als Sourlies. Aber dafür picobello in Schuss. Das Wasser im Bach davor sieht allerdings eher eklig aus.

Blick auf Loch Ness.
Als ich schließlich um 16 Uhr in Fort Augustus ankam, war das Postamt schon seit drei Stunden geschlossen. Na klar, es war Mittwoch. Bewohnern der ehemaligen britischen Besatzungszone wird der Usus kleinerer Geschäfte, am Mittwochnachmittag geschlossen zu bleiben, bekannt vorkommen. Dafür herrschte an der Schleusentreppe Hochbetrieb:

Für meinen Fress- und Ruhetag besorgte ich mir ein Bettchen in Fort William - gerade noch rechtzeitig, denn am Wochenende fanden dort Mountainbike-Weltmeisterschaften statt, und die ersten Teams waren schon zum Training eingetroffen.
Technische Daten: 22,8 km in 6:46h
3. Juni
Den Donnerstag vertrödelte ich in Fort William nach allen Regeln der Kunst. Dafür war er wie geschaffen: Bei Temperaturen von über 20 Grad hätte ich am Wandern nicht viel Spaß gehabt. Auf dem Rasen vor dem Alexandria-Hotel ließ es sich aushalten – zumindest unter den Bäumen. Eine Frage, die mir dabei immer wieder in den Sinn kommt: Warum ist dieser Rasen sauberer als so mancher Teppich in deutschen Mittelklassehotels?
Technische Daten: 0 km und Aufnahme von rund 4500 kcal in 14 Stunden.
4. Juni
Am Freitagmorgen rief mich das Postamt in Fort Augustus. Nach dem Austausch von abgelegten Karten gegen die Karten bis Ullapool – meiner nächsten Ruhestation - machte ich mich auf den Weg. Bis auf einige Kilometer entlang von Glen Affric lag absolutes Neuland vor mir. Aus den Scottish Hill Tracks hatte ich mir eine Route zusammengestellt, die mich in vier bis fünf Tagen zur A835 bringen würde. Dort wollte ich mich vom Bus nach Ullapool aufsammeln lassen.
Der Tag begann mit einem strammen Aufstieg in den Inchnacardoch Forest nördlich von Fort Augustus. Der Wald dämpfte in erfreulicher Weise die Hitze, die sich auch an diesem Tag schnell breitmachte. Am Allt Phocaichain legte ich eine Pause ein. Das war fast schicksalhaft: Beim Versuch, Libellen zu fotografieren, entdeckte ich nämlich einen schüchternen Wegweiser der Scottish Rights of Way Society, der in Richtung einer bisher nicht kartographisch dokumentierten Schotterstraße zeigte. Der Weg passte aber grob zu meiner Richtung zur Torgyle Bridge. Sollte ich nun den gesicherten "historischen" Weg mit einem umständlichen Zick und Zack nehmen – oder sollte ich den neuen Weg riskieren? Ich entschloss mich, auf Risiko zu gehen. Und wurde belohnt: Die Schotterstraße war offensichtlich Zugangsweg zu den Hochspannungsmasten, und die führten fast genau zur Torgyle Bridge.


An der Brücke hatte ich eigentlich gehofft, mich an einem Imbiss belohnen zu können. Aber die A887 ist weniger befahren als manche Kreisstraße in Brandenburg. Schlechte Voraussetzungen für Gastronomie. Ein Cafe hätte es angeblich zwei Kilometer weiter in Dundreggan gegeben, aber da wollte ich schon längst den nächsten Hang in Angriff genommen haben.
Wieder landete ich auf einer Track, der der Hochspannungsleitung folgte. Reichlich zehn Kilometer ging es so über eine ereignisarme Hochfläche.
Aber dafür fand ich DEN RING.

(übrigens ohne je das Buch gelesen zu haben!)
Alles hat ein Ende, so auch die Hochfläche. Durch einen lauschigen Mischwald kontinentaleuropäischer Prägung, wenn auch mit schottischen Midges, ging es zunächst in Richtung Tomich.

"Hallo, ich hab' mich versteeeckt!"
Noch vor der Hilton Lodge bog ich wieder nach Westen ab. Mein Ziel war der Picknick-Parkplatz bei den Plodda Falls. Ich hoffte, dort einen bequemen Platz für Abendessen und Frühstück sowie eine nette Wiese für Hogan zu finden. Inzwischen war es 19 Uhr, der letzte Tagestourist sollte also verschwunden sein.
So einladend wie erhofft sah es am Picknick-Parkplatz aber nicht aus. Ich beschloss, weiter in Richtung Plodda Falls zu suchen und dabei gleichzeitig herauszufinden, ob der Pfad, auf dem ich morgen am anderen Flussufer meine Tour fortsetzen wollte, überhaupt noch existierte.

Blick auf die Plodda Falls von oben...
...und von der Seite:

Um nicht eventuell 100 Höhenmeter mit dem ganzen Gewicht umsonst runter- und wieder rauflaufen zu müssen, deponierte ich die Schrankwand am Wegesrand. Als ich den Talboden erreicht hatte, wusste ich drei Dinge: Erstens gab es hier fast bilderbuchmäßig unter uralten Fichten eine Picknick-Sitzgruppe mit Wiese für Hogan; zweitens war der angepeilte Pfad wie befürchtet arg mit Jungwald zugewachsen; und drittens gab es eine großartige Alternative querfeldein ein Stück flussabwärts. Dabei spielte mir in die Hände, dass das Wasser gerade einmal knöchelhoch stand. An diesem Abend schaffte ich es noch, ein UH-Abendessen mit 400 Gramm (Fertigmenge!) Kartoffelbrei als Vorspeise und einer Mountainhouse-Trekkingmahlzeit einzuwerfen.
Dann wurden die Midges penetrant und ich flüchtete hinter das Moskitonetz. Aus der Sicherheit meines Bunkers beobachtete ich staunend, wie es sich draußen verdunkelte. OT: Ich muss wohl nicht betonen, dass ich an diesem Abend besonders dankbar war, den leeren Zipbeutel meiner Trekkingmahlzeit mit nach drinnen genommen zu haben.
Technische Daten: 30,6 km in 10:08h
5. Juni
Der Tag startete mit dem schönsten denkbaren Frühstück: Ich saß im Halbschatten auf meiner Picknickbank, knabberte leckere McVities Digestives Plain Chocolate, trank einen sonst bei mir eher unüblichen Kaffee und schaute dem Bach beim fröhlichen Plätschern zu. Und obwohl es nicht windig oder kalt war, blieben die Midges in der Deckung. Ich hätte stundenlang sitzembleiben können, wenn die Füße nicht zum Aufbruch getrommelt hätten.
Nicht ohne Grund: Heute hatte ich ernsthaft Höhenmeter zu bewältigen. Doch zuerst musste ich über den Fluss zum Track auf der anderen Seite:
Die Schafe waren einigermaßen überrascht. Wahrscheinlich war ich der erste Wanderer seit langem, der diese Sackgasse entlangkam. Ob das hier schon "Easy sheep" sind? Wie ich bei meiner Zeitungslektüre entdeckte, hat ein findiger Züchter eine Rasse auf den Markt gebracht, die nicht mehr geschoren muss, sondern ihren Pelz regelmäßig selbst abwirft. Hintergrund: Der Markterlös für schottische Schafswolle liegt weit unter den Kosten für den gesamten Aufwand mit der Schafsschur - man tut es nur noch, damit die Schafe nicht unter dem Gewicht ihres Pelzes zusammenbrechen. Der Erlös für das Fleisch reicht, um die Wirtschaftlichkeit zu sichern. OT: Die Merinofreunde sollten mal in sich gehen, ob es nicht mal auch ein kratziger Pulli aus Wolle von Cheviot-Schafen sein darf. Oder wenigstens Unterwäsche

Dann musste ich über den ersten Bergrücken hinüber zum Glen Affric. Die Steigung schien nicht aufzuhören, dabei waren es nur 200 Meter. Zum Glück alles im Wald, denn die Sonne hatte die Lufttemperatur über dem offenen Land schon wieder auf 20 Grad hochgetrieben. Der erste Blick auf Glen Affric und die schneebedeckten Berge dahinter entschädigte dann aber für die Mühen.

Trotz des Störfaktors Straße im unteren Teil: Glen Affric ist schön. So schön, dass mich am Picknick-Parkplatz Dog Falls nach dem Mittagessen die Schwerkraft übermannte und ein Nickerchen erzwang. Hätten sich nicht ein paar Wolken vor die Sonne geschoben, wäre ich wohl nicht schon nach einer Dreiviertelstunde wieder aufgewacht.
Einen Pflichttermin als nebenberuflicher OSM-Kartograph hatte ich an der Staumauer von Loch Beinn a' Mheadhoin wahrzunehmen: Gab es hier eine Möglichkeit, ans andere Ufer zu gelangen und so viel Umweg zu sparen? Nein. Aber dafür wurde mir hier zum ersten Mal bewusst, in welchem Maße sich die James-Bond-Ausstatter der sechziger und siebziger Jahre von britischem Industriedesign hatten inspirieren lassen.

Frisch betankt - das Sanitärhäuschen an den Dog Falls verfügte über einen Trinkwasseranschluss - machte ich mich auf den Weg zum "großen" Pass: Zwischen Toll Creagach und dem namenlosen Gipfel 892m wollte ich mich nach Glen Cannich und der Staumauer von Loch Mullardoch hinüberwälzen. Laut Landranger-Karte sollte es sogar einen Pfad bis kurz unterhalb von Gipfel 892 geben. Er war unzweifelhaft da - nur nicht immer leicht zu finden.
Es war wohl ein alter Viehweg, seit mehr als 100 Jahren nicht mehr in voller Breite genutzt, dafür aber abschnittsweise weggespült oder ganz zugewachsen. Man muss schon in der Fluchtlinie stehen, um den Weg anhand der etwas abweichenden Vegetation zu erkennen. Zum Glück hatten meine "Vor-Gänger" an den Zickzackkurven kleine Steinmänner aufgebaut, die dann zumindest für den Blick seitwärts sensibilisierten. Bei 850 Metern hörten Vegetation und Pfad erwartungsgemäß auf. Die Karten von Ordnance Survey sind manchmal frappierend genau. Über kleinteiligen schieferartigen Schutt wanderte ich zum Gipfel, wo freundliche Hände einen kleinen Windschutz gebaut hatten. 
Aus dieser sicheren Deckung beobachtete ich nicht ganz amüsiert, wie sich um mich herum dunkle Wolken ballten, aus denen teilweise auch schon graue Gardinen fielen. Das ergab zwar schöne Lichteffekte, hielt mich aber endgültig davon ab, den Munro Toll Creagach mitzunehmen.


Stattdessen stolperte ich durch das weglose Gelände herab zum Loch Mullardoch. Der von Scottish Hilltracks versprochene "intermittent path" entlang des Allt Fraoch-choire stellte sich erst am Eingang zu einem kleinen Wäldchen ein. "Intermittent" heißt wohl: Es wurden hier schon mal Wanderer gesehen. Nur auf prominenten Aussichtspunkten waren manchmal verschiedene Fußabdrücke sichtbar. Sie verliefen sich aber binnen 15 Metern. Offenbar war ich nicht der einzige, der gehofft hatte, von höherer Warte endlich den versprochenen Pfad zu sichten. Mit gewisser Erleichterung entdeckte ich schließlich einen neuen Wildschutzzaun. Denn merke: Wo neuer Zaun, dort auch plattgefahrene Vegetation.
Inzwischen war es schon wieder 19 Uhr und damit Zeit, nach einem Stellplatz zu suchen. Im Waldbereich war es aussichtslos, also ließ ich "Steiner" das Ufer entlangschweifen. Eine kleine Halbinsel sah recht vielversprechend aus: Eine einigermaßen ebene Wiese von 50 mal 50 Meter Größe. Aus der Nähe stellte sich dann heraus, dass mehr als die Hälfte der Fläche Feuchtbiotop war und der Rest von Hirschen vermint. Die Minen waren aber zum Glück trocken und rollfähig, so dass ich mir eine kleine Fläche ausreichend säubern konnte. Für verbliebene Risiken gab es noch das Knisterfolie-Footprint.
Abendstimmung an Loch Mullardoch

Nicht berücksichtigt hatte ich, dass der Wind pünktlich um 20 Uhr seinen Dienst einstellte. Soll heißen: Die Midges machten sich auf die Suche nach Frischfleisch. An diesem Abend lernte ich einen weiteren Vorteil einer hohen 1,5-Personenhütte kennen: Man kann darin kochen (liebe Kinder, bitte nicht nachmachen!). Mit Spiritus hätte ich es nicht gemacht. Mit Gas erschien mir das Risiko maximal ein wirtschaftlicher Totalschaden von Hogan zu sein. Übrigens: Der Regen blieb aus.
Technische Daten: 26,7 km in 10:35
6. Juni
Am nächsten Morgen war es nieselnebelig und fast windstill. Die Midges fanden es toll, ich weniger. Beim Abbauen legte ich Vollschutz an: Fleecepulli, Hut mit Midgenetz, Handschuhe. 
Schnell erreichte ich die Zufahrtstraße zur Staumauer, wo ich dann auch die letzten Midges abschütteln konnte. Auch diese Staumauer erinnerte mich an eine James-Bond-Kulisse. Doch die schottische Realität der Gegenwart hatte mich bald wieder: Als ich an dem im Umbau befindlichen Mullardoch House vorbeikam, vernahm ich vom Dach vertraute Laute aus dem Berliner Hinterland. Ich grüßte die polnischen Bauarbeiter mit einem vermutlich hoffnungslos falsch ausgesprochenen "Czesc!", was diese begeistert erwiderten.

So etwas nennt wohl "Lebenswillen".
Gut vier Kilometer währte meine Fußreise auf der Nebenstraße. In der ganzen Zeit begegnete mir nur ein Auto. In Liatrie - was auf der Karte nach mehr aussieht als dem schmuddeligen Farmhaus der Realität - bog ich nach Norden ab, wie es Scottish Hill Tracks befohlen hatte. Der als Alternative angebotene Track weiter östlich war nicht erkennbar - vielleicht war ich aber auch nur zu faul, richtig zu suchen. Der Pfad war leider bald auch nicht mehr erkennbar, so dass ich entweder querbuschein gehen oder matschigen Hirschpfaden folgen musste.

Guckt nicht so blöd, helft mir lieber!
Der Kiefernwald hatte sicherlich seine Reize, aber hauptsächlich musste ich mich darauf konzentrieren, nicht von widerspenstigen Heidekraut-Schlingen zu Fall gebracht zu werden. Schließlich erblickte ich rechts von mir einen Wildschutzzaun mit einem Tor. Das sah ... sehr gut aus! Das Tor wurde offenbar regelmäßig von Argocats durchfahren, und der Argocat-Track - verfestigte Grassohle ohne Heidekraut - führte sogar in meine Richtung. So erreichte ich ohne größere Komplikationen den Pass, um dort in den Nebel zu gucken. Na prima.

So sieht übrigens ein Argocat aus. Es ist lauter als es schnell ist.
Der Abstieg war vergleichsweise komplikationslos, es gab am Ostufer des Allt Innis na Larach sogar eine Art Pfad, der nur an wenigen Stellen wegggespült war. Noch besser wäre es gewesen, wenn ich gewusst hätte, dass es einen nagelneuen Landrover-Track oberhalb des Westufers gibt.
Schließlich landete ich auf der Nebenstraße durch Strathfarrar zum Loch Monar. Meine Fußreise dorthin wurde durch eine Gruppe von Birdwatchern unterbrochen, die mit zwei Kleinbussen angereist waren, um eins von lediglich 20 Höckerschwan-Pärchen im ganzen Land nördlich der Grenze zu bewundern. Mit meinen getrübten Fernglas und nur 140 mm KB-Brennweite an der Kamera blieb mir das Sensationelle daran weitgehend vorenthalten. Aber es war eine nette Abwechslung und es tat auch gut, nach fast vier Tagen wieder etwas Konversation zu treiben. Ich hätte vorher nie gedacht, dass Einsamkeit mich langweilen könnte. Auf meinen bisherigen Touren hatte ich dank Hostels und Bothies spätestens nach zwei Tagen wieder Bodenkontakt gehabt.
Etwas getrübt wurde die Stimmung durch die Eintrübung des Wetters. Mein Glück der vergangenen Tage, als sich die Wolken entweder westlich oder östlich von mir ausregneten, hielt offenbar nicht ewig an. Den Aufstieg bis zur Staumauer von Loch Monar schaffte ich noch leichtbekleidet, dann wurde der Regen aber fies. Auf Weiterlaufen hatte ich eigentlich keine große Lust.
Sorgfältig inspizierte ich die James-Bond-Kulisse am Ufer auf ihre Eignung als Behelfsunterkunft; eindeutige Verbotsschilder und Glasscherben auf dem Boden ließen eine Nutzung aber nicht ratsam erscheinen. 
Auch die nächsten vier Kilometer gab es keine gute Aussichten: Ich liefe auf einer Privatstraße durch das gärtnerisch gepflegte Privatgrundstück der Monar Lodge, links ein steiler Hang zum See, rechts eine steile Wand. Ein ausgeklügeltes Fußgängerleitsystem aus Zäunen verhinderte auch die ersten zwei Kilometer hinter der Lodge, dass ich die Wiesen am Seeufer auf ihre Eignung als Stellplatz prüfen konnte. Erst kurz vor der Wegkreuzung, wo ich wieder in Richtung "Binnenland" abbiegen wollte, offenbarte sich ein Zugang zum Ufer. Ich ließ "Steiner" schweifen: Der niedrige Wasserstand hatte eine kieferbewachsene Insel zu einer Halbinsel gemacht. In Erinnerung an die legendäre Creaguaineach Lodge an Loch Treig buchte ich dies als eine Möglichkeit ab.
Aber auch einige flache Inseln hatten Landanschluss bekommen und ließen auf einen midgefreien, weil windigen Stellplatz hoffen. Bereits die erste erwies sich als Volltreffer: Zwar war die Wiese morastiger als ich erhofft hatte, aber dafür war das Ufer teilweise mit feinstem Schotter bedeckt. Dank Knisterfolie-Footprint hatte ich keine Sorgen, mir die Bodenwanne durch spitze Stein zu beschädigen, und planierte mir eine schöne ebene Fläche. Die wichtigsten Heringe beschwerte ich aber noch einmal sicherheitshalber mit größeren Steinen. Der erhoffte leichte Wind stellte sich ebenfalls ein, so dass ich unbehelligt draußen kochen konnte - der Regen war inzwischen weitergezogen. Im Nachhinein muss ich sagen, dass das Schotterbett der angenehmste Untergrund der ganzen Tour war: Mühelos konnte ich mir eine anatomisch angepasste Kuhle zurechtschieben.

Gerne ruhe ich mich auf viel Schotter aus.
Technische Daten: 22,8 km in 9:02 h
7. Juni
Am Morgen war der Wind weg, aber die Wolken noch da. Die Midges fanden es toll. Unter Vollschutz baute ich Hogan ab und flüchtete so schnell ich konnte in das langgestreckte Tal des Allt a' Choire Dhomhain. Über einen wohldefinierten Pfad ging es fast bis zum Ende des Glens, wo ich dann über einen kleinen Sattel wieder ein Tal weiter nördlich erreichte - nämlich die Anfänge von Glen Orrin. Aber schon beim Abstieg verlor sich der Pfad immer wieder. Auf der anderen Flussseite, wo die Karte ebenfalls großzügig eine Pfad verortet hatte, sah es nicht besser aus. Der Mangel an Munros in dieser Ecke hatte zur Folge, dass sich nur wenige Wanderer hierhin verirrten. Um alles nicht zu einfach zu machen, fiel dann auch noch ein Schauer über mich herein. Zehn Minuten glaubte ich, ihn einfach ignorieren zu können; dann zog ich mich um, natürlich nur um fünf Minuten später in der Sonne zu schwitzen. Das Spiel sollte sich an diesem Tag noch zweimal wiederholen. Zur Entschädigung gab es nette Lichtspiele.
An Loch na Caoidhe legte ich eine ausführliche Kekspause ein. Vor dem Buckel ins nächste Tal Gleann Chorainn musste ich ja Kalorien tanken. Inzwischen spürte ich eine gewisse innere Trägheit, die ich vor allem auf die Unterernährung in den letzten Tagen - gemessen am Verbrauch - schob.

Der Buckel war dann aber doch schnell bewältigt, wozu nicht zuletzt ein heraneilender Schauer beitrug. Ich wollte den Kamm unbedingt vor dem Regen erreichen, was mir auch knapp gelang. Bergab stören die Regenklamotten nicht so sehr wie bergauf. Die lange Trockenheit der Tage zuvor konnten die Schauer aber nicht ausgleichen, und so lief ich statt auf dem offiziellen Pfad am Hang die grasbewachsene Talsohle bergab. Dort hatten Argocats einen guten Track hinterlassen. Wunderbar federnd war dieser Untergrund, besser als jeder Sporthallenboden.
Die Begeisterung der frei umherlaufenden Pferde angesichts der Schauer hielt sich in Grenzen.
In Nullkommanix erreichte ich Inverchoran. Die Eigentümer dort haben Wanderer offenbar nicht besonders gern. Die detaillierten Anweisungen, wie man zu gehen hat, waren das eine; dass die Wanderer durch die Landrover-Furt geschickt wurden statt ihnen die Benutzung der Brücke zu ermöglichen, empfand ich als "ungewöhnlich".
In Inverchoran begann auch wieder eine Fußreise über Asphalt, was angesichts der wenigen Autos kein Drama war. Zuhause am grünen Tisch hatte ich mir ausgedacht, in Milton/Dalbreac nach Norden in Richtung Loch Luichart abzubiegen und mit Hilfe der Bahnbrücke westlich vom Bahnhof Lochluichart den Fluss zu überqueren. Diese Route jedenfalls bot Scottish Hill Tracks an. Inzwischen waren mir aber Zweifel gekommen, ob das funktionieren würde: Selbst die Explorer-Karten 1:25.000 gaben keinen Hinweis darauf, dass Fußgänger an oder auf der Bahnbrücke willkommen sein würden. Eine gegebenenfalls notwendige Umgehung wäre zwar möglich gewesen, hätte aber einen langen Umweg bedeutet. Falls jemand mit dieser Route Erfahrung hat, wäre ich für Informationen dankbar.
Alte Kirche südlich von Milton/Dalbreac

So blieb nur Plan B: Auf der Straße entlang des Meig River bis Little Scatwell und dann quer über den Hügel nach Garve und von dort auf einer alten Ochsenstraße zum Aultguish Inn an der A835. Bei Bridgend begann ich mit der Suche nach einem geeigneten Stellplatz und wurde kaum einen Kilometer später fündig: Eine Wiese unter Birken, die dem plattgedrückten Gras nach zu urteilen schon früher für solche Zwecke genutzt worden war. Obwohl die Straße kaum 100 Meter entfernt war, störte sie nicht: Das letzte Auto fuhr gegen 21 Uhr - da war ich noch beim Essen - und das erste am Morgen hörte ich gegen 8 Uhr. Die Schotten sind eben höchstens Angel-Sachsen, aber nicht aus dem Frühaufsteherland Sachsen-Anhalt.
Technische Daten: 26,2 km in 9:33h
Fortsetzung folgt...
Reisezeit: Mai/Juni 2010
Region/Kontinent: Nordeuropa
Von Pitlochry nach Faraid Head
Teil I
Nachdem ich 2009 den Cape Wrath Trail ohne bleibende Schäden vollendet hatte, reifte in langen Winternächten der Gedanke, so etwas ähnliches ganz auf eigene Faust zu unternehmen – ohne vorgekaute Route, nur gestützt auf Landkarten sowie die in "Scottish Hill Tracks" aufgeführten öffentlichen Fußwege. Dabei wollte ich quasi im Vorübergehen auch noch einige Wege laufen, die sich meinem Zugriff bisher entzogen hatten. Grob betrachtet schwebte mir eine Route vom nördlichen Ende der Lowlands bis ans nordwestliche Ende der Highlands vor. "Völlig illusorisch", sagte ich mir immer wieder, denn allein beim Berechnen der Luftlinie kam ich immer wieder auf mehr als 200 Kilometer – am Boden also praktisch nicht weniger als 400 Kilometer. Für die maximal zur Verfügung stehenden knapp drei Wochen arg viel, wenn man noch die unentbehrlichen Ruhe- und Fresstage einkalkuliert. Die Erfahrung von 2009 und 2010 hatte mich gelehrt, dass es unmöglich ist, meinen täglichen Kalorienbedarf von 4000 bis 5000 Kalorien an den Wandertagen allein zu decken. Dennoch ließ mich der Gedanke an die neue "Nordwestpassage" nicht los. Als günstiger Ausgangspunkt kristallisierte sich Pitlochry heraus, weitere Dreh- und Angelpunkte als potenzielle Ruhetagsorte waren Fort Augustus und Ullapool.

Aber bis zum Tag vor meinem Abflug war ich mir nicht sicher, ob ich das Projekt überhaupt in Angriff nehmen sollte. Die günstige Wettervorhersage für die Grampians gab schließlich den Ausschlag, zumindest den Anfang zu machen. Der historische "Minigaig"-Pass nach Kingussie stand schon ewig auf meiner To-Do-Liste. Nach dem Einkauf von Lebensmitteln und Gas in Glasgow schwang ich mich also in den Zug nach Pitlochry.
Aus dem Zug heraus organisierte ich mir noch ein Bettchen im Backpackers-Hostel in der Ortsmitte. Als ich am späten Samstagnachmittag ankam, lag Pitlochry nach der Abfahrt der letzten Touri-Busse bereits im Dämmerschlaf. Gut, dass ich die Futterfrage bereits in Glasgow geklärt hatte! Nach einem nicht besonders erquicklichen Fish&Chips-Abendessen sondierte ich bei einem abendlichen Spaziergang noch den Tour-Einstieg am kommenden Tag: Die Landranger-Karten von Ordnance Survey stoßen bei hoher landschaftlicher Ereignisdichte wie am Pass of Killiecrankie maßstabsbedingt an ihre Grenzen. Aber wozu gibt es Aushänge mit detaillierten Wanderwegedarstellungen? Zum Abfotografieren natürlich.
Still ruht der Stausee...
30. Mai
Gemütlich brach ich am Sonntag auf. Die erste Etappe bis zur Alter-Scheich-Bothy* hatte ich mit reichlich 20 km kalkuliert. Zuerst stand der Pass of Killiecrankie auf dem Plan. Hier war ich schon 2002 eine Tagestour gemacht, allerdings im Dauerregen. Geradezu idyllisch war es diesmal – sieht von den Midges ab, die es sehr begrüßten, dass ich im T-Shirt unterwegs war.
*) Nach bewährtem Usus sehe ich davon ab, die Bothies (unbewirtschaftete Berghütten) mit ihrem Klarnamen zu nennen. Wer meinen Weg auf den handelsüblichen Landkarten verfolgt, wird sie aber zweifelsfrei an der Beschriftung erkennen können.
Der Pass of Killiecrankie ist streng genommen gar kein "Pass" im Sinne einer Wasserscheide, sondern eine Schlucht. Hier drängeln sich die A9-Schnellstraße, die "alte" A9", die Bahnlinie Perth-Inverness, diverse Fußwege und der Fluss Garry durch ein enges V-förmiges Tal, das – für schottische Verhältnisse ungewöhnlich genug – auch noch rundum bewaldet ist.
Bekannt ist der Pass of Killiecrankie vor allem durch den "Soldier's leap": Hier soll ein englischer Soldat des Königs 1689 in einem waghalsigen Sprung von 18 Fuß über den Garry hinweg den ihn verfolgenden Schotten entkommen sein. Glauben muss man das nicht, aber für die Einrichtung eines Besucherzentrums hat es gereicht. Und dass sich gleich daneben ein Imbiss angesiedelt hat, fand ich auch nicht schlecht. So musste schon um elf Uhr ein Stück Schokoladentorte sein Leben im Kampf gegen potenziellen Underfill lassen.
Hic Soldier's leap, hic salta!
Schnell hatte ich denn Pass hinter mir und die Mühen der Ebene vor mir. Auf einer sehr ruhigen Landstraße – mir begegneten auf drei Kilometern nur zwei Autos – und danach einem Wirtschaftsweg ging es fast geradlinig nach Blair Atholl. Mein stets auf Unfug sinnendes Hirn nutzte die Unterbeschäftigung, grub eine Melodie aus und fing an zu dichten:
"Ich trage eine Schrankwand
und diese Schrankwand ist grün.
Es ist die Pfad-Finder-Schrankwand
voll Kram bis zu ihrem Rand.
Die Schrankwand ist niemals nur halbvoll
denn dann wär' sie keine Schrankwand
So trag ich sie über die Berge
Nur das Nötigste für den Tag."
(Sage mir, von welchem Lied die Melodie ist, und ich sage Dir, wie alt Du mindestens bist und in welchem Teil Deutschlands Du aufgewachsen bist

In Blair Atholl fanden im Park des Gutsherren gerade mit viel Getöse Highland Games statt. An denen wollte ich mich nicht beteiligen. Aber für das weitere Schrankwand-Stemmen musste ich mich erst einmal stärken. In der Bar des Hotels am Bahnhof genehmigte ich mir einen "Pheasant Burger", also Fasan. Zwar bin ich alles andere als ein Feinschmecker, aber dieses Urteil traue ich mir doch zu: Die Originalität der Fleischherkunft spiegelte sich nicht in der Originalität des Geschmacks wider. Es hätte auch ein normaler Kuh-Burger sein können. Vielleicht ist das Braten von Hackfleisch aber auch einfach nicht geeignete Methode, um Geschmacksunterschiede herauszuarbeiten? Unvergessen bis heute ist mir hingegen der mit einer Scheibe Schafskäse veredelte Hamburger im Cluanie Inn 2008. Der schmeckte wirklich erfrischend anders.



Nach gut 25 Kilometern überquerte ich den letzten Buckel vor der Bothy. Das tief eingeschnittene Tal des Allt Scheichean war klar zu erkennen – aber wo war die Bothy? Hoffentlich doch nicht abgebrannt? Erst 200 Meter vor dem Bach tauchte ein Schornstein über dem Heidekraut auf. Das Dach folgte. Mir fiel ein Stein vom Herzen: Die Bothy lag unmittelbar am Flussbett und war deshalb so schwer zu sehen. Vielleicht hatte sie deswegen auch so wenig Besucher? Zwischen den Einträgen im Bothy-Buch lagen fast immer mehrere Tage. Dafür war sie picobello sauber – jedenfalls für Bothy-Maßstäbe. Nach dem Abendessen setzte ich mich noch vor die Tür und genoss einen kühlen, aber fast midgefreien Abend beim Kartenstudium.
Leicht entsetzt stellte ich fest, dass ich am nächsten Tag bis Kingussie 27 Kilometer Luftlinie vor mir hatte. Nach meiner Faustformel bedeutete das rund 40 km Weg. Nachmessen auf der Karte mit dem vorhandenen Präzisionsgerät – eine Zeigefingerbreite für einen Kilometer Track, eine Kleine-Finger-Breite für einen Kilometer Pfad – ergab dann aber nur 33 km. In zehn bis elf Stunden sollte das bequem zu schaffen sein.
Nach Sonnenuntergang versuchte ich mich noch mit wechselndem Erfolg an Aufnahmen des Sternenhimmels. Bald kroch ich in meinen Apatschen und ließ mich von Amy MacDonalds Album "This is the Life" in den Schlaf singen.
Technische Daten: 26,2 km in 8:27h
31. Mai
Als ich am nächsten Morgen aufstand, war es draußen schon wärmer als in der Bothy. Dort hatten sich 9 Grad gehalten, während vor der Tür die Sonne ungehindert von Wolken für 12 Grad gesorgt hatte. Das erste Wegstück bis zur Bruar Lodge waren Gamaschen angesagt, denn anders als am Tag vorher war wurde der Weg jetzt zum Pfad.
Am See kurz hinter Bruar Lodge wurde ich von einem sturzbombenden kleinen braunen Vogel attackiert. Der hatte wohl Angst um sein Nest und flog jetzt einen Scheinangriff nach dem anderen auf mich: Flatternd und schimpfend kam er auf meinen Kopf zugeflogen, um kurz vor dem Zusammenstoß nach oben zu ziehen. Das hatte ich zwar schon einige Mal erlebt, aber noch nie in derartig militanter Form.

Dort hat das Wasser den Pfad – der eigentlich durchgehend am Nordufer verlaufen sollte – immer wieder weggespült, so dass ich häufiger zwischen den Flussseiten hin- und herwechselte. Irgendwann passierte das, was nach acht Jahren unfallfreiem Flussqueren fällig war: Der vermeintliche Trittstein entpuppte sich als Kippstein. Wie in einem falschen Fim sah ich mich einem halbseitigen Wasserbad entgegenfallen. Das kalte Wasser beendete dann aber die Filmvorstellung. Ich berappelte mich und krabbelte ans Ufer. Personenschaden gab es bis auf eine leichte Abschürfung am Ellbogen nicht. Auch die Kamera war trockengeblieben. Die Schrankwand vermeldete einen kleinen Wassereinbruch am Bodenfach – undramatisch, da dort sowieso nur das Schlechtwetterequipment untergebracht war. Kritischster Schaden schien mir das Wasser im rechten Stiefel zu sein. Gut, nasse Hose und Unterhose waren sicherlich auch nicht ohne, aber nicht kritisch. Ich schleppte mich etwa 200 Meter bis zu einem halbwegs bequemen Findling und begann mit der Trockenlegung. Die beiden nassen Hosen und die Socken fixierte ich außen an der Schrankwand. Als bekennender UH-Tourist hatte ich noch eine kurze UL-Sporthose dabei, die jetzt zum Einsatz kam. Das T-Shirt war quasi schon wieder trocken (Dank an Berghaus-Tech-T!). Blieb der Stiefel. Auch hier fand sich die Lösung im meinem UH-Fundus: Für genau solche Fälle hatte ich Sealskinz-Socken dabei. Nach einer halben Stunde ging es weiter.

Bald erreichte ich das erste Wehr am Allt Bhran/Allt Coire nan Dearcag. Beim Versuch, schon aus größerer Entfernung schon eine geeignete Stelle zur Querung auszumachen, stellte ich dann fest, dass es doch einen größeren Wasserschaden gegeben hatte: "Steiner, das Eiserne Fernglas" war mit gerade soviel Wasser vollgelaufen, dass jetzt alle Linsen beschlagen waren. Mist...
Technischer Hinweis: Die Staumauer wird nicht durch eine Fußgängerbrücke ergänzt und ist zudem oben abgerundet, also praktisch unbegehbar. Allerdings verschwindet bei normalem Wetter der gesamte Abfluss in einer Rohrleitung, so dass man das Flussbett unterhalb der Staumauer trockenen Fußes durchqueren kann.

An der Glentromie Lodge war die Fußreise zu Ende und der schottische Ernst des Lebens begann wieder. Der Pfad nach Kingussie führt keineswegs direkt an der Lodge vorbei, sondern am Zaun dahinter. Um dorthin zu gelangen, muss man unmittelbar hinter der Brücke über den Tromie River durch ein Loch im Zaun steigen. Wer die etwas missverständlichen Hinweispfeile nicht richtig deutet oder übersieht, wird von der Zerberine im Pförtnerhaus unmissverständlich darauf hingewiesen. Der Pfad durch den Wald ist mit Pfählen markiert. Für soviel Service hat es immerhin gereicht.

Schon nach wenigen Meter wurde mir klar, dass es jetzt wieder Zeit für die lange Hose war. Die Idee, das Umziehen bis zum Erreichen des Kamms zu verschieben, war dumm, wie die Einschläge und Schleifspuren auf meinen Unterschenkeln belegten. Wenigstens konnte ich bei der unverzüglich durchgeführten Fleischbeschau keinen Zeckenbefall feststellen.
Die Annäherung an die Ruinen der Ruthven Barracks, die sich ebenso unerwartet wie majestätisch über die Spey-Ebene erheben, gilt als normalerweise als spektakuläres Erlebnis. Eine Ausnahme ist, wie ich jetzt erfahren durfte, die Annäherung über die Anhöhe von Westen. Allerdings ist das der Weg, den die englischen Truppen von General Wade & Co. genommen haben, wenn sie nach Norden gingen.
Ruthven Barracks bei der Annäherung von Südwesten
Schon lange vor der Ankunft in Kingussie war mir klar, dass unter anderem mein gewässertes Fernglas nach einer Übernachtung unter einem festen Dach mit einer leistungsfähigen Heizung verlangte. Ich widersprach ihm nicht, zumal die geradezu bilderbuchartige Wolkenfolge von Cirrus zu Cumulus während des Tages viel Regen in der Nacht erwarten ließen. Nach meiner Erinnerung hatte ich nur die Wahl zwischen dem "Duke of Gordon" - vier Sterne – und dem Hostel vom Tipsy Laird. Der hatte keine Sterne, sondern ähnelte eher - um beim astronomischen Bild zu bleiben – einem Schwarzen Loch. Umso erleichterter war ich, gegenüber vom Duke of Gordon das "Hotel Osprey" zu entdecken, das für 35 Pfund inkl. Frühstück ein sehr ordentliches Preis-Leistungsverhältnis bot. Bis zum Morgen hatte ich alle noch feuchte Ausrüstung getrocknet. Sogar aus aus dem Fernglas war das Wasser verschwunden – nicht ohne allerdings eine kräftigen Grauschimmer auf den Linsen zu hinterlassen. Nicht alle Wasser der Highlands kommen aus der Destillerie.
Technische Daten: 35,6 km 11:10h
1. Juni
In der Nacht hatte es kräftig geregnet, und auch am Morgen nieselte es noch mit wechselnder Intensität. Beim Frühstück saß ich einem amerikanischen Pärchen aus Deutschland gegenüber – er war Biologe bei der US-Armee in Wiesbaden und betreute in dieser Funktion diverse Truppenübungsplätze. Außerdem waren beide Hobby-Ornithologen. Auf die Insel waren sie wegen des Vogelreichtums gekommen. Ein Hotel mit dem Namen Osprey ("Seeadler") war sicherlich ein guter Anfang.
Für mich begann der Tag mit der Suche nach Plan B. Plan A, die Durchquerung der teilweise pfadlosen Monadliath Mountains, erschien mir angesichts einer Wolkenuntergrenze von 600 m weder sinnvoll noch attraktiv. Ich musste allerdings irgendwie bei Fort Augustus herauskommen, denn im dortigen Postamt warteten die Karten für die nächsten Etappen auf mich. Die Topographie des Geländes ließ nicht viel Alternativen zu, und so landete ich wieder einmal in den Fußstapfen von General Wade: Der Military Road durch Upper Glen Spey und über den Corrieyairack-Pass.
Eine Abweichung erlaubte ich mir aber doch: Von Newtonmore bis Cluny Castle folgte ich Glen Banchor, also durch das Hinterland von Newtonmore. Dieser Weg zeichnete durch jene Perfidität aus, die viele Schottisch-Anfänger in den Wahnsinn treibt: Er beginnt als Asphaltstraße und geht in eine Schotterpiste über. Nach einer Weile verschwindet der Schotter und schließlich überhaupt jeglicher nachvollziehbarer Pfad. Was aber die Touristeninformation in Laggan Bridge nicht daran hindert, mit einem dicken bunten Strich auf der Aushangkarte so etwas wie einen markierten Wanderweg zu suggerieren. Scottish Hill Tracks war da ehrlicher und nannte die "pathless boggy section in the middle" beim Namen. Navigatorisch ist es Kinderkram – einfach dem Fluss folgen – aber mancher Anfänger wird wohl viel Zeit bei der Suche nach dem vermeintlich verlorenen Pfad vertrödeln.
Glen Banchor: Der harte Winter 2009/2010 hat dem so landestypischen Ginster übel zugesetzt.

Garva Bridge, ein Entwurf von Thomas Telford.
Aber wie schon damals besserte sich das Wetter im Upper Glen Spey schnell. Nur die Monadliath Mountains zu meiner Rechten hüllten sich ab 700 Meter weiterhin in Wolken. Die Richtigkeit meiner Entscheidung vom Morgen war am späten Nachmittag immer noch nicht widerlegt worden. Die Zeit verbrachte ich unter anderem damit, nach potenziellen Stellplätzen für Hogan (meine Silnylon-Schildkröte) Ausschau zu halten. Erstaunlicherweise entdeckte ich an den meisten schönen Stellen auch gleich ein Schild "No Camping".
17,4 km später hatte ich Upper Glen Spey nun auch aus der anderen Richtung gesehen. Ein drittes Mal brauche ich das nicht... da gäbe es entweder Daumenreise oder Taxi. Die Mehlgraben-Bothy begrüßte ich wie eine alte Bekannte, was sie ja auch war, mit dem Unterschied, dass ich diesmal auch dort übernachten würde. Fragen hinsichtlich der schottischen Landessitten warf jedoch folgender Hinweis auf: "No matter how lonely you feel – keep the sheep out." Nur weil der Kondomautomat fehlte oder wie jetzt?

Die Mehlgraben-Bothy am Fuß des Corrieyairack-Passes.
Technische Daten: 39,7 km in 10:26h
2. Juni

An der alten Funkstation auf dem Sattel legte ich traditionsgemäß meine Mittagspause ein, bis mich der inzwischen angekommene Nieselregen vertrieb. Die nun folgende Schotterstraße versäumte keine Gelegenheit, mich daran zu erinnern, dass ich sie schon beim ersten Mal als langweilig empfunden hatte. Um eine ausreichende landschaftliche Ereignisdichte zu erreichen, wäre ein Mountainbike sicherlich das Mittel der Wahl. Einziges Highlight war die "Schwarzbrenn"-Bothy, die ich 2009 übersehen hatte. Was nicht verwunderlich ist, liegt sie doch verborgen in einem Einschnitt abseits des Weges. Sie ist die bisher kleinste Bothy, die ich gesehen habe, noch kleiner als Sourlies. Aber dafür picobello in Schuss. Das Wasser im Bach davor sieht allerdings eher eklig aus.
Blick auf Loch Ness.
Als ich schließlich um 16 Uhr in Fort Augustus ankam, war das Postamt schon seit drei Stunden geschlossen. Na klar, es war Mittwoch. Bewohnern der ehemaligen britischen Besatzungszone wird der Usus kleinerer Geschäfte, am Mittwochnachmittag geschlossen zu bleiben, bekannt vorkommen. Dafür herrschte an der Schleusentreppe Hochbetrieb:
Für meinen Fress- und Ruhetag besorgte ich mir ein Bettchen in Fort William - gerade noch rechtzeitig, denn am Wochenende fanden dort Mountainbike-Weltmeisterschaften statt, und die ersten Teams waren schon zum Training eingetroffen.
Technische Daten: 22,8 km in 6:46h
3. Juni
Den Donnerstag vertrödelte ich in Fort William nach allen Regeln der Kunst. Dafür war er wie geschaffen: Bei Temperaturen von über 20 Grad hätte ich am Wandern nicht viel Spaß gehabt. Auf dem Rasen vor dem Alexandria-Hotel ließ es sich aushalten – zumindest unter den Bäumen. Eine Frage, die mir dabei immer wieder in den Sinn kommt: Warum ist dieser Rasen sauberer als so mancher Teppich in deutschen Mittelklassehotels?
Technische Daten: 0 km und Aufnahme von rund 4500 kcal in 14 Stunden.
4. Juni
Am Freitagmorgen rief mich das Postamt in Fort Augustus. Nach dem Austausch von abgelegten Karten gegen die Karten bis Ullapool – meiner nächsten Ruhestation - machte ich mich auf den Weg. Bis auf einige Kilometer entlang von Glen Affric lag absolutes Neuland vor mir. Aus den Scottish Hill Tracks hatte ich mir eine Route zusammengestellt, die mich in vier bis fünf Tagen zur A835 bringen würde. Dort wollte ich mich vom Bus nach Ullapool aufsammeln lassen.
Der Tag begann mit einem strammen Aufstieg in den Inchnacardoch Forest nördlich von Fort Augustus. Der Wald dämpfte in erfreulicher Weise die Hitze, die sich auch an diesem Tag schnell breitmachte. Am Allt Phocaichain legte ich eine Pause ein. Das war fast schicksalhaft: Beim Versuch, Libellen zu fotografieren, entdeckte ich nämlich einen schüchternen Wegweiser der Scottish Rights of Way Society, der in Richtung einer bisher nicht kartographisch dokumentierten Schotterstraße zeigte. Der Weg passte aber grob zu meiner Richtung zur Torgyle Bridge. Sollte ich nun den gesicherten "historischen" Weg mit einem umständlichen Zick und Zack nehmen – oder sollte ich den neuen Weg riskieren? Ich entschloss mich, auf Risiko zu gehen. Und wurde belohnt: Die Schotterstraße war offensichtlich Zugangsweg zu den Hochspannungsmasten, und die führten fast genau zur Torgyle Bridge.
An der Brücke hatte ich eigentlich gehofft, mich an einem Imbiss belohnen zu können. Aber die A887 ist weniger befahren als manche Kreisstraße in Brandenburg. Schlechte Voraussetzungen für Gastronomie. Ein Cafe hätte es angeblich zwei Kilometer weiter in Dundreggan gegeben, aber da wollte ich schon längst den nächsten Hang in Angriff genommen haben.

Aber dafür fand ich DEN RING.
(übrigens ohne je das Buch gelesen zu haben!)
Alles hat ein Ende, so auch die Hochfläche. Durch einen lauschigen Mischwald kontinentaleuropäischer Prägung, wenn auch mit schottischen Midges, ging es zunächst in Richtung Tomich.
"Hallo, ich hab' mich versteeeckt!"
Noch vor der Hilton Lodge bog ich wieder nach Westen ab. Mein Ziel war der Picknick-Parkplatz bei den Plodda Falls. Ich hoffte, dort einen bequemen Platz für Abendessen und Frühstück sowie eine nette Wiese für Hogan zu finden. Inzwischen war es 19 Uhr, der letzte Tagestourist sollte also verschwunden sein.
So einladend wie erhofft sah es am Picknick-Parkplatz aber nicht aus. Ich beschloss, weiter in Richtung Plodda Falls zu suchen und dabei gleichzeitig herauszufinden, ob der Pfad, auf dem ich morgen am anderen Flussufer meine Tour fortsetzen wollte, überhaupt noch existierte.
Blick auf die Plodda Falls von oben...
...und von der Seite:
Um nicht eventuell 100 Höhenmeter mit dem ganzen Gewicht umsonst runter- und wieder rauflaufen zu müssen, deponierte ich die Schrankwand am Wegesrand. Als ich den Talboden erreicht hatte, wusste ich drei Dinge: Erstens gab es hier fast bilderbuchmäßig unter uralten Fichten eine Picknick-Sitzgruppe mit Wiese für Hogan; zweitens war der angepeilte Pfad wie befürchtet arg mit Jungwald zugewachsen; und drittens gab es eine großartige Alternative querfeldein ein Stück flussabwärts. Dabei spielte mir in die Hände, dass das Wasser gerade einmal knöchelhoch stand. An diesem Abend schaffte ich es noch, ein UH-Abendessen mit 400 Gramm (Fertigmenge!) Kartoffelbrei als Vorspeise und einer Mountainhouse-Trekkingmahlzeit einzuwerfen.

Technische Daten: 30,6 km in 10:08h
5. Juni
Der Tag startete mit dem schönsten denkbaren Frühstück: Ich saß im Halbschatten auf meiner Picknickbank, knabberte leckere McVities Digestives Plain Chocolate, trank einen sonst bei mir eher unüblichen Kaffee und schaute dem Bach beim fröhlichen Plätschern zu. Und obwohl es nicht windig oder kalt war, blieben die Midges in der Deckung. Ich hätte stundenlang sitzembleiben können, wenn die Füße nicht zum Aufbruch getrommelt hätten.
Nicht ohne Grund: Heute hatte ich ernsthaft Höhenmeter zu bewältigen. Doch zuerst musste ich über den Fluss zum Track auf der anderen Seite:


Dann musste ich über den ersten Bergrücken hinüber zum Glen Affric. Die Steigung schien nicht aufzuhören, dabei waren es nur 200 Meter. Zum Glück alles im Wald, denn die Sonne hatte die Lufttemperatur über dem offenen Land schon wieder auf 20 Grad hochgetrieben. Der erste Blick auf Glen Affric und die schneebedeckten Berge dahinter entschädigte dann aber für die Mühen.
Trotz des Störfaktors Straße im unteren Teil: Glen Affric ist schön. So schön, dass mich am Picknick-Parkplatz Dog Falls nach dem Mittagessen die Schwerkraft übermannte und ein Nickerchen erzwang. Hätten sich nicht ein paar Wolken vor die Sonne geschoben, wäre ich wohl nicht schon nach einer Dreiviertelstunde wieder aufgewacht.
Einen Pflichttermin als nebenberuflicher OSM-Kartograph hatte ich an der Staumauer von Loch Beinn a' Mheadhoin wahrzunehmen: Gab es hier eine Möglichkeit, ans andere Ufer zu gelangen und so viel Umweg zu sparen? Nein. Aber dafür wurde mir hier zum ersten Mal bewusst, in welchem Maße sich die James-Bond-Ausstatter der sechziger und siebziger Jahre von britischem Industriedesign hatten inspirieren lassen.
Frisch betankt - das Sanitärhäuschen an den Dog Falls verfügte über einen Trinkwasseranschluss - machte ich mich auf den Weg zum "großen" Pass: Zwischen Toll Creagach und dem namenlosen Gipfel 892m wollte ich mich nach Glen Cannich und der Staumauer von Loch Mullardoch hinüberwälzen. Laut Landranger-Karte sollte es sogar einen Pfad bis kurz unterhalb von Gipfel 892 geben. Er war unzweifelhaft da - nur nicht immer leicht zu finden.

Aus dieser sicheren Deckung beobachtete ich nicht ganz amüsiert, wie sich um mich herum dunkle Wolken ballten, aus denen teilweise auch schon graue Gardinen fielen. Das ergab zwar schöne Lichteffekte, hielt mich aber endgültig davon ab, den Munro Toll Creagach mitzunehmen.
Stattdessen stolperte ich durch das weglose Gelände herab zum Loch Mullardoch. Der von Scottish Hilltracks versprochene "intermittent path" entlang des Allt Fraoch-choire stellte sich erst am Eingang zu einem kleinen Wäldchen ein. "Intermittent" heißt wohl: Es wurden hier schon mal Wanderer gesehen. Nur auf prominenten Aussichtspunkten waren manchmal verschiedene Fußabdrücke sichtbar. Sie verliefen sich aber binnen 15 Metern. Offenbar war ich nicht der einzige, der gehofft hatte, von höherer Warte endlich den versprochenen Pfad zu sichten. Mit gewisser Erleichterung entdeckte ich schließlich einen neuen Wildschutzzaun. Denn merke: Wo neuer Zaun, dort auch plattgefahrene Vegetation.
Inzwischen war es schon wieder 19 Uhr und damit Zeit, nach einem Stellplatz zu suchen. Im Waldbereich war es aussichtslos, also ließ ich "Steiner" das Ufer entlangschweifen. Eine kleine Halbinsel sah recht vielversprechend aus: Eine einigermaßen ebene Wiese von 50 mal 50 Meter Größe. Aus der Nähe stellte sich dann heraus, dass mehr als die Hälfte der Fläche Feuchtbiotop war und der Rest von Hirschen vermint. Die Minen waren aber zum Glück trocken und rollfähig, so dass ich mir eine kleine Fläche ausreichend säubern konnte. Für verbliebene Risiken gab es noch das Knisterfolie-Footprint.
Abendstimmung an Loch Mullardoch
Nicht berücksichtigt hatte ich, dass der Wind pünktlich um 20 Uhr seinen Dienst einstellte. Soll heißen: Die Midges machten sich auf die Suche nach Frischfleisch. An diesem Abend lernte ich einen weiteren Vorteil einer hohen 1,5-Personenhütte kennen: Man kann darin kochen (liebe Kinder, bitte nicht nachmachen!). Mit Spiritus hätte ich es nicht gemacht. Mit Gas erschien mir das Risiko maximal ein wirtschaftlicher Totalschaden von Hogan zu sein. Übrigens: Der Regen blieb aus.
Technische Daten: 26,7 km in 10:35
6. Juni

Schnell erreichte ich die Zufahrtstraße zur Staumauer, wo ich dann auch die letzten Midges abschütteln konnte. Auch diese Staumauer erinnerte mich an eine James-Bond-Kulisse. Doch die schottische Realität der Gegenwart hatte mich bald wieder: Als ich an dem im Umbau befindlichen Mullardoch House vorbeikam, vernahm ich vom Dach vertraute Laute aus dem Berliner Hinterland. Ich grüßte die polnischen Bauarbeiter mit einem vermutlich hoffnungslos falsch ausgesprochenen "Czesc!", was diese begeistert erwiderten.
So etwas nennt wohl "Lebenswillen".

Gut vier Kilometer währte meine Fußreise auf der Nebenstraße. In der ganzen Zeit begegnete mir nur ein Auto. In Liatrie - was auf der Karte nach mehr aussieht als dem schmuddeligen Farmhaus der Realität - bog ich nach Norden ab, wie es Scottish Hill Tracks befohlen hatte. Der als Alternative angebotene Track weiter östlich war nicht erkennbar - vielleicht war ich aber auch nur zu faul, richtig zu suchen. Der Pfad war leider bald auch nicht mehr erkennbar, so dass ich entweder querbuschein gehen oder matschigen Hirschpfaden folgen musste.
Guckt nicht so blöd, helft mir lieber!
Der Kiefernwald hatte sicherlich seine Reize, aber hauptsächlich musste ich mich darauf konzentrieren, nicht von widerspenstigen Heidekraut-Schlingen zu Fall gebracht zu werden. Schließlich erblickte ich rechts von mir einen Wildschutzzaun mit einem Tor. Das sah ... sehr gut aus! Das Tor wurde offenbar regelmäßig von Argocats durchfahren, und der Argocat-Track - verfestigte Grassohle ohne Heidekraut - führte sogar in meine Richtung. So erreichte ich ohne größere Komplikationen den Pass, um dort in den Nebel zu gucken. Na prima.
So sieht übrigens ein Argocat aus. Es ist lauter als es schnell ist.
Der Abstieg war vergleichsweise komplikationslos, es gab am Ostufer des Allt Innis na Larach sogar eine Art Pfad, der nur an wenigen Stellen wegggespült war. Noch besser wäre es gewesen, wenn ich gewusst hätte, dass es einen nagelneuen Landrover-Track oberhalb des Westufers gibt.



Auch die nächsten vier Kilometer gab es keine gute Aussichten: Ich liefe auf einer Privatstraße durch das gärtnerisch gepflegte Privatgrundstück der Monar Lodge, links ein steiler Hang zum See, rechts eine steile Wand. Ein ausgeklügeltes Fußgängerleitsystem aus Zäunen verhinderte auch die ersten zwei Kilometer hinter der Lodge, dass ich die Wiesen am Seeufer auf ihre Eignung als Stellplatz prüfen konnte. Erst kurz vor der Wegkreuzung, wo ich wieder in Richtung "Binnenland" abbiegen wollte, offenbarte sich ein Zugang zum Ufer. Ich ließ "Steiner" schweifen: Der niedrige Wasserstand hatte eine kieferbewachsene Insel zu einer Halbinsel gemacht. In Erinnerung an die legendäre Creaguaineach Lodge an Loch Treig buchte ich dies als eine Möglichkeit ab.
Aber auch einige flache Inseln hatten Landanschluss bekommen und ließen auf einen midgefreien, weil windigen Stellplatz hoffen. Bereits die erste erwies sich als Volltreffer: Zwar war die Wiese morastiger als ich erhofft hatte, aber dafür war das Ufer teilweise mit feinstem Schotter bedeckt. Dank Knisterfolie-Footprint hatte ich keine Sorgen, mir die Bodenwanne durch spitze Stein zu beschädigen, und planierte mir eine schöne ebene Fläche. Die wichtigsten Heringe beschwerte ich aber noch einmal sicherheitshalber mit größeren Steinen. Der erhoffte leichte Wind stellte sich ebenfalls ein, so dass ich unbehelligt draußen kochen konnte - der Regen war inzwischen weitergezogen. Im Nachhinein muss ich sagen, dass das Schotterbett der angenehmste Untergrund der ganzen Tour war: Mühelos konnte ich mir eine anatomisch angepasste Kuhle zurechtschieben.
Gerne ruhe ich mich auf viel Schotter aus.
Technische Daten: 22,8 km in 9:02 h
7. Juni
Am Morgen war der Wind weg, aber die Wolken noch da. Die Midges fanden es toll. Unter Vollschutz baute ich Hogan ab und flüchtete so schnell ich konnte in das langgestreckte Tal des Allt a' Choire Dhomhain. Über einen wohldefinierten Pfad ging es fast bis zum Ende des Glens, wo ich dann über einen kleinen Sattel wieder ein Tal weiter nördlich erreichte - nämlich die Anfänge von Glen Orrin. Aber schon beim Abstieg verlor sich der Pfad immer wieder. Auf der anderen Flussseite, wo die Karte ebenfalls großzügig eine Pfad verortet hatte, sah es nicht besser aus. Der Mangel an Munros in dieser Ecke hatte zur Folge, dass sich nur wenige Wanderer hierhin verirrten. Um alles nicht zu einfach zu machen, fiel dann auch noch ein Schauer über mich herein. Zehn Minuten glaubte ich, ihn einfach ignorieren zu können; dann zog ich mich um, natürlich nur um fünf Minuten später in der Sonne zu schwitzen. Das Spiel sollte sich an diesem Tag noch zweimal wiederholen. Zur Entschädigung gab es nette Lichtspiele.
An Loch na Caoidhe legte ich eine ausführliche Kekspause ein. Vor dem Buckel ins nächste Tal Gleann Chorainn musste ich ja Kalorien tanken. Inzwischen spürte ich eine gewisse innere Trägheit, die ich vor allem auf die Unterernährung in den letzten Tagen - gemessen am Verbrauch - schob.
Der Buckel war dann aber doch schnell bewältigt, wozu nicht zuletzt ein heraneilender Schauer beitrug. Ich wollte den Kamm unbedingt vor dem Regen erreichen, was mir auch knapp gelang. Bergab stören die Regenklamotten nicht so sehr wie bergauf. Die lange Trockenheit der Tage zuvor konnten die Schauer aber nicht ausgleichen, und so lief ich statt auf dem offiziellen Pfad am Hang die grasbewachsene Talsohle bergab. Dort hatten Argocats einen guten Track hinterlassen. Wunderbar federnd war dieser Untergrund, besser als jeder Sporthallenboden.

In Nullkommanix erreichte ich Inverchoran. Die Eigentümer dort haben Wanderer offenbar nicht besonders gern. Die detaillierten Anweisungen, wie man zu gehen hat, waren das eine; dass die Wanderer durch die Landrover-Furt geschickt wurden statt ihnen die Benutzung der Brücke zu ermöglichen, empfand ich als "ungewöhnlich".
In Inverchoran begann auch wieder eine Fußreise über Asphalt, was angesichts der wenigen Autos kein Drama war. Zuhause am grünen Tisch hatte ich mir ausgedacht, in Milton/Dalbreac nach Norden in Richtung Loch Luichart abzubiegen und mit Hilfe der Bahnbrücke westlich vom Bahnhof Lochluichart den Fluss zu überqueren. Diese Route jedenfalls bot Scottish Hill Tracks an. Inzwischen waren mir aber Zweifel gekommen, ob das funktionieren würde: Selbst die Explorer-Karten 1:25.000 gaben keinen Hinweis darauf, dass Fußgänger an oder auf der Bahnbrücke willkommen sein würden. Eine gegebenenfalls notwendige Umgehung wäre zwar möglich gewesen, hätte aber einen langen Umweg bedeutet. Falls jemand mit dieser Route Erfahrung hat, wäre ich für Informationen dankbar.
Alte Kirche südlich von Milton/Dalbreac
So blieb nur Plan B: Auf der Straße entlang des Meig River bis Little Scatwell und dann quer über den Hügel nach Garve und von dort auf einer alten Ochsenstraße zum Aultguish Inn an der A835. Bei Bridgend begann ich mit der Suche nach einem geeigneten Stellplatz und wurde kaum einen Kilometer später fündig: Eine Wiese unter Birken, die dem plattgedrückten Gras nach zu urteilen schon früher für solche Zwecke genutzt worden war. Obwohl die Straße kaum 100 Meter entfernt war, störte sie nicht: Das letzte Auto fuhr gegen 21 Uhr - da war ich noch beim Essen - und das erste am Morgen hörte ich gegen 8 Uhr. Die Schotten sind eben höchstens Angel-Sachsen, aber nicht aus dem Frühaufsteherland Sachsen-Anhalt.
Technische Daten: 26,2 km in 9:33h
Fortsetzung folgt...
Kommentar