[MX, BZ, GT, SV, HN, NI, CR, PA] 2015: Centroamérica en Bicicleta

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  • joeyyy
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    • 10.01.2010
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    • Meine Reisen

    #41
    AW: [MX, BZ, GT, SV, HN, NI, CR, PA] 2015: Centroamérica en Bicicleta

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    Sonntag, 22.2.2015: Von der Isla Ometepe in Nicaragua nach La Cruz in Costa Rica

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    Der Ruhetag auf der Insel hat gut getan. Vor allem auch das etwas kühlere Wetter und der frische Wind. So schwinge ich mich auf mein Rad und fahre runter zum Hafen. Vorher kaufe ich noch ein Glas Honig, der von der hiesigen Kooperative geschleudert wurde.

    Die Fähre schaukelt heute weniger heftig als vorgestern. Dafür sind die beiden Kapitäne umso heftiger. Die Metall-Silhouette einer sparsam bekleideten Frau winkt ihnen vom Fenster der Kapitänskajüte aus im Takt der Wellen zu. Dieses Winken scheint zu hypnotisieren, jedenfalls haben sich die beiden Jungs während der knapp einstündigen Überfahrt locker zwei mal abgewechselt, damit immer einer auch schlafen und von winkenden Schönheiten träumen konnte.

    In San Jorge auf dem Festland fahre ich in eine Demonstration. Die Menschen haben einen Marsch gegen den Kanal organisiert, das vorherrschende politische Thema hier in Nicaragua. Das Thema der Proteste steht auf den Fahnen und Banderolen, wie die Stimmung in der Bevölkerung ist, will ich erfragen.

    Mein Fahrrad stelle ich auf der Hauptstraße an eine Hauswand, schließe es ab und gehe mit der Kamera los, um ein paar Fotos zu schießen. Einige Leute glauben, dass ich ein Gringo-Reporter sei und kommen gleich auf mich zu, um mir Antworten auf Fragen zu geben, die ich gar nicht gestellt habe. Na, egal, ich behaupte weder die Bestätigung ihrer Annahme noch das Gegenteil und höre einfach zu.

    Es ist das Standardproblem der zentralamerikanischen Länder: Korruption und Vetternwirtschaft. So wirklich gebraucht wird ein zweiter Kanal zwischen Atlantik und Pazifik nicht. Aber er verspricht viel Geld. Viel Geld beim Bau und viel Geld im Betrieb. Und als Kosten des Kanals werden ausschließlich die ökonomischen Zahlen gesehen. Und nur die sind zu zahlen und den Erträgen gegenüberzustellen. So bewerten es die Politiker, die Geschäftsleute und die Großgrundbesitzer. Aber es gibt noch Kosten und Schäden, die unberücksichtigt bleiben, weil sie sich dem beschränkten Wahrnehmungspotenzial der Menschen entziehen. Die Umweltschäden durch Artensterben, Waldrodung und das Kippen einiger ökologischer Gleichgewichte ahnen und prognostizieren die Menschen hier. Aber sie werden auf keiner Investitionsrechnung auftauchen.

    Das Enteignen und Umsiedeln indigener Bevölkerungsgruppen ruft den emotionalsten Impuls im Widerstand hervor. Die Menschen hier wissen, wie mies und gewalttätig es zum Beispiel in Guatemala lief. Auch diese Faktoren werden auf keiner Investitionsrechnung auftauchen. Schließlich ist das Enteignungsgesetz zum Bau des Kanals bereits seit 1999 in Kraft und es gibt auch schon die ersten Vertriebenen und Toten drüben, an der dünn besiedelten Atlantikküste. Eine Frau sagt mir, dass dort im Regenwald private Schutzdienste unterwegs seien und die indigenen Völker vertrieben. Die Baufirmen, die eingesetzt werden sollen, gehören Politikern aus dem Parlament von Managua.

    Mir fällt auf, dass einige Priester vorn in der ersten Reihe mitmarschieren. Zentralamerika ist sehr gläubig, hängt dem katholisch geprägten Christentum an. Wahrscheinlich wird allerdings auch in Nicaragua gelten: Geld ist wichtiger als Glauben.

    Ich lasse mir die Gedanken an den Kanal noch länger durch den Kopf gehen, fahre an gegen den Wind und die Hitze, die aus dem jetzt nahen Costa Rica kommen. Der Wind kann in dieser Gegend wohl stark genug werden, um Rotoren von Windrädern abzubrechen.

    Am Rand des Sees entlang fahrend sehe ich immer wieder auf’s Wasser und stelle mir vor, jetzt dort zu baden. An einer Einfahrt zum Strand biege ich links ab, lege mein Rad in den Sand und laufe in den See. Er ist kälter als gedacht. Frischer als vorgesehen. Mir ist das egal, die Sonne wird meine Sachen in Nullkommanix trocknen.

    Zwei Jungs in der Nähe wollen Fische fangen. Einer wirft Steine ins Wasser, der andere schaut, ob sich was bewegt und taucht hin und wieder ab. Ich frage die beiden, ob sie auf diese Weise schon mal einen Fisch gefangen hätten. Der eine sagt nein, der andere ja. Für heute sind sie guten Mutes.

    Einen Fisch haben sie zwar nicht, dafür einen Hund. Die Geier, meine ich. Für mich ist es spannend, zu sehen, wie diese Vögel in ihre Nahrung hineinhüpfen und die toten Tiere dann aushöhlen.

    Costa Rica bietet sofort nach dem Grenzübergang ein komplett anderes Landschaftsbild. Ich bin plötzlich im Regenwald unterwegs, die Panamericana ist nur noch ein kleines Sträßchen mit wenig Verkehr. Der Stau auf der nicaraguanischen Seite war ziemlich lang, weil alle LKW abgespritzt werden müssen. Und mit der Seelenruhe, mit der die Zöllner an der Arbeit sind, schaffen die höchstens zehn Laster pro Stunde. Entsprechend ruhig ist hier der Verkehr. Und – was ganz besonders angenehm ist – es liegt kein Müll rum. Das fällt sofort auf. Weder im Wald noch in den kleinen Orten, durch die ich fahre.

    Allerdings merke ich gleich am ersten Kiosk, an dem ich mal wieder eine Kola trinken möchte, dass Costa Rica teuer ist. Sehr teuer. Mindestens drei bis viermal so teuer wie Guatemala oder Honduras. Mindestens so teuer wie Europa.

    Und Costa Rica ist windig. Noch windiger als Nicaragua.

    Gegen fünf Uhr nachmittags komme ich durch den ersten größeren Ort, La Cruz. Ich biege ab, Richtung Osten, Richtung Santa Cecilia. Der Wind ist nun brachial. Das schaffe ich nicht, denke ich – keine zehn Kilometer. Den ganzen Tag bin ich unterwegs, Hitze und Wind haben gezehrt. In einer Stunde wird es dunkel und mein Wasser reicht nicht für Essen, Trinken und Waschen, wenn ich heute irgendwo wild zelte. Außerdem bezweifel ich, dass ich bei dem Wind eine ruhige Nacht hätte. Ich drehe um und fahre wieder zurück nach Santa Cruz. Hostal y Restaurante Punta Descartes. Das ist ein sehr sympathisches Schild. Cogito, ergo sum. Genauso wie Descartes zweifelte, habe ich gezweifelt und nun die Antwort gefunden. Im Hostal Descartes. Danke, alter Franzose.

    Mit dem Eigentümer werde ich schnell handelseinig, mein Rad kommt in die Garage und ich dusche mich in meinem Zimmer.

    Der Mirador – der Aussichtspunkt – von der Terasse des Hostals ist genial. Der Pazifik liegt mir zu Füßen, die Sonne geht in ihm unter. Außerdem spielen zwei Musiker irgendwas, was zum Land und den Leuten passt. Als Essen ordere ich Fisch, dazu eine Flasche kaltes Bier. Das hab ich mir heute verdient. Lecker, lecker, teuer. 40 Dollar auf der Rechnung überraschen mich ein wenig, aber das Essen ist es wert.

    Ein mexikanischer Fotograf erkennt, dass mein T-Shirt mexikanischen Ursprungs ist und setzt sich zu mir. Er ist so ein Rasta-Typ und schon ziemlich angeheitert. Ob durch Alkohol oder durch Ganja, kann ich nicht sagen. Der Schlüssel zum Frieden liegt im Zuhören. Sagt er. Und redet und redet und redet. Und schläft irgendwann am Tisch ein.

    Ich lasse die Rechnung aufs Zimmer buchen und gehe dann auch ziemlich müde ins Bett.

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    Fortsetzung folgt.
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    • joeyyy
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      • 10.01.2010
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      • Meine Reisen

      #42
      AW: [MX, BZ, GT, SV, HN, NI, CR, PA] 2015: Centroamérica en Bicicleta

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      Montag, 23.2.2015: Von La Cruz zur Laguna Arenal - oder: Wie Russen in Costa Rica Geld verdienen

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      Um acht Sitze ich wieder am Mirador, genieße die Aussicht und bestelle mir mein Frühstück. Toast mit Marmelade, schwarzen Kaffee. Etwas anderes will ich nicht mehr haben.

      Um kurz nach acht setzen sich die beiden Musiker von gestern abend zu mir, wir frühstücken zusammen und quatschen bis halb elf. Über Großmütter und die Arbeit auf dem Lande, Musik, René Descartes, das Leben in Costa Rica. Wir sind uns sympathisch, ich freue mich immer, wenn ich Menschen kennen lerne, die relativ schnell meine Freunde sein könnten. Warum klappt so etwas immer nur auf Reisen? Warum nicht auch zu Hause?

      Ich will weiter, ins Landesinnere, nach Upala. Rund 5 Kilometer folge ich noch der Panamericana, dann biege ich geradewegs in Richtung Osten ab. Der Wind, der gestern Abend das ganze Haus durchgerüttelt hat, hat sich kaum abgeschwächt. Auf dem Weg in Richtung Osten muss ich gegen ihn ankämpfen. Selbst bergab fahre ich mit einstelliger Tachozahl. Auf gerader Strecke muss ich schieben. Ich sehe auf der Karte, dass es bis Upala noch rund 80 Kilometer sind. Nach rund 5 Kilometer aussichtslosem Kampf drehe ich wieder um. Entweder fahre ich hier per Anhalter in Richtung Osten oder ich nehme mit dem Fahrrad die Panamericana, die etwas mehr windgeschützt zu sein scheint.

      Der Name dieser Region hier wurde von der Urbevölkerung übernommen. Er bedeutet Land des Windes und des Regens. Ein Tico an der Straße erklärt mir, dass hinter Upala der Wind wohl schwächer werden sollte. Aber so richtig weiß man das nicht, da der Wind durch die Vulkane beeinflusst wird. Und welcher der Vulkane den Wind gerade beeinflusst, weiß man eben auch nicht. Und eigentlich sei der Wind heute doch gar nicht so schlimm.

      Ich drehe um und halte bei jedem Pickup, der vorbeifährt, den Daumen raus. Es hält keiner an. Gegen zwölf bin ich wieder an der Kreuzung der Straße ins Landesinnere und der Panamericana. Der Bus nach Upala hält gerade, ich frage den Fahrer, ob ich mein Fahrrad mitnehmen könne. Der verneint, verweist auf einen Bus später, von dem er aber nicht wisse, wann er fahre. An der Kreuzung selbst findet gerade eine Polizeikontrolle statt, die blau Uniformierten halten Laster und Busse an, um Pässe zu prüfen. Ein Polizist steigt gerade in einen der großen Busse ein, der nach Cañas fährt. Ich schaue kurz auf meine Karte, radel schnell zum Bus, frage den Busfahrer ob ich mein Fahrrad mitnehmen könne, der grummelt ein wenig, steigt dann aber aus, öffnet den Kofferraum und ich kann mein Fahrrad dort einfach rein schieben. Ich drücke dem Fahrer zehn Dollar in die Hand, gehe nach hinten durch und setze mich auf einen freien Platz. Erleichtert schaue ich aus dem Fenster und beobachte die ziehenden Wolken über den Vulkanen.

      Costa Rica wollte ich eigentlich komplett mit dem Fahrrad durchfahren, schließlich sind noch gut zweieinhalb Wochen Zeit bis der Flieger nach Hause geht. Aber für diesen Wunsch habe ich einfach und schlicht die falsche Richtung gewählt. Von Nordwesten nach Südosten muss ich meine durchschnittlichen Tagesetappen durch drei teilen, um in etwa kalkulieren zu können. Das ist extrem frustrierend und außerdem schaffe ich dann meine Tour nicht bis Panama. Also rede ich mir ein gutes Gewissen ein, wenn ich mit dem Bus fahre.

      Gegen halb drei bin ich dann in Cañas. Mein Garmin lotst mich aus dem Ort heraus, über kleine Sträßchen in Richtung Laguna de Arenal. Es sind nur noch 22 Kilometer und dafür habe ich knapp drei Stunden Zeit. Das sollte machbar sein. Aus dem Ort heraus fahre ich zunächst in Richtung Norden, dann nach Osten. Und bergauf. Frustriert und gern pauschalierend denke ich: Es ist letztlich egal, in welche Richtung ich fahre, der Wind bläst immer von vorn und es geht immer bergauf. Die Vulkane sind heute gegen mich. Nicht nur heute, sondern eigentlich die ganze Zeit schon. Um halb fünf schaue ich dann auf meinen Tacho, ich habe in zwei Stunden immerhin 10,5 Kilometer geschafft. Stundenmittel: 5,25 Kilometer.

      Den See kann ich mir heute als Tagesziel abschminken. Ich stelle mein Fahrrad an den Straßenrand, pinkle in die Botanik und gönne mir dann etwas Salz mit Wasser aus der Flasche. Während ich so mit mir beschäftigt bin, kommt ein Pickup rückwärts zu mir gefahren. Der Fahrer fragt, ob er mich mitnehmen könne und wo ich denn hin wolle. Wir einigen uns auf den See als Ziel, er steigt aus, öffnet die Heckklappe, innerhalb von fünf Sekunden habe ich das Gepäck vom Fahrrad genommen und innerhalb von zehn Sekunden liegt das Fahrrad samt Gepäckstaschen auf der Ladefläche des kleinen Lasters.

      Im Innenraum sitzen schon die Frau von Wilbert und sein Sohn.

      Die Familie wohnt in einem kleinen Dorf am See und ist gerade auf dem Heimweg. Sie haben aus Mitleid angehalten, weil sie wissen, wie brutal die Sonne heute scheint und der Wind weht. Mitleid gibt es zwar umsonst, aber da die Fahrradeinheit Costa Ricas sowieso schon im Eimer ist, halte ich das Mitleid gerne mal aus und bin unterwegs sehr froh darüber. Es geht wirklich steil bergauf, den Wind merke ich nicht im Auto. Ich komme mit der Familie ins Gespräch. Sie laden mich auf einen Kaffee in ihr Haus ein, leider ist es schon spät und wenn ich wirklich noch zum See und dort mein Zelt aufstellen will, dann muss ich das Angebot leider ablehnen.

      Am See selbst fahre ich noch rund zehn Kilometer, bevor ich eine Kaffeerösterei erreiche. In Zentralamerika gibt es zwar tausende von Kaffeeplantagen, aber richtig guten Kaffee habe ich hier bisher nur selten trinken können. Also bin ich quasi gezwungen, hier einzukehren und zumindest zu hoffen, dass es hier richtig guten Kaffee gäbe. Und ja, der Kaffee schmeckt sehr lecker. Das Gelände ist groß und wirkt etwas verlassen, daher frage ich, ob ich hier heute Nacht zelten könne. Der Chef der Rösterei bietet mir nicht nur einen Zeltplatz an, sondern auch eine Dusche und sogar ein Bett in seinem Haus, das für Saisonarbeiter gedacht ist.

      Ich will keine große Mühe machen, bedanke mich für den Zeltplatz, nehme aber die Dusche liebend gern an um ein Bad in dem kalten See zu vermeiden.

      Im Café selbst sitzt jetzt noch ein Russe und trinkt ebenfalls Kaffee. Wir kommen ins Gespräch. Er wohnt hier für vier Monate, hat sich ein Haus gemietet und verdient sein Geld mit Online-Poker. Er ist promovierter Mathematiker und kann von überall auf der Welt aus spielen. Ich bin interessiert. Pjotr, so heißt der Russe, spielt an rund 20 Tischen gleichzeitig. Das geht nur online. Er sagt, es sei alles eine Frage der Statistik. Man brauche Erfahrung, ein gutes Gedächtnis und die Fähigkeit, schnell rechnen zu können, wenn man erfolgreich sein will.

      Wir reden auch ein wenig über die aktuelle Situation in Russland. Sind uns einig, dass die Isolation Russlands für alle Seiten negative Konsequenzen hat. Sprechen über die eine Konsequenz, die in den Zeitungen in der Regel nicht erwähnt wird: Die Entwicklung an der russisch-chinesischen Grenze. Pjotr sagt, dass wenn die Chinesen genauso vorgehen würden, wie die Russen in der Ukraine, dann würde jetzt ein riesengroßes Gebiet Ostsibiriens durch China besetzt sein, denn dort leben mittlerweile mehr Chinesen als Russen. Das wissen die Chinesen natürlich auch, sie werden dort nicht mit Gewalt einmarschieren, brauchen eigentlich nur zu warten. Und das tun sie und die Isolation Russlands durch den Westen lädt die Chinesen geradezu ein, nach Russland zu kommen. Das heißt: die Chinesen marschieren momentan friedlich in Russland ein. Und wenn die Sprache Ost-Sibiriens dann irgendwann Mandarin ist, werden die Grenzen neu gezogen.

      Es ist kurz vor sechs, Pjotr ist mit seinem Mountainbike hier und muss noch rund zehn Kilometer zu seinem Haus. Er muss los, lädt mich ein, mit ihm zu kommen. Ich lehne dankend ab, habe dafür eine Einladung nach Moskau.

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      • joeyyy
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        #43
        AW: [MX, BZ, GT, SV, HN, NI, CR, PA] 2015: Centroamérica en Bicicleta

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        Dienstag und Mittwoch, 24./25.2.2015: Von der Laguna Arenal über La Fortuna nach Chilamate oder: Warum Frau Haderthauer in Costa Rica noch Ministerin wäre


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        Die Kaffeegeschäfte laufen nicht so gut für Costa Rica, erzählt mir Jorge beim gemeinsamen Frühstück in seinem Café. Die Chinesen, die immer größere Teile des Weltmarkts mitbestimmen, wollen italienischen Kaffee von Illy. Illy kauft den Kaffee in Costa Rica und lässt ihn sogar teilweise hier rösten, weil es billiger ist als in Italien. Dann wird der Kaffee nach Italien verschifft und von dort nach China verkauft und weitertransportiert. Wer die Marke hat, hat den Markt. Die Wertschöpfung findet natürlich in Italien statt und nicht in Costa Rica. Mit den Bananen und dem Zucker ist es das Gleiche.

        Die Kaffee-Röst-Saison ist jetzt vorbei, Jorges Rösterei ist gerade vollkommen gesäubert. Um überhaupt Kaffee exportieren zu können, muss er schon sehr gut sein. Und aus dem Export erlösen die Röstereien natürlich wesentlich mehr Geld als aus dem Verkauf im eigenen Land. Das erklärt, warum es in Zentralamerika zwar sehr guten Kaffee gibt, aber nicht zu kaufen und nicht zu trinken. Hier, in seinem Café bietet Jorge allerdings seinen eigenen, guten Export-Kaffee an und der ist lecker. Ansonsten trinkt man hier gerne den Instant-Kaffee von Nestlé. Das ist so als würden wir in Deutschland das beste Bier der Welt brauen und exportieren und selber nur irgend eine holländische Plürre trinken. (Anmerkung: Ich mag Holland und die Holländer/innen. Nur in Punkto Fußball und Bier haben wir unterschiedliche Auffassungen, was in guten Disputen durchaus spannend ist.)

        Das nächste Frühstücksthema ist mal wieder die Korruption. In Costa Rica sind Politiker offensichtlich auch gerne mal Unternehmer. Dann folgt die Politik natürlich den persönlichen Interessen der Unternehmer. Nicht, dass das in Deutschland nicht ähnlich funktionieren würde – wir verstecken das manchmal nur ein wenig besser. In den letzten Jahren wollte die Politik der Ticos eine Eisenbahn bauen – die Netze existieren ja sogar teilweise noch aus den Zeiten, in denen die Amerikaner hier das Sagen hatten. Ein Präsidentschaftskandidat besaß ein Transportunternehmen mit vielen Lastwagen. Als er Präsident wurde, wurde das Eisenbahnprojekt gestoppt – aus Kostengründen. Fragt sich nur, was damit wirklich gemeint war. Ich schildere das Wachstumsbeschleunigungsgesetz in Deutschland, mit dem unsere FDP ganz offen die Anforderungen der Hotel-Lobby sogar in ein Gesetz eingebracht hat. Jorge fragt mich, was daran fragwürdig wäre, was ich wiederum fragwürdig finde. Ich schildere die Modellauto-Affäre, bei der die bayerische Arbeitsministerin Haderthauer als Chefin ihres Mannes mit diesem zusammen von psychisch kranken Strafgefangenen in staatlichen Einrichtungen hat Modellautos zusammenbauen lassen und damit viel Geld verdienen konnte. Jorge sagt, dass diese Frau hier in Costa Rica nicht auffallen und weiter im Amt sein würde. Schließlich würde ihr Mann doch die Geschäfte machen.

        Die Menschen in Costa Rica scheinen noch politikverdrossener zu sein als wir. Wir sind uns einig, dass Mark Twain am Ende richtig lag: “Wenn Wählen etwas verändern würden, würden sie es uns nicht tun lassen.”

        Am Lago Arenal entlang fahre ich im Regen. Schöner Regen. Er ist warm und weich. Ich spare mir die Regenklamotten, weil ich darin sowieso nur schwitzen und nass werden würde. Mein Merinotrikot spielt seine Vorteile aus: Es ist zwar nass, aber ich spüre das gar nicht so. Mein Temperaturempfinden ist genau so wie es sein sollte.

        Am Ende des Sees merke ich, dass ich trotz der Wolken einen Sonnenbrand an den Armen habe, da ich aufgrund des Wetters darauf verzichtet habe, mich einzucremen. Driss. Das hole ich dann schnell nach.

        Und endlich sehe ich die German Bakery, an deren Werbeschildern ich schon den kompletten Weg entlang des Sees vorbeifahre. Draußen steht ein leerer Bus, drinnen stehen und sitzen schwäbisch schwätzende ältere Herrschaften, die mit dem jungen Bäcker plaudern und froh sind, hier auf einen Landsmann zu treffen und endlich mal wieder vernünftiges Brot essen zu können: “Die Oig’borene könnet desch ja au net!”

        Costa Rica als Land ist sehr schön und wesentlich sauberer, als seine Nachbarstaaten. Aber irgendwie werde ich mit diesem Land nicht warm. Es ist schweineteuer hier (mindestens Faktor vier zu den anderen Staaten, teurer als Hannover), laut und voller Touristen. Die eigentlichen Ticos habe ich hier noch nicht gesehen, es ist am Ende fast wie auf Mallorca.

        Ich schiebe dieses Gefühl mal auf meinen Frust, den ich auch durch Wetter und Landschaftsprofil habe: Hier, in den Bergen, gibt es fast nur Wind oder Regen oder beides. Die letzten beiden Tage waren extrem anstrengend.

        Mal sehen, wie es wird, wenn ich aus den Bergen in der Ebene bin.

        Die Nacht verbringe ich in La Fortuna in einem der vielen Chill Out Backpacker Inns. Der Blick aus meinem Zimmerfenster auf den Vulkan Arenal ist großartig und das Spiel des Windes mit den Wolken ändert die Stimmung des Ausblicks minütlich.

        Aus La Fortuna heraus ist ausnahmsweise mal Genussradeln angesagt. Die erste Radstunde rollere ich mit einem 20er Schnitt und ohne Wind durch die Gegend. Ich fantasiere von einer Tagesetappe, die mal wieder dreistellige Kilometerzahlen hat.

        Bis Vara Blanca bleibt es herrlich flach und auch das Wetter hat sich wunderbar entwickelt, es ist wolkenfrei, ich kann rückblickend den Vulkan Arenal mal in ganzer Pracht bestaunen.

        Die Gegend, durch die ich jetzt fahre, ist touristisch nicht erschlossen, dafür gibt es hier Obstplantagen und obstverarbeitende Industrie. Und das bedeutet leider auch eine ganze Menge großer Laster. Ich muss jetzt häufig bergauf fahren, die Straße ist relativ eng, zwei von diesen fetten Lastern passen gerade so nebeneinander. Das heißt: wenn sich zwei Laster begegnen, ist für mich kein Platz mehr.

        Und jetzt muss ich einfach mal vulgär werden. Diese Lastwagenfahrer aus Zentralamerika bremsen vor jeder Bremsschwelle, weichen jedem Schlagloch aus. Und davon gibt es hier sehr viele. Das tun sie hauptsächlich, um ihre marode Technik zu schonen. Aber ein Radfahrer auf der Straße interessiert sie nicht die Bohne. Wenn sie merken, dass es eng wird, hupen sie höchstens einmal kurz. Ansonsten wird mit einem Abstand von zwei bis drei Zentimetern überholt. Ihnen ist scheißegal, ob ich dabei in den Graben fahre oder unter ihre Räder komme oder heil bleibe. Diesen Wixxern sind ihre Scheiß-Stoßdämpfer oder irgendwelche Drecksreifen wichtiger als ein Menschenleben.

        Jeder, der mich trifft und meine Geschichte hört, fragt mich, ob ich es nicht gefährlich finden würde, hier in Zentralamerika. Gemeint sind damit immer die Raubüberfälle, Erpressungen und Körperverletzungen. Ich werde immer wieder gefragt, ob ich Angst hätte. Meine Antwort lautet dann immer: “Lo que es peligrosa no es la calle pero la carretera.” Das ist ein Wortspiel und bedeutet frei übersetzt, dass für mich nicht “die Straße” innerhalb der Städte gefährlich ist, sondern die Straßen außerhalb der Städte.

        Entlang einer ruhigeren Straße finde ich ein Hostal, in dessen Garten ich direkt am Fluss zelten darf. Es wird von einem Russen betrieben, der einen lustigen Hund hat. Er bietet in seinem Hostal auch Rafting-Touren und sonstige Exkursionen an und fragt mich, ob ich ein paar Ideen hätte, wie er sein Geschäft ankurbeln könnte. Ich schlage vor, entweder das Zeltenlassen im Garten ganz zu verbieten oder daraus auch ein Geschäft zu machen.

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        Fortsetzung folgt.
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        • qwertzui
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          • 17.07.2013
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          #44
          AW: [MX, BZ, GT, SV, HN, NI, CR, PA] 2015: Centroamérica en Bicicleta

          Wundervoll, wie lebendig du die verschiedenen Episoden schilderst. Vielen Dank!

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          • joeyyy
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            • 10.01.2010
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            #45
            AW: [MX, BZ, GT, SV, HN, NI, CR, PA] 2015: Centroamérica en Bicicleta

            Zitat von qwertzui Beitrag anzeigen
            Wundervoll, wie lebendig du die verschiedenen Episoden schilderst. Vielen Dank!
            Danke für's Lob, weiter geht's...

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            Donnerstag, 26.2.2015: Von Chilamate zu Luís nach Westfalia am Atlantik

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            Am Anfang genussradel ich durch die Gegend, was aber nach rund 20 Kilometern wieder in Anstrengung mündet. Mein Ziel ist Puerto Limon und dann die Küstenstraße runter nach Panama. Doch um nach Puerto Limon zu kommen, muss ich rund 100 Kilometer über eine der Hauptverbindungsstraßen zwischen San Jose und dem wichtigsten Handelshafen des Landes fahren. Und da ist die Hölle los. Da werden von den Tico-Lastwagenfahrern keine Gefangenen gemacht. Ein Einheimischer, mit dem ich in La Fortuna über meine Reiseroute sprach, sagte mir, dass auf der Strecke regelmäßig Radfahrer überfahren würden, da die Carretera eng und uneinsehbar sei.

            Mir bricht kein Zacken aus der Krone, wenn ich also nochmal 100 Kilometer mit einem Bus fahre. Als ich mittags auf die Carretera 32 treffe, befindet sich genau an der Kreuzung eine größere Busstation. Der nächste Bus nach Puerto Limon fährt in einer halben Stunde. Das ist ein wirklich großer Bus. Mein Fahrrad kann ich aufrecht in den Gepäckraum stellen und ich selbst nehme in einem Luxussessel platz. Aus meinen Erfahrungen in Mexico habe ich gelernt und nehme meine Fleecejacke mit ins Businnere. Die Klimaanlage läuft auf Hochtouren und kühlt die Luft soweit runter, dass selbst ich anfange zu frösteln.

            Aus dem Fenster des Busses schauend bin ich froh, die Entscheidung so getroffen zu haben. Die Straße ist voller Laster, die sich sogar überholen, ohne dass die Fahrer wirklich sehen können, ob Gegenverkehr kommt oder nicht. Was geht bloß in den Köpfen dieser Fahrer vor?

            Knapp zwei Stunden später sitze ich in Puerto Limon wieder auf dem Rad. Diese Stadt gilt als “Hotspot” für Diebe und Räuber und wirkt nicht gerade einladend auf mich. Ich sehe zu, dass ich schnell zum Meer und dann auf die Straße Richtung Süden komme.

            Der Atlantik ist hier weniger spektakulär wie der Pazifik. Karibik eben. Es läuft jetzt. Ich meine, es rollt. Gegen fünf halte ich an einem Restaurant an und kaufe mir eine kalte Cola. Es ist idyllisch und ich frage den Besitzer des Restaurants, ob ich hier zelten dürfe. Claro que sí!

            Bei einem leckeren Fisch und einer kalten Cerveza Imperial kommen wir später ins Gespräch.

            Ach, wie schön ist Panama. Dabei bin ich ja noch in Costa Rica. Vielleicht will dieses Land es sich mit mir ja doch noch versüßen.

            Das Gespräch mit Luís dreht sich um Familie und Kinder. Luís ist knappe 60, geschieden und hat insgesamt sechs Kinder, von denen die meisten schon wieder verheiratet sind. Er empfindet sein Leben ohne Frau wesentlich einfacher als mit Frau. Die Tatsache, dass er Kinder hat, lässt ihn in der Art glücklich sein, die nur eine eigene Familie ermöglicht.

            Ich kann das so gut nachempfinden. Seit ich geschieden bin, habe ich ein wesentlich intensiveres Verhältnis zu meinen Kindern und empfinde jetzt mehr familiäre Bindung zu ihnen als in der Zeit meiner Ehe. Auch meine Kinder sind nun – wie die von Luís – erwachsen und werden irgendwann vielleicht mal selbst Kinder bekommen. Insofern kann ich mit zeitlich fernem Abstand und dadurch einer relativ gelassenen emotionalen Stimmung zurückblicken und das so für mich werten.

            Zelten am Meer ist wunderbar. Ich liebe das Rauschen der Wellen, wenn ich dabei einschlafen kann. Es hat etwas archaisches, etwas berührend wohliges, etwas Geborgenheit gebendes. Ich bin glücklich.

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            Fortsetzung folgt.
            Zuletzt geändert von joeyyy; 26.10.2015, 23:43.
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            • Moosmann
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              #46
              AW: [MX, BZ, GT, SV, HN, NI, CR, PA] 2015: Centroamérica en Bicicleta

              ...schöne Bilder, danke für den Bericht. Es ist bestimmt wirklich von Vorteil, wenn man die Landessprache spricht, tue ich leider nicht in diesem Fall...

              Die German Bakery hat uns auch lange auf ihren Schildern begleitet...
              Interessant auch die unterschiedliche Perspektive als Radler oder Autofahrer. Abgesehen davon, dass ich bei den schnurgeraden, stark befahrenen Hauptstrassen wenig Lust verspürt hätte, sie mit dem Rad zu befahren und mir in etwa vorstellen kann, wie man sich neben den fetten Trucks fühlt - ich als Autofahrer fand es merkwürdig, dass einige Trucker uns trotz guter Sicht absichtlich am überholen gehindert haben. Bin mir nicht sicher warum - übergriffiges Sicherheitsdenken war das nicht unbedingt, vielleicht haben die sich als Kings of the Road gekränkt gefühlt...

              Gruß,
              Moosmann

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              • joeyyy
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                #47
                AW: [MX, BZ, GT, SV, HN, NI, CR, PA] 2015: Centroamérica en Bicicleta

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                Freitag, 27.2.2015: Von Westfalia nach Manzanillo oder warum man sich selbst nur selten findet, Langusten hingegen öfter

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                Genussradeln ist angesagt, am Atlantik entlang, 70 Kilometer in gut drei Stunden. Läuft!

                Am Ende Costa Ricas sammeln sich die Esoterikerinnen Nordamerikas, in einer Sackgasse, an deren Ende ein kleiner Ort namens Manzanillo liegt. Hier gibt es Wellness-Oasen, Tantra-Tempel und Wiedergeburtshebammen – ich fahre dran vorbei und schüttel nur den Kopf. Und was fällt mir auf? Die Häuser dieser Leute sind wahre Prachtbauten und die Autos, die davor parken sind durchaus groß und luxuriös. Wenn es keinen Markt für diese Dienstleistungen gäbe, gäbe es hier nicht ein so großes Angebot. Selbstfindung ist seit Jahren ein Renner. Komisch ist nur, dass die Menschen offensichtlich erstmal andere Menschen suchen und an andere Orte fahren wollen, um sich selbst zu finden. Ich persönlich könnte das wahrscheinlich in meiner Küche eher als an einem fremden Ort in einem fremden Raum, in dem sich Klangschalenklänge durch Räucherstäbchenluft kämpfen.

                Ich stelle mir die Frage, wie das eigentlich gehen soll: Sich selbst finden. Ich meine: Wenn man tagtäglich mit sich selbst zusammen ist, dann hat man sich doch. Was soll ich da noch finden können? Die Voraussetzung für das Finden ist eine Suche. Und eine Suche ist zielgerichtet. Nach etwas, das man braucht, das man vielleicht verloren hat. Aber Voraussetzung für eine Suche ist eine Vorstellung von dem zu findenden.

                Klar, nach dem Serendipitätsprinzip kann ich auch durchaus Brauchbares finden, obwohl ich gar nicht danach gesucht habe. Oder ich finde etwas, obwohl ich überhaupt gar nicht suche. Das Surfen im Internet ist ein gutes Beispiel dafür. Aber je größer das Chaos ist, in dem ich nach etwas Bestimmtem suche oder in dem ich etwas finden kann, das mir nützt, obwohl ich nicht danach suche, umso unwahrscheinlicher greift das genannte Prinzip. Und wenn Selbstfindung ein Umhermäandern im eigenen Chaos ist, bei dem eigentlich nicht gewusst wird, was gesucht wird, aber auf das Serendipitätsprinzip gebaut wird, dann schmeißen hier ziemlich viele Leute ziemlich viel Geld aus dem Fenster.

                In dem Hostal, in dem ich mich einmiete, treffe ich – auf der Treppe mit den Packtaschen in der Hand stehend – Cliff, einen weißhaarigen Amerikaner, der mich gleich einnordet. Wir werden alle nuklear, biologisch und chemisch bestäubt. Die weißen Streifen am Himmel sind der Beweis! Henry Kissinger schrieb schon in den Siebzigern ein Weißbuch, in dem er plante, die Menschheit auszulöschen und einen Weltstaat nach US-Vorbild zu errichten. Und die weißen Streifen zeigen, dass das jetzt in die Tat umgesetzt wird.

                Ich schaue ihn fragend an und sage auf spanisch, dass ich ihn nicht verstehe und dass ich jetzt erstmal meine Packtaschen in mein Zimmer bringen möchte. Er drückt mir eine Fotokopie diverser Zeitungsartikel in die Hand und sagt, ich solle mir das durchlesen und dann morgen nochmal mit ihm diskutieren.

                Kann eigentlich ein ganzes Land unter Borderline leiden?

                Aitor aus Spanien spricht mich an und klärt mich über Cliff auf. Wobei er mich nicht groß aufklären muss – mein erster Eindruck deckt sich mit den Schilderungen des Spaniers. Aitor ist aber eigentlich gar kein Spanier, sondern Baske. Er ist Maler und Bildhauer, hat eine deutsche Mutter und wir unterhalten uns auf deutsch. Von ihm kann ich mir Flossen, Taucherbrille und Schnorchel leihen und endlich mal – wie vor Jahren mit Lennart auf Kuba – in der Karibik schnorcheln. Aitor selbst will mit einer Harpune unser Abendessen schießen. Ich bin gespannt.

                Dieses Gefühl der Schwerelosigkeit in körperwarmem Salzwasser, gepaart mit dem Unterwasserwellenrauschen in den Ohren, präge ich mir ein. Ich möchte es immer wieder abrufen können, wenn ich abends im Bett liege, mein Buch zur Seite gelegt habe und mich der Müdigkeit hingebe. Dann will ich genau so in den Schlaf schweben, wie ich jetzt hier zwischen den Riffen der Karibik schwebe.

                Ich kaufe Bier und Wein für’s Abendessen. Aitor hat zwei Langusten und einen Fisch geschossen, die er in der Küche des Hostals kocht. Das ganze Haus riecht nach dem leckeren Essen und die Inhaber sind ein wenig sauer, weil sie selbt ebenfalls Essen kochen, was sie dann allerdings verkaufen wollen. Und alle anderen Gäste fragen, ob sie auch Langustensuppe essen können.

                Nein, Aitor und ich verneinen, schließlich hat der Baske die Tiere selbst gesucht, gefunden, erbeutet und nun mitgebracht. Im Gegensatz zu den Selbstsuchern in der Nachbarschaft wusste Aitor, nach was er suchte und nahm die zum Finden und Erbeuten notwendige Ausrüstung mit. Langusten sind offensichtlich leichter zu erbeuten als das Selbst. Das bestätigt auch Aitor.

                Er wohnt schon seit einigen Wochen hier und will auch noch ein Weilchen bleiben. Seine Kunst wirft nicht allzu viel ab heutzutage, früher verdiente er mehr, als er noch Aufträge aus der Industrie und von den Banken hatte. Seit der Wirtschaftskrise hat das Kostenbewusstsein in Spanien das Kulturbewusstsein verdrängt und so hat Aitor kein festes Zuhause mehr. In Europa hat er ein Wohnmobil, mit dem er in den warmen Jahreszeiten in Frankreich und Spanien umhertourt.

                Wir reden über die Arten zu leben, über die Vorteile des einen und die Nachteile des anderen. Allzu lange müssen wir gar nicht reden, da wir uns nicht viel Neues erzählen. Aber in einem Punkt sind wir unterschiedlicher Auffassung: Während Aitor ein Leben mit Frau und ohne Kinder als sinnstiftend ansehen kann, ist es bei mir genau andersherum: Mein Leben ohne Frau kann für mich durchaus erfüllend sein, mein Leben ohne Kinder nicht.

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                Fortsetzung folgt.

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                Jörg.
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                  #48
                  AW: [MX, BZ, GT, SV, HN, NI, CR, PA] 2015: Centroamérica en Bicicleta

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                  Samstag/Sonntag, 28.2./1.3.2015 – Ruhetag in Manzanillo/Costa Rica und dann nach Changuinola/Panama: Endlich wieder raus hier!

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                  Eigentlich will ich losfahren. Es ist jetzt kurz nach neun und es regnet in Strömen. Ich hatte gestern abend meine Sachen gewaschen und aufgehängt. Die sind jetzt nass. Ich habe schon schlecht geschlafen, weil die fetten Regentropfen auf dem Blechdach mein Schlafzimmer zum Inneren einer Trommel gemacht haben. Aber gerade hört es auf zu regnen, es weht ein lauer Wind und die Sonne zeigt sich hin und wieder mal. Ich hoffe, dass der Tag doch noch schön wird. Wird er, aber erst ab 12 Uhr mittags.

                  Die Kindle-App auf meinem iPad bietet noch viel spannenden Lesestoff, es gibt zugegebenermaßen nicht viele schönere Orte auf der Welt, um lesend in einer Hängematte einen Ruhetag zu verbringen als ein Karibik-Strand in Costa Rica und einen Ruhetag kann ich gut gebrauchen. Außerdem können meine Sachen trocknen und mittags losfahren lohnt sich doch nicht. Wieso brauche ich eigentlich so komische Ausreden, um einfach nur hier noch einen Tag zu chillen?

                  Am nächsten Morgen regnet es wieder. Die Inuit haben zwölf Worte für Schnee. Die Maya haben garantiert mindestens zwanzig für Regen.

                  Es ist halb zehn und ich warte auf eine Regenpause, die nicht kommt. Um zehn fahre ich los. Im Regen in den Regen. Viel zu warm für Regensachen, es ist irgendwie schön, in normalen Radklamotten im Regen zu fahren.

                  Nach rund 50 Kilometern bin ich an der Grenze zu Panama. Eine alte Eisenbahnbrücke führt über den Grenzfluss, Autos können hier überhaupt nicht rüber.

                  Die beiden costaricanischen Grenzbeamten geben mir den Rest, was meine Einstellung zu diesem seltsamen Land angeht. Sie sitzen absolut gelangweilt in ihrem Büro und glotzen auf ihre Mobiltelefone. Einer sagt, ich müsse Grenzsteuer zahlen, aber nicht hier.

                  Ich müsse die Steuer an einem Automat zahlen und dann wieder zurück kommen. Ich bin verdutzt, habe ich doch ausreichend Kleingeld bei mir und das sogar passend. Nein, das ginge nicht, ich müsse an den Automaten. Ich versuche mein Glück. Meine Mastercard wird nicht akzeptiert und der Schlitz für das Bargeld funktioniert nicht. Ich bitte die beiden Beamten, mein Bargeld zu akzeptieren. Keine Reaktion. Ich werde sauer, in einer halben Stunde werden die diesen Posten hier dicht machen und dann müsste ich bis morgen auf meinen Stempel im Pass warten. Ziemlich forsch und deutlich sage ich, dass dieser dämliche Automat nicht funktioniere. Die beiden Typen hinter dem Glasschalter ignorieren mich und starren weiterhin auf ihre Telefone. Eine Frau, die den Grenzposten betritt, sagt, dass ich die Steuer auch in der Apotheke gegenüber bezahlen könnte. Ich kapiere nix mehr, bin ungläubig und schaue gestresst auf die Uhr an der Wand. Aber was bleibt mir übrig? Ich packe meine Dokumente zusammen und schiebe mein Rad vor die Apotheke.

                  Drinnen frage ich die Frau hinter dem Tresen, wo ich denn hier die Ausreisesteuer zahlen könnte. Sie zeigt auf einen Automaten, ich kriege die Krise und erzähle von meinem Erlebnis mit dem ersten Automaten im Grenzposten. Sie lächelt mich an, kommt zum Automaten und bittet mich um das nötige Bargeld. Das gebe ich ihr, sie drückt ein paar Knöpfe, schiebt die Dollarnoten in den Schlitz und gibt mir eine Quittung. Die solle ich nun dem Grenzposten vorzeigen und dann würde ich die Stempel kriegen.

                  Die beiden Typen von vorhin streiten sich nun mit der Frau aus Panama, die vorhin reinkam – ich weiß nicht, warum. Sie ist wütend und geht raus. Ich zeige den Beamten nun ohne ein Wort und mit böser Mine meinen Reisepass und die Quittung aus der Apotheke. Einer schaut gelangweilt auf die Quittung, klatscht auf irgendeine Seite meines Passes den Costa-Rica-Stempel und schiebt mir den Pass wieder zu. Tschüss Costa Rica, tschüß Ticos, auf Nimmerwiedersehen!

                  Die ehemalige Eisenbahn- und jetzige Fußgängerbrücke ist abenteuerlich, ich schiebe mein Rad lieber rüber. Vorher will noch ein Polizist meinen Reisepass sehen und den Stempel seiner Kumpel inspizieren. Ohne den wäre ich wohl nicht rausgekommen, aus diesem Abzockerland. CR verlässt mich, wie es mir begegnet war: Missmutig, mit Wind, mit Regen.

                  Panama empfängt mich zwar mit dem gleichen Wind und Regen, aber die Strecke ist wunderbar: Auf einer stillgelegten Eisenbahnstrecke geht es durch Wälder und Felder. Als ich eine Brücke über den Rio San San überquere, sehe ich einen alten Bus auf einem Floß mitten im überquerten Fluss ankern. Hinter der Brücke ist irgend ein Informationszentrum, ich fahre in die Einfahrt und frage einen Mann, der das Gebäude gerade absperrt, ob ich hier am Fluss zelten dürfe. Nein, das ginge nicht, sagt er – allerdings mit offener und freundlicher Mine. Er sei hier nur der Verwalter und könne das gar nicht entscheiden. Ich frage, was das hier denn sei. Ich erfahre, dass ich in einem Informations- und Koordinationszentrum für die Renaturierung dieser Gegend und die Hege und Pflege von Meeresschildkröten gelandet bin. Interessiert frage ich, warum denn hier renaturiert werden müsse.

                  Der Mann freut sich über das Gespräch und erklärt mir, dass für die Bananen-Plantagen viel Land geopfert werden musste und dass der Regenwald bis zum Atlantik gerodet wurde. Das führte dazu, dass die Meeresschildkröten, die hier Jahr für Jahr herkamen, um zu laichen, ausblieben, da sie keine Ruhe zum Laichen hatten.

                  Vor ungefähr fünfzehn Jahren haben Umwelt- und Tierschutzorganisationen Geld gesammelt, den Bananen-Baronen einen breiten Landgürtel entlang des Flusses bis zum Ozean abgekauft und jetzt ist man dabei, diese Gegend zu renaturieren. Das heißt: Bäume und Büsche anzupflanzen, die es hier schon lange nicht mehr gab. Und mittlerweile kommen auch die ersten Schildkröten wieder, um am Strand – dort, wo der San San in den Ozean fließt – zu laichen.

                  Die Brut wird – auch nachts – von Freiwilligen und Angestellten des Vereins bewacht, um möglichst viele kleine Schildkröten sicher ins Meer zu begleiten, wo sie noch genügend Fressfeinde erwarten.

                  In der Zwischenzeit hat sich noch die Frau des Verwalters zu uns gesellt. Ich frage nochmal höflich, ob ich hier nicht übernachten dürfe – ich würde morgen früh auch ganz früh wieder wegfahren. Die beiden schauen sich an und nicken mir zu. Sie lassen sogar die Toilettenanlage geöffnet, damit ich fließendes Wasser habe. Ich spende zehn Dollar für den Verein und freue mich über dieses tolle Nachtlager. Meine Dusche ist eine gefüllte Einliter-Alu-Wasserflasche, die ich am Wasserhahn wieder nachfüllen kann. Ich bin sehr zufrieden, baue mein Zelt unter ein Pavillondach direkt am Fluss und werde von Grillen und Fröschen in den Schlaf gesungen.

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                  Jörg.
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                    #49
                    AW: [MX, BZ, GT, SV, HN, NI, CR, PA] 2015: Centroamérica en Bicicleta

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                    Montag, 2.3.2015: Von Changuinola bis Pueblo Nuevo, Dienstag, 3.3.2015: Von Pueblo Nuevo bis irgendwo in den Bergen, Mittwoch, 4.3.2015: Von in den Bergen weiter in den Bergen zur Lost and Found Lodge und Donnerstag, 5.3.2015: Ruhetag im Regenwald. Oder: Was man gar nicht tun muss, um sich reich zu fühlen.


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                      #50
                      AW: [MX, BZ, GT, SV, HN, NI, CR, PA] 2015: Centroamérica en Bicicleta

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                      Freitag, 6.3.2015: Von der Lost and Found Lodge nach San Felix an der Panamericana. Oder: Warum man alt nicht mehr jung ist.

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                      Ich bezahle meine Rechnung, 80 US-Dollar. Wow – ich bin blank. Rotwein im Dschungel ist eben teuer. Geldautomaten sind im Dschungel ebenfalls Mangelware, also muss Frank mir 20 Dollar leihen, mir selbst bleiben noch sechs. Ich habe ungern Schulden. Es soll Leute geben, die leben vom Schuldenmachen – leihen sich Geld für einen niedrigen Zinssatz, lassen das Geld für sich arbeiten, kassieren einen hohen Zinssatz, geben das geliehene Geld wieder zurück und leben von den mehr erhaltenen als gezahlten Zinsen. Leverage-Effekt nennt man das in der Betriebswirtschaftslehre. Obwohl ich das mal studiert habe und ich auch wüsste, wie ich so Geld verdienen könnte, kann ich das nicht. Will ich das nicht. Das ist nicht mein Naturell. Ich will niemandem etwas schulden. Schulden machen erpressbar. Erpressbar zu sein heißt, unfrei zu sein. Unfrei im Kopf, unfrei in den Handlungen. Und wenn dann die Theorie in der Praxis nicht greift, wird es problematisch. Je nachdem, von wem man sich Geld geliehen hat, hat man sich verkauft. Mephisto lässt grüßen und bestimmt den Grad der Prostitution des Faust. Und die Staaten dieser Erde machen das Schuldenmachen im Moment mit ihrer Niedrigzinspolitik so attraktiv wie nie. “Investitionsanschub” nennen die das dann. Nein, danke, ich nicht. Selbst die zwanzig Dollar, die ich Frank jetzt schulde, lassen in mir solche Gedanken entstehen.

                      Der Weg runter von der Lodge zur Straße ist steil, die Abfahrt in die Pazifikebene rasant, mein Tacho zeigt 76 km/h als Maximalgeschwindigkeit. Das ist nicht so viel, aber die Windböen sind unberechenbar.

                      Mit den abnehmenden Höhenmetern nehmen die Celsiusgrade auf dem Thermometer zu. In der Karibik regnet es häufig, hier selten. In David biegen Frank und ich links ab, auf die Panamericana, Richtung Panama City.

                      Die Autobahn ist einseitig gesperrt, der Verkehr fließt über zwei Fahrspuren, es ist extrem eng. Das hier ist eine Riesenbaustelle, eng, laut, staubig. Da macht Fahrradfahren nicht nur keinen Spaß, es ist auch sehr gefährlich. An einem Kiosk beschließen wir, die nächsten 30 Kilometer bis San Felix mit einem Pickup-Taxi zu überbrücken und dann den Rest nach Panama City mit dem Bus zu fahren. Wir hätten zwar noch die Zeit, dorthin zu radeln, aber warum sollen wir uns hier quälen, wenn wir in der Stadt Kultur und Zivilisation erleben können. Außerdem wollen wir die eingesparte Zeit nutzen, um dann am Kanal entlang vom Pazifik zum Atlantik und wieder zurück zu fahren.

                      In San Felix, an der Bushaltestelle, treffen wir Andy, einen Reiseradler aus Neuseeland. Andy radelt durch die Welt und ist halt gerade hier. In seiner Heimat arbeitet er immer so lange in einer Fabrik, bis er genügend Geld für ein Jahr Auszeit plus Rückflug hat, dann reist er so lange durch die Welt, bis das Geld alle ist und fliegt wieder zurück nach Neuseeland.

                      Frank, Andy und ich beschließen, hier in einem Hotel abzusteigen und es uns mal so richtig gut gehen zu lassen. Wir fahren Richtung Strand und fragen in einem Hotel, das von einem Berliner betrieben wird, nach Zimmern. Ich rede auf deutsch mit dem Besitzer und bekomme einen guten Preis. Voraussetzung: Wir müssen uns zu dritt ein Zimmer teilen. Kein Problem. Das Hotel hat einen Mallorca-Tourismus-Standard, also Luxus pur für uns.

                      Nachdem wir geduscht haben, springen wir in den hoteleigenen Swimmingpool, holen uns ein paar Flaschen Bier und lassen es uns im Wasser gut gehen. Wir verabreden ein kleines Spielchen: Wenn die Flaschen leer sind, muss derjenige neues Bier holen, der am kürzesten unter Wasser bleiben kann. Na ja, ich habe zwar die größten Lungen, bin aber am wenigsten alkoholfest. Ich mache das ganze nur einmal mit, da ich befürchte, dass irgendwas passieren könnte, das nicht geplant war. Wir wollen uns ja auch nicht abschießen, haben schließlich ein gut klingendes Abendessen gebucht.

                      Andy ist ein wirklich sympathischer Globetrotter. Frank und ich beneiden und bewundern ihn zugleich. Wie gern wäre ich an seiner Stelle. Dreißig Jahre alt, keine Verpflichtungen, gesund, gut aussehender Kerl mit sympathischer Ausstrahlung, mit dem Fahrrad unterwegs in der Welt. Na gut, wir verabreden, dass wir zwar keine dreißig mehr sind, aber ansonsten durchaus mithalten können. Und Frank will jetzt sogar nach Hause. Er versucht schon seit zwei Tagen, einen früheren Rückflug von Panama City nach Holland zu organisieren. Ich selbst könnte zwar noch ein paar Wochen weiterreisen, aber der Magnet “Zuhause” zieht auch bei mir – mehr als er es früher tat.

                      Was bedeutet das? Mit fünfzig ist man keine dreißig mehr.

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                      Jörg.
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                        #51
                        AW: [MX, BZ, GT, SV, HN, NI, CR, PA] 2015: Centroamérica en Bicicleta

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                        Samstag, 7.3.2015 bis Donnerstag, 12.3.2015 mit dem Transfer von San Felix nach Panama Stadt, Sightcycling, einigen Ruhetagen mit Kultur und Kanal und noch einer Tour vom Pazifik zum Atlantik und zurück. Und dem Ende der Reise.

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                        Das angekündigte deutsche Frühstück mit Frank und Andy entpuppt sich als Papp-Brot mit Butter und Marmelade, dazu ein hart gekochtes Ei. Der Kaffee ist allerdings sehr gut, die Leute sind freundlich und wir haben uns wohl gefühlt.

                        Neben uns wohnt ein deutsches Paar, beide Mitte 50, Aussteiger. Beide frisch komplettoberkörpertätowiert, er Schichtarbeiter, sie Friseuse. Ex-Schichtarbeiter, Ex-Friseuse.

                        Kommen aus München, haben ihr Haus dort für einen hohen sechsstelligen Betrag verkauft und bauen sich jetzt hier in Panama ein neues Haus. Natürlich muss es genauso sein, wie das in München. Man wohnt hier seit vier Monaten in diesem deutschen Hotel, weil der Besitzer halt ein Deutscher ist und auch noch weitere Deutsche da sind. Da kennt man sich dann, man kann unter sich sein. Die beiden braun Gebrannten sitzen in Badehose und Bikini am Pool, rauchen ihre Zigaretten, trinken ihren Kaffee. Die Frau kann schon so viel Spanisch, dass sie einkaufen und im Restaurant bestellen kann, erzählt der Mann. Er lernt dann spanisch, wenn er Zeit hat. Jetzt muss er viel die Hunde ausführen und auf der Baustelle die Arbeiter überwachen. Man will ja schließlich gerade Fliesen haben und die Arbeiter aus Panama können das nicht.

                        Nach rund zehn Minuten Smalltalk rufen mich meine Fahr-Kameraden und wir fahren zur Bushaltestelle.

                        Nach zwei kühlen Bierchen am Morgen kommt der Bus, wieder so ein Monster. Andy will mit dem Rad weiter, Frank und ich verstauen unsere Räder im Bus, kurze Verabschiedung, um halb zwölf geht’s Richtung Panama-Stadt.

                        Im Bus sitze ich neben einer älteren Frau, wir kommen ins Gespräch. Die Panamericana wird auf 200 Kilometer doppelspurig ausgebaut, das ist ein Milliardenprojekt, das von einer kolumbianischen Firma durchgeführt wird. Normalerweise könnten das auch Firmen aus Panama, das haben sie schließlich im Norden und im Süden gezeigt. Aber man munkelt, dass ein Minister aus Panama Teile seiner Familie in Kolumbien hat. Die Korruption ist hoch hier in Panama. Die Wertschöpfung des Bauprojektes fließt nach Kolumbien, von dort kommen die Architekten, Ingenieure und Vorarbeiter. Nur die niederen Tätigkeiten werden zum Teil von Menschen aus Panama durchgeführt.

                        Fast jeder Politiker hier hat noch eine Firma, die dann plötzlich prosperiert, wenn der Politiker gewählt wird. Meine Nachbarin beneidet Europa wegen der fehlenden Korruption, in ganz Zentralamerika zermürbt sie die Menschen. Auch dieser Frau erkläre ich die europäische Lobbyarbeit mit ihrer subtilen, undurchschaubaren Form von Korruption und erkläre anhand von Beispielen, dass unsere Politiker ebenfalls korrupt sind, es heißt nur nicht so.

                        Ein ehemaliger deutscher Kanzler arbeitet jetzt für eine russische Pipeline Firma, ein ehemaliger deutscher Umweltminister arbeitet jetzt für eine große Autofirma, für einen ehemaligen Kanzleramtsminister hat die Kanzlerin als Eignerin der deutschen Bahn dort sogar einen eigenen Posten mit Millionenbezügen geschaffen.

                        Ich kann zwar nicht sagen, dass die Frau beruhigt ist, aber zumindest habe ich Europa ein wenig ent-idealisiert die moralischen Abstände zwischen den beiden Kontinenten etwas verringert.

                        Frank und ich sind froh, dass wir den Bus nehmen. Der Wind ist heftig, kommt aus Südost, das hieße für uns also: Gegenwind. Bei einer Pause an einer Tankstelle merken wir auch, wie heiß es hier ist. Verbunden mit dem Staub und dem Lärm der Baustelle wäre das Radeln hier eine echte Qual. Ich habe keine Probleme mit dem Selbstquälen beim Radfahren, wenn ich gegen Hitze, Kälte, Sturm, Berge oder Sand ankämpfen muss. Dann pisst mich das zwar auch an, aber ich ziehe es durch. Wenn aber Menschen hinter den Unbilden des radelnden Vorankommens stecken, dann frage ich mich höchstens noch rhetorisch, ob ich mir das antun muss. Und wenn möglich, fahre ich dann eben mit dem Bus oder der Bahn so weit, bis ich wieder mehr Freude am Radeln habe. Das gönne ich mir.

                        Gegen sechs Uhr nachmittags kommen wir in Ciudad am Busbahnhof an. Ich programmiere den Garmin und wir fahren über mehrspurige Autobahnen vom Busbahnhof in den Stadtteil Casco Viejo. Der Garmin ist hier ein unentbehrlicher Helfer. Panama Ciudad ist beeindruckend. Wir fahren durch ein Reichenviertel, direkt an der Zufahrt zur Brücke der Amerikas, welche die beiden geografischen Kontinente Nord- und Südamerika verbindet. Die Häuser hier sind durch Zäune mit Stacheldraht abgesichert. In Panama gibt es eine breite Oberschicht, die in den Banken, Reedereien und Speditionen arbeitet und rund um das Steuerparadies und den Kanal viel Geld verdient.

                        In direkter Nachbarschaft liegen dann auch vernachlässigte Häuser, die Menschen sitzen auf den Treppen und der Straße, Polizei und Militär zeigen Präsenz. Die Unterschiede zwischen arm und reich sind deutlich sichtbar.

                        In einem kleinen Hostel mitten im Altstadtviertel mieten wir uns ein, duschen und schlendern durch die Straßen, um die Gegend ein wenig zu erkunden. Im Lonely Planet stehen ein paar kulinarische Empfehlungen, denen wir folgen. Wir holen uns ein paar Tapas und Bierdosen auf die Faust und setzen uns auf eine Bank eines belebten Platzes. Ab acht Uhr abends wird die Stimmung dann anders. Die Menschen verschwinden so langsam, es bleiben dunkle Gestalten über, denen wir nicht über die Wege trauen. Ein Mann mit verschlissener Kleidung und verwegener Frisur setzt sich direkt vor uns auf die Straße und schaut mir aggressiv in die Augen. Sagt nichts. Keine Gesten, keine Worte. Frank und ich schauen uns an, nehmen unsere Sachen und verschwinden in Richtung Hostel. Auf dem Weg dorthin kommen wir an einem edlen Restaurant vorbei, wo dann die “High Society” eine Party zelebriert. Die Menschen kommen mit ihren teuren Autos vorgefahren, steigen einfach so aus, irgendein junger Mann kommt sofort angelaufen und fährt das Auto dann irgendwo hin, wo es Parkmöglichkeiten gibt. Na, das nenne ich mal Vertrauen. Vor dem Restaurant findet dann das statt, was ich halt so aus den Hollywoodfilmen kenne: Man steht mit Sektchen, Täschchen und Röckchen zusammen, hält Smalltalk und zeigt sich den anderen. Das sind die Parties, die ich nie mochte, die ich während meines Berufslebens immer vermieden habe und weiterhin vermeiden werde.

                        Die schönste Art, eine Stadt zu besichtigen, ist für mich, sie zu beradeln. Zuhause am Computer hatte ich schon eine 60-Kilometer-Rad-Runde zurechtgelegt und auf den Garmin übertragen. Jetzt fahren Frank und ich sie ab.

                        Panama Stadt ist groß, interessant und wunderbar per Rad zu erkunden. Allerdings waren die Gegensätze zwischen arm und reich für mich auch in noch keiner Stadt so groß wie hier. Ciudad ist stinkreich. Und dreckig zugleich. Und militarisiert, um die zivile Ordnung aufrecht zu halten.

                        Downtown und in den Bankenvierteln fallen mir die dicken Menschen in den dicken Autos auf. Während bei uns in Europa diese unnützen und gefährdenden SUV-Protzkisten ja mittlerweile viel Misstrauen, Ärger und Ablehnung hervorrufen, sind sie hier immer noch Statussymbol.

                        Panama ist auch eine sportliche Stadt. Direkt am Meer entlang führt ein sehr gut ausgebauter Radweg, direkt neben einem breiten Fußweg, der von vielen Joggerinnen und Joggern genutzt wird.

                        Am Ende dieses Tages sind wir knapp 80 Kilometer gefahren.

                        Abends gehen wir zum Fischerei-Hafen, um den verheißenen leckeren Fisch zu essen. Na ja. Es ist Sonntagabend, halb Panama hat die gleiche Idee. Rappelvoll ist es hier, jeder Stand hat Megalautsprecher aufgebaut, es ist so laut, dass wir uns nicht unterhalten können.

                        Das heftigste hier ist aber der Gestank. Sämtliche Fischabfälle werden einfach aus den Fenstern der Küchen geworfen, wo sich Pelikane und Möwen ums Abendmahl streiten. Zwar scheint jetzt nicht mehr die Sonne, aber die Hitze ist auch abends noch da und verstärkt den Geruchsekel nochmal drastisch.

                        Dennoch essen Frank und ich einen Fisch, der tatsächlich sehr lecker ist, aber danach gehen wir auch schnell wieder in Richtung Hostel.

                        Die letzten Tage sind halt so Besichtigungstage in einer Großstadt mit Besuchen in Museen, größeren Läden, dem Friseur und empfohlenen und nicht empfohlenen Restaurants. Nichts besonderes.

                        Am vorletzten Tag radel ich nochmal allein nach Colon, oben am Atlantik, will den Panama-Kanal komplett abfahren. Das ist eine schöne Tour am Stausee vorbei, der die Schleusen mit Wasser versorgt. Als ich unterwegs über eine Brücke über einen Fluss fahre, liegt direkt unter mir ein fettes Krokodil. Einen Taxifahrer, der in der Nähe auf Gäste wartet, frage ich, ob das normal sei und ob es nicht auch mal Unfälle mit den Tieren gäbe. Ja, meint er ziemlich lässig, manchmal kommen halt Angler nachts nicht mehr von ihren Fängen zurück und werden auch nie wieder gesehen. Dann sind sie wohl gefressen worden.

                        So, und dann bricht auch schon der letzte Tag meiner Reise an. Ich werde etwas melancholisch, Frank freut sich.

                        Wir schlendern nochmal durch die Stadt, die Hitze ist extrem. Die Menschen arbeiten in dieser Hitze inmitten der Häuserschluchten, restaurieren und renovieren alte Gebäude in Staub und Lärm. Ich kann mir nicht vorstellen, hier zu leben – jeden Tag Hitze.

                        Wir trinken noch einen leckeren Abschieds-Mojito in einer kubanischen Bar, leider mit Bacardi und nicht mit Havanna-Club. Frank und ich reden über unsere Leben, übers Bergsteigen, wir überlegen, ob wir im August gemeinsam auf den Eiger steigen.

                        Ich war lange nicht mehr bergsteigen, ist ein schöner Gedanke.

                        Nach dem Abendessen nehmen wir uns dann ein Taxi zum Flughafen, wo wir auf unseren Isomatten in einem etwas abgeschiedenen Teil einschlafen.

                        Frank steht schon um vier auf, ich um halb sechs. Wir verabschieden uns herzlich.

                        Mein Flugzeug fliegt etwas verspätet los, muss ab Santo Domingo eine nördlichere Route nehmen, wir werden also mit rund zwei Stunden Verspätung in Frankfurt ankommen, ich werde meinen reservierten Fahrradplatz nicht bekommen. Und hoffe auf einen freien Platz im Folgezug.

                        Zeit für ein Resümee, zehntausend Meter über dem Atlantik.

                        Janosch sagt ja: „Wenn man einen Freund hat, braucht man sich vor nichts zu fürchten.“ Ich habe mit Frank zumindest während der letzten Tage einen Freund gefunden. Das kann ich aufrichtig sagen. Die Zeit mit ihm hat sich für mich gut angefühlt.

                        Von was kann ich noch resümieren?

                        Von den fettesten freundlichen Menschen der Welt in Mexiko, den Party-Amis und Möchtegern-Aussteigern an den schönsten Karibikstränden in Belize, einem Kurz-Sprachkurs in Q’eqchi’ und einer tollen jungen Kinderärztin in Guatemala, einem Fußballspiel und der grünen Schildkröte in El Salvador, der Furcht der Menschen vor dem eigenen Land in Honduras, der Hitze und den Vulkanen in Nicaragua, von meiner Abneigung gegenüber Costa Rica sowie von den vielen Gegensätzen und wie schön es ist in Panama.

                        Und davon, dass man sich wirklich vor nichts fürchten muss, wenn man Freunde finden kann. Und die kann man überall finden. Neugier hilft dabei ungemein.

                        Was bleibt?

                        Ich komme garantiert mit vielen bleibenden Eindrücken zurück. Ein anderer Mensch bin ich obgleich nicht. Aber wenn das Leben nicht das ist, was wir erleben sondern das was wir erinnern und das was wir von diesen Erinnerungen erzählen, dann ist mein Leben jetzt wesentlich reicher. Und erzählt habe ich jetzt meine Erinnerungen an diese Reise. Was ja dann mein Leben ist.

                        Epilog.

                        Kalt ist es. Saukalt. In Frankfurt am Bahnhof laufen viele Menschen bei rot über die Fußgängerampeln. Hat während der letzten sieben Wochen ein Kulturwandel Deutschland überfallen oder wollen die einfach nur nicht festfrieren?

                        Die Bahnfahrt mit Rad im Intercity ohne Reservierung funktioniert, ein freundlicher Schaffner hat Verständnis und nimmt mich mit.

                        Ich freue mich über mein Land. Weil ich hier leben kann, weil ich von hier aus reisen kann und weil ich wieder hierher zurückkehren kann. Auch, wenn ich mich irgendwann wieder über unnötige Verkehrsregeln, sture Schaffner und schamlose Lobbyisten ärgern werde. Ach, das gehört dazu.

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                        Mehr Bilder gibt es hier (klick)

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                        Ende.

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                        Vielen Dank fürs Dabeisein und Kommentieren und Gruß

                        Jörg.
                        www.gondermann.net
                        Reisen - Denken - Leben

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                        • gargantula
                          Erfahren
                          • 09.12.2013
                          • 222
                          • Privat

                          • Meine Reisen

                          #52
                          AW: [MX, BZ, GT, SV, HN, NI, CR, PA] 2015: Centroamérica en Bicicleta

                          Tolle Reise, toller Bericht! Ich freue mich, dass ich an deinen Erfahrungen und Eindrücken teilhaben konnte. Danke
                          “Perfektion ist nicht dann erreicht, wenn man nichts mehr hinzufügen, sondern wenn man nichts mehr weglassen kann.”

                          (Antoine de Saint-Exupéry, französischer Schriftsteller, 1900 – 1944

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                          • Julia
                            Fuchs
                            • 08.01.2004
                            • 1384

                            • Meine Reisen

                            #53
                            AW: [MX, BZ, GT, SV, HN, NI, CR, PA] 2015: Centroamérica en Bicicleta

                            Diesen Reisebericht werde ich sehr vermissen. Vielen Dank fürs Mitnehmen!

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