22. Oktober
Meine Erwartungen an das Wetter wurden nicht enttäuscht: Nachts klatschte der Wind Regen mit voller Wucht ans Fenster. Erst bei Tageslicht fiel er wieder halbwegs senkrecht.
- Der Blick aus der Zygmuntowka geht auch anders.
- Lustloses Rückepferd im Regen
- Pitschepatscher Sudetenhauptweg auf dem Kamm
Als ich mich endlich aufraffte, waren die Waldarbeiter schon längst verschwunden. Ich traf sie aber wieder. Mit einem mäßig motivierten Rückepferd zerrten sie Baumstämme zur Forststraße herunter. Ich hatte mir den Kammweg gleich verkniffen, in der zutreffenden Annahme, dass die Aussicht in den Nebel von dort auch nicht weiter 100 Meter reichen würde. Außerdem ersparte ich mir damit die Auswirkungen der heute besonders aggressiven Erdanziehungskraft, die bekanntlich von nassem Laub auf glitschigen Steinen noch einmal verstärkt wird. Sie hätte mich schon beim Aufstieg von der Zygmuntowka fast zu Fall gebracht.
Die Abwechslung dieses Tages bestand darin, dass ich mal der Forststraße westlich des Kammes folgte, mal östlich des Kammes - und einmal auch dem Kammweg selbst. Was für eine Erleichterung, als durch das Gebüsch endlich die Ruinen von Fort Hornwerk (Fort Rogowy) auftauchten! Die gigantische Festungsanlage war von Friedrich dem Großen gebaut worden, um das frisch den Österreichern entrissene Schlesien gegen mögliche Rückholversuche zu sichern.
Nach einem kurzen Blick in den "Donjon", den Kern der Festung, machte ich mich auf die Suche nach einer Unterkunft in Srebrna Gora/Silberberg. Der "Zauberkasten" versprach ein Hostel, doch soweit kam ich gar nicht. Auf dem Weg von der Festung herunter in den Ort kam ich an der Pension "Hubertus" vorbei, die zwar unbewohnt aussah, aus der aber ein Lautsprecher polnisches Schlagerradio nach außen übertrug. Sie war sogar offen. Nach einer Weile fand ich die Wirtin, der mir für 50 Zloty ein Zimmer gab. Wie sich herausstellte, war es die ehemalige PTTK-Hütte, privatisiert und zeitgemäß saniert.
Weil es von hier nicht so weit bis zur Festung war, gönnte ich mir dann trotz des Regens doch noch die komplette Besichtigung, was eine weise Entscheidung war, denn im Gegensatz zum Morgen darauf war nicht alles im Nebel verhüllt. Genauso weise war es, die eigentliche Stadt Silberberg zu besichtigen. Sie ist nämlich nett und unaufdringlich mit EU-Mitteln durchsaniert worden.
Auch die Festung wird derzeit grundlegend saniert; dass sie nicht ganz verfallen ist, ist angeblich den polnischen Pfadfindern zu verdanken, die die herrenlose Anlage in den Jahren des Sozialismus für sich entdeckten und als Ferienlager nutzten.
- Erste Festungsmauern tauchen im Wald auf
- Rund um den "Donjon" sieht es schon sehr ordentlich aus...
- ... ein kleines Stück weiter herrscht noch Sanierungsbedarf
- Blick auf die Stadt Silberberg/Srebrna Gora
Technische Daten: 24,8 km in 7:45h
23. Oktober
Die gute Nachricht am Morgen war, dass es nicht mehr regnete. Die schlechte Nachricht: Es war nichts zu sehen. Dicker Nebel suppte um die Pension herum. Die Besichtigung von Fort Spitzberg/Ostrog auf der anderen Seite des Passses sparte ich mir, dafür besuchte ich den Viadukt, auf dem 1902 bis 1931 die Eulengebirgsbahn gefahren war. Übrigens die einzige Zahnradbahn in Schlesien (Zahnstange System Abt)
Dann ging es zügig weiter Richtung Südosten. Dachte ich jedenfalls. Im Nebel hatte ich jedoch eine Dreifachverzweigung als Zweifachverzweigung gedeutet und war statt auf einem der beiden fast parallen Kammwege auf einem Weg gelandet, der langsam talwärts führte. Es dauerte fast zwei Kilometer, bis ich den Fehler entdeckte. Zurücklaufen ist "spießig", also kürzte ich auf einem alten Rückeweg ab, der direkt zum Kamm zu führen schien. Natürlich endete der Weg im Gebüsch, und die Entscheidung am Morgen, auf die Regenhose zu verzichten, rächte sich in üblicher Weise.
- Eulengebirgsbahnviadukt
- O-beiniger Baum am Abstieg nach Wilcza
- Das ist kein überflutetes Wehr, sondern eine überflutete Fischtreppe an der Glatzer Neiße
Beim Abstieg nach Wilcza gab ich mehr Acht, und traf genau den angestrebten Weg. Nur traf der Weg auf einen nicht vorgesehenen Zaun, auf dessen anderer Seite ein hungriger Schäferhund auf meine Fehlentscheidung wartete. Ich enttäuschte ihn und und wich über ein anderes Privatgrundstück ohne Zaun und Hund aus.
Nun musste ich nur noch dem Tal der Wilcza bis Bardo/Wartha folgen. Hier unten reichte die Sicht tatsächlich einige hundert Meter weit. Weil der Weg entweder gut geschottert oder sogar asphaltiert war, machte ich ordentlich Tempo und erreichte Bardo noch bevor die Bauarbeiten auf dem Marktplatz abgeschlossen waren.
Bardo leidet darunter, dass die Staatsstraße 8 praktisch mitten durch den Ort führt. Der unaufhörliche Strom der Lkw ist nur dann nicht zu hören, wenn ein Kohlezug die Stahlbrücke über die Glatzer Neiße überquert. Die eindrucksvolle Basilika kann den Ort dann auch nicht mehr rausreißen. Laut Karte hätte ich um Bardo herum noch einen Kalwarienberg, Reste schwedischer Schanzen und Ruinen einer Festung besuchen können, doch ich wollte nur noch weg und weiter.
- Die Basilika von Bardo
- Makolno
- Zloty Stok/Rychleby/Reichenstein
Über Laskowka und Makolno erreichte in der Abenddämmerung Zloty Stok/Reichenstein, wo ich zielstrebig das Hotel "Gold Stok" ansteuerte. Laut Website waren dort Aktionswochen, statt 140 Zloty kostete das Zimmer nur 70 Zloty. Ehrlich gesagt: 70 Zloty waren der einzig faire Preis. Ein Hotel, in dem vor dem verschlossenen Restaurant Werbeflyer eines Pizzabringdienstes auslagen, hatte ich bis dahin noch nicht erlebt. Pizzabringdienst wollte ich nicht, aber Zloty Stok wird ebenfalls von der Staatsstraße 8 berührt, und so fand ich ohne große Mühe einen Fernfahrerimbiss mit ordentlichen Portionen.
Technische Daten: 36,3 km in 9:15h
24. Oktober
Am 24. Oktober ist zwar auch ein "vierundzwanzigster", aber es wird einem noch nichts geschenkt. Das sah ich gleich morgens beim Blick aus dem Fenster: Schon wieder Nebel!
Etwas angefressen machte ich mich auf den Weg nach Osten und redete mir erfolgreich ein, dass das Mittelalterliche Technikmuseum und das Goldbergbau-Museum um diese Jahreszeit sowieso geschlossen haben würden. Wenigstens gab es entlang der Hauptstraße einen Rad- und Fußweg. Bei Bila Voda überquerte ich wieder die tschechische Grenze. In der Hoffnung auf ein späteres Aufklaren nahm ich den roten Wanderweg, um auf direktem Wege zum Aussichtsturm Boruvkova Hora (Heidelberg) zu gelangen.
Dabei passierte ich den ehemaligen Wallfahrtsort Rosenkranz/Ruzenec/Rozaniec, der nach der Vertreibung der deutschen Einwohner nicht wieder besiedelt wurde. Anfang der 50er Jahre wurde er von den tschechischen Kommunisten restlos eingeebnet, um irgendwelche Wallfahrten gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Der Aussichtsturm war zwar kostenlos, aber dafür umsonst: Dichter Nebel umhüllte ihn. Ein wahrer Genuss hingegen war die erste Infotafel des "Wegs der polnisch-tschechisch-slowakischen Solidarität", der von hier auf der Grenze nach Süden führt. Zeitzeugen haben dort ihre Erinnerungen an die Zusammenarbeit der Dissidenten in den 80er Jahren niedergeschrieben. Eines der illegalen Treffen fand 1987 auf dem Heidelberg statt. Die polnischen Teilnehmer gerieten dummerweise in eine Kontrolle ihrer Grenzpolizei. Noch dümmer waren allerdings die Polizisten selbst. Damals war es üblich, dass in den Personaldokumenten der Arbeitgeber vermerkt wurde. Die Dissidenten waren aber oft formal arbeitslos, so auch der unabhängige Publizist Jacek Kuron. Einer der Polizisten stellte also triumphierend fest, dass hier ein höchst verdächtiger Arbeitsloser vor ihm stand. Kuron protestierte: "Was heißt hier 'arbeitslos' - ich bin Journalist!", rief er. Der Polizist dachte nach. "Äh, ja, na klar, jetzt erkenne ich Sie", strahlte der Polizist, "Sie sind der aus den Fernsehnachrichten!" - und ließ ihn passieren. Lakonische Anmerkung des Autors: "Er hat zwar das Läuten gehört, aber ein die Kirche verwechselt."
- Damwild bei Bila Voda. Fairerweise sollte ich vielleicht erwähnen, dass es ein Gehege war...
- Aussichtsturm auf dem Heidelberg...
- ... und als Salz in die Wunde ein Poster mit der Aussicht vom Turm bei günstigem Wetter
Die in der Karte noch versprochene Gastwirtschaft oberhalb von Travna hatte sich inzwischen auf polnische Schnapskäufer umgestellt und nannte sich jetzt "Sklep". Um das polnische Ambiente zu perfektionieren, war in einen Flachbau gleich daneben ebenfalls ein "Sklep" eingezogen, dessen Angebotspalette sich nicht signifikant von der des Nachbarn unterschied.
Irritierend war die Kapelle am Weg oberhalb von Zalesi: "Nemrkej, nebo to prosvihnes" stand da. "Zwinker nicht, sonst vergeigst du es", wäre eine halbwegs stilädequate Übertragung. Nach einem Bibelzitat klang das nicht gerade. Aber was sonst? Ich grübelte vor mich hin. Erst das allwissende Internet veriet mir, dass mit meinem Grübeln die Absicht des Installationskünstlers Robert Salanda voll aufgegangen war.
- Die Kunstkapelle bei Zalesi
- Gut, wenn man Tschechisch kann: "Das würde ich nicht trinken" - hatte ich aber auch nicht vor.
- Der Limes? Eine Schwedenschanze?
Kurz vor dem Gieraltowska-Pass verließ ich die markierten Wege, um einen Stellplatz für meine "Schildkröte" zu finden. Die anhand von Luftbildern am Vorabend ausgespähte Lichtung erwies sich als überschwemmte Angelegenheit und verschaffte mir trotz Nutzung von GPS und Google Earth eine "unverfälschte Primärerfahrung des Scheiterns". Der Hang auf der anderen Seite des Weges war zwar auch kein dankbarer Lagerplatz, aber schließlich fand ich dort eine halbwegs ebene Stelle.
Technische Daten: 25,4 km in 7:30h
25. Oktober
Am Morgen gab es einen Schock: Mein Zelt war vom Weg aus zu sehen. Und noch schockierender: Es war blauer Himmel zu sehen. Damit hatte ich überhaupt nicht mehr gerechnet. War meine Entscheidung, schon heute die letzte Etappe anzutreten und in Ramzova in den Zug zu steigen, vielleicht voreilig gewesen?
- Endlich wieder Sicht und Licht!
- Skulptureninstallation am Gieraltowska-Pass zwischen Niederschlesien und Mährisch-Schlesien
- Wortspielerei: Aus "Granica Panstwa" (Staatsgrenze) wurde "Gra
nicadla Panstwa" ("Spiel für die Herrschaft")
In Rekordzeit - unter einer Stunde - war ich auf der Piste und wurde noch einmal mit schönen Szenerien belohnt. Gegen Mittag trübte es sich aber wieder ein, während ich noch einmal kräftig an Höhe gewann. Ab 900m hatte es nachts Frost gegeben, und jetzt kleckerte Raureif munter von den Bäumen. Die versprochene Aussicht vom Spicak (957m) hätte es aber auch ohne Nebel nicht gegeben. Die Bäume waren dort zwar nicht in den Himmel gewachsen, aber deutlich über meinen Kopf hinaus.
- Die ersten anderen Wanderer überhaupt seit einer Woche
- Diese tschechischen Mountainbiker purzelten an der Steigung nacheinander alle mehr oder weniger kontrolliert von ihren Rädern
- Zum Glück liegt in der Schutzhütte am Dreiherrenstein unter dem Dach eine MYOG-Tragbahre aus Panzerband bereit
Am Dreiländereck - oder besser Dreiherrenstein - von Mähren, Schlesien und der Grafschaft Glatz erreichte ich den mit 1109m höchsten Punkt meiner Tour. Hier war schon so etwas wie Winter - aber nur obenrum. Der Boden steckte noch tief in der Schlammperiode, manchmal ich auch.
Jetzt musste ich ein wenig Dampf machen, um den Zug zu erreichen. Fünf Kilometer fehlten noch bis zum Bahnhof, 360 Höhenmeter mussten unfallfrei vernichtet werden. Ausgesprochen rechtzeitig für meine Verhältnisse, nämlich eine Viertelstunde vor der Abfahrt, erreichte ich den Bahnhof. Ein Blick auf den Hang gegenüber, der wie vor zwei Jahren ab halber Höhe in Nebel gehüllt war, bestätigte die Richtigkeit der Entscheidung, es hier gut sein zu lassen.
- Herbstschlamm am Dreiherrenstein
- Notiz an mich selbst: Bei derartigen Herbsttouren Gamaschen mitnehmen.
- Abschied von Ramzova. Vielleicht erlebe ich diese Ecke ja irgendwann noch einmal ohne Nebel.
Technische Daten: 21,5 km in 6:50h
Hier sollte eine GPX-Karte erscheinen! Wenn diese nicht nach wenigen Sekunden nachgeladen wird bitte die Seite aktualisieren.
Einen Kommentar schreiben: