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26. Juli 2021, 21:26 Uhr MESZ
Vor 22 Minuten ist die Sonne untergegangen, behauptet mein Garmin-Zauberkasten. Ich stehe am Bahnhof Luckenwalde, mein heruntergerittenes „Stadtrad“ zwischen den Beinen, und frage mich ein letztes Mal, ob wirklich eine gute Idee ist, auf dem Fläming-Skate loszufahren, wenn alle anderen gerade zurückkommen. Und ich meinen geliebten Fotoapparat zu Hause vergessen habe. Aber: Es ist immer noch T-Shirt-warm, die Astronomen versprechen Quasi-Vollmond ab kurz vor 23 Uhr, und das Wetterradar zeigt keine blauen Blobs in der Nähe. Viel besser werden kann es nicht.
Nach etwas Zuckelei durch die Stadt erreiche ich meinen Einstiegspunkt in den „Rundkurs 1“ auf halber Strecke nach Kolzenburg. Hier begegne ich den letzten Radfahrern für die nächsten sieben Stunden: Drei Spätheimkehrer auf Mountainbikes, mit so beeindruckender Lumenleistung an den Lenker, dass ich mich frage, wie hoch eigentlich der Lichtwiderstand ist, den sie beim Treten zusätzlich überwinden müssen. An meinem Fahrrad ist zwar schon LED-Beleuchtung, aber nach dem Motto „Geben Sie mir die billigste, die Sie haben, das Rad steht gelegentlich auch ein ganzes Wochenende am Bahnhof“.
Marterpfahl am Einstiegspunkt in den Rundkurs 1 (Karte).
Unmissverständliche Fahrbahnmarkierung.
Im Uhrzeigersinn fahre ich los - falls ich doch die Lust verliere oder ich nicht schnell genug vorwärtskomme, könnte ich dann besser den Rückweg abkürzen. Auf bekanntem Terrain geht es durch Jänickendorf und weiter nach Holbeck. Dort überrasche ich einen Igel, der sich gerade aufgemacht hat, die Straße zu überqueren, in meinem Lichtkegel aber schlagartig den Rückzug antritt.
Typischer Fläming-Skate-... ja was eigentlich? Für einen Unterstand ist es arg niedrig, für eine Schutzhütte zu offen.
Im Waldstück zwischen Holbeck und Stülpe wäre meine Tour fast zu Ende gewesen: Ein Fuchs schießt kaum drei Meter vor meinem Vorderrad über den Weg. 2001 hat eine Katze in ähnlicher Situation das Vorderrad getroffen und mir zu einer Bauchlandung mit anschließend sechs Wochen Schulter-Aua vom Feinsten verholfen. Die Katze hat damals übrigens Unfallflucht begangen.
Letztes Licht um 22 Uhr.
Am Holbecker See ist alles still, die Dorfjugend hat wohl Ruhetag. Nur ein verdunkeltes Wohnmobil steht am Ufer.
Zwischen Stülpe und Ließen merke ich jetzt zum ersten Mal, dass die Straße gar nicht den Landrücken überquert, sondern die ganze Zeit ansteigt. Der Tretwiderstand lügt nicht, der optische Eindruck des Straßenverlaufs offenbar schon. Von 55 Metern geht es auf über 120 Meter, für brandenburgische Verhältnisse also fast eine Gebirgsstrecke.
In Ließen wecke ich zum ersten Mal einen Hund. In der Herberge am Fläming-Skate sitzen noch einige Menschen bei Kerzenlicht draußen. Für einige hundert Meter verliere ich den offiziellen Weg. Um zwei Schutzhütten aufzunehmen, kehre ich aber noch mal zurück und stelle fest, dass die eine Schutzhütte das Dorfbackhaus ist und damit gar nicht als Schutzhütte genutzt werden kann. Der bellende Hund dreht fast durch, weil ich immer noch herumschleiche.
Der kurze Anstieg nach Petkus ist so real wie bei Tageslicht, gut 140 Meter erreiche ich hier. Gut anderthalb Stunden bin ich jetzt unterwegs, ein Viertel des Rundkurses liegt hinter mir. In einem der großen Unterstände am Sportzentrum mache ich Pause. In der Radlerherberge ist noch Licht, aber nur in den Gästezimmern, nicht im Gastraum oder gar im Biergarten. Der Brandenburger an sich geht früh ins Bett. Bei meinem ersten Besuch in Potsdam einige Jahre nach der Wende begann der Nachtlinienverkehr noch vor 21 Uhr.
Hinter Petkus geht es wieder bergab, der Weg ist schön in Serpentinen angelegt - oder was in Brandenburger Verhältnissen eben als „Serpentinen“ durchgeht - und ich komme mit dem schmalen Lichtkegel meiner Frontfunzel kaum dem Kurvenverlauf hinterher.
Erstmals kommt kurz der Mond durch und lässt erahnen, wie hell es wirklich sein könnte. Die größten Lichtquellen sind aber die Windkraftanlagen, die stoisch vor sich hinblinken. Am Rhythmus lässt sich gut erkennen, welche zusammengehören. Sie haben fleißig zu tun und blasen mir kräftige Böen ins Gesicht.
In Hohenseefeld bin ich geneigt zu sagen, dass ich eine Längs- und eine Querkante des Rundkurses hinter mir habe. Der Blick auf die Karte belehrt mich aber, dass ich es eher mit einen Fünfeck zu tun habe. Und auch die Kilometerbilanz mit 38 von 90 Kilometern bestätigt meine Vermutung. Von Müdigkeit noch keine Spur. Für eine bekennende Nachteule wie mich ist 0:20 auch noch keine Herausforderung.
In Wiepersdorf verzichte ich darauf, dem Schlossgelände einen Besuch abzustatten und eile nach Welsickendorf. Ohne es wahrzunehmen, bin ich über die Bundesstraße 101 rüber. Überhaupt begegnen mir während der ganzen Fahrt auf dem Rundkurs gerade einmal acht Pkw und drei Lkw. Nur in Luckenwalde selbst ist minimaler Verkehr.
Im Wald vor Welsickendorf schrecke ich einen weiteren Fuchs auf. Einen Hasen, dem er hätte Gute Nacht sagen können, begegne ich nicht, nur einem Reh.
In Oehna mache ich vor der Bahnschranke einen Fotohalt. Der Fahrdienstleiter im Erdgeschoss nimmt mich erst nicht wahr, obwohl ihm meine Lampe direkt ins Fenster leuchtet. Erst als als wieder anfahre, blickt er auf und ich meine, einen vor Staunen offenen Mund zu sehen. Wahrscheinlich kommen um zwei Uhr morgens sonst eher selten Radfahrer vorbei.
Bahnwärterhaus in Oehna.
Inzwischen steht der Mond so hoch, dass ich versuche, ohne Licht zu fahren. Es geht - aber bei 20- bis 23 km/h bleibt ein ungutes Gefühl. Mehrfach hatte ich Katzen beobachtet, die sich in den Ortschaften auf dem warmen Asphalt ausgerollt hatten und überhaupt keinen Grund sahen, meinetwegen die Fahrbahn zu räumen. Im übrigen fehlt mir das Vertrauen in die örtliche Jägerschaft, dass sie einen unbeleuchteten Radfahrer von unbeleuchtetem Wild unterscheiden kann. Ich schalte das Licht also wieder an.
Die Nachtkerzen sind angezündet.
Kurz hinter Oehna erreiche ich um 2:33 Uhr auf freiem Feld den westlichsten Punkt meines Fünfecks. Etwas mehr als 25 Kilometer und zwei Stunden bleiben bis zur Abfahrt des ersten Zuges von Luckenwalde nach Berlin. Da ich bisher pro Stunde gut 13 Kilometer geschafft habe - tagsüber dümpele ich dank Fotopausen meistens mit 10 bis 11 km/h Reisegeschwindigkeit vor mich hin - erscheint das Ziel jetzt realistisch. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich nach dem Motto gefahren "irgendwann werde ich schon ankommen".
Bei Neues Lager erreiche ich wieder vertrautes Gelände. Lange geht es durch die ehemaligen Kasernengelände im Osten von Jüterbog, die von der preußischen Armee, der Reichswehr der Wehrmacht und zum Schluss der Roten Armee genutzt wurden. Jetzt gehören sie Privatinvestoren, aber die wechseln schneller als die großspurigen Ankündigungen auf den Bauschildern vergilben können.
Südlich von Forst Zinna quere ich zum letzten Mal die B 101. Diesmal sind immerhin zwei Autos in der Ferne zu sehen. Es bleibt noch genau eine Stunde bis zur Abfahrt des Zuges, und alles in allem liege ich gut in der Zeit.
Neuhof fliegt vorbei, und ich sehe, dass auf der Brachfläche, wo ich schon mal geparkt hatte, jetzt ein Einfamilienhaus entsteht. Ganz im Nordosten bekommen die Wolken hellere Ränder, als vom Mond alleine zu erwarten wäre.
Kurz vor Kolzenburg schlägt der Fläming-Skate noch einen sinnlosen Haken. Ich nehme ihn mit, in der Vermutung, dass Ausschilderung und Fahrbahnbelag jegliche Abkürzung wettmachen. "Umkürzungen" kann ich jetzt nicht brauchen.
Kolzenburg, Hotspot des Fläming-Skate-Tourismus, liegt noch tief im Schlaf. Wer hier an Sommerwochenenden gegen zehn Uhr vormittags mit dem Fahrrad durchfahren will, muss sich auf Massen herumtorkelnder Skate-Anfänger und die erratischen Bewegungen von Pedelec-Sonntagsfahrern gefasst machen. Jetzt muss ich nur aufpassen, nicht gegen die Holzpoller zu knallen, die die Skater-Fahrbahn vor Falschparkern schützen.
Am Ausgangspunkt des Rundkurses ziehe ich laut pfeifend einen schwarzen Streifen über den Asphalt. Erst in letzter Sekunde habe ich den Marterpfahl gesehen, der mir signalisiert, dass ich schon da bin. Die Morgendämmerung ist inzwischen nicht mehr zu leugnen.
Wieder zurück am Marterpfahl.
Morgendämmerung.
Mir bleiben noch 17 Minuten bis zur Abfahrt des Zuges ... eigentlich kein Problem, aber leider gibt es in Gegenrichtung keine Ausschilderung, und dauernd auf die Trackaufzeichnung von der Hinfahrt zu schauen ist wegen der Entschleunigungshubbel in der Fahrbahn auch keine Lösung. Prompt biege ich falsch ab und verliere zwei Minuten.
Als ich endlich auf dem Bahnsteig stehe, ist der Zug schon in der Einfahrtweiche. Maske auf, Handyticket kaufen, Fahrrad anschnallen, Sitzplatz. Rabiat setzt die Müdigkeit ein. Den Halt in Woltersdorf bekomme ich noch am Rande mit, Trebbin nicht mehr. Erst am Südkreuz wache ich wieder auf. Nach einem ersten Frühstück geht es ins Bett, um 10:30 wache ich wieder auf, arbeite etwas, und falle nach dem Mittagessen noch mal in einen zweistündigen Tiefschlaf.
Wer bis hierhin gekommen ist und sich immer noch fragt, was das erste Bild ganz oben zeigt: Das ist kein Engel, sondern der Rotor einer Windkraftanlage, beleuchtet vom roten Warnblinklicht.
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