[IS] Kopfnetz statt Mundschutz: Traumwandeln zwischen Fjallabak und Langsjór

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  • evernorth
    Fuchs
    • 22.08.2010
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    • Meine Reisen

    #21
    AW: [IS] Kopfnetz statt Mundschutz: Traumwandeln zwischen Fjallabak und Langsjór

    Alles so vertraut, ein schönes Wiedersehen. Storagil und der wunderbare Lava - Garten von Skaerlingar
    faszinieren mich auch immer wieder aufs Neue.
    My mission in life is not merely to survive, but to thrive; and to do so with some passion, some compassion, some humor and some style. Maya Angelou

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    • Borgman
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      • Meine Reisen

      #22
      AW: [IS] Kopfnetz statt Mundschutz: Traumwandeln zwischen Fjallabak und Langsjór

      @evernorth: am nächsten Tag wirst Du auch einiges wiedererkennen, aber vielleicht ist auch was Neues dabei … ?

      Ich fürchte nur, diesmal sind es viel zu viele Bilder. Konnte einfach nicht genügend aussortieren.


      Donnerstag, 09. Juli: Festung der versteinerten Trolle

      Nach einer eher unruhigen Nacht kann ich am frühen Morgen noch mal richtig einschlafen und stehe daher etwas später auf. Na ja, nicht wirklich spät, halb sechs ist immer noch recht früh. Wie an allen Tagen bisher scheint auch heute die Sonne vom wolkenlosen Himmel. Bin ich wirklich in Island? So viel Glück mit dem Wetter kann man ja fast nicht haben. Mit 3°C ist es etwas kühler als gestern, es weht ein frischer Nordwind.

      Heute stellt sich überhaupt nicht die Frage, was der Tag wohl bringen wird. Egal welchen Bericht man liest, von Skælingar geht man zur Hütte Sveinstindur. Punkt. Der Pfad dahin soll zumindest teilweise markiert sein und führt an den Uxatindar durch eine Schlucht, die ich unbedingt besuchen will. Die stand bei der Vorbereitung ganz oben auf der Liste. Ich kann es gar nicht abwarten. Um 6:40 Uhr habe ich gepackt und gehe erst mal ein Stück weiter in der Stóragil. Bald treffe ich auf den ersten Abzweig. Links oder rechts? Von links kommt der größere Bach, das ist dann wohl die Hauptschlucht, aber ich entferne mich auch weiter vom Pfad, der irgendwo rechts auf dem Hügelrücken verläuft. Und es ist zu vermuten, dass sich die Schlucht noch weiter verzweigt.

      Lieber die sichere Variante nach rechts. Hier läuft es sich anfangs sehr bequem neben dem Bach, aber dann kommt eine Steilstufe, die ich nur mit Mühe überwinden kann. Ich glaube, diese Schluchtenkletterei ist nichts für mich. Da man an dieser Stelle ganz gut am Hang aufsteigen kann, nutze ich die Gelegenheit, um hinüber zum Pfad zu wechseln.


      Blick zurück vor der Steilstufe


      Aufstieg zum Pfad



      Von oben sieht man, dass es tatsächlich ein ziemliches Gewirr von Schluchten ist. Hier treffe ich auf die Markierungen, die bald danach in die Piste münden. Über eintönige Schotterhügel geht es ein paar Kilometer immer weiter hoch. Im Norden kann man schon die Uxatindar sehen, und nach Süden reicht der Blick bis zum Mýrdalsjökull. Trotz der schönen Aussicht zieht sich der Weg unnötig in die Länge, oder ich bin einfach nur zu ungeduldig. Außerdem weht hier über das offene Plateau ein kalter Wind, der in der Skaftá-Ebene ziemliche Staubfahnen aufwirbelt.


      Uxatindar in Sicht


      Blick nach Süd-Südwest über die Stóragil zum Mýrdalsjökull

      Hinter dem nächsten Hügel muss ich aufpassen, wo der Wanderpfad abzweigt. Die Karte schlägt zwei mögliche Routen vor, die aber beide nicht stimmen. Nach meinem Gefühl beginnt die logische Route dort, wo die Piste nach Südwesten schwenkt und ein kurzer Stichweg nach Nordosten abzweigt. Genau da finde ich dann auch an einer Art Parkplatz den ersten gelben Markierungspfahl.


      Uxatindar



      Ziemlich genau anderthalb Stunden habe ich von meinem Platz in der Stóragil bis hier gebraucht, hat also doch nicht so lange gedauert, wie es mir vorkam. Auf dem letzten Bild kann man den Pfad schon erkennen. Eine halbe Stunde geht es jetzt noch über graue und schwarze Schutthügel und am Hang des südlichsten Uxatind entlang, dann wird es spannend. Eigentlich soll man in der engen Schlucht problemlos gehen können, aber natürlich hält sich da auch der Schnee länger, es ist ja noch recht früh im Sommer.


      Eingang zur Schlucht Uxatindagljúfur



      Der obere Eingang ist dann tatsächlich von einem Schneefeld ausgefüllt, dahinter kommt ein Abschnitt, wo man bequem neben dem Bach gehen kann. Weiter unten wird es eng. Zu beiden Seiten ragen fantastisch geformte Felsen in den Himmel, die zu dieser frühen Stunde das Sonnenlicht noch abhalten. Wie eine Ahnengalerie versteinerter Trolle. Zum Fotografieren sollte man besser um die Mittagszeit kommen. Markiert ist hier nichts, das wäre in einer Schlucht, die sich durch Steinschlag ständig verändert, auch sinnlos. Man umgeht die Hindernisse auf der einen oder anderen Bachseite, wo es eben geht. An einer Stelle sehe ich keine andere Möglichkeit, als mich mitten im Bach unter einer Schneebrücke hindurchzuquetschen. Hier ist der Bach ein klein bisschen tiefer als meine Stiefel hoch sind.












      Auch am Rand können Schneefelder unterhöhlt sein




      Unter dieser Schneebrücke bekomme ich nasse Füße



      Was für ein tolles Erlebnis! Ich habe einen Heidenspaß in dieser Schlucht. Manchmal sieht es so aus, als ginge es jetzt wirklich nicht weiter, aber dann gibt es doch einen Durchschlupf. Wie man auf den Fotos sieht, ist den Schneefeldern nicht zu trauen. Da bin ich besonders vorsichtig und klettere lieber am Rand einmal mehr über die Steine. Uxatindagljúfur ist wirklich der Hammer! Im unteren Abschnitt werden die Hänge etwas flacher und lassen mehr Sonne ins Tal. Dann weitet es sich und mündet in ein kleines Schwemmland am See 532m, der in der Karte keinen Namen hat.












      Blick zurück zum Ausgang der Schlucht


      Blick nach Norden



      Erst von hier sieht man so richtig, dass der Durchgang zur Schlucht genau so aussieht wie ein Burgtor, eingefasst von mächtigen Mauern. Ja klar, warum bin ich nicht früher darauf gekommen? Die Festung der versteinerten Trolle! Hierher zogen sich in früheren Zeiten die Trolle nach ihren nächtlichen Raubzügen zu den Schafweiden der Menschen zurück. Hier schliefen sie tagsüber in riesigen Höhlen, abgeschirmt vom tödlichen Sonnenlicht. Bis eines Tages um die Mittagszeit, an einem wolkenlosen Sommertag wie diesem, ein gewaltiges Erdbeben das Dach der Festung zum Einsturz brachte und alle Trolle in Minutenschnelle zu Stein wurden wo sie gerade saßen oder standen. Nur die Festungsmauern blieben stehen und erinnern daran, dass dies keine gewöhnliche Schlucht ist. Wer sich traut, kann sie betreten und sich mit wohligem Grusel den versteinerten Trollen nähern, die vor kaum mehr als zweihundert Jahren alle Bauern, alle Schafe im südlichen Island des Abends in Angst und Schrecken versetzten. Ja, so war das. Man kann es doch sehen!

      Der See lässt sich tatsächlich recht einfach westlich umgehen, nur schwinden mir langsam die Kräfte. Drei Stunden bin ich jetzt mit nur zwei Haferkeksen im Bauch gelaufen, es wird Zeit für die Frühstückspause. Weil es immer noch kühl und windig ist, baue ich am Nordende des Sees mein Zelt auf, dann kann ich mich nach dem Müsli eine Stunde ungestört aufs Ohr knallen. Meine Fantasie beschäftigt sich derweil noch in lebhaften Bildern mit dem plötzlichen Ende der Trollplage in Südisland.

      Nach zwei Stunden, gegen Viertel vor zwölf, bin ich ausgeruht und bereit zum Weitergehen. Von anderen Berichten weiß ich schon, dass man nicht an der Skaftá zur nächsten Schlucht, Hvanngil, kommt, sondern gleich hier am steilen Hang aufsteigen sollte. Dass das auch der offizielle Übergang ist, zeigt ein einzelner Markierungspfahl an. Der Hang ist sandig, aber man findet trotzdem recht guten Halt. Von oben noch mal ein prachtvoller Blick zurück.


      Blick auf die Uxatindar…


      … und zur Skaftá...


      … und zur Hvanngil

      Jetzt geht es hier runter, dann durch den Fluss und auf der anderen Seite wieder hoch. Oder? Seltsamerweise verlaufen die Markierungen nach Norden zur Hochebene. Gibt es vielleicht noch einen anderen Übergang? Oder ist das eine ganz andere Route? Das macht mich neugierig, also folge ich ihr. Einen Pfad gibt es allerdings nicht.


      Ebene oberhalb der Hvanngil. Ist der Berg da hinten schon Sveinstindur?

      Die Markierungen schwenken bald nach Osten zur Hvanngil, aber ich habe schon Gefallen an der Idee gefunden, dass es eine andere Route gibt, die vielleicht ganz interessant sein könnte. Ich laufe weiter oberhalb der Schlucht nach Norden, bis es über einen sanften Hang hinunter zum Fluss Hellnaá geht.


      Hvanngil – hier ist noch nicht die richtige Stelle zum Absteigen...


      … sondern hier. Dem Bach in der Mitte folge ich.

      An dieser Stelle lässt sich die Hellnaá problemlos furten. Links oder rechts vom Hellnafjall? Nach Gefühl entscheide ich für rechts, denn links käme ich zu früh auf die F235, die Langsjór-Piste. Eigentlich sollte hier laut Karte auch eine Piste sein, die aber nicht existiert oder schon so lange nicht mehr benutzt wurde, dass ihre Spuren komplett getilgt sind. Umso besser. Ich folge jetzt einem größeren Bach in nordöstlicher und später in nördlicher Richtung, den ich ein paar Mal quere, wenn es auf einer Seite zu unbequem wird.


      Furt Hellnaá


      Blick zurück, eine Viertelstunde später...


      … und in meine Laufrichtung. Der Berg müsste schon Mosahnjúkur sein.

      Ein leuchtend grün gesäumtes Band inmitten graubrauner, fast vegetationsloser Hügel. Ich spekuliere ein bisschen darauf, dass so ein kräftiger Bach in sandiger Landschaft von interessanten Quellen gespeist wird, und so ist es auch. Im Oberlauf treten überall sprudelnde Quellen aus dem Hang, schon von Weitem erkennbar an saftig dicken Moospolstern. Das gefällt mir sehr gut. Ich bin froh, dass ich eine andere als die bekannte Route gegangen bin und noch nicht schon vorher weiß, was mich erwartet.









      Eine einzige kleine Steilstufe lässt sich auf dem Schafpfad überwinden. Dahinter setze ich mich für eine halbe Stunde in den Schatten eines Felsens, umschwirrt von hunderten Fliegen. Während man läuft, sind sie ja noch einigermaßen erträglich, aber sobald man still steht um ein Foto zu machen oder sich gar ein bisschen ausruht, kommen sie von überall her. Sehe ich aus wie ein Dunghaufen, oder was? Haben die keine Schafe, die sie nerven können?


      Doch, haben sie!





      Merke: anbrüllen beeindruckt die Insekten überhaupt nicht, der Mund-Nase-Schutz schützt bekanntlich nur Mund und Nase gegen Fliegenattacken, aber ein Kopfnetz hilft. Zwei Stunden bin ich seit dem Frühstück gelaufen, da stellt sich die Frage, ob ich es für heute gut sein lasse. Nein, wenn ich ein paar Kornmo einwerfe, kann ich noch ein Stück Richtung Langsjór schaffen. Wasserflasche auffüllen nicht vergessen, noch gibt es frisches Quellwasser.





      Oberhalb der Quellen ist der Bach nur ein staubtrübes Rinnsal zwischen aschebedeckten Schneefeldern und Wüstensand. Mühsam stapfe ich durch den Sand, und das wird auch nicht besser, als ich auf die Piste zur Sveinstindur-Hütte stoße. Ich könnte jetzt auch zur Hütte gehen und morgen zum Langsjór, aber das wäre ein deutlicher Umweg. Jetzt beiße ich einfach mal die Zähne zusammen und gehe zum Langsjór. Wobei der Sand natürlich längst zwischen den Zähnen knirscht, denn der Wind hat nicht aufgehört. Sand, Sand, Sand, westlich am Mosahnjúkur vorbei, dann wird es besser.




      Sveinstindur in Sicht



      Staubfahnen wehen über eine Ebene, die ganz und gar unwirtlich aussieht. Selbst wenn es hier Wasser gäbe, wäre das kein Ort zum Übernachten. Kilometer um Kilometer krieche ich am Sveinstindur entlang und komme meinem Ziel scheinbar überhaupt nicht näher. Gibt es hier überhaupt einen See? Ja doch, sei nicht so ungeduldig, es geht nur noch über einen sanften Pass. Tatsächlich, da ist er. Langsjór. Ich atme auf.





      Puh, das wäre geschafft. Der letzte Abschnitt seit dem Tal der Quellen war doch ziemlich eintönig und anstrengend. Jetzt kann ich mir viel Zeit lassen, um einen Platz für die Nacht zu finden, denn es ist erst vier Uhr nachmittags. Kommt mir viel später vor. Also, einen Schattenplatz werde ich hier am Ostufer nicht finden, aber vernünftige ebene Stellen sollte es geben. Bei näherer Betrachtung ist auch das nicht ganz einfach. Ich laufe noch ein Stück am Seeufer entlang, dann etwas höher am flachen Hang, bis ich einen geeigneten Platz finde. Jetzt will ich im See baden und mich komplett im Wind trocknen lassen. Dass das Baden dann nur sehr kurz ausfällt, mindert die Erfrischung und das unbeschreiblich gute Gefühl danach überhaupt nicht. Jetzt noch Sachen waschen, dann kann der gemütliche Teil des Nachmittags beginnen.


      Camp 5 am Langsjór

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      • ChuckNorris
        Erfahren
        • 03.08.2018
        • 177
        • Privat

        • Meine Reisen

        #23
        AW: [IS] Kopfnetz statt Mundschutz: Traumwandeln zwischen Fjallabak und Langsjór

        Sehr schön, da werden Erinnerungen wach. Kannst ruhig weiter so viele Bilder posten!

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        • Borgman
          Dauerbesucher
          • 22.05.2016
          • 724
          • Privat

          • Meine Reisen

          #24
          AW: [IS] Kopfnetz statt Mundschutz: Traumwandeln zwischen Fjallabak und Langsjór

          @ChuckNorris: ich nehme Dich beim Wort, es geht weiter mit vielen Bildern.


          Freitag, 10. Juli: Das Wunder des Lebens

          Gestern wollte ich noch keinen Plan für die restlichen Tage machen, und irgendwie habe ich heute auch keine rechte Lust dazu. Seltsam. Sonst lege ich mir gerne wenigstens für den Tag eine Route zurecht, die ich dann über den Haufen werfen kann. Aber heute will der Funke nicht zünden. Seit 4:30 Uhr bin ich schon betriebsbereit, das ist auf dieser Tour anscheinend zur Gewohnheit geworden, habe ein Heißgetränk zubereitet und wie üblich die Karte zur Hand genommen.

          Fünf ganze Tage habe ich noch zur Verfügung. Das würde gerade so reichen, um einmal um den Langisjór und zurück nach Landmannalaugar zu laufen. Da wäre allerdings kein Reservetag drin, jedenfalls nicht, wenn ich mir Zeit lasse. Oder ich bleibe heute einen Tag in der Südostecke vom Langisjór, steige auf den Sveinstindur und gehe die Runde um den Fagralón. Na, wie wäre das? Keine Reaktion. Anscheinend kann ich mich für gar nichts so recht begeistern. Oder auf der anderen, also westlichen Seite nach Norden und hoch zum Breiðbakur, von da hat man bestimmt auch einen schönen Blick. Das klingt schon besser. Dann könnte ich morgen vielleicht durchs Langidalur Richtung Tungnaá laufen. So ganz überzeugt bin ich nicht, aber es ist wenigstens ein Plan. Dann mal los.

          Bei unverändert schönem Wetter laufe ich gegen sechs am Seeufer zurück zur Piste und weiter am Rand der Ebene dem südlichsten Zipfel des Langisjór entgegen. Der Wind treibt ein paar Wolken über den Himmel und Staubfahnen über den Wüstenboden. Hier steht eine Art Infohäuschen mit Toiletten, daneben der offizielle Zeltplatz, der sogar bewohnt ist. Steinig und staubig, nee, da hätte ich nicht übernachten wollen.


          Langisjór





          Aus irgendeinem unbewussten Grund scheine ich mit dem großen See nicht recht warm zu werden. Mir ist bis heute Morgen nicht mal aufgefallen, dass er eigentlich Langisjór heißt, mit einem „i“ in der Mitte. Dabei sollte der doch eine der großen Attraktionen der Tour sein. Man muss wohl nicht alles verstehen. Statt wie vor einer Stunde geplant dem westlichen Seeufer zu folgen, zieht es mich sozusagen magisch über den Pass Vikurskarð auf die andere Seite der Bergkette. Das ist ein seltsamer Moment, in dem ich aufhöre darüber nachzudenken, sondern mich einfach treiben lasse. Für eine Weile habe ich sogar das Gefühl, dass Beine und Bewusstsein (um jetzt nicht Körper und Geist zu sagen) nur noch lose zusammenhängen. Gar nicht unangenehm, es fühlt sich fast schwerelos an.





          Bestimmt ist es die Wüstenlandschaft, die diesen meditativen Zustand hervorruft. Einige Kilometer gehe ich nach Norden, teils auf der Fahrspur, dann lieber eine längere Strecke der Nase nach über die grauen Hügel. Gestern noch fand ich die Wüste abweisend und anstrengend, aber heute fühle ich mich mühelos in die klaren Formen dieser ablenkungsfreien Weite hinein. Nach einem fast vegetationslosen Gebiet gibt es in der Nähe des Langidalur wieder mehr Leimkraut und Grasnelken, die sich hier tapfer und wunderschön den widrigen Bedingungen stellen. Und ich entdecke eine vergängliche Miniatur-Landschaft, die nach der Schneeschmelze im nächsten Jahr wahrscheinlich ganz anders aussehen wird.


          Miniatur-Landschaft 1


          Stengelloses Leimkraut




          Arktische Weide

          Nahe des Bachs im Langidalur gibt es sogar überraschenderweise einen mehrere Quadratmeter großen Moosfleck mit einer einzelnen kriechenden Weide, die mir an anderer Stelle sicher nicht weiter bemerkenswert erschienen wäre. Aber nach dem reinigenden Gang durch die Wüste bin ich wieder empfänglich geworden für das Wunder des Lebens. Das waren zweieinhalb unerwartet befriedigende Wanderstunden.

          Jetzt hole ich Wasser vom Bach und mache eine lange Frühstückspause. Anders als am Langisjór ist das hier mein besonderer Platz, an dem ich mich wohlfühle und total entspannen kann. Schon seltsam, wo einen die Beine manchmal hintragen, wenn man nicht aufpasst.






          Blick zurück zum Frühstücksplatz



          Der Bach heißt Lónakvísl. Nach der Frühstückspause lasse ich mich ganz selbstverständlich über die grauen Hügel nach Südwesten treiben. Das war also der Umkehrpunkt, ab jetzt laufe ich wieder auf Landmannalaugar zu. Irgendwann steige ich ins Bachbett ab und gehe mehr oder weniger direkt am Wasser, ich habe ja Zeit. Noch lässt er sich bequem in Stiefeln überqueren, aber dann weitet sich das Tal zu einer wassergesättigten Ebene. Schon an der dunkelgrauen Farbe im Gegensatz zu den helleren Hügeln lässt sich erkennen, dass hier mit festem Boden nicht zu rechnen ist. Überall sprudeln Quellen, nicht nur an den Hängen, sondern auch mitten in der Ebene.




          Miniatur-Landschaft 2



          Durch Versuch und Irrtum finde ich die Stellen, wo man nicht zu tief einsinkt, komme mir aber dabei wie ein Eindringling vor, der die makellosen Kies- und Sandflächen mit hässlichen Fußspuren verschandelt. So ein abgeschiedenes, empfindliches Fleckchen Natur sollte eigentlich nicht betreten werden. Nach der Ebene steige ich dann auch wieder über die Hügel, was den weiteren Vorteil hat, dass ich Lónakvísl nicht mehrmals furten muss, der hier in scharfen Kehren dicht am Hang strömt. Ohne Schuhwechsel ginge das jetzt nicht mehr. Hunderte von Quellen haben dafür gesorgt, dass er auf wenigen Kilometern zu einem stattlichen Wildbach angeschwollen ist.






          Aufgeblasenes Leimkraut und Grasnelke


          Lónakvísl

          Langsam wird es recht warm in der Sonne. Der kalte Nordwind flaut ab und überlässt das Feld den Fliegen, die sich gierig auf mich stürzen. Ist das eigentlich eine besondere Art von Fliegen, die gezielt die Nasenlöcher und Ohren ansteuern, um so weit wie möglich hineinzukrabbeln, und die Augen natürlich, wo sie nicht weit kommen? Gibt es die nur in Island? Die kenne ich von nirgendwo sonst.

          Am Rand der nächsten Ebene furte ich und suche mir auf den nassen Moosflächen östlich vom Lónakvísl einen Platz für die Mittagspause. Na toll, mitten im Fliegenparadies! Von Weitem sah das irgendwie besser aus. Gegen die Sonne stelle ich das Zelt auf und breite den Schlafsack darüber. Und noch alle Klamotten. Jetzt passt es. Kornmo, Käse, Kaffee – die Fliegen lassen mich in der offenen Apsis sitzend sogar weitgehend in Ruhe.


          Furt Lónakvísl



          Als ich gegen drei aufbreche, lasse ich die Sandalen gleich an, denn es müssen mehrere sandige Nebenarme gefurtet werden. Bis zur Hütte Örk am Kvíslarlón sind es jetzt nur noch wenige Kilometer, vorbei an Quellen, über graue Hügel und zuletzt auf einer einfachen Fahrspur. Eigentlich schade, dass jetzt schon wieder Anzeichen der Zivilisation auftauchen. Andererseits ist hier erst ein einziges Auto gefahren, und das war kein normaler Geländewagen.




          Blick nach Westen über die Ebene




          Örk, die Hütte am Kvíslarlón

          Die Hütte ist abgeschlossen, was aber keine Rolle spielt, denn ich hätte hier sowieso nicht übernachtet. Entweder laufe ich noch weiter, oder ich suche mir einen Platz an einem der kleineren Seen in der Nähe. Aber zuerst will ich die Schlucht westlich des Kvíslarlón anschauen, wo der Fluss durch die Bergkette bricht. Der Rucksack bleibt an der Hütte. Seltsam, dass es von der Hütte keinen Pfad oder wenigstens Fußspuren zur Schlucht gibt. Ist wohl nicht so die Touristenattraktion. Es geht ein Stück am Seeufer entlang, dann über einen flachen Sattel, der noch die Sicht versperrt und … wow, das ist ja unglaublich schön hier.


          (Klick auf das Bild für größere Ansicht)

          Ich muss mich erst mal hinsetzen und staunen. Bizarr geformte Felsen, ein Wasserfall und diese perfekte grüne Ebene in der Mitte. Natürlich werde ich heute nicht weitergehen, sondern hier zelten. Wie blöd, dass der Rucksack an der Hütte steht. Eine ganze Weile muss ich da gesessen und gestaunt haben, denn als ich zum zweiten Mal über den Sattel komme, diesmal mit Gepäck, ist schon eine Stunde vergangen.









          Durch die Schlucht scheint es einen Schafpfad zu geben, obwohl der Hang sehr steil ist. Ja doch, den Pfad sieht man ganz deutlich. Allerdings sind isländische Schafe schwindelfrei und können gut klettern. Bin mir nicht sicher, ob ich das morgen wagen soll. Für heute reicht mir der Blick von unten.

          Statt auf der Ebene baue ich das Zelt lieber am Berghang auf, da ist es früher im Schatten. Hätte nie gedacht, dass ich in Island mal so auf der Suche nach Schattenplätzen sein würde. Mobilnetz gibt es hier nicht, und die letzte Wetterprognose ist von Mittwoch, also total veraltet. Nach vollen sieben Tagen Sonnenschein, das bisschen Regen am Dienstag zählt nicht, hätte ich keine Einwände gegen einen gemütlichen Regentag. Mal richtig ausschlafen, in den Schlafsack gekuschelt den Regentropfen lauschen, das klingt auch nicht schlecht. Theoretisch könnte man auch ohne Regen einen Ruhetag einlegen, aber die vielen Sommertouren mit wechselhaftem Nordlandwetter haben mich schon bis in die Knochen darauf konditioniert, jeden Sonnenstrahl zum Wandern zu nutzen.

          Von der Wüste am Vikurskarð über den Frühstücks-Moosfleck, die spärliche, kostbare Vegetation auf den grauen Hügeln und das große Tal der Quellen bis zu diesem besonders schönen Platz an der Schlucht – rückblickend war das heute wie ein Sog, der genau auf dieses Ziel hinführte. So fügt sich manchmal ganz harmonisch, was überhaupt nicht geplant war.


          Camp 6 am Lónakvísl

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          • ronaldo
            Freak
            Moderator
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            • 24.01.2011
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            #25
            AW: [IS] Kopfnetz statt Mundschutz: Traumwandeln zwischen Fjallabak und Langsjór

            Einfach großartig, deine Bilder! Vielen Dank dafür.

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            • evernorth
              Fuchs
              • 22.08.2010
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              #26
              AW: [IS] Kopfnetz statt Mundschutz: Traumwandeln zwischen Fjallabak und Langsjór

              Schöne Bilder, Bernd. Die Überraschung ist dir gelungen.
              Ich hatte ja ( aus bekanntem Grund ) auf eine Umrundung des Langisjór gehofft.
              Was für ein tolles Fleckchen Erde!
              My mission in life is not merely to survive, but to thrive; and to do so with some passion, some compassion, some humor and some style. Maya Angelou

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              • Borgman
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                #27
                AW: [IS] Kopfnetz statt Mundschutz: Traumwandeln zwischen Fjallabak und Langsjór

                Zitat von ronaldo Beitrag anzeigen
                Einfach großartig, deine Bilder! Vielen Dank dafür.
                Gern geschehen! Freut mich, dass es Dir gefällt.

                Zitat von evernorth Beitrag anzeigen
                Schöne Bilder, Bernd. Die Überraschung ist dir gelungen.
                Ich hatte ja ( aus bekanntem Grund ) auf eine Umrundung des Langisjór gehofft.
                Was für ein tolles Fleckchen Erde!
                Ja, nicht wahr? Selbst in einer ziemlich bekannten Gegend kann man noch was entdecken. Dass Du bezüglich des Langisjór ein bisschen enttäuscht sein würdest, dachte ich mir, aber ... soll ich was andeuten? ... soll ich?? Nee, jetzt noch nicht . Erst mal geht es ganz gepflegt mit dem nächsten Tag weiter.

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                • Borgman
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                  #28
                  AW: [IS] Kopfnetz statt Mundschutz: Traumwandeln zwischen Fjallabak und Langsjór

                  Samstag, 11. Juli: Am großen Fluss

                  Beim Aufwachen gegen 5:00 Uhr scheint es, als erfülle sich mein leiser Wunsch von gestern. Es regnet. Die Außentemperatur von 2°C sorgt in Verbindung mit Windstille für ordentlich Kondens am Außen- und sogar ein bisschen am Innenzelt. Ist halt ein Akto, das ist in dem Punkt empfindlich. Ansonsten bin ich sehr glücklich mit meiner Zeltwahl. Die größere Apsis gegenüber dem Soulo empfinde ich immer noch als luxuriös, und dass es stabil im Wind steht, hat sich ja letztes Jahr in Norwegen gezeigt. Das kleine Problem mit der tropfenden Stelle am Lüfter sollte jetzt, mit SilNet beidseitig auf der Naht, auch behoben sein. Ich fühle mich jedenfalls gewappnet für jedes Wetter, das kommen mag.

                  Was dann kurz vor acht tatsächlich kommt, ist allerdings nicht das erwartete Wetter, sondern wie immer die Morgensonne. Na gut, dann wird heute eben kein Ruhetag. Weil es schon recht spät ist, frühstücke ich gleich mein Müsli und breche gegen 9:00 Uhr auf. Von hier muss ich natürlich nicht zurück zur „Piste“, also der einzelnen Fahrspur, die im Sand sowieso nichts bringt, sondern halte mich einfach am Hang der Bergkette Richtung Südwesten. Von der vagen Idee, durch die Schlucht zu gehen, halte ich überhaupt nichts mehr. Wo ein trockener steiler Hang vielleicht noch machbar ist, kann ein nasser steiler Hang schnell gefährlich werden. Hier wird es nur mühsam, denn das Gelände ist sandig.





                  Warum sind einzelne Schneefelder eigentlich mit schwarzer Asche bedeckt und die meisten nicht? Der erste Abschnitt heute wirkt ziemlich düster. Vor dem nächsten Durchbruch gewinne ich etwas an Höhe, um einen guten Überblick zu bekommen. Viel sehen kann man allerdings nicht. Direkt vor dem spitzkegeligen Faxi ist der Einschnitt, durch den auch die Piste auf die Tungnaá-Seite der Berge wechselt. Beim Abstieg umgehe ich instinktiv ein steiles Schneefeld noch bevor es zu sehen ist. Vielleicht bekomme ich doch langsam ein Gefühl für die Landschaft.


                  Faxi


                  Das ist die Piste



                  Die eigentliche Schlucht ist dann so eng, dass die Fahrspur mitten im Bach verläuft. Als Wanderer kommt man ohne nasse Füße gut rechts am Hang durch. Hinter der schmalsten Stelle empfiehlt es sich allerdings, die Bachseite mehrmals zu wechseln. Bei dem niedrigen Wasserstand geht das heute sogar mit Stiefeln, nach stärkeren Regenfällen sollte man vielleicht besser eine höhere Route suchen.





                  Dahinter ist es eigentlich egal wie man geht, so lange man sich zwischen Tungnaá und der Bergkette hält, die den netten Namen Kattarhryggur trägt, Katzengrat. Bis zur Mittagspause kann ich mich also praktisch nicht verlaufen. Auf der Karte ist zwar eine Nebenpiste eingezeichnet, die aber nicht markiert ist und wohl auch nur selten benutzt wird. Es gibt eine einzelne Reifenspur, die ich ignoriere, weil der Sand in der Spur weicher ist als daneben. Bei weitgehend bedecktem Himmel laufe ich jetzt ein paar Kilometer einfach geradeaus. Nur selten kommt die Sonne durch, es bleibt fast windstill. Einzige Abwechslung bieten die seltsam geformten Berge am Katzengrat.


                  Grimmiges Alien-Gesicht


                  Sieht aus wie beim Bleigießen aus dem Topf gefischt



                  Da ist wieder ein Einschnitt. Sollte das schon … nein, das kann nicht sein. Als ich näher komme, sehe ich, dass ein kräftiger Bach durch die Schlucht fließt, der sich in der Ebene vielfach auffächert. Doch, das ist schon Faxasundsgljúfur, das ging aber schnell. Nach einem Blick in die Schlucht steige ich südlich über die Hügel zur Furt ab und wechsele die Schuhe.


                  Faxasundsgljúfur


                  Der Bach heißt Faxasundslækur

                  Die beiden Hauptarme sind gut knietief, eher steinig als sandig und problemlos zu furten.
                  Auf der anderen Seite sehen die grünen Flächen so aus, als könnte man da das Zelt für die Mittagspause aufstellen, denn es beginnt leicht zu regnen. Bei näherer Betrachtung sind sie allerdings sehr nass, teilweise sogar sumpfig. Wo soll hier eigentlich die Fahrspur sein? Die hatte ich schon fast vergessen, kann auch nicht erkennen, wo man mit dem Auto die steile Böschung hochkommt. Na ja, das kann mir wirklich egal sein. Schließlich finde ich eine kleine, trockene Erhebung und mache es mir im Zelt gemütlich.

                  Ich probiere noch mal mein Glück mit dem Mobiltelefon, und tatsächlich hat es ein Netz. Die Wettervorhersage ist ganz nach meinem Geschmack. Morgen soll es regnen, danach bleibt es wechselhaft. Heute Nachmittag trocken. Dann kann ich noch so weit laufen, bis ich einen richtig guten Platz für den ersehnten Ruhetag finde, sehr schön. Entspannt schlafe ich eine Stunde und dehne die Mittagspause bis 15:00 Uhr aus.

                  Die Landschaft wird ab hier grüner und abwechslungsreicher. Bald finde ich auch die Fahrspur wieder, der ich über einen Sattel am Berg 714m bis zur nächsten Ebene folge. Ab jetzt geht es immer mehr oder weniger an der Tungnaá entlang, dem großen Fluss, der hier noch zwischen den Hügeln eingezwängt fließt, sich aber bald auf einer riesigen Fläche ausbreitet. Sehr eindrucksvoll.




                  Tungnaá, hier noch schmal...


                  … und hier nicht mehr

                  Heute strengt mich das Gehen wesentlich mehr an als gestern. Die Beine sind einfach müde. Als die Fahrspur nach Süden abdriftet, bleibe ich nahe der Tungnaá und laufe mitten durch eine sehr nasse Ebene. Die Stiefel sinken bei jedem Schritt mehr ein, als mir lieb ist. Wäre doch besser gewesen sich am Rand zu halten. Zu allem Überfluss gibt es auch noch breite, tiefe Moor- oder wohl eher Quellbäche. Nee, hier muss man nicht durch, da nimmt man lieber den kleinen Umweg in Kauf.

                  Nachdem das geschafft ist, halte ich direkt auf den letzten Hügel direkt an der Tungnaá zu. Von hier ist nicht erkennbar, ob es einen sicheren Übergang gibt. Wenn nicht, suche ich mir vorher einen Platz für die Nacht. Erst ganz kurz davor erkenne ich den Schafpfad am Hang. Na prima, dann gehe ich noch bis zum See am Stakihnúkur.


                  Nasse Ebene


                  Schafpfad an der Tungnaá







                  So breit und schlammig wie der Fluss ist auch der Uferstreifen, aber da will ich ja nicht hin. Noch ein kleiner Hügel, dann erreiche ich den See 578m vor dem Stakihnúkur. Sieht nett aus, hier will ich bleiben.

                  Wie sich herausstellt ist auch das Seeufer sehr nass, also muss ich mir einen Platz weiter weg vom Wasser suchen. Selbst zum Waschen komme ich an dieser Stelle nicht an den See, ohne tief einzusinken. Zum Glück gibt es in der Nähe ein Schmelzwasserbächlein, das zuverlässig sprudelt. Am südlichen Seeufer steht eine seltsam aussehende Hütte, und es laufen auch Menschen herum, die irgendwas machen. Zu weit weg, um es genau zu erkennen.



                  Bis am Abend die Schatten dankenswerterweise länger werden scheint die Sonne auf mein idyllisches Plätzchen. Auf dem See schwimmt ein Singschwanpaar und einige Enten, zwei Goldregenpfeifer rufen sich gegenseitig über die Wiese und bleiben dann doch beide wo sie sind. Ihre klagenden Rufe mischen sich mit anderen Vogelstimmen und schaffen eine Atmosphäre, die so vertraut und anheimelnd ist, dass ich mich sofort wohlfühle. Nichts deutet auf einen Wetterwechsel hin.


                  Camp 7 (und 8) am Stakihnúkur


                  Sonntag, 12. Juli: Der wohlverdiente Ruhetag

                  In der Nacht habe ich ausgezeichnet geschlafen. Wenn nicht Regen angesagt wäre, dann würde ich auch heute Früh um fünf keinen Verdacht schöpfen. Das Wetter sieht gut aus, ein paar Wolken, gelegentlich ein Sonnenstrahl, leichter Westwind. Schon überlege ich, ob ich nicht wenigstens die Furt westlich des Stakihnúkur noch machen kann, bevor der Wasserstand im Regen eventuell ansteigt. Jökuldalakvísl soll an der Stelle angeblich ein ernstzunehmender Fluss sein. In einem Bericht hat mal jemand die Querung nicht geschafft, aber das war wohl auch ein Stück oberhalb der eigentlichen Furt. Da schieben sich schon dichte Wolken vor die zaghafte Morgensonne und es beginnt zu regnen. Dann bleibe ich natürlich.

                  Den Vormittag über fällt extrem gemütlicher, einschläfernder Landregen. Genau das richtige Wetter um sich zu entspannen, viel zu schlafen, ein bisschen zu lesen und wieder einzuschlafen. In den kurzen Regenpausen mache ich kleine Gänge nach draußen und hole bei der Gelegenheit noch mal Wasser aus dem Bächlein am Schneefeld, das wegen der kühleren Temperatur nur noch ein Rinnsal ist. Reicht aber trotzdem, um den Platypus zu füllen.

                  Am Nachmittag frischt der Wind auf, und auch der Regen wird stärker, aber alles bleibt in der Komfortzone. Ich überlege schon mal, was ich mit den restlichen Tagen anfangen kann. Nach Landmannalaugar laufe ich von hier vielleicht vier Stunden, da bleiben auf jeden Fall zwei volle Tage übrig. Vielleicht weiter an der Tungnaá zum Ljótipollur und von da eine kleine Extrarunde? Hmm, das werden wir dann sehen. Ich will mich noch nicht festlegen, sondern lieber offen sein für spontane Ideen. Das hat auf dieser Tour eigentlich immer sehr gut geklappt. Vielleicht komme ich nach dem Regen auch nicht über den Fluss, dann bräuchte ich sowieso mehr Zeit.

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                  • Dieter

                    Dauerbesucher
                    • 26.05.2002
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                    • Meine Reisen

                    #29
                    AW: [IS] Kopfnetz statt Mundschutz: Traumwandeln zwischen Fjallabak und Langsjór

                    Ein wirklich schöner Bericht und die Bilder machen mir wieder Lust unterwegs zu sein!

                    Du hast da eine hochinteressante Frage:

                    ... denn das Gelände ist sandig.
                    ...
                    Warum sind einzelne Schneefelder eigentlich mit schwarzer Asche bedeckt und die meisten nicht?
                    Hier mal mein Erklärungsversuch als Geograph:

                    Die winterliche Schneedecke in Island hat in ihrem Aufbau häufig relativ dicke Eislagen, welche zur Zeit der Schneeschmelze ein Durchsickern des Schmelzwassers behindert. So kann der berüchtigte Schneesumpf (isl: karp) entstehen. Im Frühjahr ist auch noch der Boden gefroren (Permafrost), so dass alles Schmelzwasser oberflächlich abfließen muss. Häufig kann man auch kleine Muren (Schlammströme) beobachten, die von aperen Hangteilen über tiefergelegene Altschneefelder fließen. Oder in Einschnitten mit alten Schneeverwehungen gräbt sich dieser Oberflächenabfluss Rinnen in die Altschneeoberfläche. Feine mitgespülte Sedimente ("Asche") sammelt sich in diesen Rinnen, welche irgendwann trocken fallen. Mit weiterem Abschmelzen im Frühjahr schützt diese Sandablagerung die direkt unter ihm liegende Schneedecke, während der nicht von Sand bedeckte Schnee in unmittelbarer Nachbarschaft stärker abschmilzt.

                    Es kommt schließlich zu einer sogenannten Reliefumkehr. Was vorher eine Sandgefüllte Rinne war, ist nun ein sandbedeckter Rücken. Und genau das zeigen Deine Bilder.

                    Dieter

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                    • Berserkjahraun
                      Gerne im Forum
                      • 31.05.2012
                      • 77
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                      #30
                      AW: [IS] Kopfnetz statt Mundschutz: Traumwandeln zwischen Fjallabak und Langsjór

                      Hier weisen die Markierungspfähle tatsächlich eine Route den absurd steilen Hang aus Sand und feinem Schotter hinab. Runter kommt man wohl auf dem Hosenboden, wobei man die Hose danach sicher wegschmeißen kann, aber hoch? Alle Achtung, wer das mit schwerem Gepäck schafft!
                      Danke für die Blumen


                      Ich bin die Stelle hochgekraxelt. Schon etwas steil - von unten sah es aber erst gar nicht so schlimm aus.
                      Tolles Wetter hast du gehabt. Bin ja mal gespannt, ob das so blieb.


                      Bernd
                      https://trekking-berserker.de

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                      • Borgman
                        Dauerbesucher
                        • 22.05.2016
                        • 724
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                        #31
                        AW: [IS] Kopfnetz statt Mundschutz: Traumwandeln zwischen Fjallabak und Langsjór

                        @Dieter: Vielen Dank für Deine interessante Erklärung. Das klingt sehr einleuchtend, genau so sah es nämlich aus.

                        @Berserkjahraun: Ich habe mehrere Deiner Berichte mit großem Vergnügen gelesen, aber an einen mit Eldgjá kann ich mich gerade nicht erinnern. Schön, dass Du dabei bist.
                        Mit dem Wetter hatte ich tatsächlich unverschämt viel Glück, und am nächsten Tag ... ja, der Teil wird hoffentlich heute noch fertig .

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                        • Borgman
                          Dauerbesucher
                          • 22.05.2016
                          • 724
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                          #32
                          AW: [IS] Kopfnetz statt Mundschutz: Traumwandeln zwischen Fjallabak und Langsjór

                          Montag, 13. Juni: Der Wurm aus dem Weltraum

                          Nach dem faulen Tag konnte ich überhaupt nicht gut schlafen, und der Rücken tut vom vielen Liegen auch ein bisschen weh. Trotzdem fühle ich mich erholt, natürlich, dafür war der Ruhetag ja gedacht. Eigentlich könnte ich sofort aufbrechen, jetzt will ich diese Furt auch endlich hinter mich bringen, die mir seit gestern im Kopf herumspukt. Nur regnet es noch etwas zu stark. Heute möchte ich mir das Frühstück für später aufsparen, wer weiß wie lang der Tag wird, und koche erst mal nur einen Kaffee. Nach einer Stunde werde ich ungeduldig, bereite mich seelisch darauf vor, im Regen zu packen, was ich gar nicht mag. Noch ein Kaffee, dann geht es los.

                          Na bitte, es nieselt nur noch, wird schon heller. Gegen Viertel nach neun laufe ich östlich am See entlang und durch eine weitere nasse Ebene zum Bus. Ja genau, die Hütte ist ein Bus, hätte ich wegen der seltsamen Form auch früher drauf kommen können. Wie bei „Into the Wild“, nur schicker. Ein schwarz lackierter ausrangierter „Stræto“-Bus. PASSIO BUIL BUSIN steht an der Seite. Was will mir das jetzt sagen? Wahrscheinlich hat hier jemand eine verkappte Leidenschaft fürs Baugeschäft oder so.


                          Stakihnúkur



                          Über sandige Hügel geht es am Stakihnúkur vorbei und hinunter zur Furt. Man kann sie schon sehen. Kurz davor quert die Stromleitung den tatsächlich sehr breiten Fluss. Beim ersten Versuch, überhaupt in die Nähe der Furt zu kommen, gerate ich in Treibsand. Zum Glück habe ich schon die Sandalen an, sonst wären die Stiefel jetzt voll mit schwarzem Sand. Dabei war das erst ein kleiner Zufluss von Osten und noch gar nicht der Jökuldalakvísl. Den Zufluss muss ich weiträumig umgehen, um von Süden den nächsten Versuch zu starten. Das geht mit der entsprechenden Vorsicht besser. Hier treffe ich auf eine ehemalige Piste, die schon lange nicht mehr benutzt wird. Sind wahrscheinlich zu viele im Treibsand stecken geblieben. Die eigentliche Furt sieht dann nicht schwierig aus.






                          Furt Jökuldalakvísl

                          Ja, die wird offenbar auch nicht mehr benutzt. Die Röhren wirken zwar eindrucksvoll, erfüllen aber keine Funktion. Einige sind zerdrückt, andere liegen über der Wasserlinie. Man sollte sie mal wegräumen. Sehr hilfreich sind dagegen die aufgeschütteten Steine, ohne die in diesem Treibsand-Delta keine Querung möglich wäre. Der westlichste Arm ist gut knietief und hat eine etwas stärkere Strömung.

                          Das war also das letzte Hindernis vor Landmannalaugar. Und ich weiß immer noch nicht, was ich mit der restlichen Zeit anfangen will. Der Regen hat ganz aufgehört, es weht ein mäßiger, kühler Nordwestwind. Zuerst gehe ich einfach in der Richtung weiter und biege dann nach Süden in das überraschend grüne Tal am Stórikýllingur. Ein Schild verkündet, dass die Piste hier wegen Treibsandgefahr endet. Danke, das habe ich auch schon gemerkt.

                          Viele Schafe weiden in diesem Tal, und es gibt sogar eine kleine Hütte mit blauem Dach. Sie ist theoretisch offen, das heißt es gibt kein Schloss. Man könnte sie benutzen wenn man genug Kraft hat, um den verdammt fest sitzenden Riegel entweder zu öffnen oder aus dem Türrahmen zu reißen. Damit will man bestimmt die Wanderer abhalten, die bekanntlich alle von Nahrungsmangel geschwächt sind. Mit feinem Sinn für Ironie hat man die Hütte „Höll“ genannt, also Schloss im Sinne von Palast. Vermutlich will man damit dem Wanderer unter die Nase reiben, dass er im Gegensatz dazu ja nur eine dünne Stoffbehausung hat, aber das zieht bei mir nicht. Ich schlafe hundertmal lieber im Zelt als in so einer ranzigen Hütte, selbst wenn sie einen pompösen Namen hat. Jawohl! Mir fällt auf, dass „Schloss“ natürlich ein Teekesselchen ist, was mich wiederum daran erinnert, dass ich noch nicht gefrühstückt habe. Statt hier an der Hütte herumzulungern, sollte ich lieber ein paar Kilometer machen.






                          Höll, der Palast im Schafsparadies

                          Am Kirkjufell stoße ich wieder auf die F208, auf der ich genau vor einer Woche schon mal gelaufen bin. Obwohl sie inzwischen geöffnet sein dürfte, wird sie heute genauso stark frequentiert, nämlich nur von mir. Der vorläufige Plan sieht so aus, dass ich bis zur Brücke auf der Piste bleibe und ab da pfadlos nach Norden in das Lavafeld vorstoße. Mal in die Karte gucken, wie weit das noch ist … hmm, ich bin jetzt gerade am Kirkjufell vorbei … wie heißt das Tal hier? Halldórsgil. Moment mal, war das nicht woanders? Nee, das war Halldórsdalur, am Halldórsfell, kurz vor Camp 2. Der Halldór hat sich ja hier ganz schön oft verewigt.

                          In der Sekunde klickt ein Schaltkreis in meinem Gehirn und die Synapsen feuern was das Zeug hält. Mein Herz schlägt schneller, die Hände werden feucht. Halldórsgil, davon hab ich irgendwo gelesen, und ich weiß auch noch, was das war. Soll ich das wirklich versuchen? Warum bin ich da vor einer Woche nicht drauf gekommen? Doch bestimmt aus gutem Grund: weil es zu unsicher ist. Und selbst wenn es machbar sein könnte, weiß ich ja gar nicht die genaue Route. Erinner dich mal bitte daran, dass du schon am Skalli die Panik gekriegt hast.

                          Die Entscheidung ist natürlich längst gefallen. Ich will das! Um die Stimme der Vernunft zu beruhigen, nehme ich mir vor, nur so weit zu gehen, wie ich mir den Weg zurück auch bei schlechterem Wetter noch zutraue. Kein Point of No Return! Aber eigentlich will ich nicht zurück, so viel steht fest.


                          Kýllingavatn


                          Eingang zur Halldórsgil


                          Blick zurück

                          Wie zur Bestätigung badet die Halldórsgil in Sonnenlicht, während im Westen dicke Wolken hängen. Aber erst wird gefrühstückt. An Schwäche durch Nahrungsmangel soll mein Vorhaben nicht scheitern. Nach dem leckeren Müsli regt sich der Abenteuerdrang, aber ich ruhe noch eine Stunde aus, damit ich wirklich fit bin. Dieses Tal gefällt mir schon mal sehr gut. Nicht dieser ewige Sand, sondern handfestes Geröll und Flusskiesel, dazwischen hübsche Zeltwiesen.


                          Halldórsgil




                          Kirkjufell

                          Weiter oben geht es mehr und mehr über Schneefelder. Fester, griffiger Schnee, alles ganz einfach. Eigentlich trübt der einsetzende Regen meine gute Laune kaum, nur die Sicht soll bitte nicht schlechter werden. Wenn ich das richtig vermute, muss ich dieses Tal bis ganz zum Ende hochgehen und dann irgendwie diagonal an einem steilen Hang absteigen.






                          Blick zurück

                          Etwa eine Wanderstunde nach der Pause öffnet sich die Halldórsgil ganz oben zu einem grandiosen Aussichtsbalkon. Das hat sich schon mal gelohnt. Im Westen der nördliche Abschnitt der Sveinsgil, wo sie in die Jökulgil mündet, und aus der Ferne grüßt der Skalli. Na also, die Sicht ist mehr als ausreichend. Voller Ungeduld wende ich mich nach Süden. Jetzt wird es spannend. Der Hang, den ich jetzt queren muss, ist noch zu großen Teilen mit Schnee bedeckt. Zu viel Höhe sollte ich hier nicht verlieren, denn unten fällt er sehr steil in eine ungangbare Schlucht, eben Sveinsgil. Dann ist der Abstieg nicht diagonal, sondern auf der anderen Seite. So weit sieht es machbar aus. Also einmal tief durchatmen und los. Für den Anfang folge ich dem Schafpfad über einen Grat.


                          Blick nach Westen zum Skalli


                          Das ist meine Richtung


                          Schafpfad über den Grat


                          Die untere Querrippe will ich anpeilen

                          Wahrscheinlich laufen die Schafe seit Generationen aus reiner Gewohnheit hier lang. Unter meinem Gewicht rutscht jedenfalls immer wieder Sand am steilen Hang hinunter. Besser wäre gewesen, den Grat ein paar Meter hoch über das Moos zu queren. Vielleicht sollte ich demnächst mal nachdenken, bevor ich dem erstbesten Pfad folge. Wenn noch zwei oder drei Wanderer hier genauso langschroten, hat sich das sowieso erledigt, dann wird diese Stelle unpassierbar. Deshalb eine große Bitte:


                          Liebe Wanderer, liebe Autotouristen, liebe Artgenossen! Eigentlich hatte ich mir nach der Tour vorgenommen, nichts von diesem und dem nächsten Tag zu erzählen. Jedenfalls nicht öffentlich, sondern nur zu gegebener Zeit ein paar Menschen, die sich gezielt dafür interessieren. Bis heute habe ich das auch durchgehalten (es weiß noch niemand, nicht mal meine liebe Frau), stellte aber beim Berichtschreiben fest, dass man nicht einfach zwei Tage auslassen kann. Und ich habe noch mal nachgeschaut, woher die Idee für diese Route kommt. Sie ist also schon im Netz zu finden und wird auch begangen. Hoffentlich nicht zu oft. Ich habe immer noch ein ungutes Gefühl, weil ich nicht mit meinem Bericht dazu beitragen möchte, dass die äußerst empfindliche Natur in diesem Gebiet Schaden nimmt. Außerdem verändert sich die Topographie hier sehr schnell. Die sichere Route, die ich gefunden habe, kann schon im nächsten Jahr problematisch sein. Bitte macht Euch das bewusst, wenn Ihr in dem Gebiet wandern wollt. Falls Ihr irgendwo einen GPS-Track finden solltet, vertraut ihm nicht blind. Danke!



                          Blick zurück zum Aussichtsbalkon...


                          … und in meine Richtung

                          Vor dem ersten steilen Schneefeld zögere ich. Würde ich das im schlechteren Fall auf dem Rückzug noch mal queren wollen? Wird schon klappen. Schön langsam, nicht in die Tiefe gucken. Mit der Stiefelspitze fest in den Schneehang treten, bis eine sichere Stufe entsteht. Dann erst den nächsten Schritt. Puh, das war doch gar nicht so schwer. Ich habe die Nerven behalten. Jetzt geht es ein Stück einfach am Hang entlang, wieder auf einem Schafpfad, der allerdings bald nicht mehr zu finden ist. Unten sieht man schon die Ebene, wo Sveinsgil und Svigagil zusammentreffen. Dahin muss ich absteigen, und zwar genau hier. Wieder zögere ich … ach was, rauf geht einfacher als runter … und die Regenhose ist sowieso nicht die allerneueste. Kurzerhand rutsche ich den nassen Sandhang und das angrenzende kleine Schneefeld auf dem Hosenboden hinunter.


                          Da muss ich irgendwie absteigen

                          Toll, da ist auch wieder ein Schafpfad, aber … nee, da gehe ich nicht. Das Schneefeld mit der fast senkrechten Kante sieht von hier gruselig aus. Es muss eine andere Möglichkeit geben. Kurz davor ist eine Rinne zum Talgrund, die halbwegs gangbar aussieht. Wenn sie nur nicht im reißenden Gletscherbach endet. Ich probiere mein Glück und steige hier ab.


                          Meine Rinne

                          Ha! Mit einem Freudenschrei löst sich die Anspannung. Genau hier endet die Kiesfläche, danach schrammt der Bach direkt am Hang. Die Rinne war goldrichtig! Sveinsgil ist auch oberhalb dieser Ebene unpassierbar, genauso der Hang. Es geht nur über die Berge zwischen Sveinsgil und Svigagil, also vorerst weiter genau nach Süden.


                          Glücklich in der Ebene


                          Svigagil - der Berg links ist Hábarmur


                          Da muss ich jetzt hoch

                          Als ich die Ebene überquert habe, ist es halb drei. Genau zwei Stunden seit der Frühstückspause. Man könnte kurz ausruhen, aber dafür bin ich zu ungeduldig. Außerdem ist gerade jetzt das Wetter perfekt, das kann sich schnell ändern. Statt über den Elefantenrüssel (letztes Bild) im Vordergrund aufzusteigen, das ginge sicherlich auch, entscheide ich mich für eine flachere, steinige Rinne südlich davon. Das klappt wunderbar. Vom Berg 784m geht es ein bisschen hinunter und dann teils über Schneefelder weiter hoch auf einen breiten Bergrücken. Jetzt nicht zu früh nach Westen abdriften. Immer wieder gibt es überraschend grüne Stellen mit vielen Blumen.


                          Alpenhelm

                          Natürlich habe ich schon Fotos gesehen. Aber auf diesen Anblick bin ich nicht vorbereitet, nicht auf die Wucht der Eindrücke. Nicht auf die unfassbare Tatsache, dass ich es geschafft habe. Dass ich kleiner Mensch hier sein darf. Ich spüre einen dicken Kloß im Hals, die Tränen schießen mir in die Augen. Grate, Schluchten, Berge, Farben! Mittendrin der verrückte Wurm aus dem Weltraum, Grænihryggur. Kann es das in Wirklichkeit geben? Ist das nicht viel zu unwahrscheinlich? Traum oder Wirklichkeit, ich bin jedenfalls tief bewegt.




                          Hábarmur




                          Panorama nach Westen – Klick für größere Ansicht


                          Panorama nach Süden











                          Grænihryggur wirkt in seiner Fremdartigkeit hypnotisierend auf mich. Bloß gut, dass der Abstiegsgrat genau auf ihn zu läuft, denn ich kann den Blick nicht abwenden. Das letzte Stück ist etwas steil, aber problemlos zu bewältigen. Genau eine Stunde nach der Svigagil stehe ich wieder vor dem reißenden Gletscherbach, und diesmal muss ich durch. Eine wirklich gute Stelle gibt es nicht, also kann ich es gleich hier probieren. Das gelingt sogar auf Anhieb. Gerade so kann ich mich gegen die Strömung stemmen, die Stöcke zittern und werden kräftig weggedrückt, sobald ich sie hochnehme. Aber auf dem steinigen Grund finde ich guten Halt. Kleine Schritte, immer erst festen Halt prüfen, dann weiter. Neoprensocken sind schon ein Segen. Auf der anderen Seite stelle ich gleich das Zelt auf. Mittagspause um 15:30 Uhr. Hunger!

                          Nachdem die abgezählten Kornmos und die viel zu kleine Käseportion verschlungen sind, koche ich einen Belohnungskaffee und warte mal ab, was das Wetter macht. Momentan sieht es eher trübe aus, aber gegen fünf kommt allmählich die Sonne zum Vorschein. Glück muss man haben! Sofort breche ich auf, um die Gegend zu erkunden. Erst mal hoch zum Grat über dem Wurm. Nein, eigentlich sieht er nicht aus wie ein Wurm, aber irgendwie … lebendig, oder wie ein versteinertes Lebewesen. Aus der Nähe erkennt man, dass er ziemlich homogen aus türkisfarbenen Steinen besteht. Wie ist das möglich?

                          Vorerst scheue ich noch davor zurück, den Grænihryggur zu betreten, auch wenn es mich sehr reizt. Ich will hier keine unnötigen Spuren hinterlassen. Stattdessen steige ich links von ihm auf. Eigentlich sollte man ja annehmen, dass ich mich langsam daran gewöhnt hätte, in einer einmaligen Landschaft zu sein, aber als ich den Grat erreiche, bin ich sprachlos. Wie sollte man das beschreiben? Wo sind all die Adjektive, wenn man sie braucht? Auch die Fotos werden nur einen schwachen Eindruck vermitteln können.


                          Blick zum Hábarmur und meine Abstiegsroute


                          Sveinsgil talaufwärts


                          Jökulgil talabwärts


                          Blick über den Grat nach Norden...


                          … und nach Süden


                          Hinten in der rechten Bildhälfte der Berg 1192m am Torfajökull

                          Zwischen den Schluchten Jökulgil und Sveinsgil zieht sich der Grat nach Norden, und nur hier gibt es einen erkennbaren Pfad. Es sieht aber so aus, als wäre seine Verlängerung nach Süden, also grob in Richtung Hattver, auch begehbar. Das Problem ist nur, wie man hinunter in die Jökulgil kommt. Hier offensichtlich nur mit Schwierigkeiten. Nach der Karte hätte ich mir vorgestellt, dass man genau an dieser Stelle relativ leicht absteigen kann. Aber der Hang am Grat ist sehr steil, das traue ich mir nicht zu, und eine Rinne direkt südlich des Grænihryggur sieht so aus, als fiele sie ganz unten steil in den Jökulgilskvísl ab. Wissen kann man das nicht, nur vermuten.

                          Ich laufe hin und her auf dem Grat, um mehr erkennen zu können, doch eine vertrauenerweckende Abstiegsroute finde ich nicht. Bliebe also die Variante nach Norden zu der Stelle, wo sich Jökulgil und Sveinsgil treffen. Könnte gehen, wenn auch der Grat stellenweise sehr schmal und bestimmt nicht frei von Schwierigkeiten ist. Man darf nicht vergessen, dass sich hier nicht nur die Flussläufe, sondern auch die Hänge aus Sand und losem Schotter sehr schnell verändern. Wer das nicht glaubt, möge sich bitte mal wenige Jahre alte Fotos vom Grænihryggur anschauen, da fällt es sofort auf.

                          Mit leicht mulmigem Gefühl verschiebe ich die Entscheidung auf morgen. Zurück ins Tal gehe ich vorsichtig und respektvoll auf dem türkisgrünen Rücken, es sieht einfach zu verlockend aus.






                          Sveinsgil talabwärts, da steht mein Zelt


                          Nur im Notfall hätte ich die Bachquerung mittels dieser eleganten Schneebrücke probiert





                          Zurück am Zelt reicht die Zeit gerade noch für eine gründliche Wäsche im Bach, dann beginnt es kräftig zu regnen. Was habe ich doch für ein Glück auf dieser Tour. Nie hätte ich gestern gedacht, dass mir heute so ein großartiges Erlebnis beschieden wäre. Und dann scheint auch noch die Sonne genau zum richtigen Zeitpunkt. Traumhaft! Den Gedanken an eine mögliche Fortsetzung über Hattver nach Landmannalaugar schiebe ich beiseite, das soll mich wirklich erst morgen kümmern. An diesem Abend bin ich einfach nur glücklich.


                          Camp 9 am Grænihryggur
                          Zuletzt geändert von Borgman; 13.08.2020, 15:47. Grund: Fehlerkorrektur

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                          • Dieter

                            Dauerbesucher
                            • 26.05.2002
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                            #33
                            AW: [IS] Kopfnetz statt Mundschutz: Traumwandeln zwischen Fjallabak und Langsjór

                            Hallo Bernd,

                            vielen Dank für diese Zeilen in Deinem Bericht:

                            Liebe Wanderer, liebe Autotouristen, liebe Artgenossen! Eigentlich hatte ich mir nach der Tour vorgenommen, nichts von diesem und dem nächsten Tag zu erzählen. Jedenfalls nicht öffentlich, sondern nur zu gegebener Zeit ein paar Menschen, die sich gezielt dafür interessieren. Bis heute habe ich das auch durchgehalten (es weiß noch niemand, nicht mal meine liebe Frau), stellte aber beim Berichtschreiben fest, dass man nicht einfach zwei Tage auslassen kann. Und ich habe noch mal nachgeschaut, woher die Idee für diese Route kommt. Sie ist also schon im Netz zu finden und wird auch begangen. Hoffentlich nicht zu oft. Ich habe immer noch ein ungutes Gefühl, weil ich nicht mit meinem Bericht dazu beitragen möchte, dass die äußerst empfindliche Natur in diesem Gebiet Schaden nimmt. Außerdem verändert sich die Topographie hier sehr schnell. Die sichere Route, die ich gefunden habe, kann schon im nächsten Jahr problematisch sein. Bitte macht Euch das bewusst, wenn Ihr in dem Gebiet wandern wollt. Falls Ihr irgendwo einen GPS-Track finden solltet, vertraut ihm nicht blind. Danke!
                            Du hast vielleicht das größte Juwel Islands besucht. Du hast es Dir erarbeitet und verdient und Du weißt es zu schätzen. Ich respektiere Deine Entscheidung, dass Du den Bericht veröffentlicht hast und ich teile Deine Besorgnis um diese Gebiet und dem Albtraum, dass es zum Modeziel werden könnte. Mit jeder Veröffentlichung kommen wir einen Schritt näher an den Zustand den wir ja eigentlich nicht wollen. Wir, die wir über unsere Reisen berichten sind Teil des Problems. Eigentlich möchte ich jedem sagen "geht nicht dorthin", aber mit welchem Recht? Es ist ein Dilemma.

                            Ich habe mich selbst einige Tage in diesem Gebiet aufgehalten und kenne ein paar Wege dort. Also bin ich gespannt wie es weitergeht und ob Du den "leichten, logischen" Weg findest - dort kann man sich ganz bös verhauen.

                            Dieter

                            Kommentar


                            • Borgman
                              Dauerbesucher
                              • 22.05.2016
                              • 724
                              • Privat

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                              #34
                              AW: [IS] Kopfnetz statt Mundschutz: Traumwandeln zwischen Fjallabak und Langsjór

                              Du hast recht, Dieter, das ist ein Dilemma. Dieses Juwel verträgt nicht zu viele Besucher. Mein erster Gedanke heute Morgen war: das muss wieder gelöscht werden. Aber dann habe ich den Text zu dem gesamten Tag noch mal gelesen und fand, dass es alles in allem ein recht überzeugender Appell geworden ist, sich der Natur demütig zu nähern. Nur deshalb, finde ich, hat er seine Berechtigung. Da es nun schon mal Bilder und Berichte vom Gebiet um den Grænihryggur gibt, ohne die ich dieses bewegende Erlebnis ja auch gar nicht hätte haben können, kann ich mit meinem Beitrag die Leser vielleicht ein bisschen sensibilisieren. Oder mache ich mir da nur was vor? Ich weiß es nicht.

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                              • Mika Hautamaeki
                                Alter Hase
                                • 30.05.2007
                                • 3979
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                                #35
                                AW: [IS] Kopfnetz statt Mundschutz: Traumwandeln zwischen Fjallabak und Langsjór

                                So möchtig ist die krankhafte Neigung des Menschen, unbekümmert um das widersprechende Zeugnis wohlbegründeter Thatsachen oder allgemein anerkannter Naturgesetze, ungesehene Räume mit Wundergestalten zu füllen.
                                A. v. Humboldt.

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                                • ChuckNorris
                                  Erfahren
                                  • 03.08.2018
                                  • 177
                                  • Privat

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                                  #36
                                  AW: [IS] Kopfnetz statt Mundschutz: Traumwandeln zwischen Fjallabak und Langsjór

                                  Wow, so gut. Ich musste es gleich zweimal lesen.

                                  Das sind bestimmt Anblicke, an die du dich noch sehr lang erinnern wirst. Da hast du wirklich einen Hammertag gehabt. Freut mich für dich.

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                                  • fimbulwinter
                                    Erfahren
                                    • 15.03.2005
                                    • 147
                                    • Privat

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                                    #37
                                    AW: [IS] Kopfnetz statt Mundschutz: Traumwandeln zwischen Fjallabak und Langsjór

                                    Hallo Bernd,
                                    vielen Dank für diesen lesenswerten Bericht mit sehr schönen Fotos aus eher unbekannten Regionen! Mir wäre es allerdings sehr schwer gefallen an einigen Stellen einfach durchzulaufen und nicht mindestens einen Erkundungstag einzulegen

                                    Zum Thema Veröffentlichung und der Gefahr von Nachahmern glaube ich das die Reichweite dieses Forums dann doch nicht so groß ist. Außerdem ist, wie du ja auch schreibst, dieser Bergrücken auch alles andere als unbekannt. Vor vielen Jahren hat zum Beispiel ein Foto davon groß die Titelseite einer dieser Gratis Zeitungen geschmückt, die überall in Island für die Touristen ausliegen. Gebe ich alleine den Begriff „Fjallabak“ in eine Suchmaschine ein: Rate mal was das erste Foto ist. Auch einige kommerzielle Tourenanbieter werben damit. Problematisch könnte es werden wenn so eine Insta**** Berühmtheit mit tausenden Folgern ein Bild davon veröffentlichen und plötzlich eine ganze Schar Models mit gelben Regenjacken dorthin pilgern möchte. Zum Glück ist der Weg aber nicht gerade einfach und der nächste Parkplatz weit entfernt. Und den GPS Track hast du ja auch nicht veröffentlicht. Aber grundsätzlich treibt mich diese Frage auch um und ich überlege mir ganz genau welches Foto ich wo veröffentliche. Wahrscheinlich hilft das aber letztendlich nur dem eigenen Gewissen…

                                    Grüße,
                                    Jens
                                    Ódáðahraun

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                                    • Ljungdalen
                                      Alter Hase
                                      • 28.08.2017
                                      • 2716
                                      • Privat

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                                      #38
                                      AW: [IS] Kopfnetz statt Mundschutz: Traumwandeln zwischen Fjallabak und Langsjór

                                      Grandios, vielen Dank.

                                      Zitat von fimbulwinter Beitrag anzeigen
                                      Zum Glück ist der Weg aber nicht gerade einfach und der nächste Parkplatz weit entfernt.
                                      Nicht ganz einfach, sicher, andererseits: 6,5 km Luftlinie von Landmannalaugar. Mapy.cz sagt: hin und zurück 20,6 km, +- 1164 Hm... denke schon, dass das der eine oder andere als Tagestour bei günstigen Wasserständen der (zwei größeren) zu furtenden Flüsse versuchen wird (die Richtung, aus der Bernd gekommen ist, wohl eher nicht die übliche...)

                                      Kommentar


                                      • Borgman
                                        Dauerbesucher
                                        • 22.05.2016
                                        • 724
                                        • Privat

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                                        #39
                                        AW: [IS] Kopfnetz statt Mundschutz: Traumwandeln zwischen Fjallabak und Langsjór

                                        @Mika Hautamaeki:

                                        @ChuckNorris: Ich bin überzeugt davon, dass mich dieses Erlebnis für den Rest meines Lebens begleiten wird.

                                        @fimbulwinter: Gern geschehen! Mit gut zehn Tagen hatte ich tatsächlich kein sehr üppiges Zeitpolster für Erkundungstage, aber es hat sich letzten Endes fast immer so gefügt, dass ich an den Stellen übernachten konnte, die mich besonders interessierten. An den Álftavötn und vielleicht noch Uxatindar hätte ich gern mehr Zeit verbracht.

                                        Dass die Reichweite hier im Forum hauptsächlich auf Menschen begrenzt ist, die sich sowieso schon lange respektvoll in der Natur bewegen, hat mich dann auch beruhigt. Bald wird der Bericht in der Versenkung verschwunden sein und nur noch von denen gefunden, die gezielt danach suchen. So wie mich z.B. der unterhaltsame Bericht von Perc darauf aufmerksam gemacht hat, dass man hier selbst bei perfekter Vorbereitung nie so genau wissen kann was geht und was nicht. Und wo. Geführte Touren finde ich eigentlich eine gute Sache, wenn dabei der Naturschutz im Vordergrund steht.

                                        @Ljungdalen: Danke! Wahrscheinlich kann man das unter günstigen Bedingungen als Tagestour von Landmannalaugar machen, das konnte ich aber nicht herausfinden, weil die Bedingungen am nächsten Tag eben nicht mehr so günstig waren . Und Dieter sagt ja auch:

                                        Zitat von Dieter Beitrag anzeigen
                                        dort kann man sich ganz bös verhauen.

                                        Kommentar


                                        • Borgman
                                          Dauerbesucher
                                          • 22.05.2016
                                          • 724
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                                          #40
                                          AW: [IS] Kopfnetz statt Mundschutz: Traumwandeln zwischen Fjallabak und Langsjór

                                          Dienstag, 14. Juli: Geordneter Rückzug

                                          Nachdem sich das Wetter gestern noch von seiner milden, geradezu rücksichtsvollen Seite gezeigt hatte, scheint es sich heute einzuregnen. Dazu weht ein frischer, in Böen kräftiger Südwind. Richtiges Island-Wetter eben, wie wir es kennen und lieben. Das sind nicht die Bedingungen, unter denen ich eine Route nach Hattver suchen möchte. Auf dem Grat wird der Wind noch sehr viel stärker wehen, und die Rinne dürfte bei Nässe unangenehm werden, sollte sie denn überhaupt gangbar sein. Eigentlich müsste ich jetzt enttäuscht sein, aber in Wirklichkeit bin ich ein bisschen erleichtert. Der Abstieg in die Jökulgil war mir sowieso nicht geheuer.

                                          So bleibt nur die Route, die ich schon kenne, mit den Schwierigkeiten, die ich vermeintlich einschätzen kann. Das wird kein flockiger Spaziergang, aber ich traue mir die Strecke auch bei Regen und Wind zu. Nach einem drohenden Unwetter sieht es jedenfalls nicht aus. Kein Grund zur Eile. Also entspanne ich mich so gut wie möglich und lasse den Morgen untätig verstreichen.

                                          Als gegen 11:00 Uhr immer noch keine Regenpause in Sicht ist, baue ich das nasse Zelt ab, prüfe noch mal, ob ich wirklich nichts als Fußspuren hinterlasse und mache mich an die Furt. Scheint sogar ein kleines bisschen besser zu gehen als gestern, die Abkühlung hat wohl die Schneeschmelze verringert. Trotzdem muss ich mich konzentrieren, um durchzukommen. Auf der anderen Seite stellt sich wieder mal die Frage, wie man im Regen die Füße soweit abtrocknet, dass man mit behaglichem Gefühl in die Bergstiefel wechseln kann. Notorische Antwort: gar nicht. Die Socken werden zwangsläufig nass.

                                          Zuerst steige ich an der Leeseite hoch zum Grat und weiter über den ersten Buckel. Spätestens auf dem exponierten Bergrücken dahinter bläst der Wind dann so richtig ungemütlich. Hätte doch wasserdichte Handschuhe mitnehmen sollen. Bevor mir die Hände abfrieren, laufe ich so schnell wie möglich nach Norden. Die Sicht ist mäßig, auf jeden Fall schlechter als gestern, dafür weiß ich immerhin schon so ungefähr wo es lang geht. Eine dieser Rinnen nach Osten sieht vage vertraut aus, oben grün, unten steinig. Ja, die ist richtig. An einer geschützten Stelle setze ich kurz den Rucksack ab und schnaufe einmal durch. Das war der einfache Teil.

                                          Danach überquere ich die Ebene und folge dem Bach direkt am Hang. Die steile Aufstiegsrinne ist nicht zu verfehlen und eigentlich auch ganz gut gangbar. Statt gleich an meiner Rutschbahn weiter aufzusteigen (wo ist die überhaupt?), laufe ich ein Stück auf einem Schafpfad, bis der an einem Schneehang endet. Hmm, das ist nicht der von gestern, sonst wären meine Spuren noch sichtbar. Sieht auch etwas steiler aus, oder täuscht das? Mit entsprechender Vorsicht gelingt die Querung auch auf dieser niedriger gelegenen Route. Gleich dahinter noch ein zweites, genauso steiles Schneefeld. Erleichtert mache ich mich an den Aufstieg zum Aussichtsbalkon.

                                          Eigentlich hatte ich hier vor, eine längere Pause im Zelt einzulegen und auf Wetterbesserung zu warten. Dann hätte ich noch mal den großartigen Blick zur Jökulgil auskosten können. Aber danach sieht es so gar nicht aus. Der eisige Wind treibt immer neue Regenwolken heran, die sich an den Bergen stauen. Unter den Bedingungen laufe ich lieber ein Dreiviertelstündchen das Tal hinunter und suche mir gleich einen richtigen Platz zum Übernachten, auch wenn es noch recht früh ist.

                                          An der breiten Stelle, die mir schon auf dem Hinweg aufgefallen war, baue ich dann das Zelt auf und gehe gleich zum Waschen an den Bach. Entweder liegt es daran, dass die Berge die Wolken vom Tal fernhalten oder das Wetter bessert sich tatsächlich, jedenfalls hört in es dieser Minute auf zu regnen. In kürzester Zeit wird das Zelt vom Wind getrocknet. Dann könnte ich eigentlich heute noch die vielleicht drei Stunden nach Landmannalaugar zurücklegen, da gibt es Duschen und sogar ein warmes Bad, und ich könnte vielleicht was leckeres zu Essen kaufen. Andererseits geht mir das zu schnell, ich bin noch erfüllt von den bewegenden Eindrücken am Grænihryggur. Die wollen sich heute noch ungestört von äußeren Ablenkungen ausbreiten. Eine wilde, einsame Halldórsgil ist der passende Ort dafür.


                                          Camp 10 in der Halldórsgil


                                          Mittwoch, 15. Juli: Menschen sind Höhlenbewohner

                                          Die Wolken hängen tief, es regnet nicht, ein leichter Wind streicht behutsam um das Zelt. An diesem stillen, friedlichen Morgen kann ich es langsam angehen lassen, denn mein Bus fährt erst um 15:30 Uhr. Nach dem Frühstück trödele ich noch ein bisschen herum und packe gegen neun allmählich zusammen. Nicht zu früh, wie sich herausstellt, denn als ich um halb zehn die Halldórsgil weiter hinuntergehe, beginnt der Regen. Nicht, dass ich besonders gerne im Regen laufen würde, aber noch weniger mag ich es, dabei das Zelt abzubauen. Und als Bonus habe ich ein trockenes Zelt, wenn ich heute Abend in Selfoss auf dem Campingplatz ankomme.

                                          Nach anderthalb Stunden erreiche ich die Brücke über den Jökulgilskvísl. Vorerst letzte Gelegenheit, die beiden Trinkflaschen zu füllen, denn ich möchte hier im Lavafeld Norðurnámshraun einige Zeit verbringen, eine trockene Lavahöhle suchen und erst auf den letzten Drücker nach Landmannalaugar gehen.


                                          Jökulgilskvísl






                                          Norðurnámshraun



                                          Momentan regnet es nur leicht, deshalb ist die Höhle nicht vordringlich. So durchstreife ich eine Weile die moosbedeckten Hügel, Rinnen und Kessel des Norðurnámshraun. Als Kind wäre ich total begeistert von diesen Formen gewesen, hätte stundenlang klettern und entdecken können. Wobei man Kinder hier eher nicht alleine spielen lassen sollte, denn überall gibt es enge Spalten. Scheint alles ziemlich locker durcheinandergewürfelt zu sein, da sind bestimmt viele Hohlräume, die man nicht sofort erkennt. An manchen Stellen sieht man noch richtig, dass es eingestürzte Blasen sind.

                                          Schließlich finde ich eine Höhle die mir zusagt, mit genügend Kopffreiheit und weichem Moos, und richte mich häuslich ein. Soll heißen ich koche einen Kaffee mit dem restlichen Spiritus. Hat genau gereicht für die gut zehn Tage, obwohl ich nicht geizig damit war. Ein paar Kornmos, zwei Haferkekse und drei Müsliriegel sind auch noch übrig. Die Höhle ist nicht sehr tief, aber perfekt windgeschützt und bietet sogar einen ergonomisch geformten Liegeplatz. So kann man es aushalten.



                                          Als ich später auf der Straße das letzte Stück nach Landmannalaugar gehe, regnet es stärker und in dicken Tropfen. Passt doch ganz wunderbar. Abgesehen davon, dass er den Abschied erleichtert, schließt so ein Regentag auch gefühlsmäßig die Tour ab, verengt die Perspektive immer mehr, bis nur noch die Bustür übrig ist. Der Deckel auf der Tour, könnte man sagen.

                                          Den matschige Zeltplatz und den Trubel hier finde ich nicht sehr anziehend. Ich bin froh über meine Entscheidung, so spät wie möglich nach Landmannalaugar zu gehen. Wie überhaupt alle Entscheidungen auf dieser Tour bemerkenswert glücklich waren. Wegen solcher Erfahrungen glauben manche Menschen wahrscheinlich, dass sie auf ihrem Weg von Engeln geleitet werden. Allerdings glaube ich eher, dass unser bewusstes Denken und Planen oft in einem reflexhaften Wunsch nach Kontrolle und der damit verbundenen, vielleicht nur scheinbaren, Gewissheit festklebt, der unsere weniger bewussten Instinkte behindert. Nicht auszuschließen, dass ich einfach nur Glück hatte, aber es fühlt sich so an, … wie soll ich sagen … als hätte mich der Instinkt diesmal freier leiten können. Mit traumwandlerischer Sicherheit eben.

                                          Wie erwartet ist der Bus weniger voll als bei der Hinfahrt. Farblos, düster und wenig einladend zieht die Landschaft am Fenster vorbei. In Hvolsvöllur kommen wir mit einer Viertelstunde Verspätung an, da wartet auch schon der Bus nach Reykjavík. Weil die Plätze sowieso nicht ausreichen, lasse ich all denen den Vortritt, die es eilig haben und warte auf den Kleinbus. Die Fahrerin hatte mich schon darauf hingewiesen und versprochen, mich in Selfoss rauszulassen.

                                          Warum Selfoss, wenn ich doch nach Hveragerði will? Ganz einfach: der einzige mir bekannte Supermarkt in Hveragerði hat schon geschlossen. Außerdem brauche ich eine sichere Quelle für Spiritus, und das ist die N1-Tanke in Selfoss. Nachdem ich den Brennstoff abgegriffen habe, laufe ich schnell zum Nettó weiter. Ziemlich schnell, denn es gießt wie aus Kübeln. Jetzt bloß nicht zu viel einkaufen, denk dran, dir bleiben nur drei Tage.

                                          Zum Campingplatz ist es nicht weit, und da ich sowieso schon triefend nass bin, gibt es auch keinen Grund zur Eile. Hier stehen nur sieben Zelte, ganz anders als vor zwei Jahren. Obwohl die Straße für meinen Geschmack zu laut ist, mag ich diesen Platz. Wahrscheinlich wegen der saftigen Rasenfläche, die von richtigen Bäumen beschützt wird. Die Duschen sind heiß, der Aufenthaltsraum sauber, was will man mehr? Zurück im Zelt lausche ich noch lange dem prasselnden Regen und dem Wind, der die Bäume schüttelt. Die gemütlichste kleine Höhle der Welt.


                                          Camp 11 in Selfoss am nächsten Morgen

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