[DE] Einmal quer durch die alte Heimat - Unterwegs auf dem Lenne-Sieg-Weg x11

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    • 01.11.2011
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    [DE] Einmal quer durch die alte Heimat - Unterwegs auf dem Lenne-Sieg-Weg x11

    Tourentyp
    Lat
    Lon
    Mitreisende


    Land: Deutschland, Bergisches Land
    Reisezeit: 21.-24. September 2012
    Region/Kontinent: Mitteleuropa


    Präludium

    Wer sich nicht für unspektakuläre Wanderungen im eigenen Land und kleine, persönliche Erlebnisse interessiert, wird sich hier vielleicht langweilen. Lest in dem Fall lieber etwas spektakuläres, exotisches über Schweden, die Alpen oder den Himalaya – hier jedenfalls gibt es kein imposantes Cinemascope, hier prägt eher die kleine, intime Handkamera die „Bildregie“ ... sofern es genügend Bilder gibt, versteht sich.
    Ein für mich eigenartiges Jahr geht in sein letztes Drittel. Der August war wunderschön, aber turbulent; nun muss der September herhalten, um noch ein letztes kleines Abenteuerchen zu bestehen. Die Auswahl an Wandermöglichkeiten ist riesig. Ich entscheide mich nach einigem Stöbern und Überlegen für eine sehr persönliche Route quer durch das Bergische Land, den Lenne-Sieg-Weg. Die Strecke führt von Plettenberg im Sauerland über Meinerzhagen, Gummersbach, Wiehl, Nümbrecht, meinen Geburtsort Waldbröl, Morsbach und Freusburg nach Siegen. Je nach Zählung sind das zwischen 112 und 120 km, kommt ja auch drauf an, wie man sich selber z.B. in den Städten noch links und rechts bewegt.
    Seit vier Jahren war ich nicht mehr hier.
    Meine Oma ist mittlerweile zu uns in den Norden gezogen, ihr Haus in der Nähe von Wiehl steht leer und zum Verkauf; ein Stück Heimat, ein Stück Identität bricht mir damit weg. Ein eigenartiges Gefühl, schwer zu beschreiben, besonders deshalb, weil ich hier oben im Norden zwar aufgewachsen, aber immer nur ein Zugezogener war. Wo gehöre ich nun hin? Als Kind habe ich hier oben mit meinem Oberbergischen Singsang für Befremden gesorgt, nun sorge ich in der alten Heimat mit meinem mittlerweile breiten Norddeutsch für Verwunderung, abgesehen davon, dass ich auch dort streng genommen immer nur zu Besuch war ...
    Mal sehen, was mich erwartet. Ein letzter Gang zum Dorf meiner Kindheit – bevor unser Haus fort ist.



    1. Tag, 21.09.2012

    Um fünf Uhr klingelt der Wecker, eigentlich viel zu früh für mich. Aber der Zug geht bereits um halb sieben, da will es heißen: fix fertig machen. Ein letztes Mal geduscht, „echten“ Kaffee zum Frühstück, Hut und Jacke angelegt, Rucksack auf und raus in die kühle Dunkelheit. Ich wandere zügig zum Bahnhof, kaufe das Ticket und sitzte dann gespannt im Zug, während es langsam gegen sieben Uhr dämmert. Ob alles klappt? Was wohl schief geht? Irgend etwas wird sicherlich anders laufen als erwartet, aber das macht für mich gerade auch solche Erlebnisse aus. Wäre ja langeweilig, wenn alles glatt geht, oder?
    Nach zwei Umstiegen erreiche ich Hagen, das „Tor zum Ruhrgebiet“. Hier ist mein Vater groß geworden, nachdem die Familie aus der DDR geflüchtet ist. Die Großeltern sind nie aus Hagen weggezogen, aber mein Vater hat nie irgendeine Bindung an diese Stadt gehabt. Jetzt liegen meine Großeltern hier alleine auf dem Friedhof, aber für einen Besuch reicht die Zeit leider nicht. Ich bin zudem froh, recht schnell wieder von diesem ausnehmend hässlichen Bahnhof fort zu kommen. Der Zug nach Plettenberg wird irgendwo geteilt – aber das erfahre ich erst bei der Einfahrt der Waggons. Welcher Teil ist jetzt richtig? Ein dicker Mann verbreitet sich über die Teilung, kann mir aber auch nicht weiterhelfen. Da spricht mich ein hübsches, braunäugiges Mädchen an und nimmt mich mit in den Zugteil nach Siegen, sie führe über Plettenberg, das hier sei richtig. Okay, Glück gehabt.
    Bis Bahnhof Plettenberg fahren wir an der Lenne entlang, die auch ein hübsches Tal gegraben hat. Dann muss ich raus: Zielbahnhof erreicht! Gleich auf dem Vorplatz fällt mir an einer dicken Platane ein riesiges Zeichen X11 ins Auge. Yeah, hier geht’s los! Aber wohin zeigt der Pfeil? Rechts? Schräg unten? Ich laufe etwas rechts die Straße runter, aber da ist nichts weiter, keine Markierung. Muss ich durch den Tunnel zurück? Nun gut, ich laufe wieder unter den Gleisen hindurch. Gleich am Anfang verliere ich die Markierungen aus den Augen – ein Vorgeschmack auf den Rest des Tages. Ich schlage mich bis über die Lenne durch, dann endlich finde ich das X wieder und komme zügig durch den Ort hindurch.
    Bis zum Friedhof geht es nun steil bergauf, hier fülle ich noch mal die Flasche voll. Auf der folgenden Kammwanderung über das Ebbegebirge wird sich so schnell kein Wässerchen mehr finden, befürchte ich. Nach etwa einem Kilometer am Hang merke ich, dass ich schon wieder das X verpasst oder übersehen habe. Ein netter Herr mit Hund versichert mir, dass es geradeaus dann auch schnell hoch zum Kamm gehe, da würde ich den Weg dann schon finden. Ich ärgere mich; das Gläschen Wein am Vorabend und das frühe Aufstehen scheinen meine Konzentration zu schwächen. Aber später wird mir auffallen, dass auch die X-Markierungen für wache Augen hier und da nur unzureichend zu finden sind. Meist liegt es schlicht an fehlenden Möglichkeiten zur Anbringung, aber an einigen Gabelungen muss man auch erst einigee Meter weiterlaufen, um dann endlich das erlösende X zu entdecken.
    Ich kämpfe mich den steilen Anstieg hinauf und treffe schnell wieder auf den Weg. Gebirge! Soso. Wer hat denn dieses Attribut hier vergeben? Richtig hoch ist es ja nicht, auch wenn mein erstes Zwischenziel, die Nordhelle, sagenhafte 669 m messen soll. Am Kamm erwartet mich ein Rastplatz und ein Auto, aus dem die Beatles schallen – ein gutes Zeichen! Ich pausiere und posiere mit dem Ortsteil „Köbinghauser Hammer“ im Hintergrund. Wer erfindet solche Namen?!



    Mir stellt sich jetzt noch eine andere Frage: Bis wohin soll’s denn heut noch gehen? Seit meinem Aufbruch um 11 Uhr sind fast zwei Stunden bzw. sieben Kilometer vergangen und Plettenberg noch immer quasi in Sichtweite. Eigentlich wollte ich gegen Abend Meinerzhagen erreichen, mal sehen ... laut Angaben der Wanderseite wären das fast 25 km. Bei optimalen 4 km/h sind das noch viereinhalb, eher jedoch 5 Stunden. „Könnte klappen, Herr Kaleun, könnte klappen!“ Also weiter, die Straße entlang nach Himmelmert hinab.
    Das Wetter ist bedeckt, aber angenehm temperiert, die Füße haben Lust und die Beine laufen wie von selber. Herrlich! Der Wald umfängt mich, es duftet nach gefällten Kiefern, modrigem Laub, bemoosten Baumstümpfen und hier und da nach mir unbekannten Blüten am Straßenrand (sicher alles Neophyten, Teufel auch!). Und weil es abwärts geht, bin ich richtig fix! Freude kommt auf: Jetzt bin ich unterwegs, ich bin unterwegs! Jawoll! Dass es nun so glatt läuft und ich offenbar richtig fit bin, löst eine kleine Euphorie aus, die mich mühelos die nächsten Kilometer bis hinter das Dörfchen Himmelmert trägt.
    Dort beginnt die Oestetalsperre, deren imposanten Damm man begehen kann und der ein paar schöne Fotos wert ist.



    Weil ich keine Karte für den ersten Abschnitt bis Meinerzhagen habe und die von mir gemachten Ausdrucke der Strecke aufgrund von Tonerschwund nichts hergeben, ist mir nicht ganz klar, ob ich über den Damm auf die andere Seite wechseln muss. Da mich der Damm aber sowieso interessiert, lauf ich einmal rüber, genieße den jedes Mal eigenartigen Effekt der hübigen, jähen Tiefe und der drübigen hohen Wasserfläche. Das X finde ich etwa hundert Meter weiter klein an einem Baum wieder, als ich zurück komme und den alten Weg am Ufersaum entlang wandere. Es geht bald wieder lecker aufwärts, durch den nun sonnigen, lichten Mischwald zur Nordhelle. Mein erster Geocache liegt am Wegesrand und wird geloggt. Dann geht mir das Wasser aus. Mist, hätte ich mal am See gefiltert! Aber wie bestellt liegt mitten im nunmehr hohen Nadelwald ein Quellteich am See. Rein und klar ist das Wasser, so dass ich mir sofort ein Literchen zapfe (obwohl – stehendes Gewässer und so ... aber es ist definitiv eine Quelle und scheint gut zu sprudeln, es läuft jedenfalls einiges ab). Über die Pause vergesse ich, beim Aufbruch die Markierungen zu checken und wandere in Gedanken versunken so lange, bis ich bei einem alten, wunderschönen Forsthaus herauskomme und das X an der Kreuzung nicht sehen kann. Sch....ande! Die Nordhelle ist linker Hand, der Cache am Robert-Kolb-Turm eingepinnt, also peile ich kurz, nehme den entsprechenden Weg und ziehe los, den Hang hinauf und einmal halb um den Berg herum, bis ich knapp unterhalb der „Spinne“ auf einem Querweg das X wiederfinde.
    Ich will ehrlich sein: Anstatt den Fehler korrekt bei mir zu suchen, habe ich ganz ungerecht auf die Markierer geflucht. Nun ist alles wieder in Ordnung und als Augenschmaus steht auch noch ein wunderschöner, uralter Baum am Wegesrand.



    Bis zur Nordhelle ist es nun nicht mehr weit. Der Weg ist breit, gut ausgebaut und hochgradig rentnergruppentauglich zurecht geschottert. Jogger und Walker sind hier auch zuhauf unterwegs und dann steht ein schickes Holztipi als Schutzhütte am Wegesrand. Als ich es fotografiere, fällt mir erstmals auf, wie weittragend menschliche Stimmen im Wald sind – bevor ich die beiden Walking-Damen auf dem knapp hundertfünfzig Meter fast geradeaus führenden Weg sehen kann, höre ich sie. Irre!



    Dann streife ich durch die letzten waldigen Meter und erreiche den Gipfel. Eieiei, solche Orte sind nichts für mich: Asphalt und Gebäude, eine Gaststätte und ein Trafo-Haus mit Funkturm (oder so was ähnlichem) prägen das Bild. Der neuerbaute Aussichtsturm macht zwar hübsch postmodern in Stahl und Holz, aber ich raste nur kurz und eile dann weiter. Warum ich eine solche Abneigung gegen derartige „kultivierende“ Überformungen von schönen Orten habe? Hm.
    Über das Ebbemoor mit einigen schönen, ebenfalls sehr malerischen alten Bäumen geht es weiter. Ich finde es faszinierend, dass sich auf einer Kammhöhe ein Moor bildet – gut, wenn’s die Geografie hergibt, kein Problem. Aber einzigartig finde ich das schon und es wird auch durch Infotafeln gut erklärt. Und wieder stehen alte Moosbäume am Wegesrand, herrlich!



    Eine weitere Hochebene verblüfft mich. Die weißen Schutzhüllen für die jungen Tannenschösslinge sehen von Weitem aus wie ein riesiger Soldatenfriedhof!



    Und auch hier hält die Kastanienmotte reiche Ernte. Nix Herbst, die Blätter sind kaputt. Traurig.



    Jetzt wird es kühler, ich werde müde und siehe! Die Füße fangen an, sich erstmals zaghaft zu beschweren. Auch die Oberschenkel haben nicht die größte Lust, noch länger ständig kleinere Abstiege in Angriff zu nehmen. Wenigstens sagen die Knie nichts, wie letztes Jahr in der Schweiz. Aber da war ich auch mit anderen Gepäckdimensionen und drei, vier Stunden am Stück abwärts unterwegs. Trotzdem, es ist bereits halb sechs, jetzt kommt Meinerzhagen in greifbare Nähe. Der Nocken liegt bald hinter mir, da geht es runter ins Tal unter der Autobahn durch. Und nachdem ich am Schulzentrum oben auf dem Berg die Markierung (mal wieder) verliere, laufe ich in weitem Bogen falsch ins Tal, komme aber bei einer Tanke raus, wo ich kurzentschlossen zwei Feierabendbiere hole. Es ist kurz nach sieben und ich schlendere in Richtung City, um den Friedhof zu suchen, Wasser zu tanken und dann ein nettes Plätzchen etwas außerhalb zu belegen.
    Während ich auf einer Treppe sitze und die ab hier geltende Karte zu studieren, spricht mich ein netter älterer Herr an, was ich denn suchen würde. Ich sage ohne zu überlegen: Die Jugendherberge, hier solle eine sein. – Ja, das sei richtig, ich solle mal mitkommen, da hinten sei gesperrt und ich müsse außen rum. Da das seine Richtung sei, würde er mich begleiten. Wir laufen zusammen schnellen Schrittes in den Ort, biegen zwei Mal links ab und dann weist er mir den Weg hinauf aufs „Köpfchen“ und dort wieder links runter. Im übrigen finde er es gut, dass junge Leute heutzutage noch Wandern würden, sehr schön sei das und er wünsche mir noch einen guten Weg!
    Den jungen Menschen nehme ich mal unkommentiert und stolz mit, gehe die Straße hinauf und lande beim Friedhof. Wasser! Schnell ist die Flasche gefüllt, angetrunken, nachgefüllt. Es dämmert nun richtig und gegenüber am Denkmal sitzen grölende Jugendliche. Schade, die stufenförmige Anlage böte sich sonst als Lager an, Wasser gleich vor der Türe und ziemlich abgelegen, nur Autos rauschen darunter vorbei, daher ist das Verkehrsaufkommen etwas hoch ... also laufe ich erst mal in die einbrechende Dunkelheit hinein, hinauf aufs Köpfchen, sehe die DJH dort liegen und gehe dann links abbiegend den Weg daran vorbei hinab ins Tal, in den Ort hinein. Hier ist erst mal nur Wiese und Wald, eigentlich ein gutes Terrain. Weil der Weg in den Ort aufgrund einer Baustelle komplett gesperrt ist, bleibt es ruhig und menschenleer. Ich setz mich vorerst in ein Bushaltehäuschen am Stadion, koche mir Nudeln und schlage etwas Zeit tot. Das Training der Fußballmannschaft endet um halb neun, die Flutlichter gehen aus und ich wärme mich innerlich mit Bier und Fusili. Ein schöner Abend, nicht zu kalt, relativ ruhig und entspannt. Ich bin glücklich und entspannt – die Füße sind in Ordnung, die Beine müde, aber fit und ich kann tun und lassen, was ich will. Und morgen ... morgen kommt die alte Heimat!



    Um kurz nach neun gehe ich wieder den Weg hinauf, überquere eine offene Wiese und lege mich in eine nicht einsehbare Ecke unter einen kleinen, weit überhängenden Baum (falls es trocken bleibt, habe ich dann auch keine Morgentauprobleme). Etwas kalt ist mir mittlerweile schon, aber dann wärmt mich der Schlafsack ganz gut. Leider ist die Stelle doch leicht abschüssig, aber hier gibt es nichts anderes – und ich bin zu müde, um noch mal aufzustehen. Es muss auch so gehen – und das muss das Boot abkönnen.
    Gute Nacht.
    Zuletzt geändert von Lookas; 27.09.2012, 17:02.
    Das muss das Boot abkönnen!

  • Prachttaucher
    Freak

    Liebt das Forum
    • 21.01.2008
    • 11915
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    #2
    AW: [D] Einmal quer durch die alte Heimat - Unterwegs auf dem Lenne-Sieg-Weg x11

    Fein, es geht los...

    "und das frühe Aufstehen scheinen meine Konzentration zu schwächen"

    Kenn´ich auch sehr gut. Na ja, Wein gibt´s am Abend vorher zur Sicherheit nicht.

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    • Sandmanfive

      Lebt im Forum
      • 11.04.2008
      • 8514
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      #3
      AW: [DE] Einmal quer durch die alte Heimat - Unterwegs auf dem Lenne-Sieg-Weg x1

      Zitat von Lookas Beitrag anzeigen
      .......

      Land: Deutschland, Bergisches Land
      Reisezeit: 21.-24. September 2012
      Region/Kontinent: Nordeuropa
      ......
      Fällt Deutschland nicht eher unter Mitteleuropa?
      "In Krisenzeiten suchen Intelligente nach Lösungen, Idioten suchen nach Schuldigen." Loriot (1923-2011)

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      • blitz-schlag-mann
        Alter Hase
        • 14.07.2008
        • 4851
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        #4
        Schöner Bericht, Heimat rockt. Wie gehts weiter?

        Viele Grüße
        Ingmar
        Viele Grüße
        Ingmar

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        • Lookas
          Erfahren
          • 01.11.2011
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          #5
          AW: [DE] Einmal quer durch die alte Heimat - Unterwegs auf dem Lenne-Sieg-Weg x1

          Zitat von Sandmanfive Beitrag anzeigen
          Fällt Deutschland nicht eher unter Mitteleuropa?

          ... na ja, ich bin derartig blond, dass ich ... dass ich wohl dachte, das sei irgendwie nordisch ...

          *edit*
          Das muss das Boot abkönnen!

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          • Lookas
            Erfahren
            • 01.11.2011
            • 129
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            #6
            AW: [DE] Einmal quer durch die alte Heimat - Unterwegs auf dem Lenne-Sieg-Weg x1

            2. Tag, 22.09.2912
            Um sechs Uhr meldet sich mein Handy. Uh, was für eine Nacht! Nicht schlimm, nein, aber ungewohnt und daher unruhig. Mehrfach werde ich von Stimmen geweckt, die irgendwo weit weg erklingen, mich aber sofort in Alarmbereitschaft versetzen. Wenn ich dann zu mir komme, ärgere ich mich jedes Mal darüber. Ein bißchen kalt wird mir auch, denn der schöne Schlafsack von me’ru läßt sich nicht vernünftig oben zu zurren. Oder ich kriegs nicht hin – egal. Es ist jedenfalls frisch.
            Also, was lag jetzt an? Ach richtig, aufstehen. Meine Knochen melden sich: Halt, halt! Nicht so voreilig, Meister! – Leute, es ist morgens früh, ihr müsst mir jetzt gefälligst gehorchen. Wir müssen hier weg! Also los! – Aber wir wollen nicht. – Ja und? Ich will aber! Los jetzt! – So nicht, Chef, pass mal auf!
            Und schon schmerzt es hier, zwickt es da ...
            Aber das muss das Boot abkönnen. Ich raffe mich auf, zieh mich bibbernd in der Kälte an, klaube in der Dunkelheit alles zusammen und stopfe den Schlaf- und den Biwaksack in den Rucksack. Den stelle ich dann zum Schutz vor mich und leuchte ganz kurz, aber genau den Boden ab: Okay, nichts vergessen bzw. verloren. Und los geht’s! Auf in den neuen Tag!
            Ich laufe wieder hoch zum „Köpfchen“ und hinunter zum Friedhof, hole Wasser und setze mich auf eine der Denkmalterassen. Jetzt hellt es langsam, langsam auf und als der Trangia kocht und der Kaffee duftet, da graut der Morgen. Unten sausen erste Autos lang, ich futtere selbstgebackenes Vollkornbrot, Adewechter Wurstkringel und alten Gouda. Herrlich, das liebe ich! Wenn man das Aufstehen erst mal geschafft hat und in Ruhe in der Morgenkälte heißen Kaffee und was zu Esssen genießt – das sind die schönsten Momente einer Wanderung, finde ich.
            Als ich den Trangia einpacke, fallen plötzlich erste Tropfen. Ich stehe unter einer alten, dichten Linde und bleibe trocken, doch dann muss ich weiter. Ich ziehe die Regenjacke an, drücke den Hut tiefer in die Stirn und stiefel los, nochmals Wasser holen und dann weiter. Junge, so häufig wie heute und gestern war ich noch nie hintereinander auf ’nem Friedhof! Etwas eigenartig zumute ist mir dabei schon.
            Dann plästert es los, wahnsinn! Sag mal, will der mich ersäufen? Ich habe jetzt genug Wasser, hörst du? Das reicht mir, danke! Selbst die riesigen, dichten Buchen schützen mich nicht mehr, derartig heftig kommt es herunter. Also bleibe ich im Schutz der Bäume stehen und warte ... Gegen halb acht geht es wieder und ich laufe los. Oben am Köpfchen rechts, dann der nächste Cache am Kreisel mit Ausblick auf die Meinhardus-Schanze, die aber erst im Spätherbst Saisonbeginn hat, vermute ich.



            Der Wald ist tropfnass und riecht herrlich nach feuchtem Laub. Ich quatsche feste mit den schweren Stiefeln durch den lehmigen Schlamm, pfeife laut und falsch, was die Stimmung hebt und gelange ziemlich schnell durch ein Waldstück über eine Landstraße in das Dörfchen Heede. Ab nun wird’s abenteuerlich, denn der Weg schlängelt sich als Pfad durch den Wald, hinab in feuchte Niederungen. Das Grün wuchert hoch über den schmalen Gang, meine Hosen werden klitschnass, aber das trocknet fix wieder weg. Offenbar ist das hier Quellgebiet, das Wasser scheint überall herauszukommen. Irgendwo hat sich jemand einen Unterschlupf angelegt, mit alten Stühlen, einigen Döschen mit Kram drin und Dachpappe. Schade, dass in dem Zwielicht die alte Kamera streikt, so bleibt das komische Schlupfloch nur in meinem Kopf präsent (was nicht weiter schlimm ist – da ist nämlich noch viel mehr komisches Zeug drin).
            Endlich trete ich aus diesem Urwald auf eine Schotterpiste. Der Dunst hängt schwer im Tal, die Luft ist gesättigt und meine Beine klitschnass. Vor mir auf dem Weg stehen zwei Rehe und starren mich an. Ich starre zurück. Wer zieht zuerst?
            Nach etwa einer Minute habe ich sie lange genug studiert und bewege mich auf sie zu. Sofort treten sie die Flucht an, springen den buschbesetzten Hang hinauf, von wo etwas später ein verärgerter Bock herab bellt. Und dann stehe ich am Beginn der Genkeltalsperre und bewundere das Pegelhaus Listringhausen „Pegel 2“. Daneben befindet sich eine Infotafel – ich bin immer wieder überrascht, was für feine Didaktiker die Leute hier in der Gegend sind. Alles, was irgendwie interessant sein könnte, wird aufbereitet, beschrieben, ausgehängt und bunt illustriert. Dümmer als vorher komme ich also mit Sicherheit nicht zurück, ha!



            Zwei Joggerinnen kommen mir entgegen, grüßen nicht zurück und umrunden plappernd den Talsperrenausläufer und verschwinden im Wald. Ich höre sie noch lange vom gegenüberliegenden Ufer, denn ich bin auch recht fix unterwegs. Was mich etwas irritiert, sind die Schwäne auf dem Wasser. Warum dürfen Vögel auf der Talsperre schwimmen, hineinkacken und Federn lassen, Menschen aber unter Androhung der Anwendung diverser Paragrafen-Inhalte nicht mal ans Ufer?! Die Viecher riech ich bis hier hoch, da kann mir keiner erzählen, dass dadurch die Talsperre sauberer wird!
            Ich bin jedenfalls guter Laune. Die Beine tragen zwar so eine Art subtilen Schmerz in den Oberschenkeln, aber das ist nichts, was mich beunruhigt. Als Langstreckenläufer bin ich schlimmeres gewöhnt. Nur die Fußballen tun etwas stärker weh. Ob das daran liegt, dass ich schwere Volleder-Stiefel trage? Besonders klasse gedämpft sind die Kameraden sicher nicht, einer allein wiegt bereits über 900 g. Ich habe sie 2004 in einem alten Schuhgeschäft in Osnabrück in der Hasestraße gekauft, weil der Laden offenbar das gesamte Meindl-Programm führte. So bin ich an diese Borneos gekommen, die noch völlig ohne MFS gefertigt wurden und vermutlich bereits ein, zwei Jahre da herumstanden. In den Bergen sind die Dinger spitze, aber hier ... ich hätte jetzt gerne leichteres Schuhwerk, offen gestanden. Zu spät!
            Die Sonne kommt heraus. Der Wald dampft, Schwaden steigen auf, die Strahlen brechen sich, Tropfen glitzern und Blätter schimmern golden. Ich bin teilweise atemlos vor Staunen, wie herrlich das Lichtspiel ist! Die Tropfen auf den Farnen und Gräsern schillern und ich versuche erfolglos, meine uralte Nikon zu adäquaten Abbildungen zu bringen. Wenigstens ansatzweise kann man erkennen, welches Schauspiel sich mir geboten hat:



            Laut Plan geht es jetzt hinauf zum Unnenberg mit Aussichtsturm. Ich erreiche den zugehörigen Parkplatz und fotografiere mich stolz vor der obligatorischen Wandertafel, da prescht ein Auto um die Ecke und jagt den Weg hinauf. Alter, geht’s noch?! Wie fährt der denn hier im Wald, darf der hier überhaupt hoch?



            Er darf. Wie ich später sehe, ist der offizielle Wanderweg hinauf zugleich eine völlig normale Landstraße, die nur von wenigen genutzt wird. Ist auch logisch, wer fährt schon Samstags Morgens gegen halb zehn auf den Berg? Denn: Schön ist was anderes, aber nicht der Unnenberg, jedenfalls nicht bei nassem Wetter morgens um zehn. Die Gastwirtschaft sieht uralt und verlassen aus, am Kiosk hängt ein Schild „Geöffnet Sonntags 10-18 Uhr bei trockenem Wetter“. Der Turm ist eingezäunt, aber geöffnet, neben dem Eingang ist mit schweren Ketten eine Metallkassette angebracht, in die der geneigte Besteiger einen Euro werfen soll. Da ich nicht hochklettere, gibt’s auch keinen Euro.
            Ich tape mir die linke Ferse, da hat sich eine Druckstelle gebildet. So hoffe ich, ohne Blase davon zu kommen, in den Bergen hat das super funktioniert. Dann, nach einem Apfel, geht es bergab, an Kühen vorbei, die neugierig schauen und wieder einmal in einen Wald. Auf der Karte sehe ich, dass ich mich jetzt im Bergischen Land befinde und freue mich: Das Kerngebiet meiner Reise ist erreicht!
            Schüsse hallen ständig durch den Forst, ununterbrochen. Was treiben die da bloß? Ein Massaker von Jägern an hilflosen Rehen? Unsinn, soviele Viecher gibt’s im ganzen Land nicht. Militär vielleicht? Nicht so ununterbrochen. Dann komme ich an den Bergrücken und stehe plötzlich vor einem gelben Stacheldraht: Die Grube „Grauwacke“ ist der Auslöser! Wer weiß, was die da treiben – vielleicht sprengen die jetzt der Reihe nach ab, was sie im Laufe der Woche gelegt haben. Wer weiß! Ich versuche ein paar Fotos ... aber dann laufe ich weiter. „Grauwacke“ ist doch eigentlich das vorherrschende Gestein der Gegend – ein etwas uninspirierter Name für einen Steinbruch, wie ich finde. „Höllenmaul“ oder „Mördergrube“, „Tal des Todes“ und „Arena der Schrecken“ wären doch viel passender. Oh, und: „Blutklippen“. Hei, das wären tolle Titel für ???-Kassetten, was?



            Urplötzlich tauchen die ersten Häuser von Gummersbach-Becke auf und ich werde gleich ein wenig beschwingter. Gummersbach! Hierher sind wir oft zum Einkaufen gefahren, als ich klein war. Und Omas Nummernschild trug das altvertraute „GM“ mit sich herum ... In Becke aber war ich noch nie. Aber hier gibt es zum Glück einen Aldi, und ich besorge mir eine kleine Wasserflasche zusätzlich, um mehr Vorrat bunkern zu können. Die Kassiererin redet astrein in diesem einzigartigen bergischen Singsang, betont die Endsilben im Satz und macht aus dem „ch“ ein weiches „sch“. Ich schmunzel glücklich, pack das Wasser ein und genieße den nächsten Gang um die Bergflanke, unter einem Dach aus Tannenzweigen entlang und durch helle, sonnige Buchenwälder.




            Oben auf der Kuppe geht es nicht weiter. Der Weg knickt ab und führt über eine Weide, die aber fest und deutlich eingezäunt und mit Viechern voll ist. Ich fluche wieder hemmungslos, obwohl außer dem Bauern ja wohl keiner was dafür kann und laufe weiter, biege unten in Bernberg rechts ab und treffen den X-Weg nach etwa eineinhalb Kilometern wieder. Zum Glück habe ich nun die Karte und kann solche Problemzonen gezielt umgehen – nicht wie gestern ...
            Prompt geht es erneut bergauf, aber Hallo! Das nenne auch ich Steigung, mein lieber Scholli. Aber nachdem ich das überstanden habe, erwartet mich oben im Wald ein Denkmalsplatz mit Bänken und einer tollen Fernsicht auf den Unnenberg. Es ist ein Uhr, Mittagszeit und eine Pause steht an.



            Fast wäre ich dann an Niederseßmar vorbeigerauscht. Ich wandere so vor mich hin, wundere mich darüber, dass die Xe einen Pfad parallel zum Waldweg markieren und laufe dann an einer H-Kreuzung links weiter – bis ich merke, da fehlen die Markierungen! Also 300 Meter zurück (natürlich berghoch) und geschaut. Ein X steht da, der Pfeil daneben kann alles bedeuten. Rechts oben am Weg ist nichts zu entdecken. Die Karte sagt: rechts hoch, dem breiten Parallelweg folgen! Das tue ich und sehe fast vierhundert Meter weiter endlich wieder ein X. Und das bei dem schönen Wetter!



            In Niederseßmar kaufe ich noch schnell Brot, denn mein Selbstgemachtes neigt sich dem Ende zu. Es geht wieder steil bergauf, dann regiert Gestrüpp. Wo soll man hier markieren? Ich nehme Karte und Kompass und vergleiche jeden Pfad. Einer stimmt, ist aber völlig zugewuchert und schmiegt sich immer mehr an die Landstraße, die über mir entlangdonnert. Stacheln hängen sich in die Hose, Äste schlagen ins Gesicht, ich stolpere mehrfach in grasbewachsene Löcher. Worauf hab ich mich hier eingelassen? Wer denkt sich so was aus?! ... dann endet der Pfad völlig überwuchert hinter der Leitplanke – mit einem X. Heureka! Niederseßmar war anstrengend, der Blick zurück ist aber herrlich.



            Ich raste weiter oben auf dem Weg in der Sonne, genieße die Wärme und lasse den Schweiß trocknen. Langsam merke ich, dass ich ganz schön stinke. Oh weia. Trotz Shirtwechsel macht sich da ein übler Geruch breit, der nicht schön ist. Ach egal, ich bin alleine und muss niemanden verführen, also Nase zu und durch.
            Marienhagen ist ein bildschönes Dorf, voller Fachwerk, das ich so herrlich finde. Schwarzweiß getüncht, oft mit Grauschieferplatten verkleidet ist das das typische Erscheinungsbild der älteren Bergischen Dörfer. Braunes Fachwerk gibt es kaum, selten mal rote Ziegel wie bei uns – die Region ist schwarzweiß. Nur die Bauten der letzten zwanzig Jahre werden bunter und abwechslungsreicher, ansonsten merkt man, dass hier erst in den sechzigern der Wohlstand angekommen ist. Viele Einfamilienhäuser aus dieser Zeit sehen nahezu unverändert aus, es dominiert das Material und Design dieser Zeit. Ich kann mich daran erinnern, dass das alles noch recht neu war, als ich ein kleines Kind war, aber nun verleihen diese anachronistisch wirkenden Elemente den Dörfern und Städten etwas unwirklich altmodisches, das mir stärker auffällt als im Norden – weil ich es dort wahrscheinlich eher gewöhnt bin und es hier in norddeutsch gefärbtem Gewand auftaucht.
            Was habe ich für ein Glück mit dem Wetter! Ende September ist zwar auf lange Sicht gesehen oft eine letzte schöne Phase, aber es kann ständig umschlagen. Heute jedoch ist es trotz der gestern vom älteren Herrn in Marienhagen angekündigten Regenschauer seit Mittag stabil, hier und da fallen mal ein paar Tropfen, aber insgesamt ist es warm und sonnig. Der Wald zwitschert, die Blätter flirren hell- und dunkelgrün, das Unterholz duftet modrig und feucht, der Weg ist oft nass und matschig – aber so ist das Bergische Land. Wenn es einmal regnet, bleibt der Wald gleich stundenlang pitschnass. Vermutlich liegt das an dem lehmigen Boden, der das Wasser länger hält? Ich bin kein Geologe, aber der graue, klebrige Matsch mit den sandsteinähnlichen Steinchen ist offenbar immer feucht.
            In Alpen arbeitet eine Mutter mit zwei bildhübschen halbwüchsigen Mädchen in ihrem beeindruckenden Garten. Die Blonde starrt mich skeptisch an, während die braunhaarige mich kurz ansieht und dann ungerührt weitermacht. Ich strahle die Blonde an: „Moin, moin, min Deern!“ Wie eines der Rehe von heute Morgen zuckt sie nun zusammen und wendet sich abrupt ab – was für ein Vogel ist das denn bloß, um Gottes Willen?! Während des folgenden Aufstiegs muss ich ständig grinsen; mir geht aber die Braunhaarige noch etwas durch den Kopf. Uiuiui, die war hübsch!
            Dann stehe ich oberhalb von Wiehl an einem Wegekreuz und blicke auf den Ort. Ich bin nun im Kerngebiet meiner Wanderung, in der alten Heimat. Hier hat mein Opa bis zu seiner Rente „beim Kotz“ gearbeitet, wie sie hier nach der geschäftsführenden Familie Kotz sagen – bei der BPW. Das ist der größte Arbeitgeber im Tal, die ursprünglich sogenannte Bergische Patentachsen GmbH Wiehl, heute: Bergische Achsen Kommanditgesellschaft. Ich komme direkt an dem riesigen Werk vorbei, als ich die Hauptstraße entlang nach Oberwiehl wandere.



            Noch knapp sechs Kilometer, dann bin ich am Ziel: Das alte Haus meiner Oma. Durch Büttinghausen und Angfurten laufe ich, alles vertraut und doch verändert; ein eigenartiges Gefühl. In Oberwiehl an der Kreuzung sehe ich „unseren“ Metzger, der die besten Fleischwürste der Welt macht. Aber gegen sechs Uhr am Samstag Abend ist da wohl nichts mehr zu machen, schade. Ein Rettungsring aus Fleischwurst wäre doch ganz praktisch, sollte ich aus Versehen mal in die Wiehl oder den Heisterbach fallen, den ich nun entlanglaufe. Fett schwimmt doch oben, nicht wahr?



            Um fünf nach sieben stehe ich oberhalb unseres Dorfs. Es ist bereits etwas dämmerig, denn der Himmel ist dichtgezogen. Einen seltsamen Moment ist alles merkwürdig vertraut und dann trotzdem zugleich fremd. Ich brauche einen Moment, bis ich bemerke, woran das liegt: Die Bäume. In den letzten zehn Jahren war ich seltener hier. Der Bewuchs hat sich verändert, vor allem sind die Büsche und Baumreihen meiner Kindheit nun groß und prägen das Bild auf für mich ungewohnte Weise. Auch das Tal ist enger geworden, dichter und kleiner. Aber das ist nur meine Wahrnehmung; ich sehe die Entfernungen nun anders, besonders, weil ich in den letzten 32 Stunden noch ganz andere Entfernungen zurückgelegt habe. Für mich als Kind waren die Hügelö ringsumher riesige Berge, der Weg durch den langen Talgrund in den Wald hinauf weit, jetzt verdichtet sich der Raum und schrumpft zu einem kleinen, engen Tälchen mit sanften Hügeln und eng gedrängter, hübscher Bebauung.
            Als ich im Tal ankomme und an der „Burg“ vorbeilaufe, kommen zwei Kinder angerannt und starren mich über den Zaun an. Den gab es vor Jahren noch nicht, die Burgwiese war füher immer mehr oder weniger öffentlicher Spielplatz für uns alle.
            „Bist du ein Wanderer?“ fragt der blonde Junge.
            „Ja,“ lächle ich. „Sogar ein echter.“
            „Woher kommst du? Bist du zu Fuß hierher gelaufen?“ ruft das braunhaarige Mädchen.
            „Ja, ganz zu Fuß. Ich bin schließlich Wanderer. Und ich komme von weit her, aus Norddeutschland. Kennt ihr Bremen?“
            „Ja, hab ich gehört!“ sagt der Junge. Aber so recht weiß er nicht, wo das sein soll, das sieht man. „Was machst du hier?“
            „Ich will hier übernachten. Seht ihr das Haus da, das leer ist? Da hat meine Oma gewohnt und ich schlaf da heute Nacht.“
            „Warum?“
            „Weil ich müde bin, ich bin den ganzen Tag gelaufen,“ lache ich. „Da muss man doch abends schlafen, oder?“
            „Schläfst du bei deiner Oma? Wer ist das?“ fragt das Mädchen.
            „Nein, meine Oma ist weg, das Haus ist doch leer. Aber ich schlafe da. Ganz allein. Den Schlüssel hole ich oben bei Tante Edith, die kennt ihr doch, oder?“
            „Ja.“ Der Junge überlegt. „Kennst du Julia?“
            „Ich kenne eine Julia, die ist die Tochter vom Karl-Otto. Meinst du die?“
            „Nee, das ist meine Mama. Die ist nicht die Tochter vom Karl-Otto.“
            In dem Moment braust ausgerechnet der genannte Karl-Otto im Trecker an uns vorbei, das ehemals rote Haupthaar und den Vollbart weiß, die Wangen runder als früher. Ich winke ihm lachend zu, aber er schaut sparsam und dampft weiter.
            „Wenn ich Geburtstag habe, kriege ich ein echtes Messer!“ strahlt der Junge. Er trägt bereits eine leere Messerscheide am Gürtel.
            „Du hast ja auch schon was zum Reinstecken dafür,“ sage ich.
            „Hast du auch ein Messer?“ fragt er.
            „Ja klar,“ erwidere ich. „Jeder Wanderer hat ein Messer, zum Brot schneiden, Käse schälen und Wurst abschneiden.“
            „Zeig mal!“
            Ich zögere. Als Vater fände ich es auch nicht toll, wenn wildfremde Typen mit Hut meinem Kind ihr Messer zeigen. Auch, wenn es ungefährlich wäre, besser nicht – ich schüttele den Kopf. „Das ist gut weggepackt, das hole ich jetzt nicht raus.“
            „Och bitte!“
            In dem Moment ruft der Vater von der Burg her, es gebe nun Essen. Die Kinder sollen kommen, sofort! Der Junge ist deutlich unwillig, aber ich verabschiede mich schnell und ziehe weiter zu meinem Ziel, das nur noch fünfzig Meter um die Kurve liegt. Der Schlüssel ist am vereinbarten Ort, passt aber nicht. Bin ich blöd? Das ist doch ein Abus-Schlüssel, kein Haustürschlüssel. Und der große Schlüssel passt auch nicht hinten ins große Schloß. Bevor ich den Nachbarn unnötig beim Rumhantieren auffalle, stapfe ich die Böschung hoch und klingele bei Tante Edith. Das hatte ich sonst nach dem Duschen tun wollen, weil ich doch ganz schön müffele. Sie öffnet und starrt mich reserviert an. „Ja?“
            Ich grinse. „Moin Edith, ich bin’s.“
            „Ach, da Lockas!“ Herrlich, dieser Bergische Klang! „Isch han’ disch gar nit erkaahnt mit deine Hoot!“
            Wir plaudern etwas, dann zeige ich ihr den Schlüssel. Und da stellt sich heraus, dass sie aus Gewohnheit den Bund vom Gartenhäuschen hingelegt hatte! Schnell drückt sie mir den richtigen in die Hand und wir lachen gemeinsam. Wohin ich denn noch wolle? – Mal sehen, wenn’s klappt bis Siegen. – Siegen? Jojojo, dat sei ja ne gute Strecke noch zu gehen. Na, jedenfalls viel Glück und zu Hause solle ich schön grüßen.
            Ein paar nette Worte später stehe ich endlich im Flur. Es riecht noch wie früher, aber die Leere der Räume ist ungewohnt, fremdartig. Das gesamte Untergeschoss ist völlig ausgeräumt, aber im oberen Wohnzimmer steht noch der Tisch mit drei Stühlen – sonst ist das komplette Haus leer. Ich drehe das Wasser an, lasse die Hähne kurz laufen und stelle fest, dass die Heizung noch nicht wieder angestellt ist. Na logisch, das wird Onkel Werner wohl erst im Oktober tun, daher gibt es nur kaltes Wasser und kühle Räume. Wenigstens ist der Strom noch an. Als ich mich für die Dusche ausziehe, stell ich fest, dass sich unter der Druckstelle eine große Blase an der linken Ferse gebildet hat. Seufz. Auch das noch. Na egal. Erst mal eiskalt duschen, bibbernd vor Kälte in die Klamotten und dann im Schlafsack an den Tisch gesetzt. Es gibt Nudeln in Brühe, dazu Bier und Brot.



            Plötzlich klingelt es. Ich geh runter und öffne. Ein älterer Mann steht da, in Stallkleidung und grüßt mich skeptisch. Er sei zu den Ziegen unterwegs, da habe er dat Licht jesehen und wolle mal schauen, wer denn nu hier wohne dät. – Ich stelle mich kurz vor und erkläre, warum ich hier bin, da winkt er ab und ist zufrieden. Gut gut, dann nochn’ne schööne Abend. Weg ist er.
            Das nenne ich funktionierendes dörfliches Sozialgefüge. Mir jedenfalls schmecken die Nudeln, innerlich wird es wärmer und dann steche ich aus der Not heraus die Blase vorsichtig auf, lasse sie in ein frisches Taschentuch auslaufen und klebe zum Austrocknen über Nacht ein Stück Meterpflaster darauf. Hat bisher immer ganz gut geklappt, man darf nur die Haut nicht wegschneiden. Ich Depp habe natürlich die Blasenpflaster liegen lassen. Anfängerfehler! Und meine Freundin hatte mich noch gefragt, ob sie mir ihr Compeed geben soll – nee, ist schon okay. Ich schüttöe den Kopf über mich und muss lachen. Solche Dummheiten passieren auch nur mir! Morgen kommt erst mal ein neues Stück Pflaster drauf, das wird mit Leukoplast fixiert und dann kann ich notdürftig bis zur nächsten Notdienst-Apotheke weiterlaufen. Ich fasse dafür Waldbröl oder Nümbrecht in den Blick, mal sehen. Aber – abwarten, wie es morgen aussieht. Und obwohl ich fit bin und gut durchgekommen, tun mir plötzlich die Beine weh, schmerzen die Füße höllisch und der Boden scheint härter als normal. Teufel auch, so eine Tour geht doch stärker an die Substanz als ich gedacht habe!
            Im ehemaligen Kinderzimmer schlage ich das Lager auf, liege noch kurz wach und nippe das zweite Pilsken leer, bis ich gegen neun Uhr einschlafe.
            Das muss das Boot abkönnen!

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            • Rattus
              Lebt im Forum
              • 15.09.2011
              • 5177
              • Privat

              • Meine Reisen

              #7
              AW: [DE] Einmal quer durch die alte Heimat - Unterwegs auf dem Lenne-Sieg-Weg x1

              Klasse Bericht aus meiner Heimat. In Niederseßmar habe ich meine erste Pizza gegessen und hatte meinen ersten Vollrausch
              Das Leben ist schön. Von einfach war nie die Rede.

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              • Gismo834
                Erfahren
                • 25.01.2010
                • 223
                • Privat

                • Meine Reisen

                #8
                AW: [DE] Einmal quer durch die alte Heimat - Unterwegs auf dem Lenne-Sieg-Weg x1

                Sehr schön geschrieben. Das Gefühl in seine alte Heimat zu kommen kann man richtig nachvollziehen.

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                • rumtreiberin
                  Alter Hase
                  • 20.07.2007
                  • 3236

                  • Meine Reisen

                  #9
                  AW: [DE] Einmal quer durch die alte Heimat - Unterwegs auf dem Lenne-Sieg-Weg x1

                  Witzig, für mich ists seit 2 Jahren "neue Heimat"

                  Und irgendwie hab ichs noch nicht so wirklich geschafft hier mal länger unmotorisiert unterwegs zu sein, irgendwie ist dauernd was anderes.

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                  • Lookas
                    Erfahren
                    • 01.11.2011
                    • 129
                    • Privat

                    • Meine Reisen

                    #10
                    AW: [DE] Einmal quer durch die alte Heimat - Unterwegs auf dem Lenne-Sieg-Weg x1

                    Schön, dass es Euch gefällt! Ich bin froh, die Tour gemacht zu haben. Auch solche kleinen persönlichen Unternehmen sind manchmal wichtig, vor allem, wenn sich einiges ändert und noch ändern wird. Dann tut es gut zu wissen, wo man herkommt und hingehört, was für mich schon schwierig genug ist. Na, egal. Weiter im Text:


                    3. Tag, 23.09.2012

                    Schon wieder so früh hoch! Puh, heute Morgen ist tatsächlich der Wurm drin, mir tun die Beine weh, die Füße sind unzufrieden und der Kopf müde. Beim Anziehen stelle ich fest, dass der Gürtel locker sitzt. Holy Cricket, da fehlt gut und gerne mehr als ein Kilo! Geht so was in zwei Tagen?! Da muss ich jetzt aber mal gegen anessen, und zwar feste! Als ich in das alte Wohnzimmer trete, merke ich erst, wie kalt es auch hier drinnen noch ist. Ich setzte Wasser auf und gehe zurück, um den Rucksack so weit als möglich fertig zu packen. Und fast wäre ich rückwärts wieder rausgesprungen, denn das Zimmer stinkt bestialisch! Ich hab doch geduscht?! Ich schnüffel an den Oberteilen vom Vortag – bei den Socken ist das nicht nötig, die riech ich jetzt auch aus der Entfernung. Alter Finne, hätte ich das Zeug mal gestern noch gewaschen, dann wäre es jetzt zwar klamm und kalt, aber sauber. Dazu war ich jedoch zu müde, also packe ich alles in eine der Plastiktüten, in denen die Äpfel waren und stopfe es ganz unten in den Rucksack. Aus den Augen, aus der Nase, denke ich mir.
                    Das Frühstück ist ausgiebig. Ich will ja nicht unterernährt wieder nach Hause kommen, also esse ich möglichst viel, was mir morgens jedoch tendenziell schwer fällt. Der Kaffee ist gut, die Wurst auch, nur beim Käse muss ich noch mal etwas weiter suchen, da gibt’s bestimmt leckerere Varianten. Durch das Fenster genieße ich wehmütig ein letztes Mal den altvertrauten Blick ins Dorf ... Details fallen mir auf, die tief im Gedächtnis verankert sind: Die Geräusche der Türen auf dem Teppichboden, der Klang des Flures, die Form bestimmter Holzmaserungen, die vielen unterschiedlichen Tapetenmuster, das Gefühl der Gardinen in den Händen, der Klang der Fenster beim Öffnen, das kurze Summe des Flurlichts, bevor es mit einem hohlen Klacken anspringt ... Hier habe ich viel Zeit verbracht, besonders als Kind, und ich glaube, dass Kinder gerade solche Sinneseindrücke viel deutlicher wahrnehmen und tiefer abspeichern als Erwachsene. Mich holt das nun alles wieder ein, ein letztes, wehmütiges Mal.
                    Dann geht die Runde durchs Haus los: Alle Hähne überprüfen, Zimmer solange lüften, den wenigen Müll, den ich verursacht habe (Kaffeetütchen und Käserinde) einpacken, Toilette checken, im Keller als letztes den Hahn zudrehen. Ein allerletzter Blick zurück: Adé, schönes aus. Das war eine denkwürdige letzte Nacht ...
                    Licht ist aus, Schlüssel in der Tasche und Rucksack ist fertig. Es ist zehn nach sieben, ich bin etwas langsam heute. Da es bereits hell ist, mache ich noch ein Erinnerungsfoto vor der Haustüre, dann steige ich noch einmal die Böschung hoch zu Tante Edith und werf den Schlüssel in den Briefkasten.



                    Die ersten Schritte aus dem Dorf hinaus und hoch zum Brenborn sind schwerfällig, langsam und vorsichtig. Die Blase sagt gar nichts, das ist schon mal gut. Aber die Muskeln sind unzufrieden, das ist doch etwas ganz anderes als die zwanzig Kilometer Joggingstrecke durchs Moor. Auch die Hüfte ist rechts etwas laut geworden, wahrscheinlich habe ich falsch darauf gelegen, denn das fühlt sich nicht nach Sehnen oder Muskelproblemen an, eher nach blauem Fleck. Als ich den Querweg gegenüber des Dorfs entlanglaufe, stürmen plötzlich Erinnerungen das Bewusstsein. Jeder Meter hier ist mit Erlebnissen angereichert: Das Dorfhaus, die alte Weide mit den tiefhängenden Zweigen, das letzte, einsame Haus am Waldrand, der Born etwas weiter unten, wo der Wald mich bereits schluckt – jener Wald, den mein Opa angepflanzt hat, als ich gerade laufen konnte, kurz nach der Flurbereinigung. Weiter oben kann ich mich sogar noch an die Zeit davor erinnern – das muss meine früheste Erinnerung überhaupt sein, und das hat seinen Grund!
                    Dort bekam mein Opa nämlich damals als Ausgleich für seine vielen kleinen Flächen eine größere Kuhweide zugeteilt, auf der er ebenfalls Buchen und Tannen anpflanzte. Vorher aber lagen dort Kühe im sonnigen Gras und der kleine Lukas, gerade stolzer Entdecker der feinen männlichen Errungenschaft des Stehpinkelns, hielt es für eine fantastische Idee, wie die Großen auch einfach mal an einen Pfahl zu strullen. An dem Pfahl war aber ein Draht, durch den Strom floß. Was Halbwüchsige als Mutprobe machen, erlebte ich freiwillig und ungewollt in voller Herrlichkeit ... das werde ich nie vergessen.
                    Doch zurück zum Thema, ich schweife ab. Es ist fast halb acht, als ich den Heisterbach erreiche und erst mal über ein schwankendes Konstrukt balancieren muss, das den gefluteten Weg gangbar halten soll.



                    Aber es geht ausschließlich bergab, daher bin ich enorm zügig unterwegs und erreiche noch vor halb neun die schöne alte Mühlenbrücke in Wiehl, hebe schnell und unbeobachtet den Cache und stiefel weiter, der Tropfsteinhöhle entgegen. Die wurde 1860 erst entdeckt und ist wirklich einen Besuch wert. Ich war mehrmals bereits drinnen und kann den Besuch nur empfehlen. Der Eingang ist so unspektakulär und unscheinbar wie ein Kellereingang, aber dahinter entfaltet sich auf einer Ganglänge von 868,5 m ein fantastisches Innenleben, dessen Höhepunkt die Kristallgrotte bildet, ein ehemaliger Höhlensee, der mit Kalzitkristallen ausgekleidet ist.



                    Zu der Höhle gehört auch ein Wildpark, durch den ich laufe und von Wildschweinjungen wüst und wild begrüßt werde: Fütter uns, los! Aber da das verboten ist, kriegen die Viecher nichts. Nebenan sehe ich noch einen dieser immer wieder auftauchenden seltsamen Bäume, die die Strecke in unregelmäßigen Abständen säumen. Oben, wie in einem Turm mit Zinnen, haben die Kinder eine Baumbude gebaut – so was hätte ich auch jetzt noch gerne im eigenen Garten!



                    Der Bewegungsapparat hat sich nun langsam eingespielt und ich bin wirklich erstaunt, wie schnell ich vorwärts komme, ohne mich richtig zu beeilen. Das liegt aber jetzt auch daran, dass der Weg vor allem über Asphaltstraßen verläuft, durch das hübsche Fleckchen Abbenroth und mir dann plötzlich eine Aussicht eröffnet, die die Motivklingel schmerzhaft laut schellen lässt. Und Klick!!!



                    Vor mir liegt der Barockturm von Schloß Homburg bei Nümbrecht. Auch ein Ort meiner Kindheit: Hier habe ich als ritterbegeisterter Junge das erste Mal eine echte „Ritterrüstung“ gesehen! Heute weiß ich, dass es sich mit Sicherheit bloß um einen Prunkharnisch aus dem späten 15. Jahrhundert mit gotischer Plattnerei gehandelt hat, aber damals war das für mich aufregendstes Mittelalter! Im Gegensatz zum Römisch-Germanischen Museum in Köln war Schloß Homburg voll von solchen Schätzen, die nicht verrostet, unkenntlich oder langweilig waren.
                    Keine zehn Meter weiter muss ich laut lachen, denn hier, genau an der Stelle mit der schönsten Aussicht auf die Burg, keine hundert Meter vom nächsten Dorf entfernt, haben gestern Abend irgendwelche Leute eine amüsante Party gefeiert – es sieht aus, als hätten ein paar ODSler ein Grillvergnügen genossen ...



                    Unten im Tal führt der Weg an einem Bach entlang, unter dichten Buchenkronen wie durch einen grünen Tunnel. Die ersten Sonnenstrahlen testen, ob die Luft rein ist, einige Hundemenschen gehen Gassi und die Luft ist kalt, klar und herrlich. Plötzlich stehe ich vor der alten Holstein-Mühle, die bereits 1114 erbaut wurde – ein wahrlich hohes Alter, meine Güte. Und der Name „Holstein“ weckt ein bißchen Erinnerungen an den Ausflug nach Flensburg vor Monatsfrist – da sind wir dort durchgekommen.



                    Ich vermute, dass bei trockenem, warmem Wetter die Mühle ein fantastischer Ausflugsort ist. Sie liegt wunderschön, hat viel Gegend zu bieten und ist von Nümbrecht in einer halben Stunde zu erreichen – zurück dauert’s etwas länger, den Berg hinauf. Das muss ich nun leisten und biege noch kurz links ab, um die „Dicken Steine“ zu bestaunen, die hier wild auf einem Haufen als Quarzit-Härtlinge aus der Devonzeit herumliegen. Sie sind Reste von versteinertem Meeresgrund, wenn ich das recht erinnere, freigewaschen durch Erosion und etwa 350 Mio. Jahre alt. Steht auch alles auf einer der zahllosen, tollen Infotafeln, die ich – wie bereits gesagt – sehr zu schätzen weiß.



                    Der Aufstieg zum Schloß ist furchtbar. Ich schwitze erneut wie ein Hengst und fluche, weil mir die Fußballen schmerzen. Die Grauwacke, deren Brocken als Schotter gestreut sind, ist nicht ganz einfach zu laufen, finde ich. Je gröber der Schotter, desto ungünstiger ist der Tritt, weil man ständig wegrutscht, umknickt oder schmerzhaft auf ein besonders spitzes Exemplar tritt. Da helfen auch die hochgradig verwindungssteifen Vibram-Sohlen nicht mehr viel – nach wenigen hundert Metern tut alles weh. Das ist für mich ein Zeichen, mehr Pausen zu machen. Ich bin zwar nicht auf Pussy-Urlaub, aber kaputtmachen will ich mich erst recht nicht. Das soll Spaß machen und nicht in Schinderei ausarten, also verschnaufe ich öfters und bin heilfroh, endlich das Schloß zu erreichen.



                    Das schöne Ding ist zu. Und zwar komplett. Irgendwer hielt es für eine fantastische Idee, den historischen Bau um möglichst riesige futuristische Erweiterungen zu ergänzen, deren 10 Mio. Euro teure „Architektursprache aus Glas und Stahl einen ebenso bewussten wie transparenten Kontrapunkt zum Sayn’schen Haus“ setzt. „Damit wird Schloß Homburg zu einem anziehenden Ort für Kultur, Wirtschaft und Kulturlandschaft.“ Ich stehe sprachlos vor der garantiert von einer Werbefirma verfassten Worthülsenstreugranate des Informations-Aushanges. Was für bekloppte Ideen wird diese Welt noch alle erleben und erdulden müssen? Wie kann man so etwas einem Architekten-Wettbewerb überlassen? Wissen die denn nicht, dass Architekten in erster Linie an Äußeres und nicht an Inhalte denken? Die behaupten zwar was anderes, aber im Endeffekt ist die Hülle dann doch plötzlich das alles Entscheidende. Kennt man ja. Und hier ... Ich esse einen Apfel, um der Verdauung beim grad Gelesenen zu helfen.



                    Bloß weg. Wenigstens steht das Zeug noch nicht komplett, sondern in erster Linie Bauzäune, Sand, Baggerspuren und Warnschilder. Durch den Wald geht es hinauf zur Stadtgrenze von Nümbrecht, über ein paar Treppen zum Friedhof. Ah, schon wieder Gräber, schön. Ich fülle Wasser nach.
                    Nümbrecht ist hübsch. Die alte Hauptstraße ist gesäumt von herrlichen alten Häusern, viele sorgfältig beschindelt und eingegraut, andere stolz ihr Fachwerk präsentierend. Vor der Kirche setzte ich mich auf ein Mäuerchen, zieh den linken Stiefel aus und begutachte die Ferse. Nichts tut weh, auch Druck aufs Pflaster macht nichts. Das Hansaplast stellt sich jedoch als wenig haltbar heraus, es löst sich viel zu schnell. Das nächste Mal nehm ich doch wieder Leukoplast, das hatte ich in der Schweiz dabei und das saß bombenfest! Da Waldbröl deutlich größer ist, wird es dort mit Sicherheit eine Notdienst-Apotheke geben, die nicht allzu weit vom Weg ab liegt. Da die Ferse guter Dinge ist, werde ich bis dahin einfach ein neues Pflaster draufpappen und weiterlaufen. Das Foto zeigt es im wahrsten Sinne des Wortes: ein Blasenpflaster.



                    Zwei Mädchen gehen vorbei. Normalerweise starren mich Jugendliche immer ungläubig an, denn in ihrer Welt scheint es völlig ausgeschlossen, dass jemand so herumlaufen könnte wie ich. Hätte meine Jacke ein JW-Logo und wäre rotschwarz, dann wäre ja alles in Ordnung, denn das kennen sie aus der Werbung und von Mama und Papa. Aber das schlimmste an mir ist der Hut! Checker-Käppis, Renter-Schlapphüte aus Stoff – das geht ja man grad noch, aber ein echter Hut? Das macht mich offenbar zum Exoten. Doch wenn man zurückstarrt und grinst, schauen sie eh alle weg und versuchen, mich zu ignorieren.
                    Die beiden hier aber nicht. Das größere Mädchen von beiden wird rot und grüßt schüchtern, dann laufen sie schnell weiter. Okay, auch so was gibt es also.
                    Ich schlendere die Straße hinab, einen Hang hinauf und bin erstaunlich schnell in einem Tal, wo es wieder steil in den Wald geht. Aber heute ist ein wenig der Wurm drin. Ich bin nicht so frisch wie gestern, die Beine sind schwerer und ich nehme den Wind viel deutlicher wahr. Es regnet nicht, aber es pfeift ganz gut, als ich oberhalb von Waldbröl aus dem Wald trete und meine Geburtsstadt vor mir liegt.



                    Waldbröl! Bisher immer nur ein Name auf Straßenschildern, auf dem Ausweis, dem Führerschein, allen möglichen Urkunden ... aber nichts reales, nichts greifbares. Ich bin vermutlich erst einmal nach meiner Geburt wieder hier gewesen, da war ich ungefähr vierzehn oder so. Und das ist die einzige Erinnerung, die ich daran habe: In einem Buchladen kaufte ich mir die Reclam-Ausgabe von „Julius Cäsar: Der Gallische Krieg“ und dachte, es wäre ganz witzig, mal die wirklichen Hintergründe von Asterix kennen zu lernen. Etwa die Hälfte habe ich damals geschafft, dann ist mir die Puste ausgegangen. Als ich Jahre später das Latinum nachmachen musste, war mir als Studenten völlig schleierhaft, wie ich dieses staubtrockene, langweilige Zeug lesen konnte ...
                    Durch emdlose Sport-, Schul- und Industrieanlagen führt der Weg zum Busbahnhof und dort links in die Hauptstraße hinein. Direkt vor der Kirche liegt eine Apotheke, die zwar geschlossen ist, mir aber verrät, dass ein paar Straßen weiter der Notdienst sei. Nur – wo ist hier die Nümbrechter Straße? Links? Rechts? Ich seh mich um und spreche einen älteren Herrn an, der gerade vorbeigeht.
                    Seine Fahne trifft mich unvorbereitet, aber er ist freundlich und hilfbereit, nimmt mich gleich mit, da müsse er auch hin, in die Straße jedenfalls. Also laufen wir gemeinsam die wenigen hundert Meter, bis er kurz vor der Apotheke mit vielen guiten Wünschen und dem Satz „Wo mer helfe gönne, da helfe mer doch gern!“ in eine Kneipe abbiegt und ich die nette Apothekerin herausklingel. Die wird in ihrer Karriere schon ganz andere Kunden erlebt haben, denn ich kann ja problemfrei laufen und weiß genau, was ich brauche. Dann trotte ich zurück zur Kirche und setzte mich davor auf die Bank, um die Blase zu versorgen. Daraus wird eine entspannte Mittagspause mit viel Nahrung, denn ich habe das Gefühl, einiges an Substanz gelassen zu haben. Jetzt fehlt zu meinem Glück nur noch – der Friedhof! Mal wieder.
                    Den finde ich auch über einen Umweg, fülle die Flasche und wandere mit wieder langsam schmerzenden Fußballen aus der urbanisierten Zone hinaus. Und das wird nun der ärgerliche Punkt: Das Wetter ist fantastisch, sonnig, angenehm, Bussarde kreisen über mir, so dass ich ihre helle Unterseite genau erkennen kann. Sie schreien hin und wieder, zwei jagen einander und dann ... ich stutze. Diese Silhouette habe ich noch nie in echt gesehen: schmal, schnell, mit langem, gespaltenem Schwanz. Das ist doch ein Milan?! Sind die nicht furchtbar selten? Aber ich bin mir nicht sicher, meine Raubvogel-Phase liegt schon fast fünfundzwanzig Jahre zurück. Damals hatte ich ein herrliches kleines Buch über das Leben in freier Natur, über Gewölle, Spurensuche und Wildtierpirsch. In unserem norddeutschen Kaff völlig unnütz, aber für mich ein aufregender Schatz. Darin waren natürlich auch Abbildungen der ganzen Raubvögel, und den Milan fand ich immer eigenartig anders. Das blieb haften.
                    So verbringe ich die nächsten, sonnigen, schönen Kilometer mit Vögelschauen, Schlendern, Pfeifen und freue mich, dass alles so gut läuft – bis auf die Schmerzen in den Fußballen. Die schweren Stiefel klacken richtig auf den Asphalt, als ob ich mit Hartplastiksohlen laufen würde! Ein paar bildhübsche Dörfer – Lützingen, Bruchhausen und Berghausen – passiere ich und mache in Berghausen eine Pause. Kurze Planung: Bis wohin soll es heute gehen?
                    Am Computer zu Hause habe ich vor der Fahrt völlig wahnsinnig als Tagesziel sogar Freusburg ausgemacht. Das wären zwischen 46 bis 48 km Tagesleistung – bei 11 Stunden Licht zu je 4 km/h bei wirklich guter Kondition in der Realität fast nicht machbar, weil ich ungern abends im Dunkeln mit Lampe durch den Wald renne und alle auf mich aufmerksam mache. Ja ja, Planungen – da bin ich eher mittelprächtig veranlagt. Ich werde schnell größenwahnsinnig und hätte wahrscheinlich als General der Grande Armée sogar Napoleons Russland-Feldzug für machbar gehalten – hätte ich ihn nur lange genug planen dürfen. Jetzt hocke ich hier und bin unschlüssig, was ich tun soll. Ach, laufen wir erst mal weiter! Dann wird sich schon was – aua, sch... Füße!
                    Einen Berg weiter sinke ich ins Moos und schimpfe. Fluche. Ärgere mich. Verdammt, wer hat mir diese Füße verpasst? Warum wollen die nicht mehr? Wer ist dafür verantwortlich? Sie sind entlassen – fristlos! Verstanden? Ich will doch bloß weitergehen!
                    Hilft aber alles nichts. Es ist erst drei Uhr und ich bin mit dem Wandererlatein am Ende. Morsbach liegt um die Ecke, als ich endlich weitergehe, trete ich schnell aus dem schönen, hohen Tannenwald ins Freie und sehe das Städtchen, die letzte Bastion NRWs, vor mir liegen. Nun bin ich aus dem Kerngebiet meiner Wanderung heraus, jetzt beginnt die Zugabe.
                    Morsbach, nun gut. Die Karte zeigt mir eine Jugendherberge. Ich stehe derweil staunend und glücklich vor einer schönen, frischen Bank, die extra für Wanderer angefertigt wurde – und setzte mich gerne wieder hin.



                    Also, DJH. Ist das was? Eigentlich wollte ich ja biwakieren, aber ich bin gerade lustlos geworden, will keine Schmerzen mehr in den Füßen und habe einen moralischen Durchhänger. Das macht nichts, dem darf ich ruhig nachgeben, denn morgen geht es ja wieder nach Hause. Also mal überlegen – hinter Morsbach kommt erst mal gar nichts, nur Gegend, Gegend und Wald. Und zwar fast 20 km weit. Wie soll ich da morgen nach Hause kommen, wenn ich in dieses Nichts reinlaufe? Also bleibe ich doch lieber hier und gönne mir eine komfortable Pussy-Urlaubsnacht, warum nicht? Erhöht mein Budget zwar nachträglich um 30%, aber wenn unser Staatshaushalt so was kann, geht das bei mir auch, beschließe ich mit überwältigender Mehrheit meiner Stimme.
                    Morsbach sieht jetzt auch nicht gerade klein aus, da komme ich morgen also auf jeden Fall gut weg. Abgemacht, es gilt! Ich ruhe noch etwas, fühle mich wieder gut und beglückwünsche mich zu meinem weisen Ratschluß. Dann geht es zwischen ausgedehnten Pferdeweiden, an einer lustigen, Schnapsseligen Reiterrunde in einem Gartenzelt vorbei ins Tal hinab. Ich quere eine Eisenbahn – die ist aber derbe ungenutzt, eiei. Also wird morgen wohl der Bus anstehen, befürchte ich. Plötzlich tauchen Verkehrshütchen auf und drei Leute stehen in Warnwesten und mit Walkie-Talkies herum. Da ich vorher mit den Kühen und Pferden auf breitestem Norddeutsch geschäkert habe, flutscht mir ein entsprechend eindeutiges „Moin, Moin, wat geit hier den ab? Kann man da wohl so kloar durchmarschieren oder is’ dat nu gesperrt?“ heraus.
                    Große Augen starren mich an, dann muss sich der eine das Grinsen verkneifen, als er mir sagt, ich könne da völlig frei runter laufen, da sei nichts gesperrt. Ich bedanke mich höflich und setzte hinzu: „Nu, man weiß ja nie. Nicht, das da so’n Verkehrsaufkommen is’, wo man nicht mehr durchkommt.“
                    Nein, nein, das sei nur wegen der Quat-Fahrer, die aber noch lange nicht kommen würden. Ich grinse und verabschiede mich. Kleines Spässken zwischdurch darf auch mal sein.
                    In Morsbach muss ich erst mal über eine urige Hängebrücke, die den nun letzten Cache der Tour beherbergt. Das schaukelt ganz schön, und oben drüber steht auch „Höchsbelastung 3 Pers. – Schaukeln verboten“. Ohne es zu wollen, muss ich leider gegen das Verbot verstoßen, denn wer darauf läuft, schaukelt automatisch. Schöne Angelegenheit, das!



                    In der Innenstadt finde ich nach zwei Touristen endlich einen Einheimischen, der mir den Weg zur Herberge erklärt. Die kleine Kirchstraße hinter der ersten Häuserzeile hoch, dann immer geradeaus, bis es nicht mehr geht. Das fände ich dann schon.
                    Gut. Ich gehe den beschriebenen Weg und bin erstaunt. Wie in Waldbröl oder Nümbrecht schlängelt sich eine wunderschöne Straße, voller aller Gebäudeensemble, versteckt parallel zur Hauptstraße mit dem ganzen Verkehr und den Geschäften. Alte Gasthäuser stehen hier, die schöne Kirche erhebt sich über mir und ich komme an einem Wohnheim für Behinderte vorbei, die mir freudig zuwinken: „Guten Tach, Meister!“ ruft einer. Ich winke zurück und Grüße ebenfalls.
                    Dann schnaufe ich und erklimme weitere Höhenmeter über kleine Fußwege, steil den Berg hoch. Weiter oben gießt ein Rentner seine Blumen.
                    „Entschuldigen Sie, ist das hier richtig zur Jugendherberge?“ keuche ich.
                    „Jo, da sin’se richtich, immer jeradeaus.“
                    „Puh. Noch höher? Das bin ich gar nicht gewohnt,“ grinse ich.
                    „Ja, de Kinder beschwere sich auch daröbber,“ erwidert er. „Aber wat solle mer maache, mir han die Berje nu mal da. Da muss man se auch raufgehen.“
                    Recht hat er – und so schnaufe ich weiter, erreiche den leeren Parkplatz der Herberge, steige die letzte Treppe und stehe auf dem leeren Hof. Laub fliegt herum, ein Grill schaukel quietschend im Wind, alles ist zu und leer. Oh nein. Nicht das noch. Ich schleppe mich zum Eingang und lese irgendwas von 17 bis 19 Uhr und Anmeldung. Auch gut, ist halb fünf, also mach ich erst mal ein Nickerchen in der Sonne und warte.
                    Als es zehn nach fünf ist, gehe ich wieder hin. Nichts. Dann lese ich das Schild genauer: Man soll in dieser Zeit eine Nummer anrufen, dann kann man innerhalb von 30 Minuten einchecken. Ach so! Ich nehme mein Handy, wähle – und nach zweimaligem Tuten werde ich darüber belehrt, dass diese Nummer keinen Anschluss hat. Häh?
                    Noch mal.
                    Wieder nichts.
                    Ich kann schon ganz gut fluchen, wenn die Situation das erfordert! Gut, dass keine Kinder da sind. Ist ja ohnehin niemand da, unfassbar. Ich laufe ums Gebäude, aber auch da, wo „Privat“ draufsteht, ist niemand drinnen. Ich warte bis halb sechs, dann laufe ich wieder schweren Herzens hinunter in die Stadt. Vielleicht liegt’s am Handy? „Teilweiterleitung aktiv“ zeigt es beim Wählen an, ob das was bedeutet? Also versuche ich’s doch mal bei einer hoffentlich analogen Telefonzelle, vielleicht klappt das ja. Vor der Sparkasse steht eine, aber die nimmt mein Geld nicht an. Zwei junge Kerle stehen daneben und tauschen gerne ihre Euros mit meinen, aber die gehen auch nicht. Ratlosigkeit, dann bietet der eine sein Handy an, wenn’s nicht zu lang dauert. Auch da: Kein Anschluss. Ich seufze, bedanke mich und gehe zur Eisdiele, vielleicht wissen die, wo ich jetzt günstig unterkommen kann. Meine Füße schmerzen übel, und ich will nicht mehr weiter!
                    Die Besitzer sind waschechte Italiener und auch wahnsinnig hilfsbereit (und machen, nebenbei bemerkt, fantastisches Eis! Unbedingt probieren, wenn ihr mal in Morsbach seid!). Der Cheffe ruft persönlich noch mal oben an, aber ihm passiert das selbe wie mir.
                    „Ah, warte, isch habe eine Freund, der iste Hausmeister da oben. Der weiß es vielleischt!“ sagt Cheffe und ruft dort an. Nein, die Nummer stimme, sagt der Freund, aber er wolle es selber mal probieren und rufe dann zurück. Wir warten kurz auf den Rückruf, aber der bestätigt es nur: Das Telefon ist außer Betrieb. Vielleicht habe die Besitzerin vergessen, die Rufumleitung korrekt zu aktivieren, das könne mal passieren. Mehr sei jetzt nicht zu machen.
                    „Bei alte Menschen das kann mal passieren,“ zuckt Cheffe die Schultern. Aber wenn ich günstige Zimmer suche, sein Freund, der Grieche dreihundert Meter weiter, der habe Fremdenzimmer, billiger kriege ich hier sonst nichts!
                    Ich bedanke mich ganz herzlich und trotte los. Der Grieche hat offen und ruft, als er mich sieht: „Ah, der Cowboy! Welche Ehre! Was zu essen?“
                    Äh, nee – ob noch ein Zimmer frei sei, möchte ich wissen.
                    Oh, schlecht, alles voll, aber fragt mal bei Mama nach.
                    Kurzer Disput, dann: Alles klar, sind eben welche ausgezogen, aber das Zimmer sei noch nicht fertig. „Neun Uhr? Ist das okay für dich? Du willst ja sicher nicht jetzt gleich ins Bett, oder?“
                    Wir einigen uns auf neun. Ich ziehe noch mal zur Kirche, da hatte ich eine schöne Bank mit Tisch gesehen, dort setzte ich mich auf eine Bank, die alle per Schriftzug einläd, hier zu verweilen und auch gern zu „strungzen“ – wir würden sagen „schnacken“ oder „klönen“. Ich schreibe Tagebuch und genieße die letzten Sonnenstraheln, dann gehe ich gegen kurz vor acht zum Griechen zurück, denn anstatt Nudeln in Brühe habe ich Bock auf einen leckeren Dionysos-Teller mit Zwiebelringen, Tzaziki, Salat und Pommes. Und das bekomme ich auch, zusammen mit ein paar ehrlichen Siegburger Landbieren, zu denen der Kellner diskret sagt: „Eine gute Wahl.“
                    Und das stimmt.
                    Gegen halb neun bin ich zufrieden, aufgewärmt und müde. Das Lokal leert sich und ich frage den Chef, der offenbar ein sehr umtriebiger, leutseliger und geschäftstüchtiger Typ ist, ob und wann morgen wohl die Busse führen. Sei das sagbar?
                    Oha. Nee, das sei unsagbar. Er winkt einen der ewigen Thekensitzer herbei, der mir erklärt, Morsbach sei am A... der Welt (daher wohl auch der Name, denk ich mir, denn Mors = plattdeutsch für Hintern) und die Busslinien zum nächsten Bahnhof seien eingestellt, weil das sei Wissen und Wissen sei Siegerland. Aber es gebe eine Privatbuslinie, denn der Fuhrunternehmer habe sich gesagt: Sein Morsbach ohne Zuganschluss? Unmöglich, da fahre er auf eigene Kosten. Aber ob die täglich führe – keine Ahnung.
                    Also muss ich notgedrungen zum Busbahnhof hinter der Sparkasse laufen und die Buspläne studieren. Und siehe – es steht zwar da, welche Linie wohin fährt, aber ausgerechnet meine Linie 347 nach Wissen hat keinen Fahrplan. Mist.
                    Ein Telefonat nach Hause löst das Problem, angeblich fährt gegen 9:50 Uhr ein Bus. Ich atme durch. Sehr gut! Auch nicht zu früh, da kann ich um zehn ins Bett und bis acht, halb neun die Biere verdauen. Also schlendere ich gut gelaunt zurück. Der Chef fängt mich direkt ab und eröffnet mir, dass es kein Frühstück gebe, weil ich sei sonst der einzige, das lohne sich nicht. Aber neun Uhr fuffzich sei doch super für mich, das freue ihn. Und wegen dem Frühstück – da mache er mir einen Sonderpreis.
                    Ist mir recht, spare ich halt noch was. Und der Preis liegt nun knapp über dem, was ich als Nichtmitglied auch in der DJH bezahlt hätte – passt. Also nehme ich den Schlüssel in Empfang, trotte zu Zimmer fünfzehn und wasche als erstes meine Oberteile für morgen. Das geht fix, die Heizung ist auch an und morgen werden die trocken sein. Eine Dose Pils ist noch im Rucksack, wird aber fix geleert und dann ... dann schlafe ich ein.
                    Zuletzt geändert von Lookas; 26.09.2012, 14:54.
                    Das muss das Boot abkönnen!

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                      • Meine Reisen

                      #11
                      AW: [DE] Einmal quer durch die alte Heimat - Unterwegs auf dem Lenne-Sieg-Weg x1

                      4. Tag, 24.09.2012

                      Rückreise
                      Noch vor dem Wecker bin ich wach, es ist hell und ich quäle mich nach einigen Minuten aus dem Bett. Meine Füße, Himmel! Das ist doch nicht normal? Jedenfalls bin ich so lala ausgeschlafen und kann mir schön in Ruhe Wasser kochen, Kaffee machen und Frühstücken. Ganz entspannt, ganz locker und langsam.
                      Die Shirts sind trocken und riechen nach Handseife, was zumindest besser ist als kerniger Herrenschweiß. Dann setzte ich gegen neun den Hut auf, werfe mir den Rucksack über und stiefel los. Das Städtchen liegt ruhig da, nur die Hauptstraße ist voll von geschäftigen Autos, die ununterbrochen vorbeirauschen. Am Busbahnhof sitze ich dann erst mal eine Viertelstunde herum – Zeit ist noch genügend vorhanden. Eine ältere Dame kommt langsam heran, studiert die Pläne, nickt mir zu und setzt sich neben mich.
                      „Wollen Sie auch den um 9:50 nach Wissen?“ fragt sie dann unvermittelt.
                      Ich nicke.
                      Sie winkt ab. „Ach, ob der kommt ... ich han hier schon oft jesessen und der kam nicht. Wissen se, ich han dat Jefühl, die fahren, wan se wollen.“
                      „Aber der ist für 9:50 fest ausgeschrieben?!“
                      „Dat hat nichts zu saachen,“ wehrt sie ab. „Nach Waldbröl, die fahren pünktlich, aber da muss man umsteigen und nach Hennef oder Schladern weiterfahren. Der kommt aber fünf Minuten früher, und der Fahrer weiß auch nit, ob der andere fährt – die reden ja nicht mal miteinander!“
                      Ich bin etwas irritiert ob dieser Eröffnungen. Sie erzählt weiter, dass sie regelmäßig Richtung Köln müsse und es unmöglich findet, wie mit der einzigen Verbindung zu einem Bahnhof umgegangen würde. Wenn sie so überlege, sei es doch das Beste, den nach Waldbröl zu nehmen – sicher sei sicher, denn wenn der nach Wissen nicht führe, säße man den halben Tag hier herum.
                      Ich sehe das ganz locker. Warum nicht? Die Dame scheint sich auszukennen, auch wenn sie etwas eigen wirkt. Wir steigen also in den Bus nach Waldbröl, weil uns von zwei unterschiedlichen Busfahrern niemand etwas zur Verbindung nach Wissen sagen kann.
                      Die Dame entpuppt sich als interessante Persönlichkeit. Erst fragt sie mich aus, von wo ich käme, wie ich herkäme und weshalb ich das täte – dann erzählt sie von sich. Sie hat ihr halbes Leben in Kairo verbracht, bis ihr Ägyptischer Mann starb. Sie fährt noch regelmäßig hin, ihre beiden Söhne besuchen. Der dritte lebt in Österreich, das sei schon viel Fahrerei auf ihre alten Tage. Da ich mehrfach in Kairo war und einige Ägypter kenne, tauschen wir uns über die spannende und ungewisse Situation dort aus – und so vergeht die Zeit im Fluge bis Waldbröl. Wir verpassen den Bus nach ennef und müssen eine Stunde warten, dann geht der nächste nach Schladern. Das sei näher dran, sagt die Dame, das geht fixer als nach Hennef.
                      Es regnet – ich sitze schon wieder in Waldbröl, keine 24 Stunden nach meinem ersten Besuch. Schöner ist es hier leider nicht geworden ...
                      Schließlich erreichen wir gegen viertel vor zwölt Schladern an der Sieg, wo ich es gerade noch schaffe, ein Ticket zu ziehen, bevor der Zug Richtung Köln/Aachen kommt. Ein dicker, eigenartiger Kerl blockiert ewig den Automaten, weil er immer wieder von vorne anfangen muss. Und dann ist der Zug auch rappelvoll und riecht wie gestern Morgen mein Schlafzimmer ...
                      In Köln verabschiedet sich die Dame und wünscht mir alles Gute – dann sehe ich mir den Dom an, den kann ich immer wieder schauen. Herrlich! Bis Münster läuft dann alles glatt, ich kann sogar etwas schlafen. Da ich eine eigenartige Zwischenverbindung erwischt habe, müsste ich in Osnabrück eine Stunde warten, doch weil ich daraufhin einen wunderschönen Spaziergang durch Münster mache, die Sonne und die Promenade genieße, einen Zug später nehme, kann ich in Osnabrück fast direkt weiterfahren.
                      Ich steige in Lohne aus. Einen Tag lang herumsitzen schmeckt mir nicht, ich laufe die letzten 10 km einfach in die Nacht hinein. Es ist halb sieben, ein übles Gewitter mit Sturm gerade erst abgezogen, da schultere ich guter Dinge den Rucksack und marschieder los, in die Dämmerung hinein. Hier kenne ich jeden Weg, das erleichtert es etwas. Und es tut gut, noch einmal frische Luft zu schnappen, denn die Züge waren alle recht gut gefüllt und nicht optimal belüftet.
                      Ein unglaubliches Farbenschauspiel belohnt mich für den letzten Marsch. Der Himmel brennt richtig, davor treiben milchig-blaue Wolkenfetzen sehr niedrig über die Stoppelfelder – und es ist der nordöstliche Himmel, der strahlt. Als ob Gott einen Pinsel mit Feuer über die Wolken zieht und sie verglühen lässt ... und daneben drohen noch tiefdunkle Fronten, die langsam verschwinden. Wahnsinn! Die Kamera kann das gar nicht belichten, für solche Situationen ist das Ding nicht vorgesehen.
                      In der einbrechenden Dunkelheit erreiche ich Vechta, stapfe auf meiner Laufstrecke entlang und stehe gegen zwanzig nach acht vor unserem Haus – frohgemut, gut gelaunt und hungrig!


                      Postludium

                      Die Füße haben noch zwei Tage lang protestiert, wenn ich eine Strecke ging oder wie gestern Laufen war. Ich werde mir im nächsten Jahr neue Schuhe zulegen, die leichter und hoffentlich besser gedämpft sind, denn das war schon schade. Solche Schmerzen können den ganzen Spaß verderben, wenn sonst alles ganz gut läuft.
                      Und was mir das Ganze gebracht hat?
                      Schwer zu sagen. Erstmal bin ich froh, die Wanderung gemacht zu haben, weil ich endlich wieder mal hier rauskam, alleine loslaufen und mich frei bewegen und entscheiden konnte. Ich bin sonst ja eher ein Teamplayer, aber hin und wieder ist es unendlich befriedigend, für sich zu sein, keine Kompromisse einzugehen und sich über die Strecke treiben zu lassen. Und: Ich war mal wieder in der alten Heimat, habe sie genossen und im Prinzip Abschied genommen. Das war auch wichtig.
                      Ich finde es komisch, wie sehr das Wandern die Perspektiven ändert. Ich habe Raum und Entfernung anders erlebt als früher und hatte das Gefühl, dass die Orte, zu denen wir ja immer mit dem Auto gedüst sind, tatsächlich alle ganz dicht beieinander liegen. Ja, und den Bergischen Dialekt, den habe ich auch täglich goutiert ... einer der schönsten, die’s gibt!

                      Die Strecke ist übrigens sehr empfehlenswert. Von den ca. 120 km, die ich mal ansetze, habe ich knapp 90 gemacht. Das ist in drei Wandertagen zu schaffen, wobei ich allerdingss ca. 12 km Umweg in mein altes Heimatdorf einberechne.
                      Wer gerne in Betten nächtigt, der kommt hier sowieso auf seine Kosten, denn jede größere Etappenstadt hat Jugendherbergen bzw. Gasthäuser und Hotels. Diese Etappenziele bieten sich dabei aufgrund der Entfernungen und DJHs ganz gut an:
                      - Plettenberg-Meinerzhagen ca. 27 km
                      - Meinerzhagen-Wiehl ca. 26 km
                      - Wiehl-Morsbach ca. 25 km
                      - Morsbach-Freusburg ca. 16 km
                      - Freusburg-Siegen ca. 17 km
                      Die Streckenführung ist sehr abwechslungsreich, leitet den Wanderer oft und ausgiebig durch die vielfältigen, schönen, aber auch gerne mal steilen bergischen Waldgebiete und schöne, alte Dörfer mit viel Fachwerk und ländlichem Flair. Die Wegmarkierung ist durchgängig erneuert, hier und da aber etwas schwierig zu finden, wenn man nicht genau hinsieht oder einfach entspannt läuft (besonders in Stadtgebieten). Bei feuchtem Wetter bleibt es den ganzen Tag nass, also ist gute Regenkleidung wichtig, auch gute Stiefel sind nützlich, weil es auch mal über wenig befestigte Pfade geht. Als Kartenmaterial kann ich die Naturarena-Wanderkarten Nr. 4 und Nr. 5 empfehlen. Sie sind genau, topografisch aktuell, soweit es die Wege und Bebauung an der Strecke angeht und weisen sämtliche markierten Wege zuverlässig aus. Hier und da wurde offenbar die Wegeführung verändert, so dass es z.B. in Waldbröl eine kleine Abweichung gab – so what. Ich war perfekt bedient mit der Kombination Markierungen/Karte.
                      Das Bergische Land ist zudem eine Fundgrube für Naturliebhaber. Ich bin kein Biologe, aber einige Highlights waren auch für mich beeindruckend. Die Dichte an Raubvögeln z.B. ist erstaunlich und an sonnigen Tagen teilweise ein echtes Schauspiel. Auch war ich überrascht, dass es trotz der intensiven Bewirtschaftung immer wieder wahre Urwälder gibt, die offenbar sich selber überlassen bleiben. Und wer Pferde liebt – davon gibt es hier mehr als ausreichend. In meiner Kindheit waren die Weiden voller Kühe, nun stehen an jeder Ecke Pferde herum.
                      Also, wenn das Frühjahr kommt, Leute – ab in’s Bergische Land!
                      Das muss das Boot abkönnen!

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                      • Rattus
                        Lebt im Forum
                        • 15.09.2011
                        • 5177
                        • Privat

                        • Meine Reisen

                        #12
                        AW: [DE] Einmal quer durch die alte Heimat - Unterwegs auf dem Lenne-Sieg-Weg x1

                        Ich muss schon wieder kundtun, wie sehr mich dein Bericht begeistert. Das waren auch unsere Familienausflüge: Wiehler Tropfsteinhöhle, Schloss Homburg, die dicken Steine ... ich werde ganz wehmütig
                        Das Leben ist schön. Von einfach war nie die Rede.

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                        • Goettergatte
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                          Liebt das Forum
                          • 13.01.2009
                          • 27482
                          • Privat

                          • Meine Reisen

                          #13
                          AW: [DE] Einmal quer durch die alte Heimat - Unterwegs auf dem Lenne-Sieg-Weg x1

                          Schöner Bericht, aus mir teils bekannten Gegenden.
                          Schloß Homburg war die erste Burg meines Lebens, meine Großeltern wohnten damals noch in Kram.
                          Aber die Umbauten dort sind auch mir ein Graus
                          "Wärme wünscht/ der vom Wege kommt----------------------
                          Mit erkaltetem Knie;------------------------------
                          Mit Kost und Kleidern/ erquicke den Wandrer,-----------------
                          Der über Felsen fuhr."________havamal
                          --------

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                          • Prachttaucher
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                            #14
                            AW: [DE] Einmal quer durch die alte Heimat - Unterwegs auf dem Lenne-Sieg-Weg x1

                            Von mir auch ein Dankeschön - sehr lebendig geschrieben. Vieles kommt mir bekannt vor, so z.B. die geschlossene JuHe, die Schwierigkeit mit den Bussen (v.a. wenn man Infos von Einheimischen möchte), das kurze Zeitfenster am Bahnhof...

                            Die Erwähnung des Uplandsteigs führte übrigens bei mir nach einer kleinen Machbarkeitsstudie zu ernsthaften Absichten...

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                              #15
                              AW: [DE] Einmal quer durch die alte Heimat - Unterwegs auf dem Lenne-Sieg-Weg x1

                              JoHo,

                              finde Deinen Bericht erst jetzt...hier...mehr oder weniger versteckt und Du hast es mit Karte und Markierungen geschafft.
                              Sehr schön.

                              Es hat mir sehr viel Freude bereitet Deinen Bericht zu lesen.

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