[UK] Schottland: Von Pitlochry nach Faraid Head

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    • 18.04.2008
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    [UK] Schottland: Von Pitlochry nach Faraid Head

    Tourentyp
    Lat
    Lon
    Mitreisende
    Land: Großbritannien
    Reisezeit: Mai/Juni 2010
    Region/Kontinent: Nordeuropa

    Von Pitlochry nach Faraid Head
    Teil I



    Nachdem ich 2009 den Cape Wrath Trail ohne bleibende Schäden vollendet hatte, reifte in langen Winternächten der Gedanke, so etwas ähnliches ganz auf eigene Faust zu unternehmen – ohne vorgekaute Route, nur gestützt auf Landkarten sowie die in "Scottish Hill Tracks" aufgeführten öffentlichen Fußwege. Dabei wollte ich quasi im Vorübergehen auch noch einige Wege laufen, die sich meinem Zugriff bisher entzogen hatten. Grob betrachtet schwebte mir eine Route vom nördlichen Ende der Lowlands bis ans nordwestliche Ende der Highlands vor. "Völlig illusorisch", sagte ich mir immer wieder, denn allein beim Berechnen der Luftlinie kam ich immer wieder auf mehr als 200 Kilometer – am Boden also praktisch nicht weniger als 400 Kilometer. Für die maximal zur Verfügung stehenden knapp drei Wochen arg viel, wenn man noch die unentbehrlichen Ruhe- und Fresstage einkalkuliert. Die Erfahrung von 2009 und 2010 hatte mich gelehrt, dass es unmöglich ist, meinen täglichen Kalorienbedarf von 4000 bis 5000 Kalorien an den Wandertagen allein zu decken. Dennoch ließ mich der Gedanke an die neue "Nordwestpassage" nicht los. Als günstiger Ausgangspunkt kristallisierte sich Pitlochry heraus, weitere Dreh- und Angelpunkte als potenzielle Ruhetagsorte waren Fort Augustus und Ullapool.




    Aber bis zum Tag vor meinem Abflug war ich mir nicht sicher, ob ich das Projekt überhaupt in Angriff nehmen sollte. Die günstige Wettervorhersage für die Grampians gab schließlich den Ausschlag, zumindest den Anfang zu machen. Der historische "Minigaig"-Pass nach Kingussie stand schon ewig auf meiner To-Do-Liste. Nach dem Einkauf von Lebensmitteln und Gas in Glasgow schwang ich mich also in den Zug nach Pitlochry.

    Aus dem Zug heraus organisierte ich mir noch ein Bettchen im Backpackers-Hostel in der Ortsmitte. Als ich am späten Samstagnachmittag ankam, lag Pitlochry nach der Abfahrt der letzten Touri-Busse bereits im Dämmerschlaf. Gut, dass ich die Futterfrage bereits in Glasgow geklärt hatte! Nach einem nicht besonders erquicklichen Fish&Chips-Abendessen sondierte ich bei einem abendlichen Spaziergang noch den Tour-Einstieg am kommenden Tag: Die Landranger-Karten von Ordnance Survey stoßen bei hoher landschaftlicher Ereignisdichte wie am Pass of Killiecrankie maßstabsbedingt an ihre Grenzen. Aber wozu gibt es Aushänge mit detaillierten Wanderwegedarstellungen? Zum Abfotografieren natürlich.


    Still ruht der Stausee...


    30. Mai

    Gemütlich brach ich am Sonntag auf. Die erste Etappe bis zur Alter-Scheich-Bothy* hatte ich mit reichlich 20 km kalkuliert. Zuerst stand der Pass of Killiecrankie auf dem Plan. Hier war ich schon 2002 eine Tagestour gemacht, allerdings im Dauerregen. Geradezu idyllisch war es diesmal – sieht von den Midges ab, die es sehr begrüßten, dass ich im T-Shirt unterwegs war.

    *) Nach bewährtem Usus sehe ich davon ab, die Bothies (unbewirtschaftete Berghütten) mit ihrem Klarnamen zu nennen. Wer meinen Weg auf den handelsüblichen Landkarten verfolgt, wird sie aber zweifelsfrei an der Beschriftung erkennen können.

    Der Pass of Killiecrankie ist streng genommen gar kein "Pass" im Sinne einer Wasserscheide, sondern eine Schlucht. Hier drängeln sich die A9-Schnellstraße, die "alte" A9", die Bahnlinie Perth-Inverness, diverse Fußwege und der Fluss Garry durch ein enges V-förmiges Tal, das – für schottische Verhältnisse ungewöhnlich genug – auch noch rundum bewaldet ist.




    Bekannt ist der Pass of Killiecrankie vor allem durch den "Soldier's leap": Hier soll ein englischer Soldat des Königs 1689 in einem waghalsigen Sprung von 18 Fuß über den Garry hinweg den ihn verfolgenden Schotten entkommen sein. Glauben muss man das nicht, aber für die Einrichtung eines Besucherzentrums hat es gereicht. Und dass sich gleich daneben ein Imbiss angesiedelt hat, fand ich auch nicht schlecht. So musste schon um elf Uhr ein Stück Schokoladentorte sein Leben im Kampf gegen potenziellen Underfill lassen.

    Hic Soldier's leap, hic salta!



    Schnell hatte ich denn Pass hinter mir und die Mühen der Ebene vor mir. Auf einer sehr ruhigen Landstraße – mir begegneten auf drei Kilometern nur zwei Autos – und danach einem Wirtschaftsweg ging es fast geradlinig nach Blair Atholl. Mein stets auf Unfug sinnendes Hirn nutzte die Unterbeschäftigung, grub eine Melodie aus und fing an zu dichten:

    "Ich trage eine Schrankwand
    und diese Schrankwand ist grün.
    Es ist die Pfad-Finder-Schrankwand
    voll Kram bis zu ihrem Rand.
    Die Schrankwand ist niemals nur halbvoll
    denn dann wär' sie keine Schrankwand
    So trag ich sie über die Berge
    Nur das Nötigste für den Tag."


    (Sage mir, von welchem Lied die Melodie ist, und ich sage Dir, wie alt Du mindestens bist und in welchem Teil Deutschlands Du aufgewachsen bist )


    In Blair Atholl fanden im Park des Gutsherren gerade mit viel Getöse Highland Games statt. An denen wollte ich mich nicht beteiligen. Aber für das weitere Schrankwand-Stemmen musste ich mich erst einmal stärken. In der Bar des Hotels am Bahnhof genehmigte ich mir einen "Pheasant Burger", also Fasan. Zwar bin ich alles andere als ein Feinschmecker, aber dieses Urteil traue ich mir doch zu: Die Originalität der Fleischherkunft spiegelte sich nicht in der Originalität des Geschmacks wider. Es hätte auch ein normaler Kuh-Burger sein können. Vielleicht ist das Braten von Hackfleisch aber auch einfach nicht geeignete Methode, um Geschmacksunterschiede herauszuarbeiten? Unvergessen bis heute ist mir hingegen der mit einer Scheibe Schafskäse veredelte Hamburger im Cluanie Inn 2008. Der schmeckte wirklich erfrischend anders.

    In der besten Mittagshitze machte ich mich wieder auf den Weg. Da mich am Eingang zum Gutspark, durch den eigentlich der kürzeste Weg geführt hätte, eine schwer interpretierbare Eintrittsgeldordnung überraschte, entschied ich mich für die Umgehung über Old Bridge of Tilt. Die Alte Brücke sieht aber nur von oben oldschoolmäßig aus, tatsächlich ist es eine schnöde Betonbrücke. Allerdings ist sie von allen Seiten so zugewachsen oder zugemauert, dass der Normalnutzer den Betrug nicht merkt. Nur wenige sind so bekloppt wie ich und hängen sich über die schulterhohe Steinbrüstung hinaus, um nachzugucken, ob es eine Wade-, eine Caulfield- oder eine Telford-Brücke ist...


    Über Weiden und durch eine Birkenallee – ja, so etwas gibt es in Alt-Kaledonien – und einen geradezu mitteleuropäischen Laubwald ging es stetig bergauf. Plötzlich hörte der Wald auf.

    Von einem Moment auf den anderen fand ich mich in der klassischen Heidelandschaft der Highlands wieder. Sowohl verwaltungstechnisch wie auch orographisch war das natürlich Unfug, denn dafür fehlten noch gut und gerne 15 Kilometer. Aber das Gefühl konnte mir niemand nehmen. Dazu trugen auch die Hirsche bei, die mich von einem nahen Hügel misstrauisch beobachteten. Oder doch der einsame Radfahrer, der seinen Hund ausführte? Ich schätze die Länge seiner "Gassirunde" auf mindestens 15 km. Und das auf Schotterwegen... beeindruckend.

    Nach gut 25 Kilometern überquerte ich den letzten Buckel vor der Bothy. Das tief eingeschnittene Tal des Allt Scheichean war klar zu erkennen – aber wo war die Bothy? Hoffentlich doch nicht abgebrannt? Erst 200 Meter vor dem Bach tauchte ein Schornstein über dem Heidekraut auf. Das Dach folgte. Mir fiel ein Stein vom Herzen: Die Bothy lag unmittelbar am Flussbett und war deshalb so schwer zu sehen. Vielleicht hatte sie deswegen auch so wenig Besucher? Zwischen den Einträgen im Bothy-Buch lagen fast immer mehrere Tage. Dafür war sie picobello sauber – jedenfalls für Bothy-Maßstäbe. Nach dem Abendessen setzte ich mich noch vor die Tür und genoss einen kühlen, aber fast midgefreien Abend beim Kartenstudium.




    Leicht entsetzt stellte ich fest, dass ich am nächsten Tag bis Kingussie 27 Kilometer Luftlinie vor mir hatte. Nach meiner Faustformel bedeutete das rund 40 km Weg. Nachmessen auf der Karte mit dem vorhandenen Präzisionsgerät – eine Zeigefingerbreite für einen Kilometer Track, eine Kleine-Finger-Breite für einen Kilometer Pfad – ergab dann aber nur 33 km. In zehn bis elf Stunden sollte das bequem zu schaffen sein.

    Nach Sonnenuntergang versuchte ich mich noch mit wechselndem Erfolg an Aufnahmen des Sternenhimmels. Bald kroch ich in meinen Apatschen und ließ mich von Amy MacDonalds Album "This is the Life" in den Schlaf singen.

    Technische Daten: 26,2 km in 8:27h


    31. Mai

    Als ich am nächsten Morgen aufstand, war es draußen schon wärmer als in der Bothy. Dort hatten sich 9 Grad gehalten, während vor der Tür die Sonne ungehindert von Wolken für 12 Grad gesorgt hatte. Das erste Wegstück bis zur Bruar Lodge waren Gamaschen angesagt, denn anders als am Tag vorher war wurde der Weg jetzt zum Pfad.

    Am See kurz hinter Bruar Lodge wurde ich von einem sturzbombenden kleinen braunen Vogel attackiert. Der hatte wohl Angst um sein Nest und flog jetzt einen Scheinangriff nach dem anderen auf mich: Flatternd und schimpfend kam er auf meinen Kopf zugeflogen, um kurz vor dem Zusammenstoß nach oben zu ziehen. Das hatte ich zwar schon einige Mal erlebt, aber noch nie in derartig militanter Form.

    Wenige Kilometer später stand ich vor einer steilen Wand, an der sich unverkennbar ein Pfad in Zickzackkurven hochschraubte: Hier begann der Minigaig-Pass nun ernsthaft. Bis zur Passhöhe lagen noch 400 Höhenmeter und reichlich vier Kilometer vor mir. Hier wünschte ich mir etwas mehr Wolken. Aber immerhin hatte ich nach den ersten 200 Höhenmetern die Hochebene erreicht, wo wieder ein frischer Wind wehte. Die Sicht an diesem Tag war phänomenal: Von Westen grüßten die Mamores und Ben Nevis. Rechts vor mir lagen die schneebedeckten Gipfel der Cairngorms. Ja, schneebedeckt: Nicht nur hatte es einen außergewöhnlich schneereichen und kalten Winter gegeben, sondern es hatte auch bis Ende Mai in den Hochlagen immer wieder frisch geschneit. Bis auf 700 Meter herunter lagen größere Schneefelder. Selbst die Skilifts in den Cairngorms waren teilweise noch in Betrieb. In normalen Jahren kann man von Glück sprechen, wenn man in Lagen unter 1000 Metern überhaupt noch Schneefitzel findet. Die Passhöhe beehrte ich mit einer längeren Pause, bevor ich zum Allt Bhran abstieg.

    Dort hat das Wasser den Pfad – der eigentlich durchgehend am Nordufer verlaufen sollte – immer wieder weggespült, so dass ich häufiger zwischen den Flussseiten hin- und herwechselte. Irgendwann passierte das, was nach acht Jahren unfallfreiem Flussqueren fällig war: Der vermeintliche Trittstein entpuppte sich als Kippstein. Wie in einem falschen Fim sah ich mich einem halbseitigen Wasserbad entgegenfallen. Das kalte Wasser beendete dann aber die Filmvorstellung. Ich berappelte mich und krabbelte ans Ufer. Personenschaden gab es bis auf eine leichte Abschürfung am Ellbogen nicht. Auch die Kamera war trockengeblieben. Die Schrankwand vermeldete einen kleinen Wassereinbruch am Bodenfach – undramatisch, da dort sowieso nur das Schlechtwetterequipment untergebracht war. Kritischster Schaden schien mir das Wasser im rechten Stiefel zu sein. Gut, nasse Hose und Unterhose waren sicherlich auch nicht ohne, aber nicht kritisch. Ich schleppte mich etwa 200 Meter bis zu einem halbwegs bequemen Findling und begann mit der Trockenlegung. Die beiden nassen Hosen und die Socken fixierte ich außen an der Schrankwand. Als bekennender UH-Tourist hatte ich noch eine kurze UL-Sporthose dabei, die jetzt zum Einsatz kam. Das T-Shirt war quasi schon wieder trocken (Dank an Berghaus-Tech-T!). Blieb der Stiefel. Auch hier fand sich die Lösung im meinem UH-Fundus: Für genau solche Fälle hatte ich Sealskinz-Socken dabei. Nach einer halben Stunde ging es weiter.


    Befreit von ihrem schweren Lose/trocknet hier im Wind die Unterhose

    Bald erreichte ich das erste Wehr am Allt Bhran/Allt Coire nan Dearcag. Beim Versuch, schon aus größerer Entfernung schon eine geeignete Stelle zur Querung auszumachen, stellte ich dann fest, dass es doch einen größeren Wasserschaden gegeben hatte: "Steiner, das Eiserne Fernglas" war mit gerade soviel Wasser vollgelaufen, dass jetzt alle Linsen beschlagen waren. Mist...

    Technischer Hinweis: Die Staumauer wird nicht durch eine Fußgängerbrücke ergänzt und ist zudem oben abgerundet, also praktisch unbegehbar. Allerdings verschwindet bei normalem Wetter der gesamte Abfluss in einer Rohrleitung, so dass man das Flussbett unterhalb der Staumauer trockenen Fußes durchqueren kann.

    Wenig amüsiert stellte ich fest, dass an der Einmündung des Weges von der Gaick Lodge bereits eine Asphaltstraße begann. Die Karte hatte eine Schotterstraße suggeriert. Andererseits: Bei Gehen auf Asphalt kann man unbesorgt in der Landschaft umherschauen. Mir kam der von Werner Hohn geprägte Begriff der "Fußreise" in den Kopf. Da höchstens alle halbe Stunde ein Auto vorbeikam, war es ein ziemlich entspanntes Fußreisen.

    An der Glentromie Lodge war die Fußreise zu Ende und der schottische Ernst des Lebens begann wieder. Der Pfad nach Kingussie führt keineswegs direkt an der Lodge vorbei, sondern am Zaun dahinter. Um dorthin zu gelangen, muss man unmittelbar hinter der Brücke über den Tromie River durch ein Loch im Zaun steigen. Wer die etwas missverständlichen Hinweispfeile nicht richtig deutet oder übersieht, wird von der Zerberine im Pförtnerhaus unmissverständlich darauf hingewiesen. Der Pfad durch den Wald ist mit Pfählen markiert. Für soviel Service hat es immerhin gereicht.

    Vorsicht, im Wald hinter der Glentromie Lodge lauert der Rindenwahnsinn!


    Schon nach wenigen Meter wurde mir klar, dass es jetzt wieder Zeit für die lange Hose war. Die Idee, das Umziehen bis zum Erreichen des Kamms zu verschieben, war dumm, wie die Einschläge und Schleifspuren auf meinen Unterschenkeln belegten. Wenigstens konnte ich bei der unverzüglich durchgeführten Fleischbeschau keinen Zeckenbefall feststellen.

    Die Annäherung an die Ruinen der Ruthven Barracks, die sich ebenso unerwartet wie majestätisch über die Spey-Ebene erheben, gilt als normalerweise als spektakuläres Erlebnis. Eine Ausnahme ist, wie ich jetzt erfahren durfte, die Annäherung über die Anhöhe von Westen. Allerdings ist das der Weg, den die englischen Truppen von General Wade & Co. genommen haben, wenn sie nach Norden gingen.


    Ruthven Barracks bei der Annäherung von Südwesten

    Schon lange vor der Ankunft in Kingussie war mir klar, dass unter anderem mein gewässertes Fernglas nach einer Übernachtung unter einem festen Dach mit einer leistungsfähigen Heizung verlangte. Ich widersprach ihm nicht, zumal die geradezu bilderbuchartige Wolkenfolge von Cirrus zu Cumulus während des Tages viel Regen in der Nacht erwarten ließen. Nach meiner Erinnerung hatte ich nur die Wahl zwischen dem "Duke of Gordon" - vier Sterne – und dem Hostel vom Tipsy Laird. Der hatte keine Sterne, sondern ähnelte eher - um beim astronomischen Bild zu bleiben – einem Schwarzen Loch. Umso erleichterter war ich, gegenüber vom Duke of Gordon das "Hotel Osprey" zu entdecken, das für 35 Pfund inkl. Frühstück ein sehr ordentliches Preis-Leistungsverhältnis bot. Bis zum Morgen hatte ich alle noch feuchte Ausrüstung getrocknet. Sogar aus aus dem Fernglas war das Wasser verschwunden – nicht ohne allerdings eine kräftigen Grauschimmer auf den Linsen zu hinterlassen. Nicht alle Wasser der Highlands kommen aus der Destillerie.

    Technische Daten: 35,6 km 11:10h


    1. Juni

    In der Nacht hatte es kräftig geregnet, und auch am Morgen nieselte es noch mit wechselnder Intensität. Beim Frühstück saß ich einem amerikanischen Pärchen aus Deutschland gegenüber – er war Biologe bei der US-Armee in Wiesbaden und betreute in dieser Funktion diverse Truppenübungsplätze. Außerdem waren beide Hobby-Ornithologen. Auf die Insel waren sie wegen des Vogelreichtums gekommen. Ein Hotel mit dem Namen Osprey ("Seeadler") war sicherlich ein guter Anfang.

    Für mich begann der Tag mit der Suche nach Plan B. Plan A, die Durchquerung der teilweise pfadlosen Monadliath Mountains, erschien mir angesichts einer Wolkenuntergrenze von 600 m weder sinnvoll noch attraktiv. Ich musste allerdings irgendwie bei Fort Augustus herauskommen, denn im dortigen Postamt warteten die Karten für die nächsten Etappen auf mich. Die Topographie des Geländes ließ nicht viel Alternativen zu, und so landete ich wieder einmal in den Fußstapfen von General Wade: Der Military Road durch Upper Glen Spey und über den Corrieyairack-Pass.

    Eine Abweichung erlaubte ich mir aber doch: Von Newtonmore bis Cluny Castle folgte ich Glen Banchor, also durch das Hinterland von Newtonmore. Dieser Weg zeichnete durch jene Perfidität aus, die viele Schottisch-Anfänger in den Wahnsinn treibt: Er beginnt als Asphaltstraße und geht in eine Schotterpiste über. Nach einer Weile verschwindet der Schotter und schließlich überhaupt jeglicher nachvollziehbarer Pfad. Was aber die Touristeninformation in Laggan Bridge nicht daran hindert, mit einem dicken bunten Strich auf der Aushangkarte so etwas wie einen markierten Wanderweg zu suggerieren. Scottish Hill Tracks war da ehrlicher und nannte die "pathless boggy section in the middle" beim Namen. Navigatorisch ist es Kinderkram – einfach dem Fluss folgen – aber mancher Anfänger wird wohl viel Zeit bei der Suche nach dem vermeintlich verlorenen Pfad vertrödeln.


    Glen Banchor: Der harte Winter 2009/2010 hat dem so landestypischen Ginster übel zugesetzt.


    Bei Cluny Castle hatte mich die Landstraße wieder. Nach vier Kilometern bog die Hauptstraße in Laggan Bridge nach Osten in Richtung Spean Bridge ab. Im letzten Shop vor Fort Augustus ließ ich es noch einmal richtig krachen: Ein Magnum Mandel, eine Cola, ein Kitkat Chunky. Vor mir lagen 17,4 km Asphaltreise, wie mir mein TAND verriet – nicht 15 km, wie Scottish Hill Tracks behauptete. Diese Ungenauigkeit hatte mir im Oktober 2009 einen deutlichen Tadel eines Mitreisenden eingebracht.


    Garva Bridge, ein Entwurf von Thomas Telford.

    Aber wie schon damals besserte sich das Wetter im Upper Glen Spey schnell. Nur die Monadliath Mountains zu meiner Rechten hüllten sich ab 700 Meter weiterhin in Wolken. Die Richtigkeit meiner Entscheidung vom Morgen war am späten Nachmittag immer noch nicht widerlegt worden. Die Zeit verbrachte ich unter anderem damit, nach potenziellen Stellplätzen für Hogan (meine Silnylon-Schildkröte) Ausschau zu halten. Erstaunlicherweise entdeckte ich an den meisten schönen Stellen auch gleich ein Schild "No Camping".

    17,4 km später hatte ich Upper Glen Spey nun auch aus der anderen Richtung gesehen. Ein drittes Mal brauche ich das nicht... da gäbe es entweder Daumenreise oder Taxi. Die Mehlgraben-Bothy begrüßte ich wie eine alte Bekannte, was sie ja auch war, mit dem Unterschied, dass ich diesmal auch dort übernachten würde. Fragen hinsichtlich der schottischen Landessitten warf jedoch folgender Hinweis auf: "No matter how lonely you feel – keep the sheep out." Nur weil der Kondomautomat fehlte oder wie jetzt?


    Die Mehlgraben-Bothy am Fuß des Corrieyairack-Passes.

    Technische Daten: 39,7 km in 10:26h


    2. Juni

    Als ich am Morgen aus dem Fenster blickte, war mir schon klar, dass es wie schon im Juni 2009 nichts mit großartigen Aussichten vom Corrieyairack-Pass werden würde. Eine geschlossene Wolkendecke hing über den Bergen, und im Westen waren die typischen Grauschleier von Nieselregen zu erkennen. Ich tröstete mich damit, dass bisher noch niemand den Pass für Openstreetmap kartiert hatte. Auch der Aufstieg durch den L-förmigen Talkessel ließ es trotz Schotterpiste an landschaftlicher Dramatik nicht vermissen. Störend mögen allein die Hochspannungsmasten wirken. Auch die britische Elektrizitätswirtschaft hat den Corrieyairack als beste natürliche Trasse entdeckt. Mein Auge gewöhnte sich schnell daran und blendete die Masten aus, der Fotoapparat zeigte sich weniger intelligent.

    An der alten Funkstation auf dem Sattel legte ich traditionsgemäß meine Mittagspause ein, bis mich der inzwischen angekommene Nieselregen vertrieb. Die nun folgende Schotterstraße versäumte keine Gelegenheit, mich daran zu erinnern, dass ich sie schon beim ersten Mal als langweilig empfunden hatte. Um eine ausreichende landschaftliche Ereignisdichte zu erreichen, wäre ein Mountainbike sicherlich das Mittel der Wahl. Einziges Highlight war die "Schwarzbrenn"-Bothy, die ich 2009 übersehen hatte. Was nicht verwunderlich ist, liegt sie doch verborgen in einem Einschnitt abseits des Weges. Sie ist die bisher kleinste Bothy, die ich gesehen habe, noch kleiner als Sourlies. Aber dafür picobello in Schuss. Das Wasser im Bach davor sieht allerdings eher eklig aus.


    Blick auf Loch Ness.

    Als ich schließlich um 16 Uhr in Fort Augustus ankam, war das Postamt schon seit drei Stunden geschlossen. Na klar, es war Mittwoch. Bewohnern der ehemaligen britischen Besatzungszone wird der Usus kleinerer Geschäfte, am Mittwochnachmittag geschlossen zu bleiben, bekannt vorkommen. Dafür herrschte an der Schleusentreppe Hochbetrieb:


    Für meinen Fress- und Ruhetag besorgte ich mir ein Bettchen in Fort William - gerade noch rechtzeitig, denn am Wochenende fanden dort Mountainbike-Weltmeisterschaften statt, und die ersten Teams waren schon zum Training eingetroffen.


    Technische Daten: 22,8 km in 6:46h


    3. Juni

    Den Donnerstag vertrödelte ich in Fort William nach allen Regeln der Kunst. Dafür war er wie geschaffen: Bei Temperaturen von über 20 Grad hätte ich am Wandern nicht viel Spaß gehabt. Auf dem Rasen vor dem Alexandria-Hotel ließ es sich aushalten – zumindest unter den Bäumen. Eine Frage, die mir dabei immer wieder in den Sinn kommt: Warum ist dieser Rasen sauberer als so mancher Teppich in deutschen Mittelklassehotels?

    Technische Daten: 0 km und Aufnahme von rund 4500 kcal in 14 Stunden.


    4. Juni

    Am Freitagmorgen rief mich das Postamt in Fort Augustus. Nach dem Austausch von abgelegten Karten gegen die Karten bis Ullapool – meiner nächsten Ruhestation - machte ich mich auf den Weg. Bis auf einige Kilometer entlang von Glen Affric lag absolutes Neuland vor mir. Aus den Scottish Hill Tracks hatte ich mir eine Route zusammengestellt, die mich in vier bis fünf Tagen zur A835 bringen würde. Dort wollte ich mich vom Bus nach Ullapool aufsammeln lassen.

    Der Tag begann mit einem strammen Aufstieg in den Inchnacardoch Forest nördlich von Fort Augustus. Der Wald dämpfte in erfreulicher Weise die Hitze, die sich auch an diesem Tag schnell breitmachte. Am Allt Phocaichain legte ich eine Pause ein. Das war fast schicksalhaft: Beim Versuch, Libellen zu fotografieren, entdeckte ich nämlich einen schüchternen Wegweiser der Scottish Rights of Way Society, der in Richtung einer bisher nicht kartographisch dokumentierten Schotterstraße zeigte. Der Weg passte aber grob zu meiner Richtung zur Torgyle Bridge. Sollte ich nun den gesicherten "historischen" Weg mit einem umständlichen Zick und Zack nehmen – oder sollte ich den neuen Weg riskieren? Ich entschloss mich, auf Risiko zu gehen. Und wurde belohnt: Die Schotterstraße war offensichtlich Zugangsweg zu den Hochspannungsmasten, und die führten fast genau zur Torgyle Bridge.





    An der Brücke hatte ich eigentlich gehofft, mich an einem Imbiss belohnen zu können. Aber die A887 ist weniger befahren als manche Kreisstraße in Brandenburg. Schlechte Voraussetzungen für Gastronomie. Ein Cafe hätte es angeblich zwei Kilometer weiter in Dundreggan gegeben, aber da wollte ich schon längst den nächsten Hang in Angriff genommen haben.

    Wieder landete ich auf einer Track, der der Hochspannungsleitung folgte. Reichlich zehn Kilometer ging es so über eine ereignisarme Hochfläche.

    Aber dafür fand ich DEN RING.

    (übrigens ohne je das Buch gelesen zu haben!)

    Alles hat ein Ende, so auch die Hochfläche. Durch einen lauschigen Mischwald kontinentaleuropäischer Prägung, wenn auch mit schottischen Midges, ging es zunächst in Richtung Tomich.


    "Hallo, ich hab' mich versteeeckt!"

    Noch vor der Hilton Lodge bog ich wieder nach Westen ab. Mein Ziel war der Picknick-Parkplatz bei den Plodda Falls. Ich hoffte, dort einen bequemen Platz für Abendessen und Frühstück sowie eine nette Wiese für Hogan zu finden. Inzwischen war es 19 Uhr, der letzte Tagestourist sollte also verschwunden sein.

    So einladend wie erhofft sah es am Picknick-Parkplatz aber nicht aus. Ich beschloss, weiter in Richtung Plodda Falls zu suchen und dabei gleichzeitig herauszufinden, ob der Pfad, auf dem ich morgen am anderen Flussufer meine Tour fortsetzen wollte, überhaupt noch existierte.


    Blick auf die Plodda Falls von oben...

    ...und von der Seite:


    Um nicht eventuell 100 Höhenmeter mit dem ganzen Gewicht umsonst runter- und wieder rauflaufen zu müssen, deponierte ich die Schrankwand am Wegesrand. Als ich den Talboden erreicht hatte, wusste ich drei Dinge: Erstens gab es hier fast bilderbuchmäßig unter uralten Fichten eine Picknick-Sitzgruppe mit Wiese für Hogan; zweitens war der angepeilte Pfad wie befürchtet arg mit Jungwald zugewachsen; und drittens gab es eine großartige Alternative querfeldein ein Stück flussabwärts. Dabei spielte mir in die Hände, dass das Wasser gerade einmal knöchelhoch stand. An diesem Abend schaffte ich es noch, ein UH-Abendessen mit 400 Gramm (Fertigmenge!) Kartoffelbrei als Vorspeise und einer Mountainhouse-Trekkingmahlzeit einzuwerfen.

    Dann wurden die Midges penetrant und ich flüchtete hinter das Moskitonetz. Aus der Sicherheit meines Bunkers beobachtete ich staunend, wie es sich draußen verdunkelte. OT: Ich muss wohl nicht betonen, dass ich an diesem Abend besonders dankbar war, den leeren Zipbeutel meiner Trekkingmahlzeit mit nach drinnen genommen zu haben.

    Technische Daten: 30,6 km in 10:08h


    5. Juni

    Der Tag startete mit dem schönsten denkbaren Frühstück: Ich saß im Halbschatten auf meiner Picknickbank, knabberte leckere McVities Digestives Plain Chocolate, trank einen sonst bei mir eher unüblichen Kaffee und schaute dem Bach beim fröhlichen Plätschern zu. Und obwohl es nicht windig oder kalt war, blieben die Midges in der Deckung. Ich hätte stundenlang sitzembleiben können, wenn die Füße nicht zum Aufbruch getrommelt hätten.

    Nicht ohne Grund: Heute hatte ich ernsthaft Höhenmeter zu bewältigen. Doch zuerst musste ich über den Fluss zum Track auf der anderen Seite:

    Die Schafe waren einigermaßen überrascht. Wahrscheinlich war ich der erste Wanderer seit langem, der diese Sackgasse entlangkam. Ob das hier schon "Easy sheep" sind? Wie ich bei meiner Zeitungslektüre entdeckte, hat ein findiger Züchter eine Rasse auf den Markt gebracht, die nicht mehr geschoren muss, sondern ihren Pelz regelmäßig selbst abwirft. Hintergrund: Der Markterlös für schottische Schafswolle liegt weit unter den Kosten für den gesamten Aufwand mit der Schafsschur - man tut es nur noch, damit die Schafe nicht unter dem Gewicht ihres Pelzes zusammenbrechen. Der Erlös für das Fleisch reicht, um die Wirtschaftlichkeit zu sichern. OT: Die Merinofreunde sollten mal in sich gehen, ob es nicht mal auch ein kratziger Pulli aus Wolle von Cheviot-Schafen sein darf. Oder wenigstens Unterwäsche

    Dann musste ich über den ersten Bergrücken hinüber zum Glen Affric. Die Steigung schien nicht aufzuhören, dabei waren es nur 200 Meter. Zum Glück alles im Wald, denn die Sonne hatte die Lufttemperatur über dem offenen Land schon wieder auf 20 Grad hochgetrieben. Der erste Blick auf Glen Affric und die schneebedeckten Berge dahinter entschädigte dann aber für die Mühen.



    Trotz des Störfaktors Straße im unteren Teil: Glen Affric ist schön. So schön, dass mich am Picknick-Parkplatz Dog Falls nach dem Mittagessen die Schwerkraft übermannte und ein Nickerchen erzwang. Hätten sich nicht ein paar Wolken vor die Sonne geschoben, wäre ich wohl nicht schon nach einer Dreiviertelstunde wieder aufgewacht.

    Einen Pflichttermin als nebenberuflicher OSM-Kartograph hatte ich an der Staumauer von Loch Beinn a' Mheadhoin wahrzunehmen: Gab es hier eine Möglichkeit, ans andere Ufer zu gelangen und so viel Umweg zu sparen? Nein. Aber dafür wurde mir hier zum ersten Mal bewusst, in welchem Maße sich die James-Bond-Ausstatter der sechziger und siebziger Jahre von britischem Industriedesign hatten inspirieren lassen.



    Frisch betankt - das Sanitärhäuschen an den Dog Falls verfügte über einen Trinkwasseranschluss - machte ich mich auf den Weg zum "großen" Pass: Zwischen Toll Creagach und dem namenlosen Gipfel 892m wollte ich mich nach Glen Cannich und der Staumauer von Loch Mullardoch hinüberwälzen. Laut Landranger-Karte sollte es sogar einen Pfad bis kurz unterhalb von Gipfel 892 geben. Er war unzweifelhaft da - nur nicht immer leicht zu finden.

    Es war wohl ein alter Viehweg, seit mehr als 100 Jahren nicht mehr in voller Breite genutzt, dafür aber abschnittsweise weggespült oder ganz zugewachsen. Man muss schon in der Fluchtlinie stehen, um den Weg anhand der etwas abweichenden Vegetation zu erkennen. Zum Glück hatten meine "Vor-Gänger" an den Zickzackkurven kleine Steinmänner aufgebaut, die dann zumindest für den Blick seitwärts sensibilisierten. Bei 850 Metern hörten Vegetation und Pfad erwartungsgemäß auf. Die Karten von Ordnance Survey sind manchmal frappierend genau. Über kleinteiligen schieferartigen Schutt wanderte ich zum Gipfel, wo freundliche Hände einen kleinen Windschutz gebaut hatten.

    Aus dieser sicheren Deckung beobachtete ich nicht ganz amüsiert, wie sich um mich herum dunkle Wolken ballten, aus denen teilweise auch schon graue Gardinen fielen. Das ergab zwar schöne Lichteffekte, hielt mich aber endgültig davon ab, den Munro Toll Creagach mitzunehmen.





    Stattdessen stolperte ich durch das weglose Gelände herab zum Loch Mullardoch. Der von Scottish Hilltracks versprochene "intermittent path" entlang des Allt Fraoch-choire stellte sich erst am Eingang zu einem kleinen Wäldchen ein. "Intermittent" heißt wohl: Es wurden hier schon mal Wanderer gesehen. Nur auf prominenten Aussichtspunkten waren manchmal verschiedene Fußabdrücke sichtbar. Sie verliefen sich aber binnen 15 Metern. Offenbar war ich nicht der einzige, der gehofft hatte, von höherer Warte endlich den versprochenen Pfad zu sichten. Mit gewisser Erleichterung entdeckte ich schließlich einen neuen Wildschutzzaun. Denn merke: Wo neuer Zaun, dort auch plattgefahrene Vegetation.

    Inzwischen war es schon wieder 19 Uhr und damit Zeit, nach einem Stellplatz zu suchen. Im Waldbereich war es aussichtslos, also ließ ich "Steiner" das Ufer entlangschweifen. Eine kleine Halbinsel sah recht vielversprechend aus: Eine einigermaßen ebene Wiese von 50 mal 50 Meter Größe. Aus der Nähe stellte sich dann heraus, dass mehr als die Hälfte der Fläche Feuchtbiotop war und der Rest von Hirschen vermint. Die Minen waren aber zum Glück trocken und rollfähig, so dass ich mir eine kleine Fläche ausreichend säubern konnte. Für verbliebene Risiken gab es noch das Knisterfolie-Footprint.

    Abendstimmung an Loch Mullardoch



    Nicht berücksichtigt hatte ich, dass der Wind pünktlich um 20 Uhr seinen Dienst einstellte. Soll heißen: Die Midges machten sich auf die Suche nach Frischfleisch. An diesem Abend lernte ich einen weiteren Vorteil einer hohen 1,5-Personenhütte kennen: Man kann darin kochen (liebe Kinder, bitte nicht nachmachen!). Mit Spiritus hätte ich es nicht gemacht. Mit Gas erschien mir das Risiko maximal ein wirtschaftlicher Totalschaden von Hogan zu sein. Übrigens: Der Regen blieb aus.

    Technische Daten: 26,7 km in 10:35


    6. Juni

    Am nächsten Morgen war es nieselnebelig und fast windstill. Die Midges fanden es toll, ich weniger. Beim Abbauen legte ich Vollschutz an: Fleecepulli, Hut mit Midgenetz, Handschuhe.

    Schnell erreichte ich die Zufahrtstraße zur Staumauer, wo ich dann auch die letzten Midges abschütteln konnte. Auch diese Staumauer erinnerte mich an eine James-Bond-Kulisse. Doch die schottische Realität der Gegenwart hatte mich bald wieder: Als ich an dem im Umbau befindlichen Mullardoch House vorbeikam, vernahm ich vom Dach vertraute Laute aus dem Berliner Hinterland. Ich grüßte die polnischen Bauarbeiter mit einem vermutlich hoffnungslos falsch ausgesprochenen "Czesc!", was diese begeistert erwiderten.


    So etwas nennt wohl "Lebenswillen".

    Gut vier Kilometer währte meine Fußreise auf der Nebenstraße. In der ganzen Zeit begegnete mir nur ein Auto. In Liatrie - was auf der Karte nach mehr aussieht als dem schmuddeligen Farmhaus der Realität - bog ich nach Norden ab, wie es Scottish Hill Tracks befohlen hatte. Der als Alternative angebotene Track weiter östlich war nicht erkennbar - vielleicht war ich aber auch nur zu faul, richtig zu suchen. Der Pfad war leider bald auch nicht mehr erkennbar, so dass ich entweder querbuschein gehen oder matschigen Hirschpfaden folgen musste.


    Guckt nicht so blöd, helft mir lieber!

    Der Kiefernwald hatte sicherlich seine Reize, aber hauptsächlich musste ich mich darauf konzentrieren, nicht von widerspenstigen Heidekraut-Schlingen zu Fall gebracht zu werden. Schließlich erblickte ich rechts von mir einen Wildschutzzaun mit einem Tor. Das sah ... sehr gut aus! Das Tor wurde offenbar regelmäßig von Argocats durchfahren, und der Argocat-Track - verfestigte Grassohle ohne Heidekraut - führte sogar in meine Richtung. So erreichte ich ohne größere Komplikationen den Pass, um dort in den Nebel zu gucken. Na prima.


    So sieht übrigens ein Argocat aus. Es ist lauter als es schnell ist.

    Der Abstieg war vergleichsweise komplikationslos, es gab am Ostufer des Allt Innis na Larach sogar eine Art Pfad, der nur an wenigen Stellen wegggespült war. Noch besser wäre es gewesen, wenn ich gewusst hätte, dass es einen nagelneuen Landrover-Track oberhalb des Westufers gibt.

    Schließlich landete ich auf der Nebenstraße durch Strathfarrar zum Loch Monar. Meine Fußreise dorthin wurde durch eine Gruppe von Birdwatchern unterbrochen, die mit zwei Kleinbussen angereist waren, um eins von lediglich 20 Höckerschwan-Pärchen im ganzen Land nördlich der Grenze zu bewundern. Mit meinen getrübten Fernglas und nur 140 mm KB-Brennweite an der Kamera blieb mir das Sensationelle daran weitgehend vorenthalten. Aber es war eine nette Abwechslung und es tat auch gut, nach fast vier Tagen wieder etwas Konversation zu treiben. Ich hätte vorher nie gedacht, dass Einsamkeit mich langweilen könnte. Auf meinen bisherigen Touren hatte ich dank Hostels und Bothies spätestens nach zwei Tagen wieder Bodenkontakt gehabt.

    Etwas getrübt wurde die Stimmung durch die Eintrübung des Wetters. Mein Glück der vergangenen Tage, als sich die Wolken entweder westlich oder östlich von mir ausregneten, hielt offenbar nicht ewig an. Den Aufstieg bis zur Staumauer von Loch Monar schaffte ich noch leichtbekleidet, dann wurde der Regen aber fies. Auf Weiterlaufen hatte ich eigentlich keine große Lust.

    Sorgfältig inspizierte ich die James-Bond-Kulisse am Ufer auf ihre Eignung als Behelfsunterkunft; eindeutige Verbotsschilder und Glasscherben auf dem Boden ließen eine Nutzung aber nicht ratsam erscheinen.

    Auch die nächsten vier Kilometer gab es keine gute Aussichten: Ich liefe auf einer Privatstraße durch das gärtnerisch gepflegte Privatgrundstück der Monar Lodge, links ein steiler Hang zum See, rechts eine steile Wand. Ein ausgeklügeltes Fußgängerleitsystem aus Zäunen verhinderte auch die ersten zwei Kilometer hinter der Lodge, dass ich die Wiesen am Seeufer auf ihre Eignung als Stellplatz prüfen konnte. Erst kurz vor der Wegkreuzung, wo ich wieder in Richtung "Binnenland" abbiegen wollte, offenbarte sich ein Zugang zum Ufer. Ich ließ "Steiner" schweifen: Der niedrige Wasserstand hatte eine kieferbewachsene Insel zu einer Halbinsel gemacht. In Erinnerung an die legendäre Creaguaineach Lodge an Loch Treig buchte ich dies als eine Möglichkeit ab.

    Aber auch einige flache Inseln hatten Landanschluss bekommen und ließen auf einen midgefreien, weil windigen Stellplatz hoffen. Bereits die erste erwies sich als Volltreffer: Zwar war die Wiese morastiger als ich erhofft hatte, aber dafür war das Ufer teilweise mit feinstem Schotter bedeckt. Dank Knisterfolie-Footprint hatte ich keine Sorgen, mir die Bodenwanne durch spitze Stein zu beschädigen, und planierte mir eine schöne ebene Fläche. Die wichtigsten Heringe beschwerte ich aber noch einmal sicherheitshalber mit größeren Steinen. Der erhoffte leichte Wind stellte sich ebenfalls ein, so dass ich unbehelligt draußen kochen konnte - der Regen war inzwischen weitergezogen. Im Nachhinein muss ich sagen, dass das Schotterbett der angenehmste Untergrund der ganzen Tour war: Mühelos konnte ich mir eine anatomisch angepasste Kuhle zurechtschieben.


    Gerne ruhe ich mich auf viel Schotter aus.

    Technische Daten: 22,8 km in 9:02 h


    7. Juni

    Am Morgen war der Wind weg, aber die Wolken noch da. Die Midges fanden es toll. Unter Vollschutz baute ich Hogan ab und flüchtete so schnell ich konnte in das langgestreckte Tal des Allt a' Choire Dhomhain. Über einen wohldefinierten Pfad ging es fast bis zum Ende des Glens, wo ich dann über einen kleinen Sattel wieder ein Tal weiter nördlich erreichte - nämlich die Anfänge von Glen Orrin. Aber schon beim Abstieg verlor sich der Pfad immer wieder. Auf der anderen Flussseite, wo die Karte ebenfalls großzügig eine Pfad verortet hatte, sah es nicht besser aus. Der Mangel an Munros in dieser Ecke hatte zur Folge, dass sich nur wenige Wanderer hierhin verirrten. Um alles nicht zu einfach zu machen, fiel dann auch noch ein Schauer über mich herein. Zehn Minuten glaubte ich, ihn einfach ignorieren zu können; dann zog ich mich um, natürlich nur um fünf Minuten später in der Sonne zu schwitzen. Das Spiel sollte sich an diesem Tag noch zweimal wiederholen. Zur Entschädigung gab es nette Lichtspiele.

    An Loch na Caoidhe legte ich eine ausführliche Kekspause ein. Vor dem Buckel ins nächste Tal Gleann Chorainn musste ich ja Kalorien tanken. Inzwischen spürte ich eine gewisse innere Trägheit, die ich vor allem auf die Unterernährung in den letzten Tagen - gemessen am Verbrauch - schob.




    Der Buckel war dann aber doch schnell bewältigt, wozu nicht zuletzt ein heraneilender Schauer beitrug. Ich wollte den Kamm unbedingt vor dem Regen erreichen, was mir auch knapp gelang. Bergab stören die Regenklamotten nicht so sehr wie bergauf. Die lange Trockenheit der Tage zuvor konnten die Schauer aber nicht ausgleichen, und so lief ich statt auf dem offiziellen Pfad am Hang die grasbewachsene Talsohle bergab. Dort hatten Argocats einen guten Track hinterlassen. Wunderbar federnd war dieser Untergrund, besser als jeder Sporthallenboden.

    Die Begeisterung der frei umherlaufenden Pferde angesichts der Schauer hielt sich in Grenzen.

    In Nullkommanix erreichte ich Inverchoran. Die Eigentümer dort haben Wanderer offenbar nicht besonders gern. Die detaillierten Anweisungen, wie man zu gehen hat, waren das eine; dass die Wanderer durch die Landrover-Furt geschickt wurden statt ihnen die Benutzung der Brücke zu ermöglichen, empfand ich als "ungewöhnlich".

    In Inverchoran begann auch wieder eine Fußreise über Asphalt, was angesichts der wenigen Autos kein Drama war. Zuhause am grünen Tisch hatte ich mir ausgedacht, in Milton/Dalbreac nach Norden in Richtung Loch Luichart abzubiegen und mit Hilfe der Bahnbrücke westlich vom Bahnhof Lochluichart den Fluss zu überqueren. Diese Route jedenfalls bot Scottish Hill Tracks an. Inzwischen waren mir aber Zweifel gekommen, ob das funktionieren würde: Selbst die Explorer-Karten 1:25.000 gaben keinen Hinweis darauf, dass Fußgänger an oder auf der Bahnbrücke willkommen sein würden. Eine gegebenenfalls notwendige Umgehung wäre zwar möglich gewesen, hätte aber einen langen Umweg bedeutet. Falls jemand mit dieser Route Erfahrung hat, wäre ich für Informationen dankbar.


    Alte Kirche südlich von Milton/Dalbreac



    So blieb nur Plan B: Auf der Straße entlang des Meig River bis Little Scatwell und dann quer über den Hügel nach Garve und von dort auf einer alten Ochsenstraße zum Aultguish Inn an der A835. Bei Bridgend begann ich mit der Suche nach einem geeigneten Stellplatz und wurde kaum einen Kilometer später fündig: Eine Wiese unter Birken, die dem plattgedrückten Gras nach zu urteilen schon früher für solche Zwecke genutzt worden war. Obwohl die Straße kaum 100 Meter entfernt war, störte sie nicht: Das letzte Auto fuhr gegen 21 Uhr - da war ich noch beim Essen - und das erste am Morgen hörte ich gegen 8 Uhr. Die Schotten sind eben höchstens Angel-Sachsen, aber nicht aus dem Frühaufsteherland Sachsen-Anhalt.

    Technische Daten: 26,2 km in 9:33h


    Fortsetzung folgt...
    Zuletzt geändert von November; 02.11.2011, 19:06.
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    #2
    AW: [UK] Schottland: Von Pitlochry nach Faraid Head

    Von Pitlochry nach Faraid Head
    Teil II


    Was bisher geschah.


    8. Juni

    Mit Entsetzen hatte ich am Abend zuvor festgestellt, dass nur noch eine halbe Rolle Kekse und ein Snickers übrig waren. Mit "warmem" Essen sah es deutlich besser aus, aber das futtert man nicht mal so nebenbei. Einkaufen war also unumgänglich. Die Aussicht auf den Ruhetag war dafür verantwortlich, dass ich schon um kurz vor 9 Uhr wieder auf der Piste war. Was hier durchaus wörtlich zu nehmen war, denn bis zur Staumauer von Loch Luichart folgte ich Nebenstraßen in verschiedenen Abstufungen von Nebenheit. Aber es war schon zu spüren, dass hier wieder massiv Zivilisation war: Bei Little Scatwell gab es sogar ein Getreidefeld und, was mir wichtiger war, zum ersten Mal seit drei Tagen wieder Handynetz. So konnte ich eine eigentlich schon für den vorherigen Tag avisierte Positionsmeldung in die Heimat absetzen.

    Für den Weg von der Staumauer nach Garve empfiehlt Scottish Hill Tracks, einem Pfad am Seeufer zu folgen und dann auf einen Track unter der Hochspannungsleitung einzuschwenken. Nur: Diesen Pfad gibt es nicht mehr. Wer sollte den auch benutzen? Auf einer touristischen Rennpiste liegt er definitiv nicht. Ich entschloss mich, frei Schnauze zu laufen, und folgte zuerst einer langgestreckten Lichtung, die sich in ihrem weiteren Verlauf als ehemalige Schneise für eine kleine Stromleitung entpuppte. Reste von Masten verrieten sie. Durch Löcher in Wildschutzzäunen kämpfte ich mich bergauf, wo ich auf eine weitere Stromschneise stieß.

    Hier war die Stromleitung vergleichsweise neu, von 2008 nämlich, wie die Herstellungsdaten der Masten verrieten. Unter dieser Leitung verlief ein rumpeliger, aber klar erkennbarer Track, der vermutlich noch aus der Bauzeit stammte. Da die grobe Richtung stimmte und mich zudem jene Hochspannungsleitung flankierte, unter der ich später den anderen Track finden sollte, folgte ich dem Rumpeltrack.

    Erst an einem sehr steilen Stück wurde es unübersichtlich: Hier waren die Elektriker offenbar auf Argocats umgestiegen, dementsprechend vage war die Spur. Aber ich hatte ja immer noch die Strommasten. Schließlich erreichte ich den Kamm. Von dort war schon der Track zu Füßen der Hochspannungsleitung zu erkennen. Wer die Strecke in umgekehrter Richtung begehen will: Am Hochspannungsmast mit der Nummer BFN 43 nach Südwesten abbiegen.

    In Garve setzte der leichte Nieselregen ein, den ich schon vorher im Norden beobachtet hatte. Und so nahm das Schicksal seinen Lauf: Im Garve Country Hotel, wo ich eigentlich "nur kurz" etwas trinken und Wasser tanken wollte, begann ich den Busfahrplan zu wälzen, statt mich mit dem Wanderweg nach Aultguish Inn auseinanderzusetzen. Der innere Schweinehund hatte gewonnen. Jetzt galt es nur noch eine Stunde bis zur Busabfahrt totzuschlagen. Ein kleiner Spaziergang durch Garve sollte es tun und bestätigte nebenbei die Richtigkeit meiner Entscheidung: Der Nieselregen ging bald in heftige Schauer über.

    Eine Buchen-Birken-Kiefern-Allee in Garve


    Kurz vorher kam aber extra für mich für noch ein schnuckeliger historischer Sonderzug vorbei:


    In der Bushaltestellen-Hütte holte ich dann noch ein paar Tagebucheinträge nach, und dann trudelte der Bus auch schon ein. Der Regen hörte erst kurz vor Ullapool auf.

    Technische Daten: 17,1 km in 6:40h


    In Ullapool quartierte ich mich in bewährter Weise im SYHA-Hostel ein. Die Waschmaschine freute sich bestimmt darüber, dass sie mal wieder so richtig etwas zu tun bekam. Dass ich Socken und Unterhosen für zehn Tage Waschabstinenz kalkuliert hatte, hatte zwar mit etwas Mehrgewicht bezahlt, bekam es aber doppelt zurück: Erstens musste ich nicht an einem midgeverseuchten Fluss sitzen, zweitens setzte ich mich nicht der Risiko aus, wegen der unkontrollierten Weiterverbreitung von biologischen Kampfstoffen verfolgt zu werden. Leider war die Waschmaschine "Made in Britain", ihre Reinigungswirkung war also mehr kosmetischer Natur. Moorflecken kriegt man damit nicht raus. Aber meine Waschmaschine in Berlin sollte ja auch nicht leer ausgehen.

    Im Hafen von Ullapool hatte man inzwischen die Realität anerkannt und neben der schottischen und der EU-Flagge auch die spanische Flagge aufgezogen. Den Union Jack habe ich nicht vergessen zu erwähnen - er hing dort wirklich nicht. Wie bereits 2009 beobachtet, sind spanische Fischer neben der Fährgesellschaft Calmac die eifrigsten Nutzer des Hafens. Aber auch Calmac hat jetzt zugelegt: Es gibt jetzt regelmäßig Verbindungen am Sonntag. Das hatten die zum Teil sehr strenggläubigen Protestanten an der Nordwestküste und auf den Inseln früher zu verhindern gewusst. Vom "Sabbat" sprechen sie aber immer noch, wenn sie den Sonntag meinen.

    Ich verbrachte den Ruhetag mit etwas Postkartenschreiben und sehr viel Essen. Der Tesco bot dafür hervorragende Rahmenbedingungen. Etwas verwirrt war ich, als ich auf einem 400-Gramm-Nutellaglas eine Berechnung entdeckte, wonach ein Glas für 26 (!) Frühstücke reiche. Der Fehler in der Berechnung war schnell entdeckt: 15 Gramm wurden für eine Portion veranschlagt. Und pro Frühstück auch nur eine Portion. Bei mir waren jedenfalls nach 40 Stunden nur noch etwa 50 Gramm übrig. Und da ich kein Essen wegwerfe, war das Glas nach 40 Stunden und fünf Minuten ganz leer. Es mag sein, dass ich die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen habe, Nutella aber schon.

    Für die abgelegten Karten und anderen Kram, den ich jetzt unterwegs nicht mehr benötigen würde, war inzwischen ein Päckchen notwendig - nach Durness, dort würde ich auf jeden Fall vorbeikommen. Die Dame im Postamt beobachtete mein Umpacken mit großer Gelassenheit. Ob sie sich daran erinnerte, dass ich es 2009 schon mal so etwas gemacht hatte? Eher nicht. Aber an diesem Dreh- und Angelpunkt des Cape-Wrath-Trails kommen sicherlich jedes Jahr einige Dutzend Wanderer vorbei, die sich mit dem Postlagerungsservice das Leben vereinfachen.

    In Ullapool waren auch wieder Deutsche unterwegs. Man erkannte sie nicht nur an den Wohnmobilen, deren abgebrochene rechte Außenspiegel mit Klebeband fixiert waren, sondern auch am Auftreten. Mit innerem Schmunzeln beobachtete ich Jacqueline und Jack Wolfskin beim Extreme-Outdoor-Shopping an der Uferstraße: Jedesmal, wenn einige Nieseltropfen fielen, flüchteten sie in ein Souvenirgeschäft. "DRAUSSEN ZU HAUSE" - aber nur, wenn es nicht regnet?

    Nicht flüchtend, sondern wohl geplant besuchte ich hingegen das Museum von Ullapool, das in einer ehemaligen Kirche untergebracht war.



    Beim Fotografieren der Kirche war mir aufgefallen, dass ich den gleichen Glocken"turm" schon mal gesehen hatte. Nach fleißigem Zurückblättern auf der Foto-Speicherkarte hatte sich dieser Verdacht nicht nur bestätigt, sondern es war ein zusätzlicher Verdacht hinzugetreten: Der gesamte Aufbau der beiden Kirchen ähnelte sich extrem. Man konnte sogar von einem Typbau sprechen.


    Natürlich, die Kirche südlich von Milton/Dalbreac!

    Das wurde mir dann von einer Museumsmitarbeiterin bestätigt: Der Baumeister Thomas Telford war 1823 vom Parlament beauftragt worden, für schottische Gemeinden ohne Kirchgebäude eine zeitgemäße Standard-Kirche samit Pfarrhaus zu entwerfen. 32 der sogenannten "Parliamentary" oder "Government Churches" waren gebaut worden, zehn existieren noch. Zwei davon hatte ich nun schon gesehen, Nummer drei und vier sollten später folgen.

    Was mein Ziel betraf, war ich immer noch unentschlossen: Cape Wrath oder Durness schienen gleichermassen attraktiv und unattraktiv. Das Cape als Ziel würde stark nach einem Abklatsch des CWT aussehen. Durness als Ziel wiederum zog eine Fußreise von gut 16 km auf der Landstraße von Ullapool nach sich. Ich entschloss mich, die Entscheidung aufzuschieben und das Wetter abzuwarten.

    Um alle Optionen offen zu haben, deckte ich mich mit Futter für sechs Tage ein. Nach den Erfahrungen der letzten Tage war das ein übler Berg.

    Und noch eine Entscheidung musste ich fällen: Sollte ich in Garve starten, und die ausgelassene Halbetappe zum Aultguish Inn nachholen, oder direkt am Aultguish Inn einsetzen? Die Kontinuität der Story sprach für ein Wiedereinsetzen in Garve, meine Planung für die nachfolgenden Etappenziele und die verbleibende Restzeit meines Urlaubs dagegen. Die fehlende Etappe lag außerdem zwischen zwei Haltestellen der Buslinie Inverness-Ullapool, ich würde sie also bei Gelegenheit ohne weiteres nachholen können. Nach einer letzten Befragung des Wetterorakels ließ ich mich vom Bus am Aultguish Inn absetzen.


    [Zeitsprung ein]

    17. Juni

    Auf dem Rückweg aus dem Norden nach Glasgow holte ich die Etappe in der Tat nach. Allerdings lief ich den Weg in Nord-Süd-Richtung, um gegebenenfalls auch mit dem Zug von Garve aus weiterfahren zu können. Wieder ließ ich mich am Aultguish Inn absetzen. Der Einstieg in den Weg nach Garve ist mit einem Holzschild gekennzeichnet, aber das war es dann auch erst einmal. Der Pfad verläuft sich im Heidekraut sehr schnell. Nicht ohne Grund empfiehlt Scottish Hill Tracks die Gegenrichtung, denn dann muss man nicht mühselig den Abzweig auf den weitgehend zugewucherten Ochsenpfad suchen, sondern wird vom Waldweg direkt darauf geleitet. Aber ein freundlicher Wegmarkierer hatte den Abzweig inzwischen mit einem obeliskartig zugespitzten Pfahl gekennzeichnet.



    Wenn man vorher wüsste, dass man nach einem extrem zugewachsenen Track ohne Schotterbett Ausschau halten muss, der fast rechtwinkling nach Süden abgeht, würde man ihn auch ohne Hilfsmittel finden. Oder zumindest die Mountainbike-Spuren, die ihn begleiten.

    Das Wetter war sehr freundlich, immer wieder kam das Ben-Wyvis-Massiv aus den Wolken heraus. Wirklich ereignisreich ist der Weg ansonsten nicht. Irgendwann stößt man auf den Waldrand, wo dann recht bald auch ein Schotterweg beginnt. Nett ist höchstens im südlichen Abschnitt die Aussicht auf Strath Garve, die aber hauptsächlich dem Wirken des Vollernters zu verdanken ist.



    Empfehlenswert ist es, nicht der ausgeschilderten Drove road nach nach Garve zu folgen, sondern die A835 ein Stückchen östlich am Ende der Schotterstraße zu überqueren (Silverbridge Car Park).

    Im Wald auf der anderen Seite wartet nämlich eine historische Brücke, die zusammen mit wilden Blackwater River ein schönes Fotomotiv abgibt. Übrigens einmal keine Wade- oder Telford-Brücke, sondern eine Caulfield-Brücke.



    Durch das birkenbewaldete Hinterland von Garve kommt man dann sehr entspannt zum Bahnhof Garve bzw. zur Bushaltestelle.

    Technische Daten: 15,5 km in 4:30h

    [/Zeitsprung aus]


    10. Juni

    Nach dem Aussteigen am Aultguish Inn wanderte ich an der A835 die drei Kilometer bis zum Abzweig nach Strath Rannoch (nicht zu verwechseln mit Rannoch Moor!). Erstaunt war ich, wie wenig Verkehr doch auf dieser Straße um diese Zeit unterwegs war. Wahrscheinlich lag es daran, dass die südwärts flutende Kolonne von der Lewis-Fähre schon durch war und der Verkehr nach Norden zur Fähre noch nicht eingesetzt hatte.

    Strath Rannoch war eine positive Überraschung. Der Karte nach hatte ich ein ödes Tal mit 08/15-Weideflächen erwartet; aber sowohl der Weg als auch die Landschaft erwiesen sich als abwechslungsreich: Die immer häufiger durchbrechende Sonne machte aus dem Stausee, an dessen Ufer einige Scheunen mit rostig-roten Dächern standen, ein echtes Farbenfest.

    Durch den durchgehenden Track in Richtung Rosehall ohne Mördersteigungen ist diese Strecke sicherlich auch ein heißer Tipp für Mountainbiker. Mir kam sogar ein mittelalterliches Pärchen auf klapprigen Tourenrädern entgegen, das auf diese Weise die Anreise zu irgendwelchen Munros/Corbetts/Marilyns beschleunigt hatte.



    Kurz hinter der "Passhöhe" beginnt Alladale Estate. Dieser hat bei Umweltschützern eine gewisse Anerkennung dadurch erlangt, dass er tatsächlich Aufforstung betreibt und nicht nur Fichtenplantagen anlegt. Durch ein solches Gebiet kam ich auch hindurch - im Moment sieht es freilich noch etwas chaotisch ist. Da ich kein Kreuzberger Tree-hugger bin, ist mir allerdings durchaus bewusst, dass alle Bäume mal klein angefangen haben - und nicht von Anfang an 200 Jahre alte Linden am Landwehrkanal waren.

    Der breiten schottischen Öffentlichkeit ist Alladale Estate vor allem bekannt durch sein Bestreben, das Wildschwein wieder heimisch zu machen. Dank erfolgreicher Ausrottung vor über 100 Jahren ranken sich allerdings viele Mythen um die Gefährlichkeit des Wildschweins, durchaus vergleichbar mit der Hysterie, die die Wölfe in Brandenburg bei manchen Leuten auslösen. Bis auf weiteres sind die Wildschweine von Alladale Estate daher hinter doppeltem Elektrozaun untergebracht. Wer will, darf sich an das Velociraptor-Gehege von "Jurassic Park" erinnert fühlen. Dabei sind die dort untergebrachten Tiere zierlich im Vergleich zu denen in Deutschland. Als ich einige Tage später im Hostel erzählte, dass die Berliner Wildschweine gerne Vorgärten in sozialen Brennpunkten wie Zehlendorf und Dahlem heimsuchen, erntete ich ungläubiges Staunen.

    Schließlich erreichte ich das Kerngebiet von Alladale Estate. Hier ist unverkennbar, dass der Akzent auf nachhaltigem Wirtschaften für die Besitzer kein kurzzeitige Mode ist. Der uralte Kiefernbestand am Wegesrand und am Ufer des Alladale River braucht sich vor Glen Affric nicht zu verstecken. "Knorrig" ist die passendste Beschreibung.



    Wenig später entdeckte ich am Ufer auch meinen Stellplatz für die Nacht. Auf dem federnden Boden unter einer kleinen Fichtengruppe schlief es sich nicht nur hervorragend, sondern auch lang, weil die Sonne Hogan erst ganz spät erreichte. Trotz der Flussnähe hielt sich die Midgebelästigung in Grenzen.

    Technische Daten: 31,4 km in 8:56h


    11. Juni

    Meine erste Station war The Craigs. Wer nach dem Erscheinungsbild auf der Landkarte gehobene öffentliche Infrastruktur in Form eines Ladens oder ähnliches erwartet, wird enttäuscht sein. Außer dem Briefkasten und der Telefonzelle gibt es nichts. Die Telefonzelle mag mancher beschmunzeln, sie kann aber lebensrettend sein. Handy-Empfang gibt es hier nämlich nicht. Für die paar Häuser, die verstreut im Wald stehen, lohnt sich das nicht.

    Dass die Gegend rund um the Craigs aber einmal dicht besiedelt war, sieht man knapp zwei Kilometer weiter in Richtung Norden: Die alte Kirche von Croick ist nicht nur eine weitere Parliamentary Church mit sicherlich mehr als hundert Sitzplätzen, sondern trägt auch Spuren der Clearances: 1845 hatten sich die vertriebenen Bauern in die Kirche und auf den Kirchhof geflüchtet. Einige von ihnen haben dort dann ihre Namen in die Kirchenfenster geritzt. Diese Zeitzeugnisse nach über 150 Jahren noch so ungefiltert lesen zu können ist schon ungewöhnlich bewegend.


    "Glencalvie people were here in the churchyard may 24 1845"

    Ansonsten war Strath Cuileannach recht ereignislos und kompensierte mühelos die positive Überraschung vom Vortag. Hinzu kam, dass es in regelmäßigen Intervallen penetrant nieselte.



    Hinter der nicht weiter auffälligen Passhöhe schwenkte ich in Glen Einig nach Osten ein und fand mich auf vertrautem Terrain wieder. Hier war ich 2009 bei relativer Gluthitze - 20 Grad Lufttemperatur und volle Sonnendröhnung - durchgelaufen. Während ich das Oykel Bridge Hotel seinerzeit wegen seiner Kühle willkommen hieß, war es diesmal der Wind- und Regenschutz. Leider kam ich diesmal zu spät, um noch ein warmes Mittagessen abzugreifen. Aber dafür brachte mir eine osteuropäische Hilfskraft zwei liebevolle handgefertigte Käsesandwiches.

    Draußen heulte inzwischen der Wind vor sich hin. Der innere Schweinehund kletterte mir schon den Arm hoch und wollte mir wohl ins Ohr flüstern, ich sollte mal nach dem Preis für ein Einzelzimmer fragen. Noch bevor er loslegen konnte, zeigte ich ihm das GPS: Erst 19 Kilometer. Als dann sogar noch für einige Sekunden Sonnenstrahlen in die Lounge schienen, gab es er auf und verkroch sich wieder. Ich hätte aber besser aufpassen sollen, wo er sich versteckte. Doch dazu später.

    Auch nach dem Mittagessen blieb ich auf vertrauten Pfaden des Cape-Wrath-Trails: Am Oykel River nordwärts...



    ...an den Ruinen von Salachy quer durch lichten Wald hoch bis zur Forststraße, unterwegs noch ein paar tote Äste abbrechen, um den Weg freizuhalten. Als ich die Forststraße erreichte, setzte unzweifelhaft Dauerregen ein. Verdammt, warum hatte ich meinen Klapphocker zu Hause gelassen und stattdessen Regenklamotten mitgenommen! Es blieb nichts anderes übrig als Vollschutz anzulegen.

    Sonnentau mag übrigens feuchte Böden.


    Zum Glück war das Timing des Aufstiegs bei Salachy so perfekt gewesen, dass ich bis zum angepeilten Etappenziel Loch Ailsh nur noch Gefälle vor mir hatte und insofern nicht im eigenen Sud laufen musste. Der Erlebnisverlust hielt sich ebenfalls in Grenzen. Eine Schotterpiste durch Fichtenplantagen hatte ich auch schon mal im Harz gesehen.

    Als ich Loch Ailsh erreichte, beobachtete ich mich fasziniert die Schaumkronen auf dem Wasser. Weniger angetan war ich davon, dass der gleiche Wind auch über das Gelände fegte, das ich mir aus der Erinnerung heraus als Stellplatz auserkoren hatte. Als "nicht-maritimer Typ" hatte ich wohl verdrängt, dass der Wind über offenen Wasserflächen so richtig Schwung aufnehmen kann.

    Schließlich fand ich aber doch noch eine einigermaßen windgeschützte Stelle hinter ein paar Bäumen. "Einigermaßen" muss ich deshalb betonen, weil Hogan trotz mehrerer Ab- und Umspannversuche fast die ganze Nacht fröhlich im Wind knatterte. Das einzige positive daran war, dass ich am nächsten Morgen definitiv kein Problem mit Kondenswasser hatte. In dieser Nacht war ich übrigens ebenso wie beim Schotterbett von Loch Monar froh, vor der Tour auf robustere Heringe umgerüstet zu haben.

    Technische Daten: 35,7 km in 10:03h


    12. Juni

    Der Dauerregen hatte sich gegen Morgen zu Schauern mit kurzen Sonnenfenstern verdünnt, so dass ich nicht nur ohne großen Widerwillen den Weg nach draußen fand, sondern auch eine Motivation hatte, mich beim Abbauen zu beeilen. Noch etwas schlaftrunken schlurfte ich an der ebenso im Sommerschlaf befindlichen Benmore Lodge vorbei.


    Loch Ailsh mit der Benmore Lodge (rechts)

    Wirklich wach wurde ich erst, als ich meinen Stellplatz von 2009 wiedersah. Nun ja, "exponiert" wäre noch eine eher zurückhaltende Beschreibung für die kleine Wiese über dem Zusammenfluss von Oykel River und Allt Sail an Ruathair. Wo es 2009 friedlich geplätschert hatte, toste das Wasser jetzt bergab. Hier bog ich nach Nordwesten ab. Mein erstes Ziel war der Pass zwischen Breabag Tarsainn und Conival. Erwartungsgemäß endete der ausgelatschte Pfad auf halber Strecke, navigatorisch gab es aber keine Herausforderungen: Einfach das Glen hochlaufen.



    Eine nette Orientierungsmarke bildete eine Birke auf einem freistehenden Stein:


    Diese Libelle wartete auf besseres Flugwetter.


    Eine Herausforderung war die Querung des Oykel River: Nachdem ich an den Flussschleifen am Talboden keine freundliche Watstelle gefunden hatte, die weniger als 30 Zentimeter Wassertiefe aufwies, machte ich mich in Richtung Hang auf, wo das Wasser zwar noch tiefer war und noch schneller floss, sich aber auch durch schmale Passagen quetschen musste. Oberhalb eines kleinen Wasserfalls wurde ich fündig und überwand den Fluss mit einem beherzten Sprung.

    Einen Wassereinbruch verbuchte ich aber trotzdem. Wenig überraschend hatte die GTX-Membran meiner Hanwag Alaska GTX nach rund 700 Kilometern schlappgemacht, davon die letzten sieben durch nasses Gras, Pfützen oder beides. Ich schleppte mich noch die letzten zwei Kilometer bis zum Pass hoch, um dort Falke TK1 gegen Sealskinz zu wechseln. Zu spät: An der linken großen Zehe begrüßte mich eine gummibärchengroße Blase. Es folgte die übliche Not-OP mit Wasserablassen und anschließendem Verkleben.

    Damit nicht genug: Nebel zog auf - oder Wolken zogen runter? Jedenfalls folgte ich einem undokumentierten Pfad, der möglicherweise einen Zugang zum Conival darstellte, definitiv aber nicht nach Inchnadamph führte, wie ich nach einiger Zeit feststellte. Da aber vorher auch kein anderer Pfad zu sehen gewesen war, erübrigte sich das Zurücklaufen, und ich stolperte querfeldein in die benötigte Richtung. Um alles noch mehr zu verkomplizieren, gesellte sich zum Nebel ein feiner Sprühregen, der es bis unter den Schirm meiner Kappe schaffte. Als Brillenträger war ich damit quasi blind. Damit gelangte ich an den Punkt, wo ich sagen kann, wie GPS mein Leben verändert hat: Ich setzte Inchnadamph - das ich irgendwann mal als Bushaltestellen-Waypoint abgespeichert hatte - als Ziel, packte die Brille weg und lief so kurzsichtig, wie ich von Natur aus bin, den Anweisungen meines Zauberkastens hinterher.

    Irgendwann ließen Nebel und Sprühregen nach und ich fand mich kurz vor den Traligill Caves wieder. Dort tauchte wieder ein ordentlicher Pfad auf – aber dafür verschwand der Fluss! Die Donauversickerung ist geradezu lächerlich im Vergleich zu dem Schauspiel, das einem hier geboten wird. Einige Meter später kommt man nämlich an einer Höhle vorbei, in der man das Wasser nicht nur rauschen hört, sondern nach viel Regen auch sieht.



    Je näher ich Inchnadamph kam, desto vernehmlicher meldete das Faultier in mir den Wunsch an, in einem Bett zu übernachten und die triefende Zehe unter einem festen Dach zu behandeln. Allerdings ist die Nacht von Samstag auf Sonntag denkbar ungeeignet, um sich last minute eine Unterkunft zu besorgen: Die Inchnadamph Lodge war von einer Studentengruppe aus Leeds komplett belegt.

    Wenigstens konnte ich im benachbarten Hotel an der Bar noch ein Abendessen abgreifen. Neben mir saß eine Vierergruppe aus Edinburgh, die ein ähnlich abenteuerliches Vorhaben wie mich in den Norden getrieben hatte: Sie waren auf dem Weg von Lochinver quer durch Sutherland nach Tongue an der Nordküste, dem sogenannten "Sutherland Trail". Bitte keine falschen Erwartungen: Der Sutherland Trail ist kein markierter Wanderweg, sondern eine imaginäre Route wie der Cape Wrath Trail. Sutherland wird bisweilen auch als schottisches Alaska tituliert. Was die Präsenz von blutsaugenden Kerbtieren betrifft, mag der Vergleich angemessen sein. Der einzige fleischfressende Großsäuger ist aber hier der Mensch.

    Irgendwann war der Nachtisch alle, und damit auch jegliche Verzögerungstaktik am Ende. Draußen hatte der Regen dauerhaft aufgehört, und ich verzog mich zu der Wiese oberhalb des "Ortes", die ich bereits auf dem Hinweg ausgemacht hatte. Ganz einfach war es allerdings nicht, mir einen Stellplatz zu sichern: Inchnadamph heißt mit gutem Grund "Wiese der Hirsche":



    Während die Hirsche schnell Reißaus nahmen, hielten die Midges in Erwartung von unbehaartem Frischfleisch die Stellung. Die meisten von ihnen gingen leer aus, aber nicht alle. Am Abend musste ich noch einmal kurz meinen Unterarm aus dem Schutz des Moskitonetzes ausfahren, um den Reißverschluss außen zu justieren. Es dauerte vielleicht 15 Sekunden - aber das reichte den Midges für ein Blutbad.

    Technische Daten: 18,6 km in 7:03h


    13. Juni

    Die weiterhin triefende Zehe und die trotz massivem Einsatz von Zeitungspapier immer noch feuchten Stiefel ließen es wenig ratsam erscheinen, die nächste Etappe nach Kylesku und Achfary in ganzer Länge in Angriff zu nehmen. Wasserdichte Socken hin oder her: Für die Abfuhr von größeren Mengen Blasen-Siff sind sie nicht gedacht.

    Auch das Wetter war nicht sonderlich fotogen, im Süden und über den Gipfeln östlich von mir hingen hingen nieselige Wolken. Ich erinnerte mich daran, 2009 ein B & B in Unapool bei Kylesku gesehen zu haben. Irgendwann hatte ich aus einem der Loseblatt-Ordner in einem Hostel sogar mal die Telefonnummer abgeschrieben. Nach Einnahme einer exponierten Stellung auf einem Felsen gelang es meinem mobilen Fernsprech-Endgerät Kontakt aufzunehmen. Ja, das B & B "Maryck" hatte ein Zimmer frei, und es sollte auch nur 25 Pfund kosten. Großartig!

    Sehr gemütlich machte ich mich auf meine Rumpf-Etappe. Ich besuchte die Gruft der McLeods – der Clan des Es-kann-nur-einen-geben-Highlanders - auf dem Friedhof von Inchnadamph und die Ruinen von Calda House und Ardvreck Castle. War ich bisher der Meinung, dass sich die Ausstatter von "Highlander" ihre Inspiration für die Burgruine im entscheidenden Schwertkampf von Urquhart Castle geholt hatten, musste ich meine Ansicht jetzt revidieren: Unzweifelhaft hat Ardvreck Castle Modell gestanden.


    Die McLeod-Gruft


    Ardvreck Castle

    Die Entscheidung, statt des Pfads an der Bergfront von Glas Bheinn die Straße zu nehmen, fiel mir erstaunlich leicht: Zum einen war an diesem Sonntagvormittag nicht sonderlich viel Autoverkehr unterwegs – vielleicht alle zehn Minuten? - zum anderen herrschte über dem Pfad ein deutlich feuchteres Mikroklima. Dort drückte der Westwind die Wolken den Berg hoch. Ein Kilometer Abstand kann in den Highlands den Unterschied zwischen Regentag und trockenem Wetter ausmachen. Nicht leugnen will ich allerdings, dass 15 km Asphalt irgendwann langweilig werden; vor allem dann, wenn man die letzten sechs Kilometer schon kennt. Dabei gäbe es nach meinem Eindruck ungefähr 500 Meter östlich auch noch einen alten Viehweg, erkennbar an der Einkerbung im Hang.



    Die Straße führt am Fuß des Quinag vorbei.


    Gegen 15 Uhr trudelte ich bei meinem B & B ein. Teil der Anlage ist die etwas zu großspurig als "Museum" vermarktete Ausstellung "Memories of Childhood". Es ist eine Sammlung – und nicht mehr - von Kinderspielzeug aus dem 20. Jahrhundert. Ziemlich retro, ja geradezu oldschool. Geradezu physisches Leiden befiel mich aber, als ich sah, dass der Hornby-Modellbahnzug zur Hälfte nicht ordentlich aufgegleist war. Und ich konnte es nicht korrigieren, weil er in einer verschlossenen Vitrine stand!

    Besser gefiel mir der Tearoom, wo ich ohne lange Verhandlungen Kaffee erhielt; noch besser gefiel mir der selbstgebackene Kuchen. Frau Mary kannte aber offenbar schon ausgehungerte Wanderer und verzog keine Miene, als ich das dritte Stück bestellte. Schließlich musste ich meinen Körper schon warmlaufen für das Abendessen im Kylesku Hotel. Wie das Badezimmer nach dem Auspacken der Schrankwand aussah, brauche ich wohl nicht näher zu erläutern. Es gab übrigens auch einen ganz hervorragenden Heizlüfter, der binnen zwei Stunden meine durchnässten Botten trockenfönte – ohne die üblichen weißen Ränder zu verursachen!

    Technische Daten: 15,1 km in 4:12


    13. Juni


    "...und in Richtung Basel drei Kchilometr Stau. Wir machen chetzt weitrch mit Musikch..." Mächtig irritiert blickte ich auf den Radiowecker, dann aus dem Fenster: Draußen waren immer noch die Highlands. Aber aus dem Lautsprecher kam Schwyzer Rundfunkch, kein Zweifel. Jedenfalls einige Sekunden lang, dann war französisches Stimmengewirr zu hören. Nur die BBC, auf die ich das Gerät am Abend eingestellt hatte, war nicht vernehmbar. Radioamateure warten monatelang auf jene atmosphärischen Störungen, die UKW-Fernempfang ermöglichen, ich hingegen war sauer, die Wettervorhersage nicht hören zu können.

    Ausgeschlafen und trotzdem noch nicht ganz wach stolperte ich ins Bad. Aaah ja. Hogan war zwar wieder trocken, hing aber einem morgendlichen Duschen noch im Wege. Wie auch andere Teile meiner Ausrüstung. Die Blase am großen Zeh hatte ich über Nacht einigermaßen unter Kontrolle gebracht. Es beschleunigt übrigens den Heilungsprozess, wenn man Blasen mit Hansamed-Desinfektionsspray spült, habe ich auf dieser Tour gelernt.

    Das Frühstück war Höhepunkt des Aufenthalts, und zwar nicht nur deshalb, weil es viiieeel Toastbrot zum Einbuttern und Vermarmeladieren gab. Die beiden anderen Gäste waren zwei Brüder aus England, der eine seit Jahrzehnten im Norden ansässig, der anderen zum ersten Mal in den Highlands. Ich erfuhr, dass seit dem 14. Jahrhundert alle Schwäne des Vereinigten Königreichs Eigentum der Königin sind. Grund war, dass die Schwäne seinerzeit massenhaft gegessen wurden, und der König nicht wollte, dass die Insel noch mehr wegen ihrer Küche ins Gerede kommt... das ist natürlich Quatsch. Aber die Tiere standen dank Wilderei praktisch vor dem Aussterben, obwohl sie doch so KÖNIGLICH aussehen. Deswegen gibt es auch bis heute das alljährliche Schwänezählen („Swan Upping“) an der Themse.

    Das Gespräch drehte aber bald zu der Frage ab, ob hier nicht Fall von Diskriminierung vorliegen könnte. Schließlich werden die heute lebenden Schwäne nur auf Grund ihrer Abstammung gegenüber anderem Federvieh bevorzugt. Ein klarer Verstoß gegen die EU-Antidiskriminierungsrichtlinie. Wie würde man es wohl heute formulieren müssen? "Für Dekorationszwecke werden weiße Wasservögel/-innen (m/w) mit langen Hälsen gesucht. Schwimmkenntnisse sind Voraussetzung. Bei gleicher Eignung werden Gänse und Enten bevorzugt eingestellt."

    Auf der Straßenkuppe zwischen Unapool und Kylesku kam mir ein schwer bepacktes Wandererpärchen entgegen. Ich wollte schon rumjuxen, dass es nach Cape Wrath in der anderen Richtung geht. Aber die beiden kamen mir zuvor. "I know you. Aren't you the guy who gave us last year in the Kylesku Hotel the telephone number to the Cape Wrath Range?" Indeed... Jetzt kamen mir Häuptling Silberscheitel und seine kleine Squaw wieder bekannt vor. Diesmal waren sie auf dem Weg nach Lochinver. "You must really love it up here", sagte er. Ohne Zweifel.

    Um ein bisschen Variation gegenüber 2009 einzubauen, wählte ich diesmal für den Weg nach Achfary die Variante am Ufer von Loch Glendhu und dann den Maldie Burn hoch. Ursprünglich hatte ich erwogen, ganz am Ufer zu bleiben, Gleann Dubh hochzulaufen, mich dann querfeldein genau ostwärts nach Merkland an der A838 durchzuschlagen und dort dann in den Weg nach Srath Dionard einzusteigen. Aber das Zeitvorrat schwand mit Riesenschritten, und ich wollte lieber noch einen Tag an der Nordküste verbringen. Dann eben nächstes Mal.



    Blick auf die Häuser von Unapool - ständige Bewohner: 11.



    Kunstwerk oder eiszeitliches Überbleibsel?


    Als ich auf dem Kamm ankam, begann es aufzuklaren. In Achfary musste ich mir schon alle Oberteile bis auf das T-Shirt vom Körper reißen. Der Arkle funkelte mit voller Wucht über blauem Wasser, gelbem Ginster und violettem Rhododendron. Gerne hätte ich mich irgendwo in die Sonne gelegt, aber um das ohne Blutverlust zu überstehen, war zu wenig Wind.


    Mit einem Felsportal startete der Aufstieg zum Bealach Horn, immer am Rücken des Arkle entlang. Zuerst in einem Kiefernwäldchen, der auch einige nette Stellplätze in sich barg, dann in einem wilden Zickzack mit praller Sonne im Rücken. Nicht nur ich litt, sondern auch eine Schülergruppe, die mir entgegenkam. Obwohl der Ausrüstung nach nur auf einer Tagestour, waren einige von ihnen schwer fußkrank. Die vornehme Blässe ihrer Haut verriet, dass es ihrem Naturell eher entsprochen hätte, den Ausflug am Microsoft Walking Simulator 2010 zu unternehmen.

    Als die Steigung nachließ, erinnerte ich mich daran, dass ich noch tanken musste. Der erste Bach, der vom Berg herunterkam und den Weg kreuzte, machte schon einen recht guten Eindruck: Er floß durch ein fast marmorartig weißes Bett. Meine Entscheidung erwies sich als überaus weise: Im nächsten Bach floß eine braune Torfbrühe, und danach kam gar nichts mehr. Ein wenig enttäuscht war ich vom Weg selbst. Die Karte hatte einen Pfad versprochen, tatsächlich war es jedoch durchgehend ein Track, der offenbar jagdlichen Zwecken diente und deshalb gerade mit großem Aufwand ausgebessert wurde.



    Unterlassen hatte man jedoch den Lückenschluss südlich von Loch Dionard: Der Track endete von einem Meter auf den anderen im Nichts. Nicht einmal eine Wendeplatte gab es. Bis zum Beginn der Schotterstraße durch Srath Dionard fehlen rund drei Kilometer Weg. Es gibt dort nicht einmal einen Pfad.

    Weil der Track das Fortkommen stark erleichterte, war ich mal wieder schneller als erwartet. Mein ursprünglicher Plan hatte vorgesehen, irgendwo in der Nähe der Passhöhe des Bealch Horn zu übernachten. Meine frühe Ankunft am Pass sowie von Westen heraneilende Cirrus-Wolken erleichterten die Entscheidung, gleich noch den Abstieg dranzuhängen – ein steiler Abstieg auf regennassem Schotter ist wenig lustig, und außerdem kann man bei Regen keine schönen Fotos machen.

    Blick nach Osten vom Bealach Horn


    Ruckzuck hatte ich das hinterste Ende von Srath Dionard erreicht. Den Kampf mit dem weglosen Gelände bis zum Nordende von Loch Dionard wollte ich dann aber nicht mehr angehen. Auf einer Halbinsel fand ich einen schönen Stellplatz.




    Technische Daten: 31,2 km in 10:32h


    15. Juni

    Meine Vorratsinventur am Morgen erbrachte ein bestürzendes Ergebnis: Es war nur noch eine Rolle Kekse übrig, also 24 Stunden. Der Snickers-Bestand war bereits auf Null. Mit warmem Essen sah es etwas besser aus, da hatte ich noch etwa 48 Stunden. Bis zum Leuchtturm von Cape Wrath waren es aber noch mindestens eineinhalb Tagesetappen. Falls ich dort nach Abfahrt des letzten Minibusses eintreffen würde, müsste ich sogar eventuell eine weitere Nacht dranhängen. Einziges Trostpflaster: Mit einer derart kleingefressenen Schrankwand würden die ungefähr 15-20 Kilometer wegloses Gelände leichter zu bewältigen sein.

    Aber erst einmal musste ich die drei Kilometer wegloses Gelände bis zum Nordufer von Loch Dionard bewältigen. Schon nach wenigen hundert Metern war ich mir sicher, dass der Name "Dionard" nur eine Verballhornung von "Dyin' hard" sein konnte.



    Das Gelände war dank zahlreicher Moränen extrem unübersichtlich, und selbst die Hirsche hatten es nicht geschafft, einigermaßen konsequente Spuren anzulegen. Zum Glück war der Wasserstand in Loch Dionard sehr niedrig, so dass ich das letzte Stück weitgehend auf den Schotterbänken am Ufer zurücklegen konnte. Technischer Hinweis: Auf der Ostseite von Loch Dionard bleiben. Am Westufer scheint es auch keinen Pfad zu geben, aber zusätzlich noch jede Menge Steilhang. Die Querung von River Dionard ist simpel, da der Fluss am Auslauf eher breit als tief ist.



    Es hätten zehn ereignislose Kilometer Schottertrack bis zur Straße folgen können. Doch es kam anders. Vor einer Fischerhütte traf ich eine Engländerin, die auf ihren Mann wartete. Der war alleine in den Nebel aufgestiegen, um endlich Foinaven "abzuhaken". Sie war die ersten hundert Meter mitgelaufen, hatte sich dann aber entschieden, dass ein heidekrautverstrüppter Hang nicht ihre Ding ist. "It looks so smooth from the ground – but in reality it's loose rock, heather and peat. I gave up." Zur Belohnung hatte sie dann die unverschlossene Fischerhütte gefunden, in dem zu allem Überfluss auch noch ein voll funktionsfähiger Teekocher stand. Für sie war der Tag gerettet.

    Und für mich? Sie fragte mich, wohin ich unterwegs wäre: Noch bevor mein Großhirn eine komplizierte und ausweichende Sprachregelung formulieren konnte, platzte das Kleinhirn mit "Faraid Head" heraus. Da ich bei den letzten Touren mit impulsiven Entscheidungen ganz gut gefahren war, bat ich mein Großhirn, das erst einmal so hinzunehmen.


    Kunst am Wegesrand in Srath Dionard

    Kurz vor dem letzten Anstieg nach Gualin House kam mir in Mördertempo ein rotgekleideter Kugelblitz entgegen. Sein Englisch war ebenso schnell wie unverständlich – ein Spanier? Seine Frau erwartete mich mit verschränkten Armen bei Gualin House. Mit meiner Vermutung hatte ich völlig danebengelegen. Die beiden kamen aus dem Umland von Edinburgh, sie allerdings sprach auch Englisch und nicht nur verschärftes Scots. Aber sie kannte offenbar die Verständigungsprobleme ihres Mannes. Als er zurückkehrte, übersetzte sie seine explosionsartig vorgetragenen Sätze ohne großes Aufheben ins Englische. So erfuhr ich auch, dass er Feuerwehrmann gewesen war. Die 65 Jahre sah man ihm nicht an. Ich hätte ihn als guterhaltenen Mittfünfziger eingeschätzt.

    An Gualin House musste ich mich entscheiden, ob ich auf der anderen Straßenseite ins Moor Richtung Cape Wrath einsteigen oder die mindestens 16 Kilometer lange Asphaltreise nach Durness antreten sollte. Eine Regenwand, die sich von Süden näherte und schon jetzt über dem Cape hing, erleichterte meinem Großhirn die Entscheidung, sich dem Kleinhirn zu beugen. Cape Wrath im Regen hatte ich schon mal. Es gibt Dinge, die muss man sich einfach nicht antun. Wesentlich verlockender erschien da eine Übernachtung im "Lazy Crofter"-Bunkhouse in Durness.


    Danksagung des Straßenplaners

    Meine Entscheidung erwies sich auch im weiteren Verlauf als richtig, denn Cape Wrath hat sich die volksetymologische Deutung seines Namens – "Kap Zorn" - ehrlich verdient. Bis zum nächsten Mittag lag es unter eine konstant regnenden Wolkendecke, während rundherum zumindest gelegentlich die Sonne schien.



    Unterwegs wurde ich noch mit seltsamen Bräuchen der Highlandbewohner konfrontiert: Ein Landrover hielt an, der Fahrer stieg mit seinem Hund aus, leinte ihn ab und ließ ihn den Hang hochrennen, bis er aus der Sicht verschwand. Zwei Minuten später begann er wie ein Besessener den Hang hochzubrüllen: "Here now! Here now!" Das passte so gar nicht zu meinem Bild der vorbildlichen schottischen Hundebesitzer. Bis kurz darauf eine Schäfchenwolke den Hang herunterwetzte, gefolgt von dem Hund. Er jagte die Schafe punktgenau in ein trichterförmiges Gatter, an dessen Ende ein leerer Viehanhänger stand. Aha: Keine "Easy sheep", sondern minenlegende Wollschafe, die zum Frisör mussten.




    Technische Daten: 29,6 km in 8:10h


    Im Lazy Crofter fühlte ich mich schon nach zehn Minuten unter Gleichgesinnten. "Here lives a crazy man", flüsterte mir einer der Zimmernachbarn zu: "Me." 70 Jahre, kaum 1,70 Meter lang, aber mit einem Händedruck, der Pianisten berufsunfähig machen würde - das war Burt. Wobei ich zuerst dachte, dass er sich "Bird" schreibt, um als Crazy Man übers Kuckucksnest fliegen zu können. Burt hatte schon vor 30 Jahren alle Munros abgeklappert. Die Corbetts hatte er auch schon komplett in der Tasche, also musste er jetzt alles mitnehmen, was sich überhaupt nur nennenswert über die Umgebung erhob. Seine Karten Landkarten stammten aber noch aus der Munro-Zeit. Ich war ziemlich baff, als ich sah, dass seinerzeit die Gegend um Salachy komplett unbewaldet war. Heute steigt man dort durch dichten Wald.

    Wenig Kontakt hatten wir mit einem italienischen Pärchen, das ebenfalls im Lazy Crofter übernachtete. Sie saßen meist draußen, rauchten viel und aßen wenig. Ob es vielleicht damit zusammenhing, dass Burt ihnen auf die Frage, was für ein Fleisch er da in der Pfanne zusammenbriet, geantwortet hatte, es sei Katze? Ich hätte ihm zugetraut, die Wahrheit gesagt zu haben. Aber die leeren Verpackungen im Mülleimer entlarvten ihn als Lügner.


    16. Juni

    Nach einer komplett durchregneten Nacht löste die Sonne am Morgen schnell die Wolken über Durness auf. Nicht so über Cape Wrath. Dort hingen darüber hinaus die ganze Woche rote Fahnen an der Grenze des Übungsplatzes, wie ich dem Aushang im Postamt entnahm. Wer möchte schon gerne "Artillery gunfire and helicopter operations" in die Quere kommen. Was lernen wir daraus? Hör auf Deinen Bauch. Er sagt Dir nicht nur, wann Du Hunger hast, sondern auch welchen Weg du gehen sollst.

    Heute lag nur noch eine kurze Runde vor mir: Zurück zum Pfad nach Balnakeil, und dann mehr oder weniger direkt nach Norden bis Faraid Head kurz vor der "Bee" (Biene). Der Kontrollturm für den Cape-Wrath-Übungsplatz hat diesen Spitznamen wegen seiner gelb-schwarzen Bemalung erhalten. Der Weg dorthin führt über den Strand von Sango Bay. Der sieht zwar sehr südlich aus, aber die Wassertemperaturen lassen keinen Zweifel daran, dass hier der Nordatlantik aufschlägt.




    Am Strand von Sango Bay schlüpfen Mitte Juni die jungen Käfer aus den Eiern, die dort im Herbst von den Eltern im Sand vergraben worden waren, und laufen zum Meer. Oder verwechsele ich da etwas?

    Inzwischen war mir auch eingefallen, warum es soviel besser war, nach Faraid Head statt zum Cape zu laufen, wenn man vom Wetter absieht: Der "Pitlochry-Faraid Head-Fernwanderweg" ergibt nämlich die äußerst harmonisch klingende Abkürzung "PF-F".



    Am Steinmann unterhalb der "Bee" erklärte ich das Ziel um 12:20 für erreicht: 220 Kilometer Luftlinie hatten sich in 438 km auf dem Boden verwandelt. 19 Tage hatte ich brutto benötigt, 17 Tage netto.



    Gerne hätte ich mich ein wenig in die Sonne gelegt, aber das gesamte Gelände war von Schafen vermint worden. Keine Chance. So trottete ich langsam in Richtung Balnakeil, wo ich mir im legendären Chocolate Mountain einen Mountain-Mokka mit gefühlten 1000 Kalorien gönnte.

    Technische Daten: 11,9 km in 4:02h


    Dann rief auch schon der Bikebus Richtung Inverness. In Kinlochbervie kommt er an einer weiteren Parliamentary Church vorbei - Nr. 4 für mich.



    Vier Stunden benötigte der Bus, um die gleiche Entfernung zurückzulegen, für die ich ungefähr 14 Tage unterwegs gewesen war. Ich war hin- und hergerissen: Sollte ich stolz darauf sein, dass auch ein motorisiertes Verkehrsmittel so lange brauchte? Oder ist es nicht eher deprimierend, dass tagelange Anstrengungen binnen weniger Stunden wieder auf Null zurückgesetzt werden können?


    Hier sollte eine GPX-Karte erscheinen! Wenn diese nicht nach wenigen Sekunden nachgeladen wird bitte die Seite aktualisieren.

    Achtung: GPX-Track ist auf 500 Trackpunkte reduziert!
    Angehängte Dateien
    Zuletzt geändert von Wafer; 28.11.2020, 22:33.
    Schutzgemeinschaft Grüne Schrankwand - "Wir nehmen nur das Nötigste mit"

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    • Borderli
      Fuchs
      • 08.02.2009
      • 1734
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      #3
      AW: [UK] Schottland: Von Pitlochry nach Faraid Head

      Guten Morgen!

      Eigentlich wollte ich nur mal schnell ins Forum schauen, bevor ich mich voller Elan an die Hausarbeit mache (was soll frau sonst an ihrem freien Tag tun ). Und dann finde ich das hier. Jetzt, zwei Tassen Kaffee später, bleibt mir nur: Danke für diesen schönen Bericht!!
      Den muss ich mir später nochmal in Ruhe reinziehen, mit der walkhighlands-map nebendran.

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      • Alex79
        Dauerbesucher
        • 05.06.2007
        • 740
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        • Meine Reisen

        #4
        AW: [UK] Schottland: Von Pitlochry nach Faraid Head

        ... so, durchgelesen. Jetzt muss ich mir eine Ausrede für die Arbeit einfallen lassen .
        Gute Reiseberichte sollten nicht Nachts veröffentlicht werden!!!!

        Trotzdem vielen Dank! Sehr schöner Bericht!

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        • blitz-schlag-mann
          Alter Hase
          • 14.07.2008
          • 4851
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          • Meine Reisen

          #5
          AW: [UK] Schottland: Von Pitlochry nach Faraid Head

          So sieht übrigens ein Argocat aus. Es ist lauter als es schnell ist.
          Jetzt hab ich Kaffee auf der Tastatur. Pfadi, wollen wir mit so einem Ding mal den Hexenstieg abfahren?
          Viele Grüße
          Ingmar

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          • MAW82
            Gerne im Forum
            • 08.05.2009
            • 82
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            • Meine Reisen

            #6
            AW: [UK] Schottland: Von Pitlochry nach Faraid Head

            Sehr schöner Reisebericht, Danke für deine Mühe!
            I love not man the less, but Nature more.
            ~George Gordon, Lord Byron, Childe Harold's Pilgrimage

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            • ParaMHN
              Erfahren
              • 04.03.2010
              • 257
              • Privat

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              #7
              AW: [UK] Schottland: Von Pitlochry nach Faraid Head

              Mein Hut der hat drei Ecken?! (Also ich meine der originale Titel beschränkte sich auf Mein Hut)

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              • NixWieRaus
                Gerne im Forum
                • 30.01.2009
                • 76
                • Privat

                • Meine Reisen

                #8
                AW: [UK] Schottland: Von Pitlochry nach Faraid Head

                (Sage mir, von welchem Lied die Melodie ist, und ich sage Dir, wie alt Du mindestens bist und in welchem Teil Deutschlands Du aufgewachsen bist )
                Ein Männlein steht im Walde

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                • hotdog
                  Freak

                  Liebt das Forum
                  • 15.10.2007
                  • 16106
                  • Privat

                  • Meine Reisen

                  #9
                  AW: [UK] Schottland: Von Pitlochry nach Faraid Head

                  Bolle reiste jüngst zu Pfingsten
                  Arrivederci, farewell, adieu, sayonara WAI! "Ja, wo läuft es denn? Wo läuft es denn hin?"

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                  • volx-wolf

                    Lebt im Forum
                    • 14.07.2008
                    • 5576
                    • Privat

                    • Meine Reisen

                    #10
                    AW: [UK] Schottland: Von Pitlochry nach Faraid Head

                    Schön geschrieben. Danke!

                    Lied: "Soldaten sind vorbeimarschiert"

                    Moralische Kultur hat ihren höchsten Stand erreicht, wenn wir erkennen,
                    daß wir unsere Gedanken kontrollieren können. (C.R. Darwin)

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                    • masc
                      Dauerbesucher
                      • 29.09.2007
                      • 573
                      • Privat

                      • Meine Reisen

                      #11
                      AW: [UK] Schottland: Von Pitlochry nach Faraid Head

                      Alles Quatsch.

                      "Ich trage eine Fahne".

                      Hab ich persönlich dirigiert, analysiert und natürlich auch gesungen.
                      Saying you don't believe in magic but do believe in god is a bit like saying you don't have sex with dogs -
                      except labradors.
                      Jimmy Carr

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                      • Pfad-Finder
                        Freak

                        Liebt das Forum
                        • 18.04.2008
                        • 11916
                        • Privat

                        • Meine Reisen

                        #12
                        AW: [UK] Schottland: Von Pitlochry nach Faraid Head

                        Zitat von masc Beitrag anzeigen
                        Alles Quatsch.

                        "Ich trage eine Fahne".

                        Hab ich persönlich dirigiert, analysiert und natürlich auch gesungen.
                        Was, so alt bist Du schon? Aber komponiert hast Du es nicht.- Ich hätte Dich jünger eingeschätzt.

                        Jedenfalls bekommst Du ein Bienchen.

                        Pf-F
                        Schutzgemeinschaft Grüne Schrankwand - "Wir nehmen nur das Nötigste mit"

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                        • masc
                          Dauerbesucher
                          • 29.09.2007
                          • 573
                          • Privat

                          • Meine Reisen

                          #13
                          AW: [UK] Schottland: Von Pitlochry nach Faraid Head

                          Danke für die Blumen. Und danke auch für den schönen Bericht.
                          Zitat von Pfad-Finder Beitrag anzeigen
                          Ich hätte Dich jünger eingeschätzt.
                          OT: Das liegt daran dass ich mir von unseren Stammtischen immer die Grauen tönen lasse und Legenden über meine körperliche Leistungsfähigkeit verbreite.
                          Saying you don't believe in magic but do believe in god is a bit like saying you don't have sex with dogs -
                          except labradors.
                          Jimmy Carr

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                          • Eggi
                            Erfahren
                            • 23.07.2009
                            • 226
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                            #14
                            AW: [UK] Schottland: Von Pitlochry nach Faraid Head

                            Klasse Bericht, vielen Dank!
                            Nur wo du zu Fuß warst,
                            bist du auch wirklich gewesen.
                            Johann Wolfgang von Goethe

                            Kommentar


                            • NilsL
                              Gerne im Forum
                              • 13.01.2010
                              • 92
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                              #15
                              AW: [UK] Schottland: Von Pitlochry nach Faraid Head

                              ganz großes Kino
                              "Wir leben alle unter dem gleichen Himmel, aber wir haben nicht alle den gleichen Horizont!" (Konrad Adenauer)

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                              • Rainer Duesmann
                                Fuchs
                                • 31.12.2005
                                • 1642
                                • Privat

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                                #16
                                AW: [UK] Schottland: Von Pitlochry nach Faraid Head

                                "Etwas verwirrt war ich, als ich auf einem 400-Gramm-Nutellaglas eine Berechnung entdeckte, wonach ein Glas für 26 (!) Frühstücke reiche. Der Fehler in der Berechnung war schnell entdeckt: 15 Gramm wurden für eine Portion veranschlagt. Und pro Frühstück auch nur eine Portion. Bei mir waren jedenfalls nach 40 Stunden nur noch etwa 50 Gramm übrig. Und da ich kein Essen wegwerfe, war das Glas nach 40 Stunden und fünf Minuten ganz leer. Es mag sein, dass ich die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen habe, Nutella aber schon..."

                                Weltklasse!

                                Vielen, vielen Dank!

                                Hammerbericht!

                                Beste Grüße,
                                Rainer
                                radioRAW - Der gesellige Fotopodcast

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                                • lina
                                  Freak

                                  Vorstand
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                                  • 12.07.2008
                                  • 42949
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                                  #17
                                  AW: [UK] Schottland: Von Pitlochry nach Faraid Head

                                  Zitat von NilsL Beitrag anzeigen
                                  ganz großes Kino
                                  Yesss!!

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                                  • Blueface
                                    Fuchs
                                    • 10.06.2007
                                    • 1086
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                                    #18
                                    AW: [UK] Schottland: Von Pitlochry nach Faraid Head

                                    Ein sehr schöner Bericht in dem viel Arbeit steckt. Klasse!

                                    Und mal wieder kann ich nach dem Lesen den nächsten Frühling nicht erwarten - dann bin ich auch wieder in den Highlands.

                                    Danke!
                                    Iserlohner Impressionen - Blog zu Landschaften, MTB- und Wandertouren im Sauerland

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                                    • Nic
                                      Dauerbesucher
                                      • 03.02.2008
                                      • 610
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                                      #19
                                      AW: [UK] Schottland: Von Pitlochry nach Faraid Head

                                      Wow...

                                      Das war wirklich eine tolle Leistung - sowohl die Tour als auch der Bericht! Seeehr eigenwillige Streckenfuehrung, muss ich sagen Viele dieser Gegenden kenne ich ueberhaupt nicht, aber das wird wohl daran liegen, dass ich eine von diesen Munro-FetischistInnen bin

                                      Hast du nicht Lust, mal bei der TGO Challenge mitzumachen (zur Abwechslung mal von West nach Ost quer durch die Highlands anstatt immer nur von Sued nach Nord? ) Ich hab mich diesmal angemeldet...
                                      Hillwalking and Backpacking Trips

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                                        #20
                                        AW: [UK] Schottland: Von Pitlochry nach Faraid Head

                                        ja, ein echter Pf-F halt ;)
                                        sehr schöner Bericht!

                                        Kommentar

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