Tourentyp | Trekkingtour |
Breitengrad | 57.096259812 |
Längengrad | -3.63948059 |

Land: Schottland / UK
Reisezeit: 30.8.-15.9.2010
Region/Kontinent: Nordeuropa
Vorwort
Nachdem ich im letzten Jahr meine erste weitere Strecke auf dem WHW gelaufen war, sollte es dieses Jahr etwas zivilisationsferner werden, aber trotzdem nicht zu wild. Erfahrung sammeln halt. Das es nochmal Schottland sein sollte, war von vorneherein klar. Im Cicerone Backpacker's Britain erregte die beschriebene Cairngorm High Level Traverse meine Aufmerksamkeit. Nicht, daß ich wirklich High Level laufen wollte, aber die Strecke ließ sich im groben auch Low Level verfolgen und bot einige schöne Gelegenheiten für Munro-Abstecher. Den östlichen Teil weggelassen, würde es mit zwei Munro-Tagen für 5 Tage durch die Cairngorms reichen. Danach, das wollte ich sowieso schon lange machen, plante ich die Strecke Dalwhinnie - Ft. William. Als Wunschzeit faßte ich den Mai ins Auge, da er a) statistisch der Monat mit den wenigsten Regentagen ist und b) meine Hoffnung war, daß die Midges zu dieser Zeit noch überschaubar sind.
Die Recherchen im Forum offenbarten, daß zu meiner geplanten Route ein frischer Reisebericht existierte. Von Midges und Bog mußte ich lesen, aber das war im September gewesen, und ich würde ja im Mai unterwegs sein.
Dummerweise mußte ich meinen Urlaub dann aus beruflichen Gründen von Mai auf September verschieben...
30.8. Anreise
Schon im Landeanflug auf Edinburgh kann ich sehen, daß der Tag warm wird: nur ein paar vereinzelte Quellwölkchen hängen am Himmel, und ehe ich mich versehe, stehe ich vor dem Flughafen in der Sonne. Da ich bis zur Abfahrt des Busses nach Aviemore noch 2 1/2 Stunden Zeit habe, fahre ich gemütlich mit dem Airlink-Bus in die Innenstadt und besorge mir erst einmal eine Gaskartusche. Den Rest der Wartezeit verbringe ich in der Sonne sitzend am St. Andrew Square. Dann bringt mich der vorgebuchte Citylink Bus in knapp 4 Stunden nach Aviemore. Ich checke im Aviemore Inn in mein Zimmer ein, gehe einen Burger essen und genehmige mir in der Lounge Bar des Cairngorm Hotels noch zwei Pints. Dann gehe ich schlafen, nicht ohne vorher noch die MWIS Vorhersage zu checken. Was ich sehe, trägt zur geruhsamen Nachtruhe bei - gutes Wetter für die nächsten Tage.
31.8. Aviemore - Lairig Ghru - Corrour Bothy
Nach einer letzten Dusche auf absehbare Zeit und einem kräftigen schottischen Frühstück wuchte ich den Rucksack auf den Rücken und breche auf in den sonnigen, windstillen Morgen. Zuerst entlang der Straße, dann über gut ausgebaute Spazierwege, bis an der Abzweigung zum Lairig Ghru der Ernst des Lebens anfängt.

Spazierwege im Rothiemurchus
Abzweig zum Lairig Ghru
Nach einiger Zeit auf dem Pfad in Richtung Lairig Ghru fülle ich meine Wasserflasche an einem kleinen Bach nach. Da der Algenbewuchs im Bach mich etwas mißtrauisch macht, beschließe ich, wenn ich ihn schon mitschleppe, den Wasserfilter zu benutzen. Dummerweise heißt das, für den einen Liter in der Flasche ca. eine Minute still hocken und pumpen. Der regelmäßige Leser von Reiseberichten aus Schottland erinnert sich an die oben erwähnte Windstille und weiß, was kommt: Midges. Noch sind sie zahlenmäßig nur lästig, aber sie halten mich davon ab, eine längere Pause zu machen. Die mache ich dafür an einem kleinen Zwischensattel, wo wenigstens ein schwaches Lüftchen weht. Dort begegnet mir ein Pärchen komplett JW-ausgerüsteter Deutscher, die mich aufgrund meines Tech Tee der urdeutschen Marke "Berghaus" direkt auf Deutsch anquatschen
. Die Corrour Bothy sei, naja, ein Dreckloch eben, und bis zur Derry Lodge gebe es sowieso keine Möglichkeit zu zelten, wegen alles Sumpf und so. Ich bedanke mich für die Auskunft, wünsche den beiden noch einen guten Weg und stelle sie mir insgeheim auf Heizdecken-Kaffeefahrt vor. Ein Kribbeln läßt mich auf meinen windabgewandten Arm schauen, und mit einem energischen Wisch mit der anderen Hand entferne ich eine Horde Midges, die sich zur Mahlzeit versammelt haben. Das kann ja heiter werden.
Pfad Richtung Braeriach
Etwas später erreiche ich die Stelle, wo der Pfad in Richtung Braeriach abzweigt. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, falls mich der Übermut packt dort hochzusteigen und die erste Nacht an den Wells of Dee zu zelten. Ich horche in mich hinein, aber von Übermut keine Spur. Außerdem flüstert mir jedes einzelne der 20 kg in meinem Rucksack ins Ohr "Du willst nicht noch 700 Höhenmeter mit mir machen! Nicht heute am ersten Tag." So marschiere ich weiter in Richtung Paßhöhe.
Immer wieder geht es jetzt weglos über grobes Geröll, dahinter heißt es jedesmal den Pfad wiederzufinden. Schließlich erreiche ich den Paß, ein kurzer Blick zurück Richtung Speytal, und kurz darauf passiere ich die Pools of Dee. An längeres Stehenbleiben ist hier wegen der Midges nicht zu denken, trotzdem hält das zwei Wanderer, Vater und Sohn, nicht davon ab, hier ihr Zelt aufzuschlagen. Zugegeben, ein romantisches Plätzchen, aber bei Windstille zu Midge-verseucht und bei Wind durch die Lage am Paß zu windexponiert - ich hatte diese Stelle schon beim Blick auf die Karte als Zeltplatz ausgeschlossen.
Geröllfelder
Ein letzter Blick zurück
Pools of Dee
Bald wird der Pfad auch wieder besser, keine Geröllfelder mehr, und der Devils Point, an dessen Fuß mein Tagesziel liegt, die Corrour Bothy, rückt näher. Allerdings meldet sich mein linkes Knie jetzt beim bergab laufen - die Balanciererei über die Felsbrocken war wohl nicht so das wahre. Mist! Eigentlich wollte ich morgen an der Bothy mein Zelt stehen lassen und von dort aus light and fast die Braeriach Traverse machen.
An der Bothy angekommen, baue ich mein Zelt auf - die Midges toben schon heftig, so daß ich Jacke und Headnet überziehe. Ein Zelt steht schon da, aber die Bewohner habe ich nie gesehen.
Corrour Bothy
Ich inspiziere die Bothy, jemand hat seine Sachen dort deponiert. Am Bach hinter der Bothy fülle ich den Wasserbeutel, und als ich zurückkomme, baut noch jemand sein Zelt auf. Um den Midges zu entgehen, essen wir in der Bothy. Der Zeltkollege hat nur kalte Küche dabei, da er nur eine Übernachtung plant. Während wir essen, wird die Tür aufgestoßen und jemand poltert in die Stube, grußlos, schnaufend, nach Luft japsend, auf seine Stöcke gestützt. Wir schauen uns an und erwarten den anscheinend unmittelbar bevorstehenden Herztod des Neuankömmlings. Nach ein paar Minuten kann er wieder sprechen - es ist der Besitzer der deponierten Klamotten, der heute auf den Munros war und sich dabei offenbar ziemlich angestrengt hat, da er erst mittags losgezogen ist und im D-Zug-Tempo unterwegs war.
Nach dem Essen verkrieche ich mich ins Zelt und schreibe den Tagesbericht frisch aus der Erinnerung auf. Gegen 21:45 will ich noch kurz die Zähne putzen und hoffe, daß die Midges sich mittlerweile etwas verstreut haben. Zu meiner Überraschung haben sie sich völlig zurückgezogen und ich sitze noch etwas auf einem großen Stein vor dem Zelt, um den Abend und den Sternenhimmel zu genießen. Dazu noch einen Schluck Glenlivet, den ich extra in eine kleine, weiße Sigg-Flasche abgefüllt habe, gegen Mißverständnisse am Flughafen mit "Whisky, NOT fuel" beschriftet - man weiß ja nie. Gegen 11 gehe ich dann nach einem langen ersten Tag schlafen.
1.9. Corrour Bothy - Derry Lodge
Morgens wache ich vom Geräusch auf, das Nieselregen auf Zeltplane verursacht. Ich fluche innerlich. Das war nicht angesagt! Als ich vorsichtig das Innenzelt öffne, um die tatsächliche Regenstärke zu begutachten, sehe ich die wahre Bescherung: das Geräusch stammt nicht von Regen, sondern von Midges, die buchstäblich mit dem Kopf durch die (Zelt-) Wand wollen, um mir meinen Lebenssaft aussaugen zu können. Meine mir eigene Morgenträgheit verhindert leider, daß dieses Schauspiel im Bild festgehalten wird.
Als es einige Zeit später wirklich einen kurzen Schauer gibt (das war nicht angesagt!), verziehen sich die Midges und ich trage mein Frühstücksgeraffel in die Bothy, wo ich mir erstmal einen Kaffee koche. Der Hillwalker hat schon gepackt und rät mir im kurzen woher-und-wohin-Smalltalk, auf keinen Fall durch Strath Nethy zu laufen, viel zu boggy sei es da. "Walk high", ist sein Rat. Er meint damit, vom Loch Avon über Cairn Gorm nach Glenmore zu laufen. Scherzkeks, mit 20kg Rucksack (in dem Moment notiere ich mir gedanklich, mich zu Hause mal über Möglichkeiten der Gewichtsreduzierung im Rucksack zu informieren, ohne gleich notwendigerweise im UL-Sumpf landen zu müssen). Außerdem hat mein Knie gestern rumgezickt, da rüber wird es wahrscheinlich dann endgültig zu Matsch.
Dieser Gedanke bringt mich dann dazu, über meine Tagespläne nachzudenken. Eigentlich wollte ich heute ja ein paar Munros baggen, aber ich beschließe zur Vorsicht, langsam die kurze Strecke bis zur Derry Lodge zu laufen. Wenn's gut geht, gehe ich morgen auf der geplanten Strecke weiter, ansonsten kann ich nach Braemar rauslaufen. Damit begründe ich eine Tradition auf dieser Tour: immer von einer Bailout-Möglichkeit zur nächsten denken...
Da der Regen inzwischen aufgehört hat, sind die Mistviecher wieder aktiv. Ich schleppe mein Zeug zum Packen in die Bothy, da habe ich mehr Ruhe. Wenig später ist alles im Rucksack verstaut und los geht's.
Aufbruch von der Corrour Bothy
Der Weg geht halbhoch am Hang entlang, unten mäandert der River Dee durch etwas, das wie Sumpf aussieht.
Glen Geusachan
Glen Luibeg; irgendwo da hinten liegt die Derry Lodge
Der Pfad biegt nach Osten ab, und schon bald kann ich aus der Höhe die bewaldeten Hänge bei der Derry Lodge ausmachen. Doch zwischen meine momentane Position und mein Ziel hat Slartibartfaß' Kollege, der für das Design der Highlands zuständig war, den Luibeg Burn gelegt. Der will an der Luibeg Bridge überquert werden, und der Weg dahin führt durch einige hundert Meter bogverseuchten Gebiets. Die großen, unregelmäßigen Schritte von einem Fleck festen Bodens zum nächsten und der abschließenden kurze, aber steile Abstieg zur Brücke lassen mich mein Knie wieder spüren...
Luibeg Bridge
Auf der anderen Seite geht es weniger steil wieder einige Meter rauf, nochmal durch ein kurzes Bog-Stück und dann weiter auf einem festen Pfad. Bald darauf erreiche ich die Brücke über den Derry Burn und schlage mein Zelt 200 Meter flußaufwärts auf.
Zelten am Derry Burn
Da es erst später Nachmittag ist, gönne ich mir die Zeit für eine Rasur und sogar eine Haarwäsche. So kommt auch die Sea to Summit Faltschüssel zu ihrem ersten Einsatz. Dann überlege ich: gestern kamen die Midges gegen 18:30, also sollte ich bis dahin gekocht und gegessen haben. Jetzt ist es 17:00 Uhr, also fange ich an, es sollte noch genug Zeit sein. Doch kaum brennt der Kocher, kommen sie von überall her. In einiger Entfernung auf und ab laufend, warte ich, bis das Wasser kocht, kippe meine Tüte Globi Lunch Ungarisch rein und flüchte ins Zelt (weitere Gedankennotiz: Essenskonzept überdenken. Das Globi-Zeug schmeckt mir nicht. Macht aber effektiv satt: schon nach zwei Löffeln habe ich keinen Hunger mehr...). Um den Topf zu spülen, wage ich mich etwas später nochmal raus, diesmal schon in voller Schutzausrüstung. Die Midges bilden jetzt schon eine Wolke um mein Zelt. Schnell bin ich wieder drin, um den Tagesbericht zu schreiben.
Gegen 21:30 erinnere ich mich daran, daß gestern um diese Zeit die Mistviecher wieder weg waren, mit der Hoffnung, daß das heute und hier genauso ist und ich vielleicht noch ein bißchen gemütlich vor dem Zelt sitzen kann. Zelteingang auf, rauskrabbeln, und mir wird schlagartig klar, daß ich gerade einen Riesenfehler gemacht habe. Ich pralle gegen eine massive Wand aus Midges. Killer Midges from Outer Space! Nightmare on Midge Street! Ins Zelt zurück kann ich nicht mehr, da meine Jacke, die ich glücklicherweise schon im Zelt übergezogen habe, nicht mehr blau, sondern schwarz von den Monstern ist und ich die alle ins Zelt schleppen würde. Also ganz raus und hinter mir die Reisverschlüsse schnell zugezogen, hoffentlich sind nicht so viele reingeflutscht! Ich bewege mich schnell vom Zelt weg, rubbele mit beiden Händen die Midges aus den Haaren und stülpe mir das Headnet über. Wenn ich auf dem Weg schnell hin und her gehe, ist es erträglich. Ich drehe eine Zigarette und sehe den Schein dreier Stirnlampen über die Brücke geistern. Da ich sowieso in Bewegung bleiben muss, laufe ich rüber und treffe drei Schotten, die gerade ihr Zelt aufbauen. Im Schein Ihrer Lampen führen die Midges Freudentänze auf. So viel Futter auf einmal! Einer der drei kann ein bißchen deutsch und nutzt die Gelegenheit zum Üben. Er erzählt mir, er sei schon mehrmals hier gewesen, aber so schlimm seien die Biester noch nie gewesen. Ich lasse die drei weiter ihr Zelt aufbauen, rauche noch eine letzte Zigarette, klopfe die an mir klebenden Midges so gut es geht ab und krieche ins Zelt zurück. Anschließend bin ich eine halbe Stunde damit beschäftigt, die im Zelt schwirrenden Blutsauger mit einem feuchten Waschlappen so weit wie möglich zu dezimieren. Noch einen kräftigen Schluck aus der weißen Sigg-Flasche (die mit dem Glenlivet) und ich lege mich schlafen.
2.9. Derry Lodge - Loch Avon
Als ich in der Nacht mal aufwache, leuchte ich vorsichtig mit der Stirnlampe aus dem Zelt. Sie haben aufgehört zu schwärmen, aber sie sitzen überall. Die Situation ist unwirklich. Ich komme mir vor wie in einem Alien-Abklatsch-Film und schlafe durch den Gedanken leicht belustigt wieder ein.
Am Morgen sind sie wieder aktiv, an ein gemütliches Frühstück ist nicht zu denken. Also gibt es zum Müsli im Zelt nur eine aufgelöste Vitamintablette statt Kaffee. Dann wird der improvisierte ABC-Schutzanzug angelegt und ich fange an, meine Sachen aus dem Zelt zu räumen und 20 m weiter zum Packen wieder abzulegen, denn die kleinen Monster schwirren in einer Wolke um mein Zelt. Danach wird das Zelt abgebaut. Irgendwo habe ich mal gelesen, daß Midges keine Sonne mögen. Dieses Gerücht entbehrt jeglicher Grundlage.
Midges im Sonnenschein
Aus den Gestängeaufnahmen bröselt mir torfähnlicher Dreck entgegen. Wie kommt Torf da rein? Dann wird mir klar, was ich das ist: Die Mistviecher haben sich dort drin vor der Nachtkälte und Feuchtigkeit versteckt und sich in Massen gegenseitig erstickt. Wenn mich in diesem Moment jemand sähe, er würde mich für verrückt halten. Möglicherweise sogar für gefährlich. Leise vor mich hin kichernd, wiederhole ich immer wieder "I see dead Midges".
Schließlich ist alles im Rucksack verstaut und ich mache mich auf in den sonnigen Morgen. Kaum daß ich in Bewegung bin, hören die Midges auf, ein Problem zu sein. Zuerst geht das Headnet in die Jackentasche, dann die Jacke in den Rucksack. Es wird schnell warm und die Szenerie bekommt einen Touch von afrikanischer Savanne.
Savanne
Life is good. Das ist einer der Tage, an dem man die Frage, warum man sich das alles antut, mit den beiden Worten "wegen sowas" vom Tisch fegen kann. Das einzige, was das Idyll stört, ist die RAF (für die, die alt genug sind, sich da noch dran zu erinnern: die Royal Air Force, nicht die anderen), die die Glens bei Tiefflugübungen mit einem Lärmteppich direkt aus der Hölle überzieht.
Laut!
Doch irgendwann zollt auch die RAF dem Ölpreis Tribut, stellt ihre Dogfight-Simulationen ein und ich habe das Glen Derry für mich. Nach einiger Zeit kommt das Coire Etchachan in Sicht und ich beginne den Aufstieg zur Coire Etchachan Bothy, auch bekannt als Hutchinson Memorial Hut.
Coire Etchachan mit Bothy
Nach einem kurzen Blick in die Bothy gehe ich weiter. Als es kurz wieder bergab geht, meldet sich das Knie sofort wieder. Ich mache auf einem großen Felsblock erstmal Mittagspause. So kann ich unmöglich morgen auf Derry Cairngorm und Ben Macdui steigen, schließlich bin ich in jeder Richtung einen Tagesmarsch von der Zivilisation entfernt. Ich beschließe also schweren Herzens, auch diese Munros links liegen zu lassen und nicht am Loch Etchachan zu zelten, sondern bis zum Loch Avon zu laufen und von dort am nächsten Tag nach Glenmore zu marschieren. Langsam setze ich meinen Weg fort und als ich den Loch Etchachan erreiche, sehe ich dort schon ein Zelt stehen. Ich tröste mich also damit, daß ich diesen Ort sowieso nicht für mich alleine gehabt hätte.
Coire Etchachan von oben
Loch Etchachan
Hier oben gibt es ein paar schöne Flecken zum Zelten, aber sie wären bei schlechtem Wetter alle ziemlich dem Wind ausgesetzt. Nach ein paar Metern wird der Blick frei nach unten auf den Loch Avon. Schon von hier oben kann ich ein schönes Fleckchen direkt bei der Mündung des Baches, der vom Wasserfall kommt, ausmachen. Dort möchte ich mein Zelt aufschlagen! Ich hoffe, daß niemand vor mir dort ankommt und mache mich an den steilen Abstieg.
Loch Avon
Der Weg ist an einigen Stellen ziemlich erodiert, und einmal mehr bin ich froh um das gute Wetter. In strömendem Regen wäre das sicher nicht ganz ungefährlich. Unten angekommen, laufe ich noch ein paar Meter durch Sumpf, bis ich an einem kleinen Sandstrand stehe. Jemand war so freundlich, schonmal einen kleinen Windschutz aus Steinen zum Kochen für mich zu bauen. Ein paar Meter daneben stelle ich mein Zelt auf - zum erstenmal unbehelligt von Midges. Als erste Aktion hänge ich das Innenzelt aus, drehe es auf links und schüttle die Midge-Leichen raus. Dann richte ich mich häuslich ein und klettere, Knie hin, Knie her, noch ein bißchen in der Umgebung rum. Dabei mache ich völlig begeistert ein Foto nach dem anderen von meinem Zeltplatz. Ein wirklich grandioser Platz!
Später koche ich mir mein Abendessen und einen großen Vorrat Tee, wobei dann doch ein paar Midges auftauchen - aber nichts, was mich nach gestern noch erschüttern könnte. Wahrscheinlich sind das die, die ich selber in meinem Rucksack mit eingeschleppt habe. Wenn es jetzt also am Loch Avon Midges als Neozoen gibt - mea maxima culpa. Sie dürften hier oben allerdings den Winter nicht überleben.
"Strand" von oben
Zelten am Loch Avon
Schließlich wird es dunkel, aber obwohl es rasch abkühlt, genieße ich den Abend und sitze noch relativ lange auf einem Stein vor dem Zelt. Ich bin anscheinend völlig alleine hier - den einzigen Menschen habe ich heute unterwegs im Glen Derry getroffen. Das Zelt oben am Loch Etchachan war verlassen, der Besitzer war wohl unterwegs auf den umliegenden Munros. Und auch hier am Loch Avon ist niemand mehr vorbei gekommen, trotz des großartigen Wetters. Zur Feier des Tages gönne ich mir eine der drei extra für diese Momente mitgebrachten Zigarren und ein paar Schlucke aus der weißen Sigg-Flasche (genau, die mit dem Glenlivet)...
In der Nacht fordert der Tee seinen Weg nach draußen. Von meinem Standpunkt aus direkt über dem Loch Avon verschleudert der abnehmende Mond sein silbriges Licht über den See und die umliegenden Berge. Ich denke kurz daran, die Kamera rauszuholen, beschließe dann aber, daß a) mir zu kalt ist, um lange draußen rumzuhampeln, b) das Foto ohne Stativ und mit meiner Kompakten eh nichts wird und c) diese Stimmung sowieso nicht auf einem Bild bewahrt werden kann, sondern nur in der Erinnerung. So stehe ich noch einige Momente da und sauge das Bild in mich auf, bevor ich wieder in meinen Schlafsack krieche. Ein perfekter Schlußpunkt hinter einem großartigen Tag.
3.9. Loch Avon - Glenmore
Morgens lacht mich die Sonne aus einem strahlend blauen Himmel an. Ich genieße die wärmenden Strahlen in einer fast Midge-losen Umgebung bei einem gemütlichen Frühstück. Dann packe ich meine Sachen zusammen und mache mich auf den Weg. Die Flußmündung wird auf Stepping Stones überquert, dann geht es am Nordufer des Loch Avon Richtung the Saddle. Das ist auf dem ersten Stück leichter gesagt als getan, denn der Pfad, der auf der Karte eingezeichnet ist, existiert in der Wirklichkeit nicht als solcher, sondern ist mehr als grobe Orientierung zu sehen. Über große Felsbrocken geht es auf und ab am Ufer entlang. Nur an gelegentlichen Fußabdrücken im Schlamm zwischen den Felsen erkenne ich, daß ich noch ungefähr richtig bin. Trotzdem kontrolliere ich immer wieder auf der Karte und dem GPS, ob ich nicht doch falsch laufe. Immerhin ist sogar auf der Garmin-Karte ein Pfad verzeichnet, und das, obwohl dort eher Wege fehlen, die es in Wirklichkeit gibt (was das angeht, ist die Garmin-Karte GB wirklich rausgeworfenes Geld). Irgendwann wird der Pfad dann besser sichtbar.

Blick zurück. Hier ist der Weg schon besser
Kurze Zeit später erreiche ich The Saddle, wo ich erstmal Pause mache. Zwei Stunden habe ich durch die Kletterei über die Felsen bis hierhin gebraucht. Ich schaue ins Strath Nethy und bin gespannt, wie die Wegverhältnissen dort sein werden. Schließlich bin ich gewarnt worden...

Strath Nethy vom Saddle
Zunächst geht es aber über einen guten Pfad auf flachen Steinen leicht abwärts. Zwar sieht man hin und wieder etwas Matsch, aber wirklich boggy ist es nicht. Dann wird das Tal etwas enger, und der Weg wechselt immer wieder vom Bachufer ein bißchen den Hang hinauf und wieder herunter. An manchen Stellen kann man sehen, daß bei Regenwetter bestimmt mehr Probleme mit Schlamm auftauchen können, aber nach einer Woche Trockenheit und Sonnenschein läßt sich alles immer wieder mit einem beherzten großen Schritt regeln.
Strath Nethy

Immer am Bach entlang
Später weitet sich das Tal, und der Weg führt durch die heidebewachsene Ebene. Auch hier ist viel Dreck zu sehen, der sich bei Nässe in Schlamm verwandeln wird, aber bösartige, hüfttiefe Bogholes würde ich auch hier nicht erwarten. Doch dann weicht die Heide einer Graslandschaft, Sumpfgras, und immer wieder mäandern kleine Bäche durch die Gegend. Now we're talking bog! Immer wieder teste ich zunächst mit den Stöcken, ob die nächste Stelle, auf die ich meinen Fuß setzen will, mich auch tragen wird. Zwei Hillwalker mit leichten Tagesrucksäcken überholen mich - die ersten Menschen, die ich seit mehr als 24 Stunden sehe - und hüpfen mit langen Sprüngen den Pfad entlang. Da sie so nicht testen können, wo sie landen werden, platscht es einige Male, aber weiter als bis zum Knöchel versinken sie auch nicht. Ich kann mir mit dem schweren Rucksack diese Technik nicht erlauben und bleibe bei vorsichtigen, wenn auch manchmal weiten Schritten. Alles in allem bleibt aber das große Bogfest aus, das tagelange trockene Wetter hat mich wohl vor Schlimmerem bewahrt. Schließlich erreiche ich nach einem kurzen Abschnitt, in dem große Steine den Weg durch Sumpf und Wasser bilden, die Brücke über den River Nethy, wo der Pfad in einem breiten Wirtschaftsweg aufgeht. Direkt hinter der Brücke mache ich erstmal Pause auf einem großen Stein.

Brücke über River Nethy
Hier gibt es schöne Plätze zum Zelten, wenn - ja, wenn es keine Midges gäbe! Kaum sitze ich still, schon werde ich freudig umschwärmt. Da ich nicht bereit bin, mich aussaugen zu lassen, bleibt die Pause kurz und ich wandere den Rest der Strecke zur Glenmore Campsite. Weil ich wegen der gestrichenen Munros einen Tag vor meinem Plan liege, checke ich für drei Nächte ein, um einen weiteren Ruhetag zur Schonung für das Knie zu gewinnen. Nach dem Zeltaufbau geht's dann erstmal ausgiebig unter die Dusche. Beim Haarewaschen werden Unmengen toter Midges ausgespült - kein Wunder, daß sich meine Kopfhaut anfühlt wie die olympische Skipiste für die Buckelpistenwettbewerbe. Zurück zum Zelt, trifft mich beim Öffnen des Eingangs erstmal der Hammer. Der Geruch, der mir entgegenschlägt, raubt mir den Atem. Vielleicht hätte ich die Socken vor das Zelt legen sollen, statt sie drin liegen zu lassen...
Aber kaum, daß ich wieder zivilisiert aussehe und rieche, werde ich von meinen Zeltnachbarn zum Bier eingeladen. Graeme entschuldigt sich wortreich dafür, daß das Bier nicht kalt ist, aber nach vier Tagen Busch ist mir das sowas von Schnuppe... Er und seine Freundin sind aus Aberdeen für eine Woche Uraub zum Zelten hier und sitzen auf throngleichen Campingstühlen vor einem Riesenzelt, das sich neben meiner bescheidenen Ein-Mann-Hütte macht wie die Sommerresidenz der Queen. Während wir quatschen, fällt mir auf, daß irgendetwas nicht so ist wie sonst. Richtig, ich fuchtele nicht mit den Armen vor dem Gesicht herum. Keine Midges! Das hindert eine Gruppe neu angekommener Boy und Girl Scouts aber nicht daran, die ganze Zeit mit Headnets rumzulaufen. Ich habe kein schlechtes Gewissen dabei, sie als verweichlichte Jugend von heute zu bezeichnen, was die Freundin von Graeme etwas verwirrt. Lästig seien die Midges ja schon, und auszuhalten sei es nur mit ihrer spezial-100%-Natur-anti-Midge-Lotion. Ich schaue etwas genauer hin. Naja, drei bis fünf kleine Punkte schwirren schon um meinen Kopf, aber nach meinem Erlebnis an der Derry Lodge ist das so gut wie Midge-frei.
Als die beiden anfangen zu kochen, mache ich mich auf, die 15 Minuten zur Glenmore Lodge zu laufen, wo ich in der Lochain Bar ein riesiges Ribeye Steak verdrücke und noch zwei, drei Pints hinterherspüle. Außerdem nutze ich die Gelegenheit, um per freiem WLAN den aktuellen Wetterbericht zu holen. Noch drei Tage soll es trocken bleiben, dann soll sich das Wetter verschlechtern. Schaun mer mal.
4.9. Glenmore
Da ich hier sowieso einen Ruhetag einlegen wollte, wird dieser Tag verbummelt. Erst einmal werfe ich meine Sachen in die Waschmaschine und danach in den Trockner. Dann gehe ich zum Loch Morlich, wo ein breiter Sandstrand Nordseefeeling verbreitet. Nicht wenige Leute liegen da und sonnen sich - bei 15 Grad wohlgemerkt. Im Wasser planschen einige Kinder, allerdings mit Neoprenanzügen. Und auch das "Boathouse Cafe" scheint gut besucht zu sein. Eine ältere Dame sucht mit einem Metalldetektor den Sandstrand ab, was eine jüngere Frau dazu veranlaßt, mir im Vorbeigehen ein sarkastisches "Someone lost a wallet here 60 years ago. It has never been found..." zuzuraunen.
Boathouse Cafe
Zurück auf dem Campingplatz ist es etwas voller geworden, man merkt, daß Samstag ist. Als überfüllt, wie hier mal erwähnt wurde, würde ich das allerdings nicht bezeichnen - es ist wohl schon Nachsaison. Neben mir schlägt Stuart aus London sein Zelt auf. Er möchte in einigen Wochen auf den Kilimandscharo und ist hergekommen, um zum Training ein paar Höhenmeter unter die Stiefel zu nehmen.
Zum Abendessen kaufe ich mir im nahegelegenen Shop eine Dose Chili con Carne und vorgegarten Reis. Um den Umsatz anzukurbeln, hat der Inhaber ein ausgeklügeltes Prämiensystem entwickelt. Ich überschlage kurz den Preis des ausgelobten Sportwagens und die zu erzielenden Wiederverkaufserlöse der angebotenen Waren in der eBucht. Die eigenwillige Schreibweise löst allerdings Zweifel in mir aus, ob der Shop überhaupt Waren im geforderten Wert lagerhaltig hat
Rabattsystem im Glenmore Store
Nach dem Essen statte ich der Lochain Bar einen weiteren Besuch ab, um ein paar Pints zu bunkern. Flüssigkeitsverlust auf Tour ist ein ernsthaftes Thema!
5.9. Glenmore / Loch Morlich
Weil ich meine Runde durch die Cairngorms wegen des Knies um einen Tag verkürzt habe, mache ich einen weiteren Ruhetag. Da ich aber nicht den ganzen Tag faulenzen will, mache ich mich auf, den Loch Morlich zu umrunden. Auf gut ausgebauten Wegen komme ich schnell voran, so daß ich mich entschließe, noch einen kleinen Abstecher durch den Wald zu machen, damit ich nicht schon nach einer Stunde wieder am Campingplatz bin. Und wieder meldet sich mein Knie, so daß mir das Laufen schwer fällt. Eigentlich sollte ich meine Pläne über den Haufen werfen, so hat das doch keinen Sinn. Langsam eiere ich zum Campingplatz zurück, dabei habe ich noch eine schöne Aussicht auf die Föhnwalze, die seit gestern über den Cairngorms steht.
Eindrucksvolle Wolken über den Cairngorms.
Zurück am Campingplatz stelle ich verwundert fest, daß fast alle Leute abgereist sind. Liegt es daran, daß Sonntag ist und alle morgen wieder arbeiten müssen, oder ist es doch die Wettervorhersage? Morgen abend soll es ungemütlich werden. Der Wind hat merklich aufgefrischt, die verbliebenen Zelter haben die Spannleinen ausgebracht. Mich stört der Wind noch nicht sonderlich, ich bin einfach frustriert, weil ich nicht vernünftig laufen kann. Ich spaziere zum Loch und setze mich oberhalb des Strandes auf einer Baumwurzel in die Sonne. Am besten fahre ich morgen mit dem Bus nach Aviemore und übermorgen weiter nach Fort William, um von da aus Sightseeing zu betreiben. Enttäuscht über das vorzeitige Tourende starre ich auf den See hinaus...
Baum in Strandnähe
Als ich nach einer Stunde von meiner Wurzel aufstehe, um zum Zelt zurückzugehen, spüre ich - nichts! Keine Schmerzen im Knie. Vorsichtig hüpfe ich ein bißchen - immer noch nichts. Ich fühle mich von meinem eigenen Körper auf den Arm genommen. Nochmal ändere ich meine Pläne. Ich werde morgen die 10 km nach Aviemore laufen und je nachdem wie das funktioniert entscheiden, was ich weiter tun werde.
Zurück am Zelt kommt auch Stuart bald von seiner Tagestour wieder. Er war auf Cairn Gorm, wo es wegen des Windes schon "interesting" war, und ist dann in einem weiten Bogen weglos über loses Geröll wieder abgestiegen. Da er nur für einen Tag Vorräte dabei hatte und ihm der Laden an der Campsite zu teuer ist, will er nach Aviemore zum Einkaufen. Um diese Zeit (schon nach 5) fahren sonntags keine Busse mehr, also versucht er es per Anhalter und wird von einer älteren Frau, die sich durch wiederholte Schlucke aus einem Flachmann fahrtüchtig hält, mitgenommen. Zurück läuft er die 10 km von Aviemore in wenig mehr als einer Stunde - kein schlechter Schnitt nach einem anstrengenden Munro-Tag. Ich glaube, er ist fit für den Uhuru Peak.
Später sitzen wir noch lange zusammen und leeren gemeinsam die Flasche Rotwein, die Stuart vom Tesco in Aviemore mitgebracht hat. Der Wind hat weiter zugenommen, wir haben uns winddicht angezogen und beobachten die Leute aus den umliegenden Zelten, die immer wieder herauskrabbeln, um die Leinen nachzuspannen. Schließlich gehen wir schlafen. Der Wind schüttelt das Zelt ganz schön, aber im Vertrauen auf die Bunkereigenschaften meines Soulo schlafe ich, möglicherweise unterstützt von der halben Flasche Rotwein, tief und sorglos.
Reisezeit: 30.8.-15.9.2010
Region/Kontinent: Nordeuropa
Vorwort
Nachdem ich im letzten Jahr meine erste weitere Strecke auf dem WHW gelaufen war, sollte es dieses Jahr etwas zivilisationsferner werden, aber trotzdem nicht zu wild. Erfahrung sammeln halt. Das es nochmal Schottland sein sollte, war von vorneherein klar. Im Cicerone Backpacker's Britain erregte die beschriebene Cairngorm High Level Traverse meine Aufmerksamkeit. Nicht, daß ich wirklich High Level laufen wollte, aber die Strecke ließ sich im groben auch Low Level verfolgen und bot einige schöne Gelegenheiten für Munro-Abstecher. Den östlichen Teil weggelassen, würde es mit zwei Munro-Tagen für 5 Tage durch die Cairngorms reichen. Danach, das wollte ich sowieso schon lange machen, plante ich die Strecke Dalwhinnie - Ft. William. Als Wunschzeit faßte ich den Mai ins Auge, da er a) statistisch der Monat mit den wenigsten Regentagen ist und b) meine Hoffnung war, daß die Midges zu dieser Zeit noch überschaubar sind.
Die Recherchen im Forum offenbarten, daß zu meiner geplanten Route ein frischer Reisebericht existierte. Von Midges und Bog mußte ich lesen, aber das war im September gewesen, und ich würde ja im Mai unterwegs sein.
Dummerweise mußte ich meinen Urlaub dann aus beruflichen Gründen von Mai auf September verschieben...
30.8. Anreise
Schon im Landeanflug auf Edinburgh kann ich sehen, daß der Tag warm wird: nur ein paar vereinzelte Quellwölkchen hängen am Himmel, und ehe ich mich versehe, stehe ich vor dem Flughafen in der Sonne. Da ich bis zur Abfahrt des Busses nach Aviemore noch 2 1/2 Stunden Zeit habe, fahre ich gemütlich mit dem Airlink-Bus in die Innenstadt und besorge mir erst einmal eine Gaskartusche. Den Rest der Wartezeit verbringe ich in der Sonne sitzend am St. Andrew Square. Dann bringt mich der vorgebuchte Citylink Bus in knapp 4 Stunden nach Aviemore. Ich checke im Aviemore Inn in mein Zimmer ein, gehe einen Burger essen und genehmige mir in der Lounge Bar des Cairngorm Hotels noch zwei Pints. Dann gehe ich schlafen, nicht ohne vorher noch die MWIS Vorhersage zu checken. Was ich sehe, trägt zur geruhsamen Nachtruhe bei - gutes Wetter für die nächsten Tage.
31.8. Aviemore - Lairig Ghru - Corrour Bothy
Nach einer letzten Dusche auf absehbare Zeit und einem kräftigen schottischen Frühstück wuchte ich den Rucksack auf den Rücken und breche auf in den sonnigen, windstillen Morgen. Zuerst entlang der Straße, dann über gut ausgebaute Spazierwege, bis an der Abzweigung zum Lairig Ghru der Ernst des Lebens anfängt.
Spazierwege im Rothiemurchus
Abzweig zum Lairig Ghru
Nach einiger Zeit auf dem Pfad in Richtung Lairig Ghru fülle ich meine Wasserflasche an einem kleinen Bach nach. Da der Algenbewuchs im Bach mich etwas mißtrauisch macht, beschließe ich, wenn ich ihn schon mitschleppe, den Wasserfilter zu benutzen. Dummerweise heißt das, für den einen Liter in der Flasche ca. eine Minute still hocken und pumpen. Der regelmäßige Leser von Reiseberichten aus Schottland erinnert sich an die oben erwähnte Windstille und weiß, was kommt: Midges. Noch sind sie zahlenmäßig nur lästig, aber sie halten mich davon ab, eine längere Pause zu machen. Die mache ich dafür an einem kleinen Zwischensattel, wo wenigstens ein schwaches Lüftchen weht. Dort begegnet mir ein Pärchen komplett JW-ausgerüsteter Deutscher, die mich aufgrund meines Tech Tee der urdeutschen Marke "Berghaus" direkt auf Deutsch anquatschen

Pfad Richtung Braeriach
Etwas später erreiche ich die Stelle, wo der Pfad in Richtung Braeriach abzweigt. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, falls mich der Übermut packt dort hochzusteigen und die erste Nacht an den Wells of Dee zu zelten. Ich horche in mich hinein, aber von Übermut keine Spur. Außerdem flüstert mir jedes einzelne der 20 kg in meinem Rucksack ins Ohr "Du willst nicht noch 700 Höhenmeter mit mir machen! Nicht heute am ersten Tag." So marschiere ich weiter in Richtung Paßhöhe.
Immer wieder geht es jetzt weglos über grobes Geröll, dahinter heißt es jedesmal den Pfad wiederzufinden. Schließlich erreiche ich den Paß, ein kurzer Blick zurück Richtung Speytal, und kurz darauf passiere ich die Pools of Dee. An längeres Stehenbleiben ist hier wegen der Midges nicht zu denken, trotzdem hält das zwei Wanderer, Vater und Sohn, nicht davon ab, hier ihr Zelt aufzuschlagen. Zugegeben, ein romantisches Plätzchen, aber bei Windstille zu Midge-verseucht und bei Wind durch die Lage am Paß zu windexponiert - ich hatte diese Stelle schon beim Blick auf die Karte als Zeltplatz ausgeschlossen.
Geröllfelder
Ein letzter Blick zurück
Pools of Dee
Bald wird der Pfad auch wieder besser, keine Geröllfelder mehr, und der Devils Point, an dessen Fuß mein Tagesziel liegt, die Corrour Bothy, rückt näher. Allerdings meldet sich mein linkes Knie jetzt beim bergab laufen - die Balanciererei über die Felsbrocken war wohl nicht so das wahre. Mist! Eigentlich wollte ich morgen an der Bothy mein Zelt stehen lassen und von dort aus light and fast die Braeriach Traverse machen.
An der Bothy angekommen, baue ich mein Zelt auf - die Midges toben schon heftig, so daß ich Jacke und Headnet überziehe. Ein Zelt steht schon da, aber die Bewohner habe ich nie gesehen.
Corrour Bothy
Ich inspiziere die Bothy, jemand hat seine Sachen dort deponiert. Am Bach hinter der Bothy fülle ich den Wasserbeutel, und als ich zurückkomme, baut noch jemand sein Zelt auf. Um den Midges zu entgehen, essen wir in der Bothy. Der Zeltkollege hat nur kalte Küche dabei, da er nur eine Übernachtung plant. Während wir essen, wird die Tür aufgestoßen und jemand poltert in die Stube, grußlos, schnaufend, nach Luft japsend, auf seine Stöcke gestützt. Wir schauen uns an und erwarten den anscheinend unmittelbar bevorstehenden Herztod des Neuankömmlings. Nach ein paar Minuten kann er wieder sprechen - es ist der Besitzer der deponierten Klamotten, der heute auf den Munros war und sich dabei offenbar ziemlich angestrengt hat, da er erst mittags losgezogen ist und im D-Zug-Tempo unterwegs war.
Nach dem Essen verkrieche ich mich ins Zelt und schreibe den Tagesbericht frisch aus der Erinnerung auf. Gegen 21:45 will ich noch kurz die Zähne putzen und hoffe, daß die Midges sich mittlerweile etwas verstreut haben. Zu meiner Überraschung haben sie sich völlig zurückgezogen und ich sitze noch etwas auf einem großen Stein vor dem Zelt, um den Abend und den Sternenhimmel zu genießen. Dazu noch einen Schluck Glenlivet, den ich extra in eine kleine, weiße Sigg-Flasche abgefüllt habe, gegen Mißverständnisse am Flughafen mit "Whisky, NOT fuel" beschriftet - man weiß ja nie. Gegen 11 gehe ich dann nach einem langen ersten Tag schlafen.
1.9. Corrour Bothy - Derry Lodge
Morgens wache ich vom Geräusch auf, das Nieselregen auf Zeltplane verursacht. Ich fluche innerlich. Das war nicht angesagt! Als ich vorsichtig das Innenzelt öffne, um die tatsächliche Regenstärke zu begutachten, sehe ich die wahre Bescherung: das Geräusch stammt nicht von Regen, sondern von Midges, die buchstäblich mit dem Kopf durch die (Zelt-) Wand wollen, um mir meinen Lebenssaft aussaugen zu können. Meine mir eigene Morgenträgheit verhindert leider, daß dieses Schauspiel im Bild festgehalten wird.
Als es einige Zeit später wirklich einen kurzen Schauer gibt (das war nicht angesagt!), verziehen sich die Midges und ich trage mein Frühstücksgeraffel in die Bothy, wo ich mir erstmal einen Kaffee koche. Der Hillwalker hat schon gepackt und rät mir im kurzen woher-und-wohin-Smalltalk, auf keinen Fall durch Strath Nethy zu laufen, viel zu boggy sei es da. "Walk high", ist sein Rat. Er meint damit, vom Loch Avon über Cairn Gorm nach Glenmore zu laufen. Scherzkeks, mit 20kg Rucksack (in dem Moment notiere ich mir gedanklich, mich zu Hause mal über Möglichkeiten der Gewichtsreduzierung im Rucksack zu informieren, ohne gleich notwendigerweise im UL-Sumpf landen zu müssen). Außerdem hat mein Knie gestern rumgezickt, da rüber wird es wahrscheinlich dann endgültig zu Matsch.
Dieser Gedanke bringt mich dann dazu, über meine Tagespläne nachzudenken. Eigentlich wollte ich heute ja ein paar Munros baggen, aber ich beschließe zur Vorsicht, langsam die kurze Strecke bis zur Derry Lodge zu laufen. Wenn's gut geht, gehe ich morgen auf der geplanten Strecke weiter, ansonsten kann ich nach Braemar rauslaufen. Damit begründe ich eine Tradition auf dieser Tour: immer von einer Bailout-Möglichkeit zur nächsten denken...
Da der Regen inzwischen aufgehört hat, sind die Mistviecher wieder aktiv. Ich schleppe mein Zeug zum Packen in die Bothy, da habe ich mehr Ruhe. Wenig später ist alles im Rucksack verstaut und los geht's.
Aufbruch von der Corrour Bothy
Der Weg geht halbhoch am Hang entlang, unten mäandert der River Dee durch etwas, das wie Sumpf aussieht.
Glen Geusachan
Glen Luibeg; irgendwo da hinten liegt die Derry Lodge
Der Pfad biegt nach Osten ab, und schon bald kann ich aus der Höhe die bewaldeten Hänge bei der Derry Lodge ausmachen. Doch zwischen meine momentane Position und mein Ziel hat Slartibartfaß' Kollege, der für das Design der Highlands zuständig war, den Luibeg Burn gelegt. Der will an der Luibeg Bridge überquert werden, und der Weg dahin führt durch einige hundert Meter bogverseuchten Gebiets. Die großen, unregelmäßigen Schritte von einem Fleck festen Bodens zum nächsten und der abschließenden kurze, aber steile Abstieg zur Brücke lassen mich mein Knie wieder spüren...
Luibeg Bridge
Auf der anderen Seite geht es weniger steil wieder einige Meter rauf, nochmal durch ein kurzes Bog-Stück und dann weiter auf einem festen Pfad. Bald darauf erreiche ich die Brücke über den Derry Burn und schlage mein Zelt 200 Meter flußaufwärts auf.
Zelten am Derry Burn
Da es erst später Nachmittag ist, gönne ich mir die Zeit für eine Rasur und sogar eine Haarwäsche. So kommt auch die Sea to Summit Faltschüssel zu ihrem ersten Einsatz. Dann überlege ich: gestern kamen die Midges gegen 18:30, also sollte ich bis dahin gekocht und gegessen haben. Jetzt ist es 17:00 Uhr, also fange ich an, es sollte noch genug Zeit sein. Doch kaum brennt der Kocher, kommen sie von überall her. In einiger Entfernung auf und ab laufend, warte ich, bis das Wasser kocht, kippe meine Tüte Globi Lunch Ungarisch rein und flüchte ins Zelt (weitere Gedankennotiz: Essenskonzept überdenken. Das Globi-Zeug schmeckt mir nicht. Macht aber effektiv satt: schon nach zwei Löffeln habe ich keinen Hunger mehr...). Um den Topf zu spülen, wage ich mich etwas später nochmal raus, diesmal schon in voller Schutzausrüstung. Die Midges bilden jetzt schon eine Wolke um mein Zelt. Schnell bin ich wieder drin, um den Tagesbericht zu schreiben.
Gegen 21:30 erinnere ich mich daran, daß gestern um diese Zeit die Mistviecher wieder weg waren, mit der Hoffnung, daß das heute und hier genauso ist und ich vielleicht noch ein bißchen gemütlich vor dem Zelt sitzen kann. Zelteingang auf, rauskrabbeln, und mir wird schlagartig klar, daß ich gerade einen Riesenfehler gemacht habe. Ich pralle gegen eine massive Wand aus Midges. Killer Midges from Outer Space! Nightmare on Midge Street! Ins Zelt zurück kann ich nicht mehr, da meine Jacke, die ich glücklicherweise schon im Zelt übergezogen habe, nicht mehr blau, sondern schwarz von den Monstern ist und ich die alle ins Zelt schleppen würde. Also ganz raus und hinter mir die Reisverschlüsse schnell zugezogen, hoffentlich sind nicht so viele reingeflutscht! Ich bewege mich schnell vom Zelt weg, rubbele mit beiden Händen die Midges aus den Haaren und stülpe mir das Headnet über. Wenn ich auf dem Weg schnell hin und her gehe, ist es erträglich. Ich drehe eine Zigarette und sehe den Schein dreier Stirnlampen über die Brücke geistern. Da ich sowieso in Bewegung bleiben muss, laufe ich rüber und treffe drei Schotten, die gerade ihr Zelt aufbauen. Im Schein Ihrer Lampen führen die Midges Freudentänze auf. So viel Futter auf einmal! Einer der drei kann ein bißchen deutsch und nutzt die Gelegenheit zum Üben. Er erzählt mir, er sei schon mehrmals hier gewesen, aber so schlimm seien die Biester noch nie gewesen. Ich lasse die drei weiter ihr Zelt aufbauen, rauche noch eine letzte Zigarette, klopfe die an mir klebenden Midges so gut es geht ab und krieche ins Zelt zurück. Anschließend bin ich eine halbe Stunde damit beschäftigt, die im Zelt schwirrenden Blutsauger mit einem feuchten Waschlappen so weit wie möglich zu dezimieren. Noch einen kräftigen Schluck aus der weißen Sigg-Flasche (die mit dem Glenlivet) und ich lege mich schlafen.
2.9. Derry Lodge - Loch Avon
Als ich in der Nacht mal aufwache, leuchte ich vorsichtig mit der Stirnlampe aus dem Zelt. Sie haben aufgehört zu schwärmen, aber sie sitzen überall. Die Situation ist unwirklich. Ich komme mir vor wie in einem Alien-Abklatsch-Film und schlafe durch den Gedanken leicht belustigt wieder ein.
Am Morgen sind sie wieder aktiv, an ein gemütliches Frühstück ist nicht zu denken. Also gibt es zum Müsli im Zelt nur eine aufgelöste Vitamintablette statt Kaffee. Dann wird der improvisierte ABC-Schutzanzug angelegt und ich fange an, meine Sachen aus dem Zelt zu räumen und 20 m weiter zum Packen wieder abzulegen, denn die kleinen Monster schwirren in einer Wolke um mein Zelt. Danach wird das Zelt abgebaut. Irgendwo habe ich mal gelesen, daß Midges keine Sonne mögen. Dieses Gerücht entbehrt jeglicher Grundlage.
Midges im Sonnenschein
Aus den Gestängeaufnahmen bröselt mir torfähnlicher Dreck entgegen. Wie kommt Torf da rein? Dann wird mir klar, was ich das ist: Die Mistviecher haben sich dort drin vor der Nachtkälte und Feuchtigkeit versteckt und sich in Massen gegenseitig erstickt. Wenn mich in diesem Moment jemand sähe, er würde mich für verrückt halten. Möglicherweise sogar für gefährlich. Leise vor mich hin kichernd, wiederhole ich immer wieder "I see dead Midges".
Schließlich ist alles im Rucksack verstaut und ich mache mich auf in den sonnigen Morgen. Kaum daß ich in Bewegung bin, hören die Midges auf, ein Problem zu sein. Zuerst geht das Headnet in die Jackentasche, dann die Jacke in den Rucksack. Es wird schnell warm und die Szenerie bekommt einen Touch von afrikanischer Savanne.
Savanne
Life is good. Das ist einer der Tage, an dem man die Frage, warum man sich das alles antut, mit den beiden Worten "wegen sowas" vom Tisch fegen kann. Das einzige, was das Idyll stört, ist die RAF (für die, die alt genug sind, sich da noch dran zu erinnern: die Royal Air Force, nicht die anderen), die die Glens bei Tiefflugübungen mit einem Lärmteppich direkt aus der Hölle überzieht.
Laut!
Doch irgendwann zollt auch die RAF dem Ölpreis Tribut, stellt ihre Dogfight-Simulationen ein und ich habe das Glen Derry für mich. Nach einiger Zeit kommt das Coire Etchachan in Sicht und ich beginne den Aufstieg zur Coire Etchachan Bothy, auch bekannt als Hutchinson Memorial Hut.
Coire Etchachan mit Bothy
Nach einem kurzen Blick in die Bothy gehe ich weiter. Als es kurz wieder bergab geht, meldet sich das Knie sofort wieder. Ich mache auf einem großen Felsblock erstmal Mittagspause. So kann ich unmöglich morgen auf Derry Cairngorm und Ben Macdui steigen, schließlich bin ich in jeder Richtung einen Tagesmarsch von der Zivilisation entfernt. Ich beschließe also schweren Herzens, auch diese Munros links liegen zu lassen und nicht am Loch Etchachan zu zelten, sondern bis zum Loch Avon zu laufen und von dort am nächsten Tag nach Glenmore zu marschieren. Langsam setze ich meinen Weg fort und als ich den Loch Etchachan erreiche, sehe ich dort schon ein Zelt stehen. Ich tröste mich also damit, daß ich diesen Ort sowieso nicht für mich alleine gehabt hätte.
Coire Etchachan von oben
Loch Etchachan
Hier oben gibt es ein paar schöne Flecken zum Zelten, aber sie wären bei schlechtem Wetter alle ziemlich dem Wind ausgesetzt. Nach ein paar Metern wird der Blick frei nach unten auf den Loch Avon. Schon von hier oben kann ich ein schönes Fleckchen direkt bei der Mündung des Baches, der vom Wasserfall kommt, ausmachen. Dort möchte ich mein Zelt aufschlagen! Ich hoffe, daß niemand vor mir dort ankommt und mache mich an den steilen Abstieg.
Loch Avon
Der Weg ist an einigen Stellen ziemlich erodiert, und einmal mehr bin ich froh um das gute Wetter. In strömendem Regen wäre das sicher nicht ganz ungefährlich. Unten angekommen, laufe ich noch ein paar Meter durch Sumpf, bis ich an einem kleinen Sandstrand stehe. Jemand war so freundlich, schonmal einen kleinen Windschutz aus Steinen zum Kochen für mich zu bauen. Ein paar Meter daneben stelle ich mein Zelt auf - zum erstenmal unbehelligt von Midges. Als erste Aktion hänge ich das Innenzelt aus, drehe es auf links und schüttle die Midge-Leichen raus. Dann richte ich mich häuslich ein und klettere, Knie hin, Knie her, noch ein bißchen in der Umgebung rum. Dabei mache ich völlig begeistert ein Foto nach dem anderen von meinem Zeltplatz. Ein wirklich grandioser Platz!
Später koche ich mir mein Abendessen und einen großen Vorrat Tee, wobei dann doch ein paar Midges auftauchen - aber nichts, was mich nach gestern noch erschüttern könnte. Wahrscheinlich sind das die, die ich selber in meinem Rucksack mit eingeschleppt habe. Wenn es jetzt also am Loch Avon Midges als Neozoen gibt - mea maxima culpa. Sie dürften hier oben allerdings den Winter nicht überleben.
"Strand" von oben
Zelten am Loch Avon
Schließlich wird es dunkel, aber obwohl es rasch abkühlt, genieße ich den Abend und sitze noch relativ lange auf einem Stein vor dem Zelt. Ich bin anscheinend völlig alleine hier - den einzigen Menschen habe ich heute unterwegs im Glen Derry getroffen. Das Zelt oben am Loch Etchachan war verlassen, der Besitzer war wohl unterwegs auf den umliegenden Munros. Und auch hier am Loch Avon ist niemand mehr vorbei gekommen, trotz des großartigen Wetters. Zur Feier des Tages gönne ich mir eine der drei extra für diese Momente mitgebrachten Zigarren und ein paar Schlucke aus der weißen Sigg-Flasche (genau, die mit dem Glenlivet)...
In der Nacht fordert der Tee seinen Weg nach draußen. Von meinem Standpunkt aus direkt über dem Loch Avon verschleudert der abnehmende Mond sein silbriges Licht über den See und die umliegenden Berge. Ich denke kurz daran, die Kamera rauszuholen, beschließe dann aber, daß a) mir zu kalt ist, um lange draußen rumzuhampeln, b) das Foto ohne Stativ und mit meiner Kompakten eh nichts wird und c) diese Stimmung sowieso nicht auf einem Bild bewahrt werden kann, sondern nur in der Erinnerung. So stehe ich noch einige Momente da und sauge das Bild in mich auf, bevor ich wieder in meinen Schlafsack krieche. Ein perfekter Schlußpunkt hinter einem großartigen Tag.
3.9. Loch Avon - Glenmore
Morgens lacht mich die Sonne aus einem strahlend blauen Himmel an. Ich genieße die wärmenden Strahlen in einer fast Midge-losen Umgebung bei einem gemütlichen Frühstück. Dann packe ich meine Sachen zusammen und mache mich auf den Weg. Die Flußmündung wird auf Stepping Stones überquert, dann geht es am Nordufer des Loch Avon Richtung the Saddle. Das ist auf dem ersten Stück leichter gesagt als getan, denn der Pfad, der auf der Karte eingezeichnet ist, existiert in der Wirklichkeit nicht als solcher, sondern ist mehr als grobe Orientierung zu sehen. Über große Felsbrocken geht es auf und ab am Ufer entlang. Nur an gelegentlichen Fußabdrücken im Schlamm zwischen den Felsen erkenne ich, daß ich noch ungefähr richtig bin. Trotzdem kontrolliere ich immer wieder auf der Karte und dem GPS, ob ich nicht doch falsch laufe. Immerhin ist sogar auf der Garmin-Karte ein Pfad verzeichnet, und das, obwohl dort eher Wege fehlen, die es in Wirklichkeit gibt (was das angeht, ist die Garmin-Karte GB wirklich rausgeworfenes Geld). Irgendwann wird der Pfad dann besser sichtbar.
Blick zurück. Hier ist der Weg schon besser
Kurze Zeit später erreiche ich The Saddle, wo ich erstmal Pause mache. Zwei Stunden habe ich durch die Kletterei über die Felsen bis hierhin gebraucht. Ich schaue ins Strath Nethy und bin gespannt, wie die Wegverhältnissen dort sein werden. Schließlich bin ich gewarnt worden...
Strath Nethy vom Saddle
Zunächst geht es aber über einen guten Pfad auf flachen Steinen leicht abwärts. Zwar sieht man hin und wieder etwas Matsch, aber wirklich boggy ist es nicht. Dann wird das Tal etwas enger, und der Weg wechselt immer wieder vom Bachufer ein bißchen den Hang hinauf und wieder herunter. An manchen Stellen kann man sehen, daß bei Regenwetter bestimmt mehr Probleme mit Schlamm auftauchen können, aber nach einer Woche Trockenheit und Sonnenschein läßt sich alles immer wieder mit einem beherzten großen Schritt regeln.
Strath Nethy
Immer am Bach entlang
Später weitet sich das Tal, und der Weg führt durch die heidebewachsene Ebene. Auch hier ist viel Dreck zu sehen, der sich bei Nässe in Schlamm verwandeln wird, aber bösartige, hüfttiefe Bogholes würde ich auch hier nicht erwarten. Doch dann weicht die Heide einer Graslandschaft, Sumpfgras, und immer wieder mäandern kleine Bäche durch die Gegend. Now we're talking bog! Immer wieder teste ich zunächst mit den Stöcken, ob die nächste Stelle, auf die ich meinen Fuß setzen will, mich auch tragen wird. Zwei Hillwalker mit leichten Tagesrucksäcken überholen mich - die ersten Menschen, die ich seit mehr als 24 Stunden sehe - und hüpfen mit langen Sprüngen den Pfad entlang. Da sie so nicht testen können, wo sie landen werden, platscht es einige Male, aber weiter als bis zum Knöchel versinken sie auch nicht. Ich kann mir mit dem schweren Rucksack diese Technik nicht erlauben und bleibe bei vorsichtigen, wenn auch manchmal weiten Schritten. Alles in allem bleibt aber das große Bogfest aus, das tagelange trockene Wetter hat mich wohl vor Schlimmerem bewahrt. Schließlich erreiche ich nach einem kurzen Abschnitt, in dem große Steine den Weg durch Sumpf und Wasser bilden, die Brücke über den River Nethy, wo der Pfad in einem breiten Wirtschaftsweg aufgeht. Direkt hinter der Brücke mache ich erstmal Pause auf einem großen Stein.
Brücke über River Nethy
Hier gibt es schöne Plätze zum Zelten, wenn - ja, wenn es keine Midges gäbe! Kaum sitze ich still, schon werde ich freudig umschwärmt. Da ich nicht bereit bin, mich aussaugen zu lassen, bleibt die Pause kurz und ich wandere den Rest der Strecke zur Glenmore Campsite. Weil ich wegen der gestrichenen Munros einen Tag vor meinem Plan liege, checke ich für drei Nächte ein, um einen weiteren Ruhetag zur Schonung für das Knie zu gewinnen. Nach dem Zeltaufbau geht's dann erstmal ausgiebig unter die Dusche. Beim Haarewaschen werden Unmengen toter Midges ausgespült - kein Wunder, daß sich meine Kopfhaut anfühlt wie die olympische Skipiste für die Buckelpistenwettbewerbe. Zurück zum Zelt, trifft mich beim Öffnen des Eingangs erstmal der Hammer. Der Geruch, der mir entgegenschlägt, raubt mir den Atem. Vielleicht hätte ich die Socken vor das Zelt legen sollen, statt sie drin liegen zu lassen...
Aber kaum, daß ich wieder zivilisiert aussehe und rieche, werde ich von meinen Zeltnachbarn zum Bier eingeladen. Graeme entschuldigt sich wortreich dafür, daß das Bier nicht kalt ist, aber nach vier Tagen Busch ist mir das sowas von Schnuppe... Er und seine Freundin sind aus Aberdeen für eine Woche Uraub zum Zelten hier und sitzen auf throngleichen Campingstühlen vor einem Riesenzelt, das sich neben meiner bescheidenen Ein-Mann-Hütte macht wie die Sommerresidenz der Queen. Während wir quatschen, fällt mir auf, daß irgendetwas nicht so ist wie sonst. Richtig, ich fuchtele nicht mit den Armen vor dem Gesicht herum. Keine Midges! Das hindert eine Gruppe neu angekommener Boy und Girl Scouts aber nicht daran, die ganze Zeit mit Headnets rumzulaufen. Ich habe kein schlechtes Gewissen dabei, sie als verweichlichte Jugend von heute zu bezeichnen, was die Freundin von Graeme etwas verwirrt. Lästig seien die Midges ja schon, und auszuhalten sei es nur mit ihrer spezial-100%-Natur-anti-Midge-Lotion. Ich schaue etwas genauer hin. Naja, drei bis fünf kleine Punkte schwirren schon um meinen Kopf, aber nach meinem Erlebnis an der Derry Lodge ist das so gut wie Midge-frei.
Als die beiden anfangen zu kochen, mache ich mich auf, die 15 Minuten zur Glenmore Lodge zu laufen, wo ich in der Lochain Bar ein riesiges Ribeye Steak verdrücke und noch zwei, drei Pints hinterherspüle. Außerdem nutze ich die Gelegenheit, um per freiem WLAN den aktuellen Wetterbericht zu holen. Noch drei Tage soll es trocken bleiben, dann soll sich das Wetter verschlechtern. Schaun mer mal.
4.9. Glenmore
Da ich hier sowieso einen Ruhetag einlegen wollte, wird dieser Tag verbummelt. Erst einmal werfe ich meine Sachen in die Waschmaschine und danach in den Trockner. Dann gehe ich zum Loch Morlich, wo ein breiter Sandstrand Nordseefeeling verbreitet. Nicht wenige Leute liegen da und sonnen sich - bei 15 Grad wohlgemerkt. Im Wasser planschen einige Kinder, allerdings mit Neoprenanzügen. Und auch das "Boathouse Cafe" scheint gut besucht zu sein. Eine ältere Dame sucht mit einem Metalldetektor den Sandstrand ab, was eine jüngere Frau dazu veranlaßt, mir im Vorbeigehen ein sarkastisches "Someone lost a wallet here 60 years ago. It has never been found..." zuzuraunen.
Boathouse Cafe
Zurück auf dem Campingplatz ist es etwas voller geworden, man merkt, daß Samstag ist. Als überfüllt, wie hier mal erwähnt wurde, würde ich das allerdings nicht bezeichnen - es ist wohl schon Nachsaison. Neben mir schlägt Stuart aus London sein Zelt auf. Er möchte in einigen Wochen auf den Kilimandscharo und ist hergekommen, um zum Training ein paar Höhenmeter unter die Stiefel zu nehmen.
Zum Abendessen kaufe ich mir im nahegelegenen Shop eine Dose Chili con Carne und vorgegarten Reis. Um den Umsatz anzukurbeln, hat der Inhaber ein ausgeklügeltes Prämiensystem entwickelt. Ich überschlage kurz den Preis des ausgelobten Sportwagens und die zu erzielenden Wiederverkaufserlöse der angebotenen Waren in der eBucht. Die eigenwillige Schreibweise löst allerdings Zweifel in mir aus, ob der Shop überhaupt Waren im geforderten Wert lagerhaltig hat

Rabattsystem im Glenmore Store
Nach dem Essen statte ich der Lochain Bar einen weiteren Besuch ab, um ein paar Pints zu bunkern. Flüssigkeitsverlust auf Tour ist ein ernsthaftes Thema!

5.9. Glenmore / Loch Morlich
Weil ich meine Runde durch die Cairngorms wegen des Knies um einen Tag verkürzt habe, mache ich einen weiteren Ruhetag. Da ich aber nicht den ganzen Tag faulenzen will, mache ich mich auf, den Loch Morlich zu umrunden. Auf gut ausgebauten Wegen komme ich schnell voran, so daß ich mich entschließe, noch einen kleinen Abstecher durch den Wald zu machen, damit ich nicht schon nach einer Stunde wieder am Campingplatz bin. Und wieder meldet sich mein Knie, so daß mir das Laufen schwer fällt. Eigentlich sollte ich meine Pläne über den Haufen werfen, so hat das doch keinen Sinn. Langsam eiere ich zum Campingplatz zurück, dabei habe ich noch eine schöne Aussicht auf die Föhnwalze, die seit gestern über den Cairngorms steht.
Eindrucksvolle Wolken über den Cairngorms.
Zurück am Campingplatz stelle ich verwundert fest, daß fast alle Leute abgereist sind. Liegt es daran, daß Sonntag ist und alle morgen wieder arbeiten müssen, oder ist es doch die Wettervorhersage? Morgen abend soll es ungemütlich werden. Der Wind hat merklich aufgefrischt, die verbliebenen Zelter haben die Spannleinen ausgebracht. Mich stört der Wind noch nicht sonderlich, ich bin einfach frustriert, weil ich nicht vernünftig laufen kann. Ich spaziere zum Loch und setze mich oberhalb des Strandes auf einer Baumwurzel in die Sonne. Am besten fahre ich morgen mit dem Bus nach Aviemore und übermorgen weiter nach Fort William, um von da aus Sightseeing zu betreiben. Enttäuscht über das vorzeitige Tourende starre ich auf den See hinaus...
Baum in Strandnähe
Als ich nach einer Stunde von meiner Wurzel aufstehe, um zum Zelt zurückzugehen, spüre ich - nichts! Keine Schmerzen im Knie. Vorsichtig hüpfe ich ein bißchen - immer noch nichts. Ich fühle mich von meinem eigenen Körper auf den Arm genommen. Nochmal ändere ich meine Pläne. Ich werde morgen die 10 km nach Aviemore laufen und je nachdem wie das funktioniert entscheiden, was ich weiter tun werde.
Zurück am Zelt kommt auch Stuart bald von seiner Tagestour wieder. Er war auf Cairn Gorm, wo es wegen des Windes schon "interesting" war, und ist dann in einem weiten Bogen weglos über loses Geröll wieder abgestiegen. Da er nur für einen Tag Vorräte dabei hatte und ihm der Laden an der Campsite zu teuer ist, will er nach Aviemore zum Einkaufen. Um diese Zeit (schon nach 5) fahren sonntags keine Busse mehr, also versucht er es per Anhalter und wird von einer älteren Frau, die sich durch wiederholte Schlucke aus einem Flachmann fahrtüchtig hält, mitgenommen. Zurück läuft er die 10 km von Aviemore in wenig mehr als einer Stunde - kein schlechter Schnitt nach einem anstrengenden Munro-Tag. Ich glaube, er ist fit für den Uhuru Peak.
Später sitzen wir noch lange zusammen und leeren gemeinsam die Flasche Rotwein, die Stuart vom Tesco in Aviemore mitgebracht hat. Der Wind hat weiter zugenommen, wir haben uns winddicht angezogen und beobachten die Leute aus den umliegenden Zelten, die immer wieder herauskrabbeln, um die Leinen nachzuspannen. Schließlich gehen wir schlafen. Der Wind schüttelt das Zelt ganz schön, aber im Vertrauen auf die Bunkereigenschaften meines Soulo schlafe ich, möglicherweise unterstützt von der halben Flasche Rotwein, tief und sorglos.
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