Endlich geht’s los. Nach einem langen, schwierigen und mitunter recht unangenehmen Corona-Jahr schwingen wir uns wieder auf in erfreuliche Höhen. Auf geht’s nach Dänemark – den Ostseerundweg wollen wir erkunden. Nichts ist gebucht, wir fahren ins Blaue dieses Jahr, aber das Zelt ist im Gepäck, sodass wir uns treiben lassen können und einfach mal schauen, wie weit wir kommen. Geld zum Ansparen gab's ja genug in der letzten Zeit bzw. weniger Möglichkeiten es auszugeben und also hab ich ein neues Fahrrad gekauft, das mich gewiss leichter über lästige Anstiege treckt, als mein wenig-gängiges Stadtrad, mit dem ich voriges Jahr durch den Spreewald sauste. Fette Reifen hat es, die ich auch brauchen werde, und einen Supadupa-Sattel, der keinerlei Po-Schmerzen verspricht. Immerhin. Den Rest muss ich mir dennoch selbst erstrampeln, denn Elektroantrieb gibt’s für uns nicht (erst in 15 Jahren, wie Stefan jetzt festlegte ); wir fahren rein bio mit Muskelmotor. In Flensburg wollen wir starten, alles andere ist ungewiss.
12. August 21: Auf in den Norden
Die Anfahrt nach Flensburg verläuft ohne Probleme. Die Autobahnen sind mäßig voll; ab und zu weichen wir dennoch auf Landstraßen aus. Das ist fein für mich, die ich nur beifahre; so habe ich mehr zum Gucken. Unser Hotel in Flensburg ist rosafarben. Es heißt Nordig und hat schon bessere Zeiten gesehen. Wir checken ein, zeigen unsere frischen Antigentests (obgleich wir beide genesen sind) und laufen sofort noch mal los zur Flensburger Förde, um irgendwas Essbares für unsere Löcher im Bauch zu finden. Hier unten am Hafen turnt das Leben, glaubten wir, aber mitnichten. Es gibt wenig Lokalitäten und alle schließen sie schon um neune. Jo, die Nordmenschen gehen anscheinend mit der Sonne zu Bett. Die immerhin schickt uns zum Trost einen spektakulären Untergang.
Wir schlendern noch ein bisschen an der Mole entlang, köpfen zwei Bier im Abendrot und lassen die Füße über die Hafenmauer baumeln. Teure Immobilien stehen hier direkt an der See. Der Blick der hier Wohnenden schweift ungebremst über nicht minder teure Segelbote.
Hier will man kein Erdenvolk haben, das betrunken und grölend durch diese Idylle taumelt. Wir trollen uns grummelnd von diesem Ort und suchen ne Imbissbude im Hinterland, wo eher die billigen Häuser immobil sind. Wir finden auch eine und nach einer lapprigen Currywurst geben wir den heutigen Tag zum Schlafen frei. Das aber wird gar nicht so einfach. Unser rosa Hotel behauptet sein Dasein inmitten von Vielbefahrenheit. Der Straßenlärm lässt uns erst lange nicht und schließlich am Morgen dann wieder nicht schlafen. Na mäg. Ab morgen haben wir genug Bewegung an frischer Luft. Jegliches Unbill dieser Art wird uns dann nicht mehr stören.
13. August 21: Gendarmenstieg I. – der coolste Weg, den die Menschheit je befahren hat Wir springen gespannt aus den Federn, frühstücken schnell, was das Nordig uns bietet (immerhin Frühstück haben sie hier) und fahren das Auto zum Park & Ride ganz am Rande der Stadt. Gleich nebenan ist ein Wertstoffhof, genügend Betrieb also, um die Kutsche für mehr als zehn Tage hier stehen zu lassen. Wir schrauben die Räder zusammen, befestigen alles, was mitmuss, ein jeder von uns wird viertaschig fahren, und drempeln erst mal Richtung Zentrum. Stef hat seine Kontaktlinsen vergessen, die muss er zum Joggen dabeihaben und ich will schnell noch ne Bodrum-Kanne kaufen. Die nämlich habe ich vergessen. Und Kaffee muss man sich immer selbst kochen können. Zum Trost und zum Ankommen, zum Wachwerden und zum Aufraffen, zum Vorsichhinträumen, zum Tunken von leckeren Keksen - wofür auch immer, aber die Kaffeefrage ist für mich existenziell und immer mit „Ja, ich will.“ und mit absoluter Autonomie zu beantworten.
Das Rad, wie gesagt, ist neu. Ich bin es natürlich schon probegefahren, aber dennoch, als ich zum ersten Mal jetzt mit den vorderen Packtaschen draufsitze, muss ich gewaltig Luft holen. Das Rangieren mit diesen Gewichten ist ungewohnt. Die rütteln den Lenker gewaltig hin und her, ich habe Mühe, das Rad in der Spur zu halten. Mit diesem Gegurke durch den Stadtverkehr? Ich könnte mir Schöneres vorstellen, aber nach 30 Minuten hab ich mich dran gewöhnt. Und später weiß ich die Zusatzgewichte sogar zu schätzen, denn auf dem Un-Weg, der auf uns wartet, sorgen die Taschen für Vordermasse und machen das ganze Sylvie-Gefährt sehr schön stabil auf dem schlingernden Grund. Aber ich greife vor, noch sind wir in Flensburg und das ist im Stadtkern ein hübsches Örtchen. Wir fahren staunend durch mittelalterliche Gassen und schieben die Räder dann lange durch eine endlose Fußgängerpassage. Hier besorgen wir jene Dinge, die uns noch fehlen zum Glücklichsein. Dann fällt Stefan ein, dass er seine Sonnenbrille im Auto hat liegen lassen. Er will noch mal los und sie holen. Ich verdrehe sogleich die Augen. Ich kann es partout nicht leiden, wenn der Start sich so sinnlos verzögert, während ich bereits aufbruchslustig und kühn ungeduldig mit den Hufen scharre. An einem Supermarkt am Rande der Stadt trennen wir uns. Stef fährt zum Auto zurück und ich vertreib mir die Zeit auf dem Parkplatz mit meiner zweitliebsten Beschäftigung: einfach dasitzen und die Leute beobachten.
Die beiden Damen in pink hinter mir hecheln lautstark ihre letzten Affären durch; die Herren am Nachbartisch, joggingbehost und baseballbekappt kichern dazu. Dann fangen sie an, leere Bierbüchsen in den übervollen Papierkorb kicken zu wollen – das Ganze ist freilich getarnt als Effort in Richtung der Damen; die sollen ebenso albern mitkicken und später vielleicht zu anderen Gefälligkeiten übergehen. Die Mädels wedeln gelangweilt und mit spitzen Fingern ihre lila Handtaschen – kein Bedarf, soll das heißen, die Herren aber tun begriffsstutzig und lassen nicht locker. Ein dralles Mädchen indes kriegt erst mal ein großes Eis, während ihre ebenso dralle Schwester und auch die Mutter sich nach dem schweren Einkauf zum Rauchen niederlassen. Und so und so… niemals kann ich mich sattsehen und -hören an diesen Geschichten, die das Leben tagtäglich aus seiner genetischen Trickkiste zaubert. Viel zu schnell ist Stefan zurück und reißt mich aus meinem Guck-Rausch. Immerhin, jetzt kann’s dann mal losgehen.
Wir schwingen uns auf die Sattel. Es ist kurz nach Mittag, die Sonne scheint und der Wind bläst uns frisch ins Gesicht. Wir fahren kurz straßenbegleitend durch ein paar Vororte, dann weichen die Häuser rechter Hand einem großen Park. In den kullern wir gackernd hinein. Dann wird der Park zum Wald und ebenfalls rechts von uns gibt’s schon den wispernden Wellenschlag der Flensburger Förde.
Es geht schattig durch dichtes Buchengehölz. Wir sind bereits mittendrauf auf dem Gendarmenstieg, jener Weg, der von der Flensburger Förde aus weit ins dänische Hinterland führt. Auf dem einst die Dänen stets wachsam patrouillierten, um ihr Land vor gierigen Südländern zu schützen. Heute ist der Stieg ein Wanderweg, der dänische Jakobsweg gewissermaßen. Mit dem Rad soll er knifflig zu fahren sein. Unser Radführer Bikeline hatte ausdrücklich gewarnt vor diesem Weg, der bestückt mit Stufen, Morast und allerlei ekligen Steigungen in keinem Fall stressfrei auf Rädern zu bewältigen sein soll. Stefan, der alte Trailrunner wollte den natürlich unbedingt fahren – und ich, die ich weniger fit und geschmeidig bin, wollte den unbedingt nicht fahren. Zumindest nicht sofort als erste Tour. Wir hatten schon zu Hause Streit wegen des Gendarmenstiegs und konnten nur schwer uns einigen. Immerhin rang Stefan mir ab, dass wir es wenigstens probieren sollten. Noch ist der Weg liebreich und brav...
... obgleich schon merklich schmaler, als am Anfang, ....
... aber ab hier, warnt uns Bikeline, sollen wir ihn weitläufig umfahren und lieber die Nester im Hinterland erkunden. Wir tun das auch brav (ich setze mich durch). Wir passieren die Grenze in Krusa, die Dänen winken uns lächelnd hinüber, und fahren straßenbegleitend nach Kollund. Und dann immer noch straßenbegleitend Richtung Rinkenaes. Irgendwann fange ich an zu gähnen. Die Straßen sind nett und wenig befahren, auch die Dörfchen sind glattpoliert und zauberhaft, es geht ordentlich hügelan hügelab. Dänemark ist vielleicht im Landesinneren platt, aber hier an der Küste folgt die Landschaft alten Fjorden. Entsprechend zerklüftet ist die Topographie. Aber wo ist das Meer?, frage ich Stef konsterniert. Geht’s nicht irgendwann wieder zurück an die Küste? Anscheinend nicht, meint er achselzuckend. Bikeline hat für uns offenbar die sichere und biedere und gemächliche Variante rausgesucht.
Na, das wird mir zu dumm, wir verlassen spontan die Bikelineroute und treffen vor Sonderhav wieder aufs Meer.
Ne Zeitlang fahren wir noch auf Asphalt, dann verlass ich die Straße irgendwann Richtung Strand und fahre einfach nicht wieder drauf. Denn gleich hinter der Straße hab ich ein winziges Weglein entdeckt, das sich schmal durch die Dünen schlängelt. Das fahren wir jetzt. Irgendwann entdecken wir auch das Wanderschild mit dem blauen Männchen drauf, das uns zackigen Schritts, die Gendarmenmütze keck auf dem Hinterkopf, den Weg durch die Landschaft weist. Nu hat er uns wieder, der Gendarmenstieg.
Unser Lieblingswegweiser gleich am Anfang der Tour
Und was für ein wundervoller Weg das ist!
Immer dicht an der Küste mäandert er liebreich über windige Dünen, durch mannshohe Heckenrosen oder sperriges Schilf. Dann wieder wird er plötzlich waldig und führt uns quer durch dichtes Buchengehölz.
Ab und zu stehen liebliche Häuser am Wegesrand
Oder auch winzige Leuchttürmchen
Fast immer ist er ziemlich schmal, mitunter sehr steil, zuweilen mit Stufen versehen oder extrem steinig und stark bewurzelt. Gleich nebenan flüstern immer die Wellen und manchmal grollen sie auch. Der Pfad ist durchgängig schweißtreibend, immer mal müssen wir schieben, aber der Wind weht vom Meer uns frisch ins Genack. Er küsst uns sofort den Schweiß von der Haut.
Was für ein Weg! Was für eine Abwechslung! Was für eine ständige Herausforderung! Und den wollte Bikeline uns vorenthalten? Zugegeben, er ist sehr anstrengend zu fahren und ohne unsere fetten Reifen wäre er streckenweise unbezwingbar gewesen, aber dennoch: unmöglich ist er nicht. Selbst ich, wenig trainiert, mit gar keiner Trail-Erfahrung und mit dicken Gepäckstücken an allen Rädern schaffe ihn gut. Stef staunt über meine tollkühnen Fahrradmanöver und ist begeistert, weil ich begeistert bin. Nie wieder will ich zurück auf die Straße. Wir ignorieren Bikeline fortan, lassen alle Orte links von uns liegen und demmeln nur noch am Wasser entlang. Wanderer treffen wir einige. Sie schmettern uns fröhlich ihr „god tur“ entgegen. Andere Radfahrer hingegen sehen wir selten. Die lassen sich alle von Bikeline einlullen.
Kurz vor Arsbjerg gibt’s einen akuraten Zeltplatz direkt am Wasser.
Wir füllen die Wasserflaschen und überlegen kurz, ob wir bleiben sollen, beschließen dann aber, doch noch ein Stückchen weiterzufahren auf diesem zauberhaften Fleckchen Erde.
Kurz nach dem Zeltplatz verliert sich der Weg direkt am Wasser und endet schließlich in Sand und Morast.
Hier fahren wir kurzzeitig auch IM Wasser, auf dem schmalen Streifen, wo der Sand etwas fester ist, weil er immer wieder überspült wird. Das ist beschwerlich und wackelig; ich beende die Gaukelei irgendwann, weil ich Angst hab, ins Meer zu kippen.
Nach mühsamer Plackerei durch den Sand finden wir bald eine steile Böschung, wo wir mit sehr viel Kraft die Räder hinaufschieben können. Nu ist genug, sag ich, jetzt brauche ich erst mal ne Pause. Ein Kaffee wäre ganz nett, sinniere ich triefend vor mich hin. Oder ein Eis, meint Stefan. Hm… hier gibt’s nur das Meer und den Weg. Alle Ortschaften sind da, wo Bikeline uns hinführen wollte. Also nicht da, wo wir grade sind. Wir knabbern zum Trost ein paar Nüsse. Und während der Himmel sich eintrübt und erste Tropfen herunterplatschen, zückt Stef sein Handy, um Booking zu befragen, ob’s in der Nähe was zum Nächtigen gibt. Es gibt. In Grasten, etwas abseits der Route, ist ein Hotel, das zum Alten Rathaus heißt (et gamble Radhus). Nehmen wir das?, fragt er mich. Jawoll, das nehmen wir. Lass uns in diesen Ort einreiten und irgendwo was zu Essen finden.
------------------------------------ Fortsetzung bald ------------------------------------------------------
Ui, wie schön - ein neuer Sylvie-Bericht!
Radeln in DK steht in meiner Prioritätenliste nicht so weit oben, aber schon allein um meinen deutschen Wortschatz zu erweitern werde ich hier dabei sein ... und ich wurde ja schon durch zwei neue Vokabeln belohnt ("drempeln" und "demmeln").
Kaffee muss man sich immer selbst kochen können. Zum Trost und zum Ankommen, zum Wachwerden und zum Aufraffen, zum Vorsichhinträumen, zum Tunken von leckeren Keksen - wofür auch immer, aber die Kaffeefrage ist für mich existenziell und immer mit „Ja, ich will.“ und mit absoluter Autonomie zu beantworten.
Absolut! Bei solch verwegenen Unternehmungen ist eine gut sortierte Notfallapotheke unverzichtbar!!
Ui, wie schön - ein neuer Sylvie-Bericht!
Radeln in DK steht in meiner Prioritätenliste nicht so weit oben, aber schon allein um meinen deutschen Wortschatz zu erweitern werde ich hier dabei sein ... und ich wurde ja schon durch zwei neue Vokabeln belohnt ("drempeln" und "demmeln").
Haha.... Drempeln und Demmeln hast Du aber schon letztes Jahr gelernt. Wird Zeit, dass ich paar neue Wörter ersinne. Zum Beispiel orgeln, semmeln, gurken, gaukeln, geigen... seppeln geht auch. Oder saften... Na schau wir mal, was die Tour noch so bringt. :-)
Immer noch 13. August: Volksfest in Grasten Und so machen wir’s. Auf dem Platz vorm alten Rathaus gibt’s grade ein Volksfest. Bierbänke, Flohmarkt, jede Menge Volk und ne ziemlich flotte Rentnerband überschallt das Gelände mit Countrymusik. Die Leute lachen und toben, wippen mit und klatschen, die Sonne ballert, denn der Regen hat sich verzogen und gleichzeitig bläst ein ordentlicher Wind – wenn jetzt Herbst wäre, das Laub würde tanzen. So aber tanzen nur die Haare. Alle Gesichter sehen glücklich aus. Das alles wirkt auf mich so surreal, so ungewohnt nach der langen Coronapause, dass ich mich erst mal auf die Rathaustreppe setzen und alles in mich aufsaugen muss. Überall liegen Rosenblätter rum. Es muss hier zuvor eine Hochzeit gegeben haben. Da sitze ich nun zwischen all diesen Rosenblättern, wippe mit, grinse breit in die Welt und bade mein Herz in Freude. Was für ein hoffnungsvoller Moment! Stef sucht derweil die Rezeption, kommt aber schulterzuckend zurück. Es gibt zwar ne Rezeption, aber niemand scheint hier zu arbeiten. Das Hotel ist unbemannt. Aber Booking hat uns kryptische Zahlen geschickt und jetzt begreifen wir, dass das die Türcodes sind. Und so ziehen wir ein in unser Zimmer, das sich Prins Joachim nennt. Et gamble Radhus ist tatsächlich ein altes Rathaus. Es gibt darin noch ein Trauzimmer.
Aber im Rest der alten Amtsstuben hat der Schimmel sich ausgetobt, die wurden einfach in Zimmer umgewandelt. Das ganze Haus wirkt prachtvoll: überall dicke Teppiche, vergoldete Spiegel, Marmortreppen mit gedrechselten Geländern, Ölschinken an den Wänden. Recht konträr dazu unser Zimmer, sehr modern eingerichtet, gemütlich, geschmackvoll in typisch nordischem Chic.
Wir stellen nur schnell unsere Sachen ins Zimmer und stürmen gleich noch mal runter. Wir brauchen jetzt erst mal dringend ein Bier. Das zapfen wir Flugs und suchen uns etwas abseits ne Bank, auf der wir die Rentnercountrymusik in nunmehr erträglicher Lautstärke genießen.
Hach! Die Sonne scheint immer noch. Und die Stimmung ist hier so ausgesprochen behaglich. Wir sind extrem gut gelaunt, besprechen noch einmal die Highlights des Weges, rufen alle unsere Kinder an und werden so langsam beschwipst vom Bier. Glückselig taumeln wir wieder zurück, duschen, ziehen uns um und laufen erneut in die Stadt, um das gluckernde Bier in uns endlich mit Essen zu neutralisieren.
Viel gibt es nicht in diesem Ort, eine Pizzeria, ein China-Imbiss und eine ziemlich verrottete Kneipe, wo aber nur Getränke zu haben sind. Wir schlendern, die Lage sondierend, hierhin und dorthin, Stef fragt mich, was ich gerne möchte. Entscheide Du, sage ich, ich bin so müde, ich will nur noch ins Bett, mir ist völlig egal, was ich esse. Also gut, der Chinese macht das Rennen. Wir bestellen irgendwas mit Ente, setzen uns raus auf die Terasse und verzehren friedlich, was man uns vorsetzt. Wir sind die einzigen Gäste hier, wir blicken direkt auf einen See, von dessen Ufer grüßt uns Schloss Gravenstein, die Sommerresidenz der dänischen Königsfamilie, ein friedvoller Blick auf herrschaftlich-weißen Stein.
Schloss Gravenstein. Hans Christian Andersen schrieb hier einst die Geschichte vom Mädchen mit den Schwefelhölzchen.
Stef will nach dem Essen noch ein paar Schritte laufen, ich aber nicht. Ich bin zu kaputt und also trennen wir uns hier. Müde und satt stiefel ich schnell die alten Rathaustreppen rauf, betrete beglückt Prins Joachim, falle aufs Bett und schlafe ziemlich sofort ziemlich fest ein.
Haha.... Drempeln und Demmeln hast Du aber schon letztes Jahr gelernt. Wird Zeit, dass ich paar neue Wörter ersinne. Zum Beispiel orgeln, semmeln, gurken, gaukeln, geigen... seppeln geht auch. Oder saften... Na schau wir mal, was die Tour noch so bringt. :-)
Grüße
Sylvie
gibts in bayern alles schon. ein paar der wörter kann man aber um dem ruf des forums nicht zu schaden nicht wirklich übersetzen.
dann schau ich also mal was die tour noch so bringt!
14. August 21: Gendarmenstieg II - knifflig, verboten und atemberaubend
Heute sind wir fröhlich und wach. Wir frühstücken eilig und springen auch schon auf die Räder, die wir alsbald Richtung Küste bewegen. Wir fahren nur anfangs straßenbegleitend rüber nach Egernsund und queren eilig die Halbinsel Broager, um dann sofort wieder meerwärts zu driften.
Bikeline wird ignoriert und das blaue Männchen mit der kecken Mütze gesucht. Der Gendarmenstieg ist heute noch wilder als gestern, schmale Passagen, enge Kehren, sandig-bewurzelte Unwegbarkeiten. Wildromantisch geht’s hoch und runter, durch Buchenwälder, Rosenhecken und Weizenfelder.
Und ewig rauscht uns das Meer.
Der Himmel droht dunkel heute. Manchmal nieselt es leicht. Wir fahren dennoch im T-Shirt, denn der Weg ist so anspruchsvoll, dass wir warm und wach sind. Die Flensburger Förde liegt jetzt hinter uns. Hier sieht das Meer schon wie Meer aus. Wir essen, was der Wegrand uns bietet: Mirabellen und Brombeeren. Irgendwann pausieren wir hoch oben über der Steilküste und lassen den Blick über Wellen und Inseln reisen.
Bei Dyboll fahren wir über den Alssund. Kurz vor der Brücke gibt’s ordentlich Wasser auf die Mütze. Wir huschen schnell noch rüber nach Sonderburg und suchen dann Zuflucht unter dem riesigen Sonnenschirm eines Straßencafés.
Nicht weit entfernt gibt’s schon wieder Musik. Ein sehr engagierter Alleinunterhalter spielt fröhlich Keyboard unter seinem eigenen Bühnen-Baldachin. Dazu singt er: Every breath you take und weitere Schmeckerchen der 80-er Jahre. Jeder Schirm – die ganze Straße runter – ist mit nassen Leuten bevölkert. Alle schunkeln mit, schlechte Laune kommt gar nicht erst auf. Schon wieder untermalt und verstrahlt die Musik seltsam die Stimmung vor Ort. Every breath you take wird jetzt für mich immer diese Erinnerung hervorrufen: Wie wir alle leicht vernässt, aber dennoch froh unter diesen Schirmen hocken und diesem wackeren Entertainer lauschen.
Der Regen flacht ab und wir schwingen uns wieder hoch auf’s Ross. Am Gestade sind wir eh schon; also bleiben wir gleich hier. Nach einem großen Park geht der Weg wieder übergangslos in den Gendarmenstieg unter. Wir nehmen den selbstverständlich, obgleich er hier streckenweise für Radfahrer verboten ist. Es kümmert uns nicht, wir wollen nicht nach Bikeline quer durchs Land fahren, sondern lieber am rauschenden Meer bleiben. Hoch oben an der Steilküste, weit und verwegen über dem Meer schlängelt sich der Pfad nun von Steilhang zu Steilhang.
Der Weg ist sandig, waldig und wurzelig. Wir fahren vorsichtig hier und auch bergab immer langsam, denn hinter der nächsten Kehre könnte der Abgrund nah sein. Im Zweifel schieben wir und genießen im Laufen umso mehr die grandiose Aussicht auf ein wildes, dunkles, dräuendes Meer.
Was für ein Weg! (Noch jetzt, beim Schreiben, zwei Monate später komme ich ins Schwärmen.)
Die nächste Husche überstehen wir unter schützendem Blattwerk. Der Weg wird glitschig jetzt, scheint hier aber, zumindest als Gendarmenstieg, auch zu Ende zu sein. Wir balancieren die Räder vorsichtig raus aus den Klippen und rauschen beglückt hinein in einen teerbestraßten Buchenwald. Danach verliert sich der Weg in weiten Wiesenstrecken. Die Fahrrinnen zwischen saftigem Gras sind jetzt nur noch eine Reifenbreite dick. Es gibt drei von ihnen nebeneinander und einmal, beim Versuch, die Spur zu wechseln, hebelt es mich tatsächlich sanft aus dem Sattel. Stef hat sofort den Fachausdruck parat: Er meint, ich musste das Gerät verlassen. Der Hallenser würde übrigens sagen: es hat mich hinjelascht. Oder: Ich hawwe mich hinjeleddert. (Dies sind aber sehr alte hallesche Begriffe, die fast niemand mehr kennt.) Gottseidank ist aber nur nasses Gras ringsrum, auf dem ich ziemlich aalglatt entlanggleite und mir keinerlei Blessuren zuziehe. Nach kurzem Schreck sitz ich wieder hoch zu Ross und wir verlassen den garstigen Rinnenweg.
Nach einem weiteren ziemlich langen Waldstück erreichen wir Horuphav und endlich schafft der Regen, der launische Neck, das, was er heute schon zweimal erfolglos versuchte: Er kriegt uns nass. Ziemlich plötzlich bäumt sich der Himmel auf und es schüttet aus Wannen auf uns. Wir suchen kurzfristig Schutz in einer Bushaltestelle, aber eigentlich sind wir schon restlos aufgeweicht. Na, das wird doch heute nüscht mehr mit‘m Wetter. Als der schlimmste Guss vorbei ist semmeln wir rüber in ein nahe gelegenes Einkaufszentrum und hier, unter schützenden Glas-Arkaden googlen wir nach einer Bleibe. Wir haben Glück: Nur fünf Kilometer von hier gibt’s ein kleines Häuschen auf einem Bauernhof. Das steuern wir an.
Immer noch 14. August: Zurück zum Klosterstien, ein verwunschener Ort
Unterwegs dorthin kommt allerdings tatsächlich die Sonne wieder raus. Ein kleines Stürmchen frischt auf und fegt die Regenwolken fort. Na schön! Da hätten wir auch noch weiterfahren können, vermerken wir konsterniert. Tun wir aber nicht. Vermutlich, sinnieren wir weiter, würde der Regen wiederkommen, wenn wir jetzt einfach weiterführen. Nein nein, der Regenmacher da oben, wollte uns genau dieses Zeichen geben, dass wir jetzt auf genau diesem Bauernhof uns ein Nachtquartier suchen. Und außerdem stellen wir fest: Wer sich einmal entschließt einzukehren, braucht sehr viel Willenskraft, um diesen Entschluss wieder zu kippen. Und Willenskraft haben wir heute auf dem Weg schon verbraucht. Also husch husch – scharf in die Pedale getreten und schnell hineingedrempelt in unser Nachtquartier.
Das Gehöft unserer Träume liegt einsam zwischen endlosen Weizenfeldern. Es ist ein großes Gehöft mit mehren Gebäuden, U-förmig angelegt.
In der Mitte des Hofs weht die dänische Flagge über einer großen Holzkonstruktion, die eine Glocke beherbergt.
Rings um die Häuser weitläufiges Gelände, parkähnlich mit saftigen Wiesen, hier und da Korbstühle im Schatten von Apfelbäumen. Ein sehr kontemplativer Ort.
Und es herrscht Stille hier. Niemand ist zu Hause. Stefan und ich teilen uns auf und durchsuchen das Gelände nach einem Ansprechpartner. Irgendwann ist Stef verschwunden und ich wandle alleine durch dieses kleine Menschenparadies. Seltsam, denke ich, die Glocke hier… Und hier steht eine lange Holztafel mit vielen Stühlen, alles ganz in weiß…
Auf mich wirkt dieser Ort wie der Hof einer Sekte. Und sofort kommen mir die Krimis von Yussi Adler-Olsen in den Sinn, wo genau auf solchen verlassenen Höfen furchtbare Dinge geschehen.
Aber Entwarnung: Stef kommt um die Ecke. Er wurde also noch nicht für irgendwelche Sonnenkulte zeremoniell geopfert (oder vorbereitend dafür eingesperrt), sondern hat vielmehr die Besitzerin im Schlepptau, die aber kein Wort englisch spricht. Weshalb sie wiederrum telefonisch ihren Sohn im Schlepptau hat, der uns in hervorragendem Deutsch die Konditionen erklärt. Wir könnten im Haupthaus in einer Kammer schlafen, meint er. Es gibt aber hier nur ein Gemeinschaftsbad für alle. Kammer?, denk ich. Was für ne Kammer? Die Buß- und Betkammer? Sofort steigt wieder der Sektengedanke in mir auf. Was ist mit den Hütten?, will ich wissen. Hinten, am Rande der Wiesen hatten wir kleine Hüttchen entdeckt. Ja, sagt der Typ, die vermieten wir auch, aber nur für zwei Nächte. Stef sieht mich an, ich schüttle den Kopf. Entweder die Hütte für einen Tag oder wir fahren weiter, flüstere ich. Stef ins Telefon, viel diplomatischer: Meine Frau sagt, sie will keine Kammer. Der Däne lacht laut auf. Ihre Frau hat goldrichtig entschieden, meint er prustend. (Schon wieder gruselt es mich: Sind wir also hiermit der Kammer des Schreckens entkommen?) Ich wollte Ihnen nur das billigere Angebot machen. Wir bedanken uns artig, geben ihm aber dann zu verstehen, dass wir weiterfahren werden, weil wir keine zwei Nächte bleiben wollen. Da lenkt der Gastgeber ein und vermietet uns die Hütte für eine Nacht.
Ein riesiger weißer Hund kommt getrottet, beschnuppert mich kurz, leckt mir das Salz von den Waden und trollt sich wieder. Also ist es beschlossen, der Hund ist auch einverstanden: Hier bleiben wir über Nacht.
Die ältere Dame, die kein Englisch spricht, gibt uns die Schlüssel und zeigt uns die Hütte. Die steht, flankiert von Apfelbäumen und zwei weiteren Hüttchen etwas abseits, etwa 60 Meter vom Haupthaus entfernt. Alle drei Hütten sind winzig und sehen aus wie alte Eisenbahnwaggons (oder sind gar welche).
Sie sind allesamt nagelneu und innen sehr klug und geschmackvoll eingerichtet.
Wir schnallen unsere Taschen ab, fegen das Wasser von der Terrasse und hängen die Sachen zum Trocknen auf.
Inzwischen ist der Besitzer eingetroffen und besucht uns in unserem Kurz-Domizil, das er uns freundlicherweise auch für eine Nacht zur Verfügung stellt. Ihr sucht die Einsamkeit und ich such die Partys, begrüßt er uns. Nächste Woche will er nach Berlin und das wilde Nachtleben genießen. Na holla, der Typ ist noch jung, dynamisch und uns sogleich sehr sympathisch. Sein Großvater, erzählt er uns, war Deutscher und er selbst ist als Mitglied der deutschen Minderheit hier zwischen den Sprachen aufgewachsen. Wir hatten als Kinder nur einen dänische Fernsehsender und das Programm lief nur von 17 bis 22 Uhr. Und dann hatten wir drei deutsche Kanäle mit einem tollen Kinderprogramm, erklärt er uns. Das war der Grund, dass er so gut deutsch lernte. Wir quatschen noch Zeitchen über dieses und jenes; dann lässt er uns weiter packen und racken.
Stef fährt zurück in den Ort, um Essen zu kaufen, denn fürs Abendessen sind wir leider zu spät gekommen. Auf dem Hof wird anscheinend genau kalkuliert und portionsweise gekocht. Ich räume derweil weiter ein und mach’s mir danach auf der Terrasse zum Schreiben bequem. Was für ein herrlicher Blick auf diese zauberhaften Wiesen hier. Ich pflück mir erst mal nen roten Augustapfel, er schmeckt köstlich, koch mir nen Kaffee und will grad so richtig ins Schreibheft versinken, da ist Stef auch schon wieder zurück. Huch, das ging schnell. Wo ist die Zeit hingeflogen? An so einem Ort vergisst man sie nachhaltig.
Zeit fürs Essen, der Hunger stand schon mehrmals auf der Schwelle, wurde aber abgewiesen. Jetzt lässt er sich nicht mehr mit Ausreden ködern, wir müssen kochen und zwar gleich. Während Stef mit unserer Outdoorpfanne saftige Steaks brät, schnippel ich uns derweil einen leckeren Salat zurecht.
Dann essen wir fürstlich im Abendsonnenschein.
Und so hindern wir leere Bierdosen am Wegfliegen.
Denn es stürmt noch immer recht mittelprächtig.
Dann tingeln wir noch mal los Richtung Meer. Ein kurzer Spaziergang durch weizenblonde Getreidefelder – die Dänen bauen hier offenbar Mischkulturen an, Weizen und Roggen zusammen – schon sind wir wieder unten am Meer.
Genauer gesagt an der Steilküste, auf dem Gendarmenstien wieder. Der Abzweig zum Hof ist mit einer Bank markiert, da steht Klosterstien drauf. Und also hatte ich Recht, nun gut mit der Sekte vielleicht nicht unbedingt, aber: Der Tisch, die Glocke, die Kammern, die malerischen Rastplätze allerorten – das Gehöft ist ne Herberge für Pilgerwanderer, die hier auf dem dänischen Jakobsweg laufen. So findet sich eines zum anderen. Ich erinnere mich übrigens genau an die Bank, denn wir sind heute schon einmal an ihr vorbeigefahren. Ich weiß sogar noch, dass ich neugierig war und den Weg zwischen den Weizenfeldern hochfahren wollte, um zu schauen, welches Kloster sich denn hier verbirgt. Aber letztlich taten wir es nicht, es lag nicht auf unserem Weg und die Steigung war mir zu happig.
Jetzt sitzen wir hier auf dieser Bank und ich frage mich: Konnten wir ahnen, dass wir in ein paar Stunden nur an diesen verzauberten Ort zurückkehren werden? Konnten wir? Ich frag mich das immer in solchen Momenten und manchmal schwingt ganz leise die Antwort in mir: Wir hätten gekonnt. Wir hätten…
Der Sturzguss hat uns hierher zurückgeführt. Der Ort wollte von uns nicht unbeachtet bleiben. Was für ein Glück, dass wir bleiben durften.
Wir schlendern zurück in unsere Hütte – die heißt übrigens Augustin – und fallen ziemlich bald schwer und erfüllt ins Bett.
Hoch oben an der Steilküste, weit und verwegen über dem Meer schlängelt sich der Pfad nun von Steilhang zu Steilhang.
Der Weg ist sandig, waldig und wurzelig. Wir fahren vorsichtig hier und auch bergab immer langsam, denn hinter der nächsten Kehre könnte der Abgrund nah sein. Im Zweifel schieben wir und genießen im Laufen umso mehr die grandiose Aussicht auf ein wildes, dunkles, dräuendes Meer.
Was für ein Weg! (Noch jetzt, beim Schreiben, zwei Monate später komme ich ins Schwärmen.)
Ich war gelegentlich mal im Nachbarort und das war so der einzige Platz weit und breit mit richtig begeisternder "Landschaft". (Aus mir wird nie ein DK-Fan... )
Ich war gelegentlich mal im Nachbarort und das war so der einzige Platz weit und breit mit richtig begeisternder "Landschaft". (Aus mir wird nie ein DK-Fan... )
+1. Sieht aus wie bei mir "nebenan" (in MV). Also schon schön, sonst würde ich da nicht wohnen, und (Fahrrad-)Touren mache ich da - also bei mir - auch, aber einen ganzen Urlaub...? Muss schon *richtig anders* sein (Felsen - d.h. nicht nur Kreide oder sowas, (noch) menschenleer(er)...)
Aber schöner Bericht, verfolge ihn mit Interesse. Vielen Dank.
Ich war gelegentlich mal im Nachbarort und das war so der einzige Platz weit und breit mit richtig begeisternder "Landschaft". (Aus mir wird nie ein DK-Fan... )
Nee, das Foto ist weiter vorne entstanden, wahrscheinlich in dem Wäldchen bei Sonderburg oder vor Horuphav. Und mit der Begeisterung ist es ja immer so ne Sache. Gottseidank begeistern sich die Menschen für verschiedene Dinge und Orte. Sonst würden sie alle in der gleichen Region rumkrauchen. Und vielleicht kommt die Begeisterung für manche Regionen ja auch erst, wenn man sich für längere Zeit durch sie hindurchbewegt? Aber generell gebe ich Dir Recht: es gab zwar auch später noch reizvolle Abschnitte auf unserer Tour, aber der Gendarmenstieg war mit Abstand das Abwechslunsgreichste und Spannendste. Ich bin aber auch der Meinung, dass man die Dinge durchleben muss, um sich ein Urteil zu bilden. Wären wir nicht dort gewesen, könnten wir's nicht einschätzen.
+1. Sieht aus wie bei mir "nebenan" (in MV). Also schon schön, sonst würde ich da nicht wohnen, und (Fahrrad-)Touren mache ich da - also bei mir - auch, aber einen ganzen Urlaub...? Muss schon *richtig anders* sein (Felsen - d.h. nicht nur Kreide oder sowas, (noch) menschenleer(er)...)
Aber schöner Bericht, verfolge ihn mit Interesse. Vielen Dank.
Tja, wer da wohnt, wo andere Urlaub machen, der hat natürlich andere Ansprüche. :-) Wir fanden schon toll, dass wir täglich das Meer sahen und als Innenstadtbewohner waren wir mit den wenigen Menschen, die wir gerade auf dieser Strecke trafen, auch ganz zufrieden.
15. August 2021: Inselhüpfen I, nach AEro
Die Nacht war für mich weniger prickelnd. Also schon bequem, aber geschlafen habe ich dennoch sehr wenig. Erst war ich stundenlang mit Schreiben beschäftigt, dann hab ich im Hüttchen ein nettes Buch entdeckt, mit dem man dänisch lernen konnte. Dann noch ein anderes nettes, das vom Gendarmenstien handelte. Auch mehrere Ausflüge auf’s WC ins Haupthaus standen auf meiner Agenda; ein jeder glich einer kleinen Nachtwanderung in absoluter Dunkelheit durch nassquackernde Wiesen. Und dann, das war das Seltsamste, bin ich halb sechs schon wieder von alleine aufgewacht. Gibt’s das denn? Ich stöber noch ein bisschen im Bildband über Dänemarks Ostseeküste und dämmer dann aber noch mal weg. Frühstück gibt’s später in einem der Hauptgebäude und endlich sehen wir mal die anderen Bewohner des Pilgerhofes. Manche von ihnen müssen lange schon unterwegs gewesen sein; oder intensiv. Sie scheinen mir sehr entrückt. Das Essen ist, wie wir vermuteten, wohlsortiert und wohlkalkuliert. Aber alles ist selbstgemacht, bio und oberlecker. Die selbstgebackenen Körnerbrötchen begeistern uns schwer. Dann packen wir unsere Siebensachen, wechseln noch 30 Worte mit unserem Gastgeber und düsen davon.
Wir fahren zunächst ganz brav die vorgeschlagene Bike-Line-Route, es geht straßenbegleitend zurück nach Horuphav und dann in Kirke Horup mit einem scharfen Rechtsknick nach Osten und wieder in Richtung Meer. Der Weg ist asphaltiert und radelt sich fein. Generell ist das Radwegnetz in Dänemark extrem gut ausgebaut und auch hervorragend beschildert. Die meisten straßenbegleitenden Radwege sind durch dichte Hecken oder schmale Waldstreifen komplett von der Straße abgeschirmt. Sehr oft sind sie auch zur Feldseite hin (der Weg führt in diesen Gegenden häufig durch Felder) mit Hecken oder Baumstreifen bepflanzt, sodass man oft wie durch einen grünen Tunnel fährt. Der Vorteil ist: Man ist vor Wind geschützt. Der Nachteil: Man sieht nichts von der Gegend. Deshalb und weil die Bikeline-Route uns zu weit weg vom Meer nach Norden abknickt, verlassen wir die Strecke irgendwann wieder und suchen uns unseren eigenen Weg durch verschlafene Dörfchen und auch auf Feldwegen. Gegen Mittag endet diese Suche nach fahrbaren Küstenwegen an einer steilen Treppe, die direkt die Steilküste runter zum Strand führt. Hier können wir mit den Rädern nicht hinab; unser Weg endet also hier. Auch entlang der Steilküste gibt es hier keinen Weg und also müssen wir wenden.
Bevor wir das tun, klettern wir aber kurz noch die Stiege runter an die See und überlegen, ob wir nicht kurz hineinspringen. Denn das Wetter – ich habe noch gar nicht übers Wetter gesprochen – ist heute ausgesprochen sonnig und warm. Unten angekommen dösen wir kurz in der Sonne rum, beschließen aber dann, doch nicht zu baden. Wir wollen heute nach Fynshav noch und die Fähre nach Aero kriegen; allzuviel Trödeln ist grade nicht angebracht. Also rauf auf die Räder und einen anderen Weg gesucht. Wir orgeln letztendlich auf einem kleinen Sträßchen parallel zur Küste entlang. Das Meer ist immer in Sichtweite und ich hab das Gefühl, wir fallen in einen Farbtopf aus gelb, grün und blau. Wunderschön.
Aber in Fynshav trübt sich der Himmel ein und es nieselt leicht. Ist aber längst noch kein Grund, die Regenjacken vorzukramen. Kurz vor dem Hafen geht es steil bergab, sodass wir die vielen Fährwilligen mit ihren Zwei- und Vierrädern schon von Weitem wie ein Wimmelbild betrachten können. Es ist ordentlich was los hier. Viel Fahrradvolk ist unterwegs, viele Deutsche zumal und alle sind irgendwie allgemein verwirrt, denn keiner weiß, was die Fähre kostet und wo man die Tickets kaufen kann. Es gibt hier zwar ein Ticketverkaufshäuschen, aber das ist augenscheinlich von der Konkurrenz; hier fahren offenbar verschiedene Linien. Die aufgeregten Deutschen huschen hin und her und versuchen immer mal den ein oder anderen Vertreter des Fährhafenpersonals, die man zuweilen durchs Gelände schlendern sieht, auszuquetschen. Doch die scheinen auch von der Konkurrenz oder zumindest nicht auskunftsfreudig zu sein. Sie meinen, man solle einfach warten bis die Fähre aus Aero kommend sich entleert hat und dann einsteigen. Das mit den Tickets löse man dann schon. Ja, aber hier gibt’s doch verschiedene Linien. Welche ist denn dann die nach Aero??? Für manche Deutsche ist das ein undenkbares Szenario. Alles plappert wild durcheinander, jeder fragt jeden, keiner weiß was.
Wir ziehen uns etwas zurück aus diesem Plapperhaufen und Stefan findet dann irgendwo versteckt auf einem Plakat einen QR-Code, der ihn offenbar auf die richtige Seite führt wo man für diese Linie Tickets buchen kann. Das tut er und wir schwingen uns noch mal aufs Rad und fahren zurück in Richtung Ort. Wir haben noch anderthalb Stunden bis zur Abfahrt und ein nettes kleines Café, wo man gleichnamiges Heißgetränk schlürfen kann, gibt’s hier nicht, wie ich zuvor gehofft hatte. Also trecken wir diesen Berg wieder hinauf und finden alsbald einen Supermarkt mit einem winzigen Imbissbüdchen dran. Hier gibt es schlechten Kaffee für mich und nen pappigen Hotdog, aber die Küchlein, die Stef nebenan im Supermarkt besorgt hat, schmecken lecker. Wir setzen uns vor die Tür unter ein paar Linden und schwatzen mit einem Pärchen aus Bayern, das auch nach Aero rübermachen will. Sie fahren wie wir den Ostseeradweg, aber anders als wir, haben sie jedes Hotel vorgebucht und sind daher ständig in Sorge, ihre vorgeplanten Strecken zu schaffen. Wir reden solange die Zeit uns lässt über Räder, Strecken und Reisen und strampeln dann schnellstens zurück zum Hafen.
Kurz bevor die Fähre ankommt, lernen wir Thomas kennen, ein Alleinradler, der sich wie wir, von Unterkunft zu Unterkunft durchschlägt. Er hat ne kleine Gitarre im Gepäck, aber ich sehe sofort, dass er nicht die klassische Richtung auf der Laute bedient. Woher weißt Du das, fragt er erstaunt. Deine Fingernägel, sag ich nur. Bei den Klassikern sind sie rechts lang und links kurz. Er nickt. Plektrum, meint er grinsend und wir müssen lachen. Dann reihen wir uns ein in die lange Schlange der Radfahrerhorde und der ganze Tross erobert das Boot.
Die Überfahrt dauert eine Stunde. Das Wetter ist unruhig und unser Schiff schlingert sich tapfer durch halbwilde Wellen.
Wir sitzen am Oberdeck an einem großen runden Tisch, trinken Kaffee und reden uns die Köpfe heiß über die aktuelle Coronalage. Das bayrische Pärchen und auch die anderen sind genau wie wir nach Dänemark gefahren, weil hier alles sehr viel entspannter und gelockerter zugeht als in Deutschland. Keine Tests, keine Masken nirgendwo, keine Abstandsregeln, keine Nachweispflichten. Ein Stückchen Normalität, das uns allesamt aufatmen lässt. Tagesfüllend könnten wir uns darüber auslassen, aber schon läuft das Schiff im Hafen von Soby ein und man kehrt uns von Deck.
Die wilde Horde stiebt auseinander; die meisten wollen heute noch bis Aerosköbing fahren, wo sie ihr Quartier gebucht haben. Sie nehmen die von Bikeline empfohlene Nordroute über die Insel. Nur dreie bleiben zurück: Thomas und wir. Wir entschließen uns kurzerhand, an der Südküste langzufahren.
Aero ist winzig, etwa 30 Kilometer lang und sechse breit. 6000 Einwohner, 3 Hafenstädtchen, ein paar Dörfchen, viele Gehöfte. Hier gibt es nur wenige möblierte Übernachtungsmöglichkeiten und also suchen wir gar nicht erst lange, sondern wählen ziemlich sofort die unmöblierten. Wir nehmen das Zelt heute; Stefan frohlockt, ich eher weniger. Die meisten Nebenstraßen an Aeros Südküste sind wohlgeteert und einspurig. Autos gibt es kaum. Ideale Radfahrbedingungen.
Wir verabschieden uns von Thomas, der noch ein bisschen am Hafen verweilen will und demmeln nach Süden bis zum Meer, dann verlassen wir auch die Teerstraßen und nehmen wieder die wilden Wege auf der Düne. Das Wetter ist nieselig-dieselig, aber nicht wirklich kalt. Nach ein paar Kilometern langsamem Sandgegurke wird uns das aber zu anstrengend und wir kehren erneut auf die Landstraße zurück. Und hier holt Thomas uns ein. Wir radeln ein bisschen zusammen, zu dritt nebeneinander und reden über viele Dinge. Ich bin immer wieder erstaunt, wie viel Persönliches zur Sprache kommt bei diesen kurzen Reisebegegnungen. Offenbar macht das der Weg mit uns. Er öffnet uns für die Landschaft und für die Schmerzen in unserem Körper; er öffnet unsere Sinne nach innen und nach außen; er öffnet uns zu uns selbst hin und auch zu anderen hin. Und viele sind ja auch unterwegs, um den Sinn zu sich selbst neu zu finden. Wenn man neugierig ist (so wie ich), dann erfährt man sehr viel über seine Reiseabschnittsgefährten, die einem, eben noch fremd, plötzlich vertraut vorkommen. Wir passieren verschlafene Höfe und suchen mit der Shelter App nach geeigneten Wildzeltplätzen.
Und wir werden fündig. Irgendwo im Niemandsland zwischen zwei Gehöften, kurz vor Voderup, sagt uns die App sollen wir einfach nach rechts Richtung Meer abbiegen. Ein Platz, fast am Meer? Den wollen wir uns ansehen. Wir verabschieden uns ein zweites Mal von Thomas, denn der will noch ein bisschen weiterfahren. Wir aber schauen, wo das Weglein uns hinführt, den die App uns weist. Nach einem dunklen Mirabellentunnel kommen wir tatsächlich auf eine kleine Wiese, abgezäunt inmitten von Kuhweiden und Dünenwiesen. Es gibt eine Feuerstelle, zwei kleine Tische, ein Klohäuschen und sogar eine spartanische Dusche. Und es gibt einen grandiosen Blick weit über die Dünen aufs Meer. Zeltplatz mit Meerblick – hier bleiben wir.
Stefan baut das Zelt auf, ich trage Packtaschen hierhin und dorthin, hänge Wäsche zum Trocknen auf, pflücke ein paar Mirabellen und koche erst mal Kaffee. Wir machen‘s uns in unseren Stühlen bequem und genießend schwatzend die Aussicht. Das Wetter ist etwas freundlicher jetzt; ab und zu grüßt uns die Sonne.
Nach dem kleinen Imbiss schultern wir unsere Handtücher und zuckeln los Richtung Meer, uns den Schweiß von der Haut wellen. Über mehrere Trittleitern müssen wir klettern, um die verkrautete Dünenlandschaft zu erreichen, die hier offenbar gleichzeitig als Kuhweide genutzt wird. Ein deutsches Pärchen kommt uns entgegen. Ihr habt Euch den schönsten Platz weit und breit gesucht, schwärmen sie; es ist so schön nah am Meer und die Aussicht!
Sie selbst wohnen ganz in der Nähe bei einem Freund, sie kommen mehrmals im Jahr aus Hamburg hierher, um die Stille zu feiern. Na dann, auf geht’s zum Strand, wir wünschen uns was und trollen uns. Die Dünenlandschaft, mit hohem Gras und Buschwerk bestückt breitet sich hügelig vor uns aus. Wir laufen eine ganze Weile ehe wir in Meeresnähe gelangen. Aber ach – die Enttäuschung ist groß – hier können wir nirgends ans Wasser; überall dicke Elektrozäune und dahinter Abgründe von steilen Klippen. Selbst wenn die Zäune nicht wären, würden wir da nicht hinunterwollen. Das Pärchen, so schließen wir messerscharf, gehört offenbar nicht zur badenden Fraktion der Bevölkerung, sondern meinte mit der angepriesenen Meeresnähe wohl eher die schöne Sicht, die man zweifelsohne von den Klippen aus hat.
Wir laufen die Küstenlinie lange in beide Richtungen ab. Nichts. Nirgends ein Treppchen oder Stieglein, das uns sicher hinunterführen könnte. Missmutig trotten wir zurück und gucken, was wir zu Essen finden in den Urgründen unserer Packtaschen.
Dann kommt eine Wandertruppe aus den Dünen gerauscht. Drei junge Männer und ein Mädchen. Sie packen lärmend ihre Siebensachen aus und ich habe mal wieder ein Fernsehprogramm für den Abend. Aber nicht lange, der Himmel verdunkelt sich drastisch; die jungen Leute müssen federn, damit sie noch ihre Zelte aufgebaut kriegen. Auch wir haben zu tun, alles was rumliegt und -hängt einzusammeln und ins Zelt zu werfen. Kurz bevor die ersten schweren Tropfen fallen, kommt einer der Jungen zu uns rüber und lädt uns ein, unter ihr Tarp zu kommen. Es gibt dort mehr Platz zum Essen, meint er. Aber wir haben heute keine Lust mehr auf Menschen und lehnen dankend ab. Dann prasselt es auch schon gewaltig herab, mal wieder schüttet es wie aus Wannen. Stef zieht noch einmal die Spannleinen fest, dann schlüpfen wir glücklich ins Zelt. Zeltplatz mit Meerblick heißt eben auch: es gibt keinen Schutz vor Poseidons Atem. Die Zeltwände biegen sich gewaltig, während wir drinnen hocken und unser Knäckebrot mümmeln. Dazu gibt’s Salami, Käse und Mirabellen.
Stef kocht in der Apsis noch einen Tee, den wir, schon in den Schlafsäcken liegend, friedlich in uns reinschlürfen. Draußen geht grade die Welt unter. Es gewittert und stürmt die ganze Nacht. Wir aber liegen, wachsam zunächst, unterm schützenden Baldachin und lassen uns langsam vom Regen einlullen. Gottseidank haben wir das Zelt so aufgebaut, dass die Eingänge nicht Richtung Meer weisen. Auch nach mehreren Stunden schlimmsten Gedonners ist es noch nicht mit uns fortgeflogen. Da schlafen wir langsam ein. Ungewaschen ins Bett!, grummel ich kurz vor der Nachtschicht zu Stefan. Du solltest Dir viel mehr meinen Grundsatz zu eigen machen. Was ist Dein Grundsatz?, nuschelt er halb im Schlaf zurück. Zelte nur, wenn Du musst!
Sylvie radelt wieder - wie schön . Habt ihr den Donauradweg von Passau auch schon "erledigt"? Ich meine mich zu erinnern, dass ihr den machen wolltet. Freue mich auf mehr!
Danke für den tollen Bericht!
Der dänische Ostseeradweg steht ganz oben auf meiner Radtourenwunschliste. Ist aufgrund von Corona und anderen Gründen dieses und letztes Jahr nichts geworden.
Und mit der Begeisterung ist es ja immer so ne Sache. Gottseidank begeistern sich die Menschen für verschiedene Dinge und Orte. Sonst würden sie alle in der gleichen Region rumkrauchen. Und vielleicht kommt die Begeisterung für manche Regionen ja auch erst, wenn man sich für längere Zeit durch sie hindurchbewegt? Aber generell gebe ich Dir Recht: es gab zwar auch später noch reizvolle Abschnitte auf unserer Tour, aber der Gendarmenstieg war mit Abstand das Abwechslunsgreichste und Spannendste. Ich bin aber auch der Meinung, dass man die Dinge durchleben muss, um sich ein Urteil zu bilden. Wären wir nicht dort gewesen, könnten wir's nicht einschätzen.
Sehe ich ganz genauso. Hatte damals eine Woche und es war... eindrücklich.
(Vielleicht hätte mir die Gegend auch mehr zugesagt, wenn wir so Kaiserwetter gehabt hätten wire auf Deinen Bildern.
Aber selbst im beschaulichen Dänemark kann auch ganz schön garstiges Wetter erleben... )
Sylvie radelt wieder - wie schön . Habt ihr den Donauradweg von Passau auch schon "erledigt"? Ich meine mich zu erinnern, dass ihr den machen wolltet. Freue mich auf mehr!
Hallo Oesine,
und wie schön erst, dass wir uns hier wiedersehen. Ich freue mich jedesmal, wenn ich Dich mit im Boot weiß. Donauradweg haben wir noch nicht "erledigt". Uns zog's mal wieder in den Norden dieses Jahr. Und ans Meer wollten wir. Und nicht ganz so weit reisen - also isses am Ende Dänemark geworden. Aber Passau-Budapest steht noch unverrückbar auf unserer Liste.
Danke für den tollen Bericht!
Der dänische Ostseeradweg steht ganz oben auf meiner Radtourenwunschliste. Ist aufgrund von Corona und anderen Gründen dieses und letztes Jahr nichts geworden.
Danke Caroline,
freut mich, dass er Dir gefällt. Und ja.... Corona bzw. die entsprechenden Maßnahmen haben ja so ziemlich allen Menschen gehörig die Pläne durchkreuzt. Aber vielleicht klappt es bei Dir ja nächstes Jahr.
OT:
Sehe ich ganz genauso. Hatte damals eine Woche und es war... eindrücklich.
(Vielleicht hätte mir die Gegend auch mehr zugesagt, wenn wir so Kaiserwetter gehabt hätten wire auf Deinen Bildern.
Aber selbst im beschaulichen Dänemark kann auch ganz schön garstiges Wetter erleben... )
Nu ja.... Kaiserwetter ist auch ein ziemlich dehnbarer Begriff. Ich kann total verstehen, dass einem das Wetter gehörig den Optimismus vernebeln kann. Dann wird halt alles langweilig und grau...
16. August 21: Inselhüpfen II, Aero-Langeland
Am Morgen hat der Regen aufgehört. Na fein. Wir frühstücken ausgiebig, packen unsere Siebensachen, wünschen den Wandervögeln noch ne spannende Tour und düsen davon. Heute wollen wir nach Marstal, einem Ort am ganz östlichsten Zipfel der Insel. Von hier geht die Fähre nach Langeland. Bikeline schlägt indes was Anderes vor: Man solle von Aeronköbing erst mal Richtung Norden rüber nach Fünen fahren, dort nur ein winziges Streckchen bis Svendborg demmeln und von dort aus wieder zurück Richtung Süden übersetzen nach Langeland. Sehr viel später, auf dem Rückweg gewissermaßen und nach der Umrundung des Belts, würde man dann Svendborg (Fünen) ein zweites Mal passieren und sich fürderhin an die Umrundung des kleinen Belts machen. Man fährt also eine riesige Acht mit Svendborg als Scheitelpunkt der beiden Runden. Warum? Fragen wir uns und machen aus der Acht kurzerhand ne Eieruhr, indem wir gleich nach Langeland aufbrechen. Svendborg, vermuten wir, wird es verkraften, wenn wir es nur einmal und zwar auf dem Rückweg besuchen.
Wenn es eine Straße gäbe, die schräg-quer von der Südseite der Insel bis in den Nordosten führte, wir würden sie nehmen, aber es gibt diese Straße nicht. Wir können entweder erst ganz nach Osten fahren und uns dann nordwärts bewegen oder wir fahren erst nordwärts und biegen dann nach Osten ab. Beide Strecken sind etwa gleichlang, aber von hier aus gleich nordwärts geht's nach Aeronköbing. Die Bayern hatten uns von diesem Örtchen vorgeschwärmt, dass es recht hübsch und ansehnlich sei. Also fahren wir erst mal nach Aeronköbing und schauen uns das an. Die Insel ist nach wie vor wenig befahren, jedes Dörfchen träumt hier seinen eigenen Traum, der Himmel hängt tief und die Sonne schläft ebenfalls. Kurz vor Aeronköbing regnet es. Ein ordentlicher Landregen, nicht allzu heftig, aber auch kein Nieselregen mehr. Wir fahren nur kurz durch das Städtchen – es ist in der Tat zauberhaft, aber Lust zum Verweilen hätten wir nur bei besserem Wetter.
Mitten in der Stadt treffen wir Thomas wieder, freuen uns leis am Wiedersehen, fahren ein Stück mit ihm gemeinsam und nehmen dann ein drittes Mal Abschied von ihm. Das Pärchen aus Bayern sehen wir nicht noch mal. Kurz bevor wir die Stadt verlassen trascht es dann doch mit Nachdruck und wir wickeln uns ein in unsere Regenklamotten. Dann geht’s weiter, auf einem lieblichen Pfad an der Küste entlang, den wir kaum genießen, weil es einfach zu nass ist. Wir pausieren kurz an einem Shelterplatz und warten auf besseres Wetter.
Hier gibt es einen seltsamen Platz mit Pfahlschnitzereien
Manche der Figuren muten fast futuristisch an.
Der Regen pausiert ein Zeitchen und wir machen uns feucht-trüb wieder auf den Weg. Auch von Marstal kriegen wir wenig mit, wir trudeln mit den Rädern durch enge menschenleere Gässchen über Kopfsteinpflaster und erreichen die Fähre kurz vor der Angst. Dürfen wir noch mit, fragen wir bang. Wir dürfen; eine freundliche Fährfrau winkt uns hinein. Was ist mit den Tickets, wo gibt’s die denn? Das klären wir später, meint die Dame, ich komme dann zu Euch. Easy, unkompliziert, sehr angenehm geben sich diese Dänen hier. Im Inneren des Expressbotes herrscht eher eine Art Zug-Atmosphäre. Viele Sitze, große Fenster, Ladebuchsen allerorten für die Handys. Und es ist warm und trocken. Ahhhh… wir atmen auf und machen’s uns bequem, hängen die nassen Sachen zum Trocknen auf die Lehnen und werden erstmals heute fröhlich. Ein Kaffee aus dem Automaten hebt meine Stimmung gänzlich in fast nette Höhen.
Während wir auf die Fahrkartendame warten plaudern wir heiter über dieses und jenes – allein sie kommt nicht. Was soll uns jetzt das? Die Fähre legt schon am Hafen an. Auf dem Weg zum Autodeck treffen wir einen anderen Fährangestellten und fragen ihn, wie wir das Ticket bezahlen können. Aber der Typ winkt lachend ab: Ihr seid kostenlos gefahren, meint er. Wieso denn das?, wollen wir wissen. Naja, Ihr wart zu spät, um am Hafen Tickets zu kaufen, also haben wir Euch einfach so mitgenommen. Wie nett. Wir staunen wieder, wie unkompliziert das hier gehandhabt wird. Erst im Nachhinein erfahren wir, dass die Freifahrten zu den Corona-Sommermaßnahmen der dänischen Regierung gehören. Nicht alle Fährlinien haben davon Gebrauch gemacht.
Immer noch 16. August: Inselhüpfen III, Langeland-Lolland An Langeland habe ich, außer dass es die ganze Zeit regnete, kaum weitere Erinnerungen. Wir fahren von Rudköbing bis Spodsbjerg, etwa 10 Kilometer, einmal quer über die Insel, wie durch einen Vorhang aus Regentropfen. Felder, ich glaube Felder gab’s wieder mal am Wegrand zu sehen, aber ganz sicher bin ich mir nicht mehr. In Spodsbjerg probieren wir das Spiel mit den Tickets noch mal. Aber es dauert noch, bis die Fähre ablegt; der Fährmann schickt uns zum Ticketschalter zurück. Nun gut, wir zahlen teures Geld für die Karte und entern das Schiff. Hier gibt’s ne Kantine und die plündern wir jetzt. Die Überfahrt über mürrische See dauert über ne Stunde.
Wir snacken ein kleines Smörrebröd mit Kaffee und Bier. Dann gehen wir an Deck, die neue Insel begrüßen. Hier klart der Himmel etwas auf. Endlich. So viel schlechtes Wetter trübt selbst das sonnigste Gemüt ein.
Heute gibt’s mal wieder ein Hotel, juchu. Stefan hat in Nakskov was gefunden und dorthin fliegen wir jetzt ein. Wir haben noch knapp 30 Kilometer, der Himmel blaut auf, es geht ein fürstlicher Wind, der hier wie verrückt über weite Felder braust. Wir durchstrampeln das tapfer; unterwegs spielen wir Raten-was-im-nächsten-Fenster-kommt; ein äußerst amüsantes Spiel, das vor allem Jenem hohe Punktzahlen bringt, der außer Lampen und Rosen was anderes anbietet.
Schon von weitem sehen wir Nakskovs riesige Kirche über den Dächern blinken. Aber die Einfahrt in die Stadt geht zunächst durch hässliches Hafengelände am Nakskov-Fjord, das uns wenig einladend mit Lagerhallen begrüßt. Irgendwann wandelt sich das Gelände und ich bin immer wieder fasziniert von diesen Übergängen, die uns mal schleichend, mal abrupt den Beginn der eigentlichen Stadt anzeigen. Hier in Nakskov geht das eher schleichend, die Hafengegend ist erst zaghaft, dann häufiger, immer mal mit einem Häuslein bestückt. Die werden irgendwann groß und viele und die Mole verschwindet. Schwupps sind wir mittendrin in der Stadt. Das Hotel Harmonien liegt ziemlich zentral am Rande der Fußgängerzone. Das Haus ist dunkelrot angemalt, innendrin in der Lobby strahlt uns verstaubter Charme von alten Ledercouchen entgegen. Die Damen des Hauses, blondgefärbt, rauchend und mit schlechten Zähnen, wirken verlebt und wenig gepflegt. Wie das ganze Haus übrigens. Auch das Zimmer ist meines Erachtens unterste Schublade, außer nem Bett (und nem Fernseher) gibt’s nichts darinnen, keine Nachtschränke, keine Stühle, das winzige Bad ist fensterlos und wenig durchdacht. Wir haben Mühe geeignete Trockenplätze für unsere nassen Sachen zu finden. Na gute Nacht Marie! Ich zetere ein bisschen rum, was Stefan sich da wieder hat aufschwatzen lassen, aber der zuckt nur mit den Schultern. Es gab nichts anderes, sagt er, und er hat recht damit.
Na, ist jetzt auch egal, die Sonne scheint und wir wollen uns die Stadt ansehen. Und Hunger haben wir auch. Also duschen wir flott und machen uns ausgehfein. Unten an der Rezeption offeriert man uns gleich, dass heute Grillabend ist im Hotel. All you can eat. Die gesamte Offerte wird so honigfreundlich, witzig und charmant an uns herangetragen, dass wir zusagen. In einer Stunde sind wir zurück versprechen wir lachend und die beiden verlotterten Damen schreiben uns grinsend in ihre Gästeliste.
Nakskov ist hübsch, aber ausgestorben. Obgleich es noch früher Abend ist, sieht man kaum Menschen auf den Straßen. Auch Läden und Restaurants gibt es wenige; die meisten haben bereits geschlossen. Wir schlendern ein bisschen herum und besehen uns die große Nikolaikirche. Auf dem Weg zur Kirche, ich hab mein Handy stets für Fotos gezückt, rennt mir eine Frau ins Bild und kommt dann plappernd auf mich zu: Ahhh Paparazzi ruft sie mir schallend entgegen. Aber nein nein… ich wollte doch nur die Kirche… Ich weiß, meint die Frau und lacht sich kaputt. Ich hab doch nur Spaß gemacht.
Sowas passiert uns hier andauernd. Die Dänen haben einen glänzenden Sinn für Humor. Sie witzeln und scherzen in einer Tour, sie sind immer offen und freundlich, sie lachen viel und ihre Zunge klebt häufig locker am Gaumen. Wir bierernste Deutsche sind davon manchmal verunsichert. Naja… Datenschutz und so… man weiß ja nie… Herrgott, was haben die deutschen Reglementierungen uns schon in ein Korsett von bizarrer Steifigkeit gezwungen. Man sollte hier länger bleiben, um das wieder zu verlernen.
Wie so oft in nordischen Kirchen zieren Schiffe das Kirchenschiff
Nach dem Kirchenbesuch trudeln wir heimwärts zu All you can eat. Und was uns hier erwartet, haben wir nicht erwartet. Ganz am Gegensatz zum Rest des Hotels ist das Essen allererste Sahne. Draußen im Hof steht ein wahrer Metzgermeister mit riesigen Messern bewaffnet an einem übermenschlich großen Grill. Es gibt Fleisch aller Sorten und Arten, paniert, naturell, mit Soßen, ohne Soßen, mit Pilzen, Tomaten und Kartoffeln jedweder Machart. Und drinnen biegt sich ne riesige Tafel mit Salaten aller Arten und Sorten, mit Dips und Soßen, Nüssen und Croutons, sauer eingelegtem Allerlei, Obst und Süßspeisen – was für ein Paradies. Haben wir das verdient? Haben wir! Nach diesem hässlichen Regentag. Wir essen vorsichtig von diesem und jenem, eine solches Überangebot birgt die Gefahr des Überfressens, aber irgendwann treckt uns die Neugier doch noch dieses Küchlein und jenes Steaklein auf den Teller und das ganze artet aus in eine mittelschwere Schlemmerei. Naja, all you can eat eben – trotz der gehobenen Preise allerorten, hier haben sich die Dänen wahrlich nicht lumpen lassen. Wir verzehren von fast allem etwas, trinken dazu Bier und Irish Coffee und wanken dann nur noch ins Bett. Das miese Zimmer ist jetzt irgendwie gar nicht mehr wahrnehmbar. Wie sagten unsere Großmütter immer? Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen. Wir wissen jetzt auch, warum das Hotel Harmonien heißt.
Hier noch ein letzter Blick in den Hinterhof des Harmonien.
17. August 2021: Wir fliegen mit dem Wind Heute lacht uns die Sonne. Vorerst zumindest. Regen ist angesagt, aber noch stürmt es nur mittelprächtig. Nach dem Frühstück – auch das war wieder ausgesprochen gut im Hamonien – düsen wir los Richtung Südküste. Lolland ist größer als Aero und mächtiger sind auch die Felder. Sie füllen die Welt von hier bis zum Horizont. Der Wind, besonders wenn er von der Seite kommt, pustet uns streckenweise fast vom Rad. Ja, tobe Du nur, tobe, Du zorniger Sturm, wir halten kräftig dagegen und lassen uns gar nicht einschüchtern. Bikeline schickt uns heute um den Nakskovfjord herum wieder nach Westen, dann immer an der Küste entlang erst süd- und dann ostwärts. Wir klemmen uns die Ausbuchtung nach Westen und fahren von Nakskov aus ziemlich direkt nach Süden. Durch Felder, Felder, Felder – ganz Dänemark scheint hier nur aus Feldern zu bestehen. Ab und zu gibt’s beschauliche Orte, dann hat uns der Wind wieder ganz für sich.
In Maglehoj Strand stoßen wir auf ein wildes Meer und auf den Ostseeradweg. Der führt hier schnurgerade direkt an der Küste entlang.
Wir stehen ein bisschen staunend herum, dann schwingen wir uns auf die Sattel und semmeln los.
Der Wind kommt von hinten und pustet uns regelrecht durch die Landschaft. Hier fliegt man faktisch dahin. Normalerweise finde ich diese ewig langen Deichwege ja irgendwann langweilig, aber heute tobt direkt neben uns das Meer und ich kann ihm die ganze Zeit bei der Arbeit zusehen. Das wird mir niemals öde.
Hätte ich nicht den Gendarmenstieg jetzt und für immer zu meinem absoluten Lieblingsweg erklärt – dieser hier, obgleich so anders, könnte ihm glatt Konkurrenz machen.
Wir fliegen vorbei an kleinen Küstenwäldchen und ausgedehnten Ferienhaussiedlungen, die sich hier exklusiv direkt hinter die Düne brezeln.
Ein Pärchen mit E-Bikes überholt uns; wir hatten sie schon im Harmonien getroffen. Wir bequatschen ein bisschen das Woher und Wohin, aber sie müssen federn, um ihr nächstes Etappenziel zu erreichen. Apropos, frage ich Stefan, wie und wo wollen wir eigentlich heute übernachten? Hm… der Tag ist noch jung, aber je weiter östlich wir kommen, umso dünner gesät sind die Gasthäuser. Wird also Zeit, mal zu schauen, was die Gegend im Osten der Insel so zu bieten hat.
Booking.com wird von den Dänen offenbar wenig genutzt, aber über Google Maps kann man auch ganz gut sehen, welche Unterkünfte gerade im Angebot sind. Die meisten haben eigene Webseiten, auf denen man aber leider nicht erfährt, ob noch was frei ist, geschweige denn selbst buchen kann. Also müssen wir anrufen. Das tun wir dann auch immer mal, wenn wir kurz pausieren.
Rosen im Sturm, direkt am Meer - ganz meine Kragenweite
In Rodbyhavn ist unser spannender Meeresschauweg leider zu Ende. Wir fahren scharf links Richtung Norden und gönnen uns in Rodby eine Pause in einem zauberhaften kleinen Cafe mit einer zauberhaft konfusen jungen Wirtin, die uns erzählt, dass sie erst seit einer Woche geöffnet hat. Wir helfen bei der Firmengründung kräftig mit und bestellen mehr als wir wollten: leckere Baigels und hinterher noch Kaffee und Kuchen. Während wir schlemmen entlädt sich die dunkle Wolkenfront, die uns den ganzen Tag schon begleitete in einem heftigen Guss.
Wir stellen die Räder schnell unter und essen dann gemütlich weiter. Und suchen nebenbei weiter nach Unterkünften. Die Wirtin kriegt das mit und entführt uns gleich in die obere Etage, wo sie bereits ein Gästezimmer vorbereitet hat. Das ist noch nicht offiziell am Start und wir müssen durch ihre eigene Wohnung und eine ziemlich chaotische Küche hindurch, um in die kleine Kammer zu gelangen. Gebt mir zwei Stunden, sagt die junge Frau, und ich werde aufräumen und aufräumen und aufräumen. Puh… was für ein Stress für dieses agile Persönchen! Stef ist nicht wohl bei dem Gedanken, durch ihr privates Reich zu laufen. Wir lehnen also dankend ab und schlendern noch mal durch die Stadt, denn Google hat uns die Präsenz eines Hotels ganz in der Nähe angezeigt.
Rodby ist, wie gestern schon Nakskov, eigentümlich menschenleer. Wo sind nur die Leute alle hin, die hier wohnen? Arbeiten die? Aber es gibt doch auch Kinder und alte Menschen, manche müssen doch mal einkaufen? Der Ort ist beschaulich und hübsch, nur eben arm an Menschen.
Das Hotel, das es geben soll, scheint nicht mehr zu existieren, allerdings ist im verramschten Schaufenster ne große Karte mit ner Telefonnummer drauf. Ich speicher die schon mal ein, will aber erst mal in der Kneipe nebenan fragen, ob man mir weiterhelfen kann. Seltsam, es gibt hier keine nennenswerten Restaurants und wenig Läden aber gleich zwei Kneipen in direkter Nachbarschaft. In beiden stehen riesige Billardtische und es wird geraucht, dass die Schwaden Tango tanzen. Boar, ein Raum, wo man noch richtig schmauchen kann. Ich komme mir richtig verwegen vor, als ich ihn betrete. Dabei habe ich früher an solchen Orten gelebt. Fast schon ein bisschen schüchtern wage ich mich vor zum Tresen. Viele Gestalten, Männer und Frauen gleichermaßen, sitzen mit glasigem Blick auf ihren Hockern und beäugen mich neugierig. Aber mein freundliches Hey lässt sie freundlich zurückgrüßen, bevor sie sich wieder ihren Gläsern zuwenden und mich nicht weiter beachten. Die in der ersten Kneipe schicken mich rüber zur zweiten. Ich frage die Wirtin nach dem Hotel. Ja…., hier gab es mal ein Hotel sagt sie langsam wie in Zeitlupe. Gibt’s da nicht ne Telefonnummer? Ich zücke mein Handy und sie ruft für mich an. Dann sagt sie schulterzuckend: Es gibt hier keine Hotels mehr, es gibt nur noch das hier – sie weist auf die trinkenden Menschen ringsrum. Und obgleich es nicht wirklich lustig ist, müssen wir beide lachen. Die durstigen Dänen prosten uns zustimmend zu.
Kaum hab ich die Kaschemme verlassen, klingelt mein Telefon. Eine Herbergsmutter, der ich heute Morgen auf den AB gesprochen hatte, meldet sich zurück. Nein leider ist sie auch schon voll, aber wir sollen es mal im Ebsens Hotel in Maribo versuchen. Ok, wir rufen dort an und haben Glück. Sein letztes Zimmer, sagt der Wirt, hält er für uns bereit. Prima! Also hopp hopp auf die Räder, wir haben für heute ein Ziel.
Das Wetter ist feucht-diesig, ab und zu nieselt es, der starke Sturm ist vorüber. Wir demmeln fröhlich und wieder mal anders, als Bikeline empfiehlt, auf ziemlich kürzestem Weg auf einer stillgelegten Bahnstrecke entlang, die sich von dichtem Buschwerk umgeben schnurgerade durch windstarke Felder zieht. Ab und zu sehen wir am Wegesrand alte Bahnstationen, die zu Wohnhäusern umgewidmet wurden. Maribo, 5000 Einwohner, hübsch, gepflegt und menschenleer, fläzt sich direkt ans Ufer des großen Söndersees und auch unser Hotel ist nur einen Steinwurf vom Ufer entfernt. Das Ebsens mutet von außen fast an wie ein bayrischer Landgasthof, weiß getünchte Wände, viele Geranien und ein großer Biergarten im Hof. Der Wirt, der für uns reserviert hat, begrüßt uns freundlich auf Deutsch und gibt uns sogleich die Schlüssel für nicht sein bestes Zimmer, aber das letzte, wie er uns mehrfach versichert. Nun denn: Wir ahnen schon, dass wir gespannt sein dürfen.
Im hinteren Trakt des Hauses ist es dann auch vorbei mit dem bayrischen Eindruck und wir schangeln uns mühsam mit unseren Taschen durch ein Labyrinth aus engen Gängen und gefühlt 50 Zimmern, alle auf unterschiedlichen Höhen, kleine Treppchen hier und dort – fast wie im Fuchsbau bei Harry Potters Weasley-Familie. Im Zimmer selbst staunen wir erst recht, alles ist windschief und schräg, die Armaturen hornalt, die Möbel fallen auseinander, der Boden rollt abschüssig in Richtung Fenster. Gottseidank haben die Betten keine Räder, sonst könnten wir hier fröhlich den kleinen Häwelmann spielen. Ich bin beeindruckt. Ich kann mir immer gar nicht vorstellen, dass man solche abgeranzten Hornsken (das ist der hallesche Begriff für armselige Bruchbuden) überhaupt noch irgendjemandem anbieten kann. Aber man kann, wie wir hier lernen. Irgendwie fühl ich mich stark in alte Zeiten zurückversetzt. Obwohl… ein Urlaub im runtergekommensten DDR-FDGB-Heim wäre hiergegen Luxus gewesen. Klo und Bad sind gemeinschaftlich zu nutzen und irgendwo übern Flur – also genauer gesagt über drei verschlungene Gänge, halbe Treppe hoch und wieder runter. Auch hier natürlich der arg verstaubte Charme von vor … keine Ahnung, 70 Jahren? Aber es gibt ne riesige Wanne in diesem Bad und die enter ich jetzt erst mal. Stefan geht joggen, ich schwimmen – so hat halt jeder sein Tun. Wir treffen uns alsbald frisch gestriegelt zum Essen.
Das Restaurant im Erdgeschoss ist knackevoll. Heute machen wir keine Experimente, vermutlich wird’s auch in diesem Ort nur sehr überschaubare Möglichkeiten geben, irgendwo ein warmes Abendessen herzukriegen. Also ordern wir kurzerhand den letzten Tisch - und hier sitzen wir nun, inmitten von lauten, lärmenden, lachenden Dänen. Bis das Essen kommt blättern wir eifrig im Bikeline und planen schon mal grob, wie’s weitergehen soll. Ein dänisches Bauarbeiter-Duo vom Tisch nebenan betrachtet das alles sehr interessiert und gibt uns dann Tipps zur weiteren Route. Das Essen kommt und es ist wieder mal außerordentlich gut, auch wenn mir der Kellner das falsche Gericht bringt, sich dafür vielfach entschuldigt, kein Problem, sag ich, ich habe sowieso Hunger und das hier schmeckt auch ganz vorzüglich – aber nein, seine Kellner-Ehre ist angekratzt und er übernimmt unsere Getränke. Ein Bier und ein Irish Coffee auf’s Haus – nun gut, wir fühlen uns etwas versöhnt mit dem nicht besten, aber dafür letzten Zimmer, was hier vermutlich in der Tat im Umkreis von 50 Kilometern noch zu haben gewesen ist.
Nach dem Essen schlendern wir noch ein bisschen runter zum See und wieder einmal durch menschenleere Gassen.
Das Birgittenkloster in Maribo. Der ganze Ort entstand um das Kloster drumrum.
Oh, Du mein Dänemark! Was bist Du nur für ein seltsames Fleckchen Erde. Deine Straßen sind verwaist, aber voll sind die Kneipen. Deine Häuser sind allesamt zauberhaft, aber wo sind die Menschen, die diese Schmuckstücke bewohnen? Wir wissen es nicht und es bleibt uns ein Rätsel.
Symphonie in blau, rot, gelb und grün. Welch tröstliche Farben zum Abend.
Die Betten im Ebsens – immerhin – sind gut und bequem. Und eigentlich braucht’s auch gar nicht viel mehr, sagen wir uns schon im Wegdämmern.
18. August 2021: Inselhüpfen IV - von Maribo nach Marielyst Heute werde ich mal meiner Rolle als Kultur-Attachée auf dieser Reise gerecht. Doch dazu später, erst mal müssen wir frühstücken und unsere Sachen zusammenpacken. Dann verabschieden wir uns herzlich vom Ebsens-Wirt, der uns nochmals beteuert, dass wir nicht sein bestes Zimmer gekriegt haben…. aber sein letztes, erwidern wir lachend. Und ja, Hauptsache das Bett war kuschlig, betonen wir höflich, wobei wir insgeheim vermuten, dass auch alle anderen Zimmer in diesem Haus nicht die besten, aber bestimmt immer die letzten sind. Der Wirt wünscht uns noch gutes Wetter und schickt uns winkend hinaus in die Welt. Besseres Wetter! Ja, das könnten wir brauchen. Der Himmel seufzt immer noch regenschwer und es windet gehörig. Wir fahren zunächst rechts am See entlang, denn ich habe dort ein Freilichtmuseum entdeckt. Das wollen wir uns ansehen. Ich liebe ja diese kleinen Hütten mit ihrem historischen Interieur, das ist wie IKEA im Mittelalter, sag ich zu Stef. Der nickt nur stumm und lässt das alles über sich ergehen.
Nach ein bisschen Sucherei finden wir das Museum, erstreiten kurz mit der Wärterin die Möglichkeit, unsere Räder drinnen abzustellen und durchschreiten dann staunend Hütte um Hütte, Schulgebäude und Stallungen.
Ein kapitaler Hahn stolziert hier erhaben durchs Gelände
Das Skansen ist klein aber fein, besonders spannend sind für mich die Erzählungen, die man von den einstigen Bewohnern dieser Häuser zusammengetragen hat.
Die Schule
...und ein Vierseitenhof, der mich stark an die Höfe in der Puszta erinnert.
Die Hütten stammen zudem aus verschiedenen Epochen und Gebieten – sie wurden alle irgendwann als museumswürdig eingestuft, in ihrem Heimatdorf komplett abgebaut und hier in Maribo wieder aufgebaut. Skandinavische Museumskultur in Hochform – wir sind beeindruckt.
Ländliche Szenerie aus den 50-er Jahren
Alsbald schlüpfen wir wieder heraus und jetzt geht’s auf den eigentlichen Weg. Stefan sucht wie immer nach Alternativen zu Bikeline, aber so recht gelingt es ihm heute nicht. Immer wieder bremst er ab – meist vor Steigungen - um auf sein Handydisplay zu gucken. Ich, die ich hinter ihm fahre und nicht erahnen kann, dass er jetzt langsamer wird, komme regelmäßig ins Straucheln, weil ich so schnell nicht runterschalten kann, um dann den Anstieg zu bewältigen. Das nervt. Wir verfransen uns gehörig in einer dänischen Wohnsiedlung, die vor jeder größeren Straße mit kindersicheren Halbschranken umgeben ist. Schnell mal über den Fahrweg fahren ist hier nicht möglich. Nicht dass es hier viel Verkehr gäbe, auch dieses Gebiet scheint uns mehr tot als lebendig, aber immerhin sind wir vorhin an einer Schule vorbeigekommen und vom Hof her schlug uns lärmend ein buntes Gewimmel entgegen - es gibt hier also Menschen, stellen wir fast schon erleichtert fest. Für diese fröhlichen Kinder hier sind demnach die ganzen Halbschranken gemacht. Das ist löblich. Sehr löblich. Nur für uns mit unseren fetten Packtaschen wird das Durchschlängeln dieser Schranken jedes Mal zur Zitterpartie. Wobei ich die Erfahrung mache, dass ich linksrum irgendwie besser durchkomme als rechtsrum, aber das nur am Rande. Irgendwann bin ich von diesem Gegurke derart genervt, dass ich vorschlage, jetzt doch die Bikelineroute zu suchen. Das beschließen wir dann.
Nur müssen wir vorher noch, also nach der Siedlung, einen dunklen Buchenwald queren, dessen Wege sandig sind und teilweise zugewuchert. Anstrengende Fizzelarbeit. Ich schwitze und friere zugleich. Endlich stoßen wir hinter Saksköbing wieder auf die Route und auf kleineren, angenehm geteerten Straßen geht’s weiter. Von Gehöft zu Gehöft; die Gegend ist nicht sonderlich üppig besiedelt. An einer großen Brombeerhecke halten wir kurz um zu picknicken. Heute gibt’s unterwegs keine kleinen Cafés, wo wir in großem Luxus Hotdogs oder kleine Küchlein verspeisen können, also nehmen wir das, was wir finden: Brombeeren, Äpfel und Mirabellen. Dazu ein paar Salznüsse und netten Trinkjoghurt. Das muss reichen an einem trüben Tag wie heute. Nach dem Brombeerstopp spielt auch das Wetter hervorragend mit und wird seiner Rolle als Sinnenvertrüber vollends gerecht – es regnet mal wieder Bindfäden, wie heute den ganzen Tag schon immer mal. Wir passieren den Herrensitz Krenkerup, der einladend und sehr idyllisch an einem kleinen See liegt, leider aber vollends privat ist und somit nichts für unsere neugierigen Augen.
Aber gleich nebenan gibt’s die Krenkerup-Brauerei, wo man uns vollmundig auf riesigen Schildern einen Bierausschank verspricht. Wir fahren durch riesige Torbögen ins herrschaftliche Betriebsgelände aus Klinkersteinen und finden in der Tat einen winzigen Shop mit Straßenverkauf. Aber leider werden hier die Flaschen nur im Sixpack verkauft. Wir verweisen auf unsere prall gefüllten Packsäcke und ziehen unbehopft weiter.
Danach kommt ein ziemlich dröger Abschnitt, wo sich Maisfeld an Maisfeld reiht. Mais-Gehöft-Mais-Gehöft – das alles an ziemlich schnurgerader Straße – man hat überhaupt nicht das Gefühl, vorwärts zu kommen. Im Gegensatz zum Gendarmenstieg: hier kamen wir mit großer Sicherheit nur langsam voran, aber weil der sich ständig änderte, hatten wir dieses Gefühl nicht. Eigentlich ist es doch das, was uns Einstein erklären wollte mit seiner Relativitätstheorie. So rauschen wir sinnierend an Mais und Mais vorbei und endlich kommt Abwechslung: Zuckerrüben! Und ab und zu Weizen, falls noch nicht abgeerntet. Und dann die totale Abwechslung: Sundby, der nächste größere Ort. Wir fahren aber noch nicht sofort über den Guldborgsund auf die Halbinsel Falster, sondern wenden uns zunächst küstenbegleitend nach Norden ins Mittelalterzentrum, wo man mit experimenteller Archäologie die alten Gewerke betreibt. Hier kehren wir ein, denn das macht mich neugierig. Und heute gibt's ja mal Kultur, wie wir gestern beschlossen haben.
Leider sind wir etwas spät dran, es ist fast schon um drei, die Ritterspiele und andere Rummelplatzattraktionen sind bereits vorüber, aber wegen diesen sind wir auch nicht hergekommen. Immerhin bezahlen wir nur noch den halben Eintrittspreis und haben noch gut eine Stunde, um uns ein bisschen umzusehen. Drinnen tummelt sich viel Volk, was uns richtig seltsam vorkommt nach diesen menschenleeren Tagen. Das Mittelalterzentrum ist zugleich eine Stätte der Forschung und der Technologien. Hier werden die alten Gewerke nicht nur gezeigt, erforscht und entwickelt, sondern man lebt hier anscheinend auch komplett wie im Mittelalter. Wir schreiben das Jahr 1411, im Gasthaus, in der Schmiede, in allen Häusern herrscht reges Treiben, dennoch gehen die Uhren hier etwas gemächlicher, die Schausteller – oder eigentlich müsste man sagen die Bewohner des Dorfes – sind freundlich und nehmen sich viel Zeit für ihre Gäste.
Sehr viele Fotos haben wir nicht gemacht an diesem Tag. Unterwegs war's uns zu trübe und hier im Dorf waren wir ständig im Gespräch mit den Handwerkern
Eine alte Dame in einer Verkaufsbude zeigt uns, wie man ganz ohne Nadeln strickt. Sie erzählt uns, wie es hier zugeht. Manche Bewohner sind angestellt, andere arbeiten auf Honorarbasis, wieder andere sind arbeitslos und lernen hier als Umschulung ein Handwerk. Im Sommer, erklärt sie uns, kommen ganze Familien und leben hier eine Zeitlang, gewissermaßen als Urlaub. So ist das Dorf immer bevölkert und helfende Hände sind auch immer da. Sie spricht hervorragend deutsch und auf Nachfrage erklärt sie uns lachend, dass sie Deutsche ist, also Österreicherin. Früher war sie Lehrerin, kam einst mit ihrer Schulklasse hierher und seitdem wusste sie, dass sie als Rentnerin hier leben will. Und als die Zeit ran war - und ihre blauen Augen strahlen unter einem weißen Haarkranz hervor - habe ich dort alles aufgegeben und bin hier hoch in den Norden gezogen.
Im Nachbarhaus lebt ein Schriftgelehrter und Wappenzeichner, der uns erklärt, bei welchem Wetter man am besten die Holztafeln grundiert. Spannend wird es am Stand der Stoff-Färberin. Wir sehen Wespengallen (die gelb färben), Färberkrepp (macht rot), Kermesläuse (karminrot) und Indigo, ein zusammengepresstes blauschwarzes Pulver der Indigopflanze. In einem Eisenkessel hinter ihr brodelt es. Im Kupferkessel daneben nicht minder. Anderer Kessel, gleicher Farbstoff, anderes Farbergebnis erklärt uns die emsige Alchimistin. Sie ist gerade mächtig am Experimentieren. Wie färbt man grün?, wollen wir wissen. Oh, das ist nicht einfach, sagt sie. Man färbt zunächst gelb und dann blau darüber. Am schwersten zu färben ist tiefes schwarz. Erst blau, dann rot, dann lila. Schwarz muss man sich leisten können, stellt sie fest. Sie haben alles richtig gemacht, strahlt sie mich an. Sie haben sich einen sehr reichen Mann ausgesucht, zeigt sie schmunzelnd auf Stefan, der wie immer in schwarz unterwegs ist. Aber, fügt sie streng blickend hinzu: Sie müssen mal mit Ihrem Mann reden. Er soll Ihnen mal ein schönes Kleid kaufen. Es kann doch nicht sein, dass Sie die ganze Zeit in seiner Unterhose rumlaufen. Es gibt allgemeines Gelächter und ein prüfender Blick an mir herab, zeigt auch für mich: die Radhose schlackert mir weit an den Beinen herum; die Nähe zur Unterhose ist gar nicht weit hergeholt. Wir trennen uns lachend von dieser Witzkuller und besichtigen schnell noch die anderen Lokalitäten hier. Dann werden wir rausgefegt aus diesem wunderlichen Ort, was wir etwas bedauern.
Wir schwingen uns ziemlich lustlos aufs Rad, aber bisschen fahren müssen wir noch. Stef hat heute Morgen ein feines Hotel gebucht; das steht auf der nächsten Insel in Marielyst.
Immer noch 18.8.2021: Nach Marielyst im Regen Wir trampeln also die fünf Kilometer wieder nach Sundby zurück, es regnet mal wieder und zwischendurch fegt uns der Wind in launischen Böen die Hüte vom Kopf. Also mir nicht, ich trage keinen. Aber Stefans Hut reißt es hoch in die Lüfte. Der rollt dann verloren die einsame Küstenstraße entlang. Und hinten tobt ewig das Meer. Es dauert ein ganzes Weilchen, ehe Stef seinen Flughut wieder einholt und ihn zerknüllt in die Tasche steckt. Immer wenn wir auf Brücken übers Meer fahren, weint hier der Himmel. Bisher gab's noch keine Ausnahme von dieser Regel. Mal wieder im Regen geht es über den Sund nach Nyköbing Falster. Von der Stadt, die recht hübsch sein soll, sehen wir wenig. Eine riesige Zuckerfabrik thront prominent am Eingang der Stadt, aber zu näheren Zentrumsbesichtigungen können wir uns bei dem Wetter nicht motivieren. Und außerdem haben wir „größeres“ vor. Stef ist der Meinung, dass unser Hotel in Marielyst, es ist ein edleres Gasthaus, bestimmt einen Coronatest von uns sehen will und deshalb will er sich testen lassen. Ich bin dieser Meinung nicht, aber falls es so ist, habe ich bei diesem Wetter natürlich auch keine Lust, die 20 Kilometer wieder zurück zu fahren nur für den Test.
Anders als bei uns, gibt es hier in der Gegend nur wenige Testzentren und das eine hier in Nyköbing Falster befindet sich auch nicht im Stadtzentrum sondern etwas außerhalb im Gewerbegebiet. Wir durcheilen also auf kürzestem Weg die Stadt und melden uns an. Der Test findet in einer alten Werkshalle statt. Ein paar Krankenwagen stehen in der Gegend rum, es gibt wenige Menschen hier und noch weniger, die sich testen lassen wollen oder müssen. Die Halle ist der einzige Ort bisher, wo wir Masken tragen müssen. Die junge Frau, die das Prozedere vornimmt, kikelt mir so lange und so penetrant in der Nase herum, dass ich furchtbar niesen muss. Sorry, sag ich und ernte dafür einen Blick, der irgendwo zwischen biersauer und vernichtend rangiert. Wie geht es denn jetzt weiter?, frage ich sie. Wir kennen ja die Gepflogenheiten in Dänemark nicht. Wann und wie erfahren wir denn das Ergebnis? Die Frau sieht mich ziemlich lange scharf an. Unter der Plexiglasmaske hat sie noch eine zweite Maske auf und ich sehe nur ihre Augen, kann also nicht wirklich erkennen, was ihr Gesichtsausdruck mir sagen soll. Sie guckt und schweigt so lange, dass ich am Ende ganz unsicher werde und mich frage, ob ich irgendwas falsch gemacht habe. I... don’t ... know sagt sie dann ganz langsam und betont dabei jedes Wort. Das Ganze wirkt irgendwie bedrohlich auf mich. Ok, ok, ich winke ab. Ich sollte wohl keine weiteren Fragen stellen, wenn ich hier lebend rauskommen will.
Verwirrt und immer noch niesend torkele ich aus dem Gebäude und warte auf Stef, der ebenso niesend die Halle verlässt. Wir sind verwundert. Das erste Mal sind wir in Dänemark auf einen Menschen gestoßen, der nicht locker und hilfsbereit und allgemein witzig drauf ist. Ein bisschen mehr Interesse an den allgemeinen Arbeitsabläufen hätte ich schon erwartet, wenn man einen soooo wichtigen Job ausübt, konstatiert Stef. Also so viel zumindest, dass man nem blöden Touristen erklären kann, wie die Regeln hier sind. Aber die Frage klärt sich rasch. Wir kriegen alsbald ne Nachricht aufs Handy, dass der Test eingegangen ist. Nach ner halben Stunde die zweite mit dem Ergebnis. Ein grünes lachendes Smiley. Na fein, dann kann’s ja jetzt endlich weitergehen nach Marielyst.
Die letzten 15 Kilometer radeln wir absichtlich neben einer großen Straße. Der Bikelineradweg führt uns umweglich am Meer entlang – wir aber wollen nur noch ankommen. Das Wetter ist heute nicht unser Freund. Es regnet faktisch ohne Unterlass. Wir semmeln tapfer neben der Straße, mal halb im Wald, mal an Feldern entlang bis wir endlich in Marielyst einreiten. Der Ort ist eigentlich ne einzige Hotelanlage, aber keine Hochhäuser gottseidank, alles schmiegt sich als schmuckes Ressort einstöckig in die bucklige Dünenlandschaft. Ein kleiner Ort, freundlich, direkt am Meer, 700 Einwohner, aber 50.000 Touristen. Im Sommer zumindest. Selbst jetzt, bei strömendem Regen sieht man fröhliche Horden unter bunten Regenschirmen schnatternd durch die Ortschaft turnen.
Im Hotel fragt uns kein Mensch nach dem Test. Wir schwatzen kurz mit dem Rezeptionisten und beziehen unser Zimmer, das wunderbar geschmackvoll eingerichtet und ein schöner Kontrast zur gestrigen Bruchbude ist. Nu ja, die Hotels sind hier wie das Wetter. Wechselhaft. Interessanterweise gibt’s aber wenig Unterschiede im Preis. Teuer sind sie alle, aber die Luxusdinger mit gefühlt doppelt so schönem Ambiente sind nicht wesentlich teurer als die urigen Hornsken aus dem 18. Jahrhundert. Wir duschen und schließen alle Geräte an den Strom. Das sind gar nicht so wenige: Wir haben meine E-Zigaretten, unsere Fitness-Uhren, alle Handys und die Powerbänke aufzuladen. Sobald wir irgendwo ein Hotelzimmer betreten geht der Run auf die Steckdosen los. Ach je, ach ja, was wären wir ohne unsere vielen kleinen stromfressenden Hilfsmittel? Nächstes Jahr wollen wir für längere Zeit nach Schweden. Bis dahin sollte ich mir das Dampfen abgewöhnen, sonst wird das alles nur stressig dort.
Aber noch sind wir in Dänemark und bisher musste ich meine Powerbank zumindest noch nicht mit Muskelkraft aufladen. Aber auch das wird noch kommen, denn hier, ganz im Osten, auf Falster und später auf Mon gibt es weniger Herbergen, aber schneeweiße Strände. Und also mehr Urlauber. Hier ist so schön, sag ich zu Stefan. Wollen wir nicht einen Pausentag einlegen? Stef ist dafür aber der Wirt lehnt uns ab. Das Zimmer ist ab morgen wieder vergeben. Wir bedauern das und belohnen uns dann mit einem fürstlichen Mahl. Was für ein langer bewegter Tag! Das Essen ist auch hier wieder eher ungesund (wenig Gemüse) aber extrem lecker. Und teuer. Vermutlich sind die Pommes handgeschnitzt. Wir verspeisen das alles bis zum letzten Krümel, trinken noch dies und das dazu und fallen dann verzückt in unsere Federn.
19.8.2021: Abmatten in Marielyst Das Zimmer ist zwar zauberhaft, aber die Betten sind grottig schräg und viel zu weich. Ich kämpfe die ganze Nacht gegen eine übermannende Abschüssigkeit und gegen mein ständiges Bestreben herauszufallen. Auch meine Bettdecke kann der Gravitation nicht recht widerstehen und rutscht dauernd den Abhang hinunter. Ziemlich zermartert wache ich auf stelle unmissverständlich fest: Heute ist Pausentag. Wenn nicht hier, dann woanders. Nach einem sehr feinem Frühstück im Hotel (das ist wieder allererste Sahne) satteln wir unsere Pferde und radeln gemütlich Richtung Strand.
Der Strand sieht hier so aus.
... und so.
Hier gleich daneben geht auch der Radweg wieder weiter.
Den zuckeln wir heute mal fröhlich entlang. Das Wetter ist milde, der Himmel zwar bedeckt, aber kein Regen peinigt uns heute und Sturm gibt es auch nicht. Wir sind’s zufrieden und schwatzen radelnd über unser seltsames Leben in diesen seltsamen Zeiten.
Nach kurzer Zeit schon taucht er erste wilde Zeltplatz auf. Großflächig, mit mehreren von runden Buschwerk-Inseln getrennten Liegeflächen, mehreren Feuerstellen und hölzernen Tischgarnituren, eingeklemmt zwischen rauschenden Maisfeldern und dem Ostseeradweg. Und direkt dahinter das Meer.
Hier bleiben wir heute. Stef baut das Zelt auf, ich koche Kaffee.
Ein Bett am Corn-Feld....yeah!
Dann baden wir endlich auch mal in diesem Meer, das wir nun seit Tagen schon in allen Varianten kennenlernen durften. Nur aus der Fischperspektive haben wir’s noch nicht erlebt, das wird jetzt nachgeholt. Allerdings gibt’s hier Feuerquallen, die uns recht schnell wieder vertreiben aus dem Reich der Fische.
Danach tut ein jeder, wozu er geboren ist. Stef wuselt rum und ich schreibe. Während ich eifrig Zeile um Zeile generiere, holt er erst mal Wasser vom nächsten öffentlichen Zeltplatz, dann fährt er einkaufen in Marielyst, was in der entgegengesetzten Richtung liegt. Dann geht er joggen und endlich endlich kommen wir doch noch zu unserem Strandspaziergang, den wir heute noch machen wollten. Das Wetter ist noch schöner geworden. Ein frischer Wind weht die Regenwolken von der Küste fort und also regiert die Sonne. Wir staken lange lange durch diesen endlosen wunderbaren Sand und sind ganz eins mit uns und der Welt.
Der Strand ist menschenleer hier; nur ein paar Fischer stehen wie die Flamingos weit im Wasser draußen. Wir laufen bis zur nächsten Bucht und dann noch bis zur nächsten und noch ein Stückchen weiter, bis wir müde und satt sind.
Als wir zurückkommen hat sich der Zeltplatz mit allerlei Volk gefüllt. Auch auf „unserer Wiese“ ist gerade ein Radfahrer angekommen. Micha aus Dresden, wir machen uns gleich erstmal miteinander bekannt. Micha steigt ab und besieht sich den ganzen Zeltplatz. Dann kommt er zurück und meint grinsend: „Also, Ihr habt Euch hier den besten Platz ausgesucht. Darf ich mich daneben stellen? Ich bin auch ganz leise.“ Ich lache laut auf. „Also… hm… ist ja schön, wenn Du ganz leise bist. Aber wir, musst Du wissen, sind ziemlich laut.“ Micha guckt bisschen verdutzt und ich lache noch lauter: „Na klar, kannste hier zelten Meiner! Immer heran an die gute Stube, willste ein Bier?“ And this is the beginning of a beautiful friendship…. Wir sitzen noch lange nach Mondenschein an einem winzigen Feuerlein und trinken und essen und reden. Und Micha ist uns ein angenehmer und sehr interessanter Gesprächspartner. Und so beschließen wir selig den Tag.
20. August 2021: Inselhüpfen V und VI – über Bogo nach Mon Micha fährt auf dem N8 von Berlin nach Kopenhagen. Seine Route macht einen Abstecher auf die Insel Mon, die auch das unsrige Ziel ist. Also beschließen wir, ein Stück des Weges zusammen zu fahren. Heute lacht uns die Sonne (vorerst zumindest) und es geht jetzt an den östlichsten Punkt unserer Reise, nach Mon – jene Insel, von der man uns unterwegs immer wieder zuraunte, wie schön sie doch sei. Wir sind gespannt und frühstücken eilig, packen alles zusammen und fahren voll Übermut los.
Blick zurück, wir warten auf Stefan, der kurz nach dem Start wieder mal Brombeeren entdeckt hat...
Am nächsten offiziellen Zeltplatz schnell noch die Flaschen gefüllt und weiter geht’s, bald durch herrlichen Wald nahe am Meeresrauschen. Ein bisschen Kultur steht heute auch auf der Agenda. Wir besuchen zuerst den Park von Schloss Corselitze, wo man uns üppige Rosen und holzige Skulpturen verspricht.
Allein, die Rosen sind verblüht und die Skulpturen hat man wohl weggeräumt, damit der Rasenmäher besser durchkommt. Wir durchstreifen ein bisschen den ansonsten recht ansehnlichen Park und ziehen hernach von dannen.
Inzwischen hat sich der Himmel deutlich verdunkelt, frisch weht uns der Wind ins Gesicht und immer mal nieselt es. Ich ziehe erst meine Windjacke an, dann tausche ich das T-Shirt gegen einen Pullover, dann die Windjacke gegen meine Fließjacke. So hangle ich mich durch den Tag. Auf die Regenjacke greife ich nur zurück, wenn’s richtig jirscht (hallisch für regnen), weil diese nicht wirklich atmungsaktiv ist und ich irgendwann innen dann auch nur nass bin. Micha rauscht uns sehr schnell vorneweg, wir kommen mächtig ins Schwitzen und beschließen alsdann, dass das nicht unser Reisetempo ist. Das nächste Kulturhighlight – die Hügelgräber von Halskov Vaenge – wollen wir uns aber noch zusammen ansehen, bevor wir dann vorerst getrennt weiterfahren. Auch die Hügelgräber sind unseres Erachtens eher unspektakulär (ein Archäologe würde das sicher anders sehen); sie kuschen sich schüchtern als kleine und größere Hügelchen, manchmal mit Steinen bekrönt, in einen dichten Buchenwald ein.
Damit es nicht allzu langweilig wird, hat man noch ein paar Ponys im Wald abgeladen – glauben wir zumindest zunächst. Erst später erfahren wir, dass das wahrscheinlich eine von Dänemarks Wildpferdherden war, die wir im dichten Blattwerk beobachten durften. Wir durchstreifen ein bisschen die Gegend und der verwilderte Wald mit den verwilderten Pferden verfehlt dennoch seine Wirkung nicht. Mir zumindest kommt er märchenhaft geheimnisvoll und fast atmosphärisch vor – aber ich bin mir nicht sicher, ob die Männer das auch so sehen. Nach diesem Ausflug ins Schattenreich verabschieden wir uns von Micha. Auf dem ersten Zeltplatz in Mon, in Harbolle Havn wollen wir uns heute Abend wiedersehen. Das ist der lose Plan. Aber Micha soll schon mal nen guten Platz für uns dreie finden, scherzen wir noch im Abschiedsgeplänkel. Mal gucken, ob dieser Plan aufgeht.
Micha rast los, wir aber zuckeln gemütlich hinterher und verlassen mal wieder den Bikeline-Weg Richtung Küste. Es gibt ein Restaurant hier am Steilufer, das heißt Pomle Nakke Traktorsted, dort wollen wir hin. Das Gasthaus scheint irgendwie beliebt oder berühmt zu sein, denn lange bevor wir es erreichen, parken hier Autos in endlosen Schlangen am Straßenrand mitten im Wald. Das Haus liegt idyllisch direkt an der Steilküste und man isst hier stilvoll mit einem herrlichen Blick auf die See. Hier oben, dem Himmel so nah, herrscht ein fast hektisches Gästegetümmel. Wir, die wir nur einen Kaffee wollten, beschließen, an dieser Stätte nicht einzukehren. Stattdessen stellen wir unsere Stühle ein stückweit entfernt an den Abgrund und genießen die Sicht auf ein flaschengrünes und sehr ruhiges Meer heute.
Ah… Mittagspause, Zeit für ein paar Nüsse und Haferkekse. Was kanns uns doch gut gehen auf dieser Welt. Bald fängt es wieder zu nieseln an, was wir ziemlich bedauern, denn der Moment und die Sicht und die Stimmung hier waren so schön und voller Harmonie und Zuversicht, dass uns der Aufbruch wirklich schwerfällt. Aber wir wollen ja noch nach Mon heute kommen und vorher müssen wir mit der Fähre auf die winzige Insel Bogo, weil es gibt keine direkte Fährverbindung zur Monschen Zauberinsel mit den berühmten Kreidefelsen. Und ehe wir hier im Sitzen nass werden, können wir auch im Fahren nass werden.
Also packen wir die Stühle wieder ein und treten in die Pedale, zunächst durch ewige Buchenwälder, später dann wieder sehr küstennah durch eher landwirtschaftlich geprägtes Gelände. Der Regen hat sich inzwischen einen ordentlichen Sprüh zugelegt, die historischen Fischerkaten von Hesnaes, die sogar an den Wänden mit Reet verkleidet sind, erkennen wir nur durch feinsten Regenschleiernebel. Inzwischen hab ich den 3. Pullover an und das Fließ gegen die Regenjacke getauscht. Die Regenschürzen rauszukramen, sind wir aber zu faul. Es kommen bald wieder dichte Wälder, wir hoffen einfach, dass es hier ein bisschen geschützter ist. Und in der Tat: der dunkle Baldachin aus wispernden Blättern hält uns das Wasser vom Leibe. Das Wetter zerrt gewaltig an unserer Motivation; wir rasten kurz am Wegesrand, ganz dicht an den Baumstämmen dran im Buchen-Regenschatten – und hopp sind wir eingeschlafen. Ein Powernap im Straßengraben, zwei müde Abenteurer halbliegend im Dreck – was für ein Bild! Halb im Erwachen sehen wir, wie ein paar Spaziergänger uns im Vorübergehen leise belächeln. Aber danach geht’s uns besser und jetzt nieselt es auch wieder nur noch. Na immerhin. In Naesgard kürzen wir den Küstenweg ab und fahren einmal quer durchs Land bis nach Stubbeköbing, wo wir die Fähre nach Bogo zu nehmen gedenken.
Immer noch 20. August 2021: Jetzt aber wirklich rüber nach Bogo In Stubbeköbing reißt der Himmel auf. Und endlich scheint uns die Sonne. Und wie so oft auf dieser Reise begrüßt man uns mit Musik. Hier im Hafengelände, in einer kleinen, die besten Jahre schon hinter sich habenden, Imbissbude mit verglaster Veranda, sitzt eine fröhliche Alte mit einer schrummeligen Gitarre und singt voller Inbrunst mit rauchiger Stimme Killing me Softly auf Dänisch. Ihr Publikum, drei weitere ziemlich angeschickerte Gestalten, klatscht und grölt lautstark dazu. Die Stimmung ist regelrecht ausgelassen, ich glaube, die feiern Geburtstag hier. Was für ein schräger Moment! Nass wie ein Pudel stehe ich auf der Mole, häng meine Jacke zum Trocknen auf’s Rad und komme aus dem Grinsen nicht mehr raus. Mir kommt das immer vor wie ein Wunder. Diese Musik und die Sonne dazu! Eine Belohnung, die wir nicht verlangten. Und die genau deshalb umso mehr überrascht und erfreut. Stef kauft die Tickets und nen Hotdog für uns. Den essen wir wippend im Stehen, dann machen wir uns rüber zum Fähranleger.
Der Fährkapitän kommt uns lachend entgegen. Habt Ihr die Tickets oder wollt Ihr betrügen ?, fragt er mich grinsend. Hah! Inzwischen kenne ich den dänischen Humor. Eigentlich sind wir so eher die Cheater, gebe ich ihm zu verstehen, aber dann habe ich Sie gesehen und ziemliche Angst gekriegt. Hier sind unsere Fahrscheine, dürfen wir mit? Der Typ lacht sich schlapp und winkt uns mit großer Geste auf sein riesiges Schiff. Die Fähre nach Bogo ist ein technisches Denkmal. Heute fährt sie für uns ganz alleine.
Mit prächtigem Gepolter rattert sie über den tiefblauen Sund. Wir stehen fröhlich am Bug und lassen den Wind unsere Sachen trocknen.
Im Osten sehen wir Mon schon. Dorthin, über den riesigen Damm, den werden wir heute noch fahren. Aber erstmal sind wir auf Bogo. Die Insel ist winzig, sieben Kilometer lang, 1200 Einwohner. Wir fahren zunächst nicht sofort ostwärts Richtung Damm sondern erst mal nach Norden in den einzigen Ort der Insel, Bogoby, um hier im einzigen Laden weit und breit etwas zu essen zu kaufen. Dafür müssen wir zunächst zwei Kilometer straff bergan fahren, aber die hübschen reetgedeckten Häuser entlohnen uns für die Strapazen.
Auch die Gärten mit ihren vielfachen Sommergärtchen und Winter-Eckchen, den Hecken und Beeten, den beachtlichen Schatten-, Grill- und Chillplätzen sind immer wieder eine Augenweide. Sie rangieren von klassisch aufgeräumt, über kitschig verbaut bis hin zu völlig verrumpelt. Na und die Häuser erst! Hier muss ich leider einen kurzen Ausflug zur dänischen Wohnkultur machen. Wer das nicht spannend findet, sollte diesen Absatz einfach überlesen. Neben den Reetdächern gibt’s natürlich auch ziegelgedeckte. Fast alle Häuser sind aus gelbem oder rotem Klinker – dann meist kombiniert mit grünen oder generell dunklen Fensterrahmen. Der Klinker selbst ist aber oft noch übertüncht, allermeistens mit weiß (besonders schön dazu die Kombination mit hellgrauen oder -blauen Türen und Fensterrahmen), aber wir sehen auch rot, gelb, grün und blau als Übertünchungsfarbe. Der rotweiße Dannebrog flattert munter in jedem 2. Garten, alles hier ist lieblich und von freundlichem Charme. So manches Mal denk ich im Vorbeirauschen an diesen Köstlichkeiten der Wohnkultur, dass ich hier gern auch länger bliebe. Außerhalb der Ortschaften dominiert der Dreiseitenhof, fast immer umgeben von dichten, schweren, üppigen Getreidefeldern in sattestem Weizengelb. Die Landwirtschaft hier ist hochtechnisiert. Alle Halme haben die gleiche Länge, trotzen in großer Stabilität offenbar fast jedem Wetter und tragen schwer an ihren Körnern. Und fast jedes Feld ist umkränzt von einem breiten Streifen üppigster Bienenweiden, die ihre fröhliche Pracht weit in die Welt hinausblühen.
Aber zurück zum Geschehen: Wir sind inzwischen am Laden angekommen und diskutieren kurz das Abendessen. Ich würde gerne mal Nudeln essen, aber Stef ist für Fleisch mit Salat. Nach kurzem Gefecht kaufen wir das und zwitschern schwer bepackt bergab aus dem Ort heraus und auf die große Straße, die uns über den Sund Richtung Mon führt. Der Damm ist, aus unserer Richtung kommend, der einzige Zufahrtsweg auf die Insel und er stellt sich als vielbefahrene und ätzende Schnellstraße heraus. Die Autos schießen in großer Geschwindigkeit sehr dicht an uns vorüber. Der Streifen für’s Rad ist maximal 70 cm breit und zum Sund hin durch eine hohe Planke abgetrennt. Er geht über mehrere Kilometer so und es gibt nirgendwo Buchten, wo man kurz verschnaufen könnte, zum Schieben ist er zu schmal. Ich bin so konzentriert die Spur zu halten, dass ich nach ner Weile total verkrampfe und mein Rad mit den bollerigen Packtaschen mitunter mächtig ins Taumeln gerät. Die dänischen Autofahrer, die ich bisher nur freundlich und rücksichtsvoll kenne, scheinen auf dieser Straße zu Rowdies zu werden. Ich fluche und stöhne. Der Erholungseffekt der letzten Tage wird auf dem Damm in Stress aufgelöst. Stef fährt hinter mir und versucht mich zu beruhigen: Du hast keine Wahl, ruft er mir zu, Du musst da jetzt durch, es nützt nichts, wenn Du jetzt verzweifelst. Der Spruch hilft. Ich beiße die Zähne zusammen, versuche mich nur auf den schmalen Streifen vor mir zu konzentrieren und alles andere auszublenden. Als es vorbei ist, heule ich fast vor Erleichterung. Das war die schlimmste Strecke auf der ganzen Tour – und sie war von Bikeline empfohlen, wir fassen es nicht.
Wir nehmen die erstmögliche Abfahrt aus dieser Höllenröhre und verschnaufen kurz bei einem Dreiseitenhof im Schatten von riesigen Bäumen. Der restliche Weg ist friedlich und schön.
Und auch das Wetter ist friedlich und schön. Immerhin. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie ich diesen Damm bei Regen hätte bewältigen sollen. Wir zuckeln verträumt Richtung Harbolle Havn. Einmal versuchen wir abzukürzen, indem wir einen sandigen Feldweg fahren. Das geht anfangs noch gut, aber dann verkrautet der Weg zusehends, sodass wir am Ende direkt auf dem Feld über sparrige Weizenstoppel fahren. Selbst das geht mit den fetten Reifen, aber es ist mühsam. Wir machen hernach keine weiteren Abkürzungsversuche mehr und folgen brav der Straße.
Der Mon-Zeltplatz liegt direkt am Meer und er ist herzallerliebst. Die schmale Zufahrtsstraße windet sich mitten auf dem Platz zu einer weitläufigen Wendeschlaufe. Die wird von allerlei johlendem Kindervolk auf allen nur denkbaren Gefährten als Rennstrecke benutzt. Vorn an der Rezeption gibt’s den passenden Fuhrpark dazu; Räder und Roller in allen Größen und Farben liegen dort wild durcheinander; wer sich einreihen möchte in den fahrenden Kinderstrom, sucht sich einfach das passende Fahrwerk aus. Rings um die peesenden Kinder träumen Zelte und Handtücher im Sommerwind, Töpfe klappern, Eltern schnattern, kochen, lachen und trinken. Was für ein friedvoller, fröhlicher Ort! Wer hier ankommt, hat jegliches Unbill vergessen.
Wir fahren staunend durch diese Szene und haben den Eindruck, wir träumen das. Mitten in all diesem Treiben, auf einer Wiese zwischen zwei Wohnwagen, steht Micha mit seinem Rad wie versteinert. Ein bisschen wirkt es, als stünde er wirklich seit Stunden schon hier, um wie besprochen, den Platz zu besetzen. Wir begrüßen uns lautstark und freun uns wie wild, dass wir uns wieder gefunden haben. Dann rammeln wir einmal über den ganzen Platz, entscheiden uns nach einigem Hin und Her für ein Stückchen Wiese, das allen genehm ist und endlich endlich lassen wir uns nieder.
Stef baut das Zelt auf und ich fange an, den Salat zu schnippeln. Micha fährt noch mal los, um was zu essen zu finden. Als er wiederkommt, sind wir bereits fertig mit unserem Mahl und die blaue Stunde naht. Wir sitzen noch bisschen und schwatzen im schwindenden Licht, aber ich verzieh mich dann ziemlich bald ins Zelt. Ich bin ganz schön erschossen heute und nur der Schlaf kann mich retten.
Wie immer gut beobachtet und lebendig beschrieben. Ich freue mich auf jede Fortsetzung. Und wenn ich selbst eine Gegend einigermaßen kenne, finde ich es spannend, zu lesen, wie ein anderer sie erlebt.
Ditschi
Wie immer gut beobachtet und lebendig beschrieben. Ich freue mich auf jede Fortsetzung. Und wenn ich selbst eine Gegend einigermaßen kenne, finde ich es spannend, zu lesen, wie ein anderer sie erlebt.
Ditschi
Danke Kai, das freut mich sehr! Und ja, das kann ich mir gut vorstellen, dass man die Sicht des Fremden auf eine Gegend, die man selbst ins Herz geschlossen hat, gerne begrüßt und erwartet. Besonders, wenn man die schönen Dinge wiederfindet.
Jetzt kommt der nächste Tag. Und ab hier habe ich keine Aufzeichnungen mehr gemacht und schreibe alles aus dem Kopf. Mal gucken, ob's vielleicht bisschen kürzer wird dadurch. :-)
21. August 2021: Der Sommertag, wie schön er war… von Harbolle Havn nach Klintholm Havn Boarr… heute haben wir endlich mal Glück mit dem Wetter. Die Sonne scheint uns heiß aufs Zelt, wir springen bestens gelaunt aus unseren Schlafsäcken und frühstücken erst mal ausgiebig gemeinsam mit Micha. Heute gibt’s sogar Brötchen, die haben wir gestern noch an der Rezeption bestellt. Nach langen Gesprächen über Gottes Tierpark und des Lebens Seltsamkeiten, heißt es wieder mal Abschied nehmen. Micha packt seine Sachen und düst davon; er will heute noch die ganze Insel umrunden. Wir nicht. Wir nutzen das schöne Wetter und gehen erst mal baden.
Das Wasser ist kalt, klar und quallenfrei. Die Sonne brennt, wir freun uns des Lebens und sehen den Kindern beim Toben zu.
Dann irgendwann packt uns die Neugier und wir machen uns auf den Weg. Heut weht uns ein warmer Fön entgegen. Diese Winde sind mir immer die liebsten.
Mon ist, wie alle Inseln, die wir bisher passierten, erstaunlich bergig. Es geht ordentlich hügelan hügelab, von Gehöft zu Gehöft. Aber die Insel ist klein und also sind auch die Felder kleiner. Der Wind kriegt hier keine Gewalt, uns vom Rad zu pusten.
Wir fahren heute brav nach Bikeline, mal mehr am Meer entlang, dann wieder rein ins Land in Richtung Stege Nor, einem großen Brackwassersee, wo man hervorragend Hechte angeln kann. Irgendwo unterwegs blinkert mich silbern am Wegrand ne Siggflasche an. Die hat jemand hier stehen lassen, denke ich. Ich fahre so dicht an ihr vorbei, dass ich erkennen kann, wie wenig zerkratzt sie ist – ganz im Gegensatz zu unseren Flaschen, die beseelt sind durch mancherlei Abnutzungsspuren.
Viele Stunden und eine Brombeerpause später kommt dann die Nachricht von Micha: Er vermisst seine Flasche. Herre… wenn ich mich doch nur erinnern könnte, wo genau das war. Möglicherweise in Bissinge? Wo es Honig und Obst am Straßenrand zu kaufen gab? Vorstellbar wäre es, denn dort hat er haltgemacht, um etwas zu kaufen. Wir diskutieren das heftig am Telefon, aber genaueres kann ich leider nicht sagen; ich weiß nur, dass ich sie sah, nicht aber wo. Immerhin war es unterwegs und nicht auf dem Zeltplatz; vielleicht reicht ihm ja das als Anhaltspunkt, den Weg noch einmal abzufahren. Noch einige Zeit danach, wir fahren schon wieder in Richtung Meer, denke ich drüber nach, dass der Abschied zu früh kommt manchmal und man an und mit einem Menschen noch irgendwas lernen soll. Dann stellt einem das Leben seltsame Dinge in den Weg – wie vergessene Silberflaschen. Ich meine, wir hätten woanders langfahren können, oder ich hätte sie nicht sehen können oder eben auch nicht wahrnehmen, aber die Flasche war silbern, sie blinkte mir förmlich ins Angesicht. Weil eben auch die Sonne schien. Und weil Micha, der insgesamt drei Flaschen mit sich führt ausgerechnet diese, die silberne, am Wegrand stehen ließ… und so und so….
Inzwischen sind wir in Klintholm Havn angekommen. Hier solls einen wilden Zeltplatz geben. Den wollen wir uns ansehen. Der Ort ist idyllisch, ein altes Fischerdorf mit nettem Hafen und etwas Tourismus drumrum. Und auch der Zeltplatz ist idyllisch, eine kleine Dorf-Wiese gewissermaßen, die zwischen den letzten Wohnhäusern und dem Strandzugang liegt. Hier gibt es ne Feuerstelle, mehrere Holzbänke und eine riesige Hängematte. In die werf ich mich erstmal hinein und lass den Himmel über mir tanzen.
Während Stef das Zelt aufbaut, lauf ich kurz rüber zur Surfschule und hol einen Kaffee für uns. Nach dem Kaffee geht’s runter zum Strand, denn Stefan will baden. Wir wollen grade den Platz verlassen, da tauchen weitere Gäste auf. Drei wilde Gesellen in schwarzen Lederklamotten, tätowiert und mit sturmgepeitschten Bärten sind eben auf riesigen Motorrädern angekommen. Ihre Motorradanhänger sind riesige Kisten, die wie Särge auf Rädern anmuten. Die drei Rocker schieben diese Vehikel behäbig auf den Platz und zaubern dann mit großem Tamtam ihr gesamtes Equipment aus diesen Kisten. Das verstreuen sie lärmend auf dem Rest der Wiese.
Wir trudeln indes runter zum Strand, der auch hier wieder mit schönstem hochzeitsweiß entzückt.
Hinten vermutlich die Fähre nach Trelleborg.
Stef springt schnell ins Wasser, ich beseh‘ mir in der Zeit Himmel und Menschen.
Bevor wir uns was zu Essen suchen, will Stefan noch mal zurück zum Zelt. Er ist unruhig wegen der wilden Gesellen, die heute mit uns den Zeltplatz teilen. Das sind doch nur Rocker, beruhige ich ihn. Die sind in der Regel ganz lieb und friedlich, die tun uns nichts. Uns nicht, aber unserem Zelt vielleicht. Das steht zu nah an der Feuerstelle und wenn denen einfällt, ein Feuer zu machen, dann ernten wir häßliche Löcher. Hm… das Zelt ist Stefans Baby. Kein anderer darf es auf- oder abbauen, geschweige denn hegen und pflegen. Ein Loch darinnen käme einem mittleren Weltuntergang gleich. Und bei diesen Wettercapriolen, die wir bisher hier erlebten, will ich das eigentlich auch nicht haben, ne undichte Stelle im Baldachin. Also trotten wir noch mal zurück, räumen alles raus, packen das Zelt dann im Ganzen an und stellen es woanders wieder auf. Die Rocker gucken verdutzt. Was tut Ihr?, wollen sie wissen. Wir erklären es ihnen. Ah ok, sagen sie vorsichtig, sie wirken nicht überzeugt. Bestimmt halten die uns jetzt für ziemlich verkniffen - die Klischees spielen heute mal Bingo auf diesem Platz.
Wir können uns aber jetzt um die Meinung der Typen nicht weiter kümmern, denn der Hunger treibt uns ins Dorf. Ganz in der Nähe gibt’s ein Restaurant, das peilen wir an. Der Wirt erklärt uns, dass es grad knackevoll ist. Aber Weggehen lohnt sich nicht, meint er freundlich, ich bin der Einzige weit und breit, der hier noch offen hat. Also gut, wir dürfen derweil im Biergarten Platz nehmen und kriegen sogar ein Bier fürs Warten. Die Sonne steht schon recht tief, der Wind hat aufgefrischt, es ist kühl hier draußen. Wir sind froh, als wir endlich hineindürfen, der Laden ist wirklich bis zum letzten Platz besetzt, und hier sitzen wir nun, in der gewohnt ausgelassen lärmenden Dänengesellschaft. Wo haben die nur immer ihre gute Laune her?, frage ich mich. Und dieses Temperament! Nicht dass ich selbst wenig davon hätte, ich fühle mich hier wie unter Meinesgleichen, was das Lachen, Witzereißen und Wildgestikulieren angeht – das Erstaunliche ist, dass man so etwas hier, so weit im Norden, nicht unbedingt erwartet. Die Klischeekiste ist erfolgreich angeworfen und rattert munter weiter in meinem Kopf. Was den Lärmpegel betrifft, komm ich mir vor wie auf Sizilien. Nur dass die Sizilianer sich in beide Richtungen sehr ereifern können und also auch die Klaviatur des Schimpfens, Klagens oder Wetterns in beeindruckend sanguinischer Weise beherrschen. Hier aber lacht man nur. Und lärmt und scherzt. Na jedenfalls genießen wir das alles sehr und das Essen ist wieder mal wunderbar ungesund und oberst lecker.
Nach dem Essen bummeln wir noch ein bisschen durch den Hafen...
... und finden auch hier noch zwei drei weitere Restaurants, die auch geöffnet haben. Haha, wir hätten also dort nicht warten müssen, es gibt hier scheinbar nicht nur letzte Zimmer sondern auch letzte Restaurants, die man gerne bemüht, um seine Kunden in der Warteschlaufe zu halten – aber ist jetzt auch egal. Wir sind müde und satt und mehr braucht es auch nicht, um selig zu sein. Die Sonne geht unter.
Bevor wir ins Zelt huschen, stiefeln wir noch mal zum Meer, um ihr dabei zuzusehen.
Und gleichzeitig geht der Mond auf. Vollmond fast. Der Himmel zieht heute alle Register für uns.
Als wir zurück zum Zeltplatz kommen, haben die Rocker inzwischen ihre Zelte aufgebaut. Und ich verstehe jetzt auch, warum sie unser Zeltproblem nicht so richtig verstanden. Es stehen drei Kinderzelte auf der Wiese, ein pinkfarbenes mit Barbie drauf, ein hellblaues mit Arielle und ein kleines Spitzdachzelt, das noch aus Zeiten stammt, wo Barbie und Arielle auf ihre Geburt warteten. Diese Hünen von Menschen, mit ihren Lederklamotten und den wilden Bärten werden ganz bestimmt wunderbare Träume von Ken und vom Meer haben. Zumal ihre Füße vermutlich draußen schlafen werden, oder der Kopf, wer weiß. Ich lache laut und lauter. Nette Zelte habt Ihr da, gebe ich ihnen zu verstehen. Jahaha, die Rocker lachen sofort mit. Wir haben‘s nicht so mit Zelten, die sind von unseren Kindern geborgt. Aha, aha, Ihr habt Kinder… Und so kommen wir ins Gespräch.
Die drei Gesellen laden uns sogleich zu sich an die Feuerstelle ein, wo ein winziges Feuerlein an einem riesigen verkohlten Stamm vor sich hin leidet. Stef geht gleich los, um ein paar Zweige zu finden, dann peppt er das Feuer auf und ist für alle der Held. Ey Stefan, sagen die Lederbehosten, wir probieren hier schon ne halbe Stunde dieses Feuer anzukriegen und Du machst einmal Schnipp und das Ding brennt. Bist Du Superman, oder was? Was sind Deine geheimen Zauberkräfte?
Wie ich gehofft und erwartet hatte, sind auch diese Prachtexemplare der dänischen Spezies ganz besonders lustig drauf und kommunizieren faktisch nur in Witzen, Metaphern und Bonmots. Wir sitzen ne Weile und bequatschen die Parameter. Die drei kommen aus Kopenhagen, sind allesamt brave Unternehmer und Familienväter, aber einmal im Jahr kommt das Rockergen in ihnen raus und schreit nach Beachtung. Dann touren sie mehrere Tage durch die Lande und haben Spaß. Und zu Hause wird in dieser Zeit nicht angerufen, versichern sie mir. Von Corona haben sie in Dänemark nicht sehr viel mitgekriegt, sie sind allesamt geimpft (nach sanftem Druck, ihre Worte) und keiner von ihnen kennt auch nur einen einzigen, der die Krankheit wirklich hatte. Und das in Kopenhagen und nach anderthalb Jahren grassierender Seuche, wie beachtlich. Als wir erzählen, dass wir Corona hatten und mittlerweile auch sehr viele kennen, die die Krankheit durchlaufen haben oder zumindest positiv getestet waren, wollen sie das anfangs gar nicht glauben. Ihr testet zu viel und schert Euch zu viel darum, ist ihr lapidarer Kommentar dazu.
Dann fragen sie uns, ob die alte Whiskeybar im Hafen noch offen hat. Jawoll, sie hat, wir sind grade dran vorbeigelaufen. Na dann, lasst uns losgehen, Ihr kommt doch mit, oder? Vermutlich wäre das das Schlauste gewesen, denn ich ahne bereits, was diese Nacht noch bringen wird, aber wir sind zu kaputt, um jetzt noch mal loszuziehen. Wir müssen ins Bette, sag ich zu ihnen, wir sind heute 50 Kilometer gefahren. Oh oh, 50 Kilometer, das ist hart, da hätten wir zwischendurch mindestens fünf Pausen machen müssen, um uns die Beine zu vertreten. Wir lachen alle zusammen noch ne Runde miteinander, dann ziehen sie johlend davon. Nun liegen wir hier im Zelt und lesen. Und obwohl ich weiß, dass diese Nacht kurz werden wird, kann ich nicht einschlafen. Oder vielleicht auch grade deswegen.
22. August 2021: Müde im Sonnenschein Die Nacht war wie erwartet ungemütlich. Die drei Rockergesellen entern morgens um drei, ordentlich beklingelt, laut grölend und von zahlreichen unangenehmen Geräuschen begleitet, den Zeltplatz. Irgendwann wird es ruhig für eine Minute, bevor ein wahrhaft ohrenbetäubendes Schnarchen dem allgegenwärtigen Wellenrauschen Konkurrenz macht. Na klar, denke ich, und schiebe mir die Ohrstöpsel bis ins Gehirn, genauso hatte ich mir das vorgestellt. Nach effektiv drei Stunden Schlaf (wenn überhaupt) krieche ich morgens um sieben völlig gerädert aus dem Zelt. Stefan hat gut geschlafen, sagt er. Na dann, kanns ja jetzt losgehen auf die Mon-Klippen, die er sich unbedingt ansehen will.
Wir packen zusammen. Auch die Rocker kriechen verkatert aus ihren Kinderzelten. Zweie sind noch übrig, einer ist irgendwie verschollen. Keiner sagt was, alle grummeln lautlos vor sich hin. Stefan und ich rühren uns friedlich unser Müsli zusammen, das wir immer mit sehr viel Liebe zubereiten, also Obst und Nüsse mit rein, Milchpulver, Honig und dann heißes Wasser drüber.
Die beiden Rocker, die am Holztisch Brot und Speck essen, beäugen und kommentieren das interessiert und obgleich ich nicht verstehe, was sie sagen, ahne ich doch, was sie meinen, so nach dem Motto: das sind Gesundheitsfetischisten, die essen Müsli und Bio. Wenn die wüssten, haha. Aber so ist das nun mal mit den Klischees, kaum isste ein Müsli, biste drinnen in der Biokiste.
Wo ist Euer Kumpel ?, frage ich sie. Ah, der musste schon los, er ist heute früh gleich gefahren. Stimmt. Das Barbiezelt steht gar nicht mehr. Also muss ich ja doch etwas geschlafen haben, sonst hätte ich das gehört. Ein richtiges Gespräch entspinnt sich aber dann nicht mehr zwischen uns, dafür sind alle zu übernächtigt. Ein jeder packt still seine Siebensachen, die beiden Dänen werfen alles in ihre Packsärge und sind entsprechend schneller fertig, wir verabschieden uns freundlich, aber nicht überschwänglich, und dann schwingt ein jeder sich auf sein Zweirad und düst davon. Also die Dänen düsen, und das mit Schmackes. Wir hingegen zuckeln. Die Sonne brennt heute und Mons Klint ist nicht mehr fern. Vor dem Anstieg auf die Steilküste haben uns schon mehrere Leute gewarnt. Nehmt lieber den Bus, hatten sie gesagt, die Steigung dort ist nicht für's Rad gemacht. Ich selbst würde die berühmten Kreidefelsen am liebsten ganz weglassen, so müde und fertig bin ich. Stefan hat für heute in einer Bikerpension kurz vor Stege ein Zimmer bekommen – dorthin würde ich, wenn‘s nach mir ginge, auf kürzester Strecke fahren und dann einfach nur noch schlafen. Aber es geht nicht nach mir. Stefan will dieses Highlight unbedingt ansehen und also füge ich mich.
Der Anstieg auf der Straße ist zunächst moderat, erst als wir nach rechts in den Steilküstenwald einbiegen, wird es zusehends steiler und am Ende ist es ganz schön happig. Die letzten paar Meter schiebe ich. Und freue mich dann, dass wir schon oben sind. Viele Autos stehen hier auf dem Parkplatz, aber Menschen sehen wir zunächst nur wenige. Die sind wahrscheinlich alle im GeoCenter-Museum verschwunden. Eigentlich wollten wir uns das auch ansehen, aber dann sehen wir von außen, wie voll es da drinnen ist und so verzichten wir auf dieses Highlight. Stattdessen begeben wir uns gleich auf den zauberhaften Holzsteg, der uns oberhalb der Kreideklippen durch wilde Buchenwälder führt.
Ab und zu erhaschen wir tatsächlich einen Blick auf weiße Steine, die ihre Hälse stolz wie Schwäne aus dem dichten Laubwerk strecken.
Wir müssten vermutlich nach unten, um die ganze Pracht der Felsen zu erfassen. Aber wir klemmen uns das und besehen uns stattdessen, den eindrucksvollen Offshore-Windpark der mit 72 Windrädern der größte in Skandinavien ist. Er wird von Klintholm Havn betrieben und kann den jährlichen Stromverbrauch von 600.000 dänischen Haushalten abdecken. Das alles lesen wir auf den Hinweistafeln und sind beeindruckt. Die Insel Mon ist mit seinen 9000 Einwohnern also erstmal bestens versorgt.
Irgendwo hinter den Windrädern, noch weiter im Süden liegt Hiddensee und von dort aus werden wir nur zwei Wochen später, Mon noch einmal durchs Fernglas wie ein Schemen erkennen können. Mon, das erfahren wir auf Hiddensee, war für DDR-Bürger in der Tat die Insel der Träume. Denn Hiddensee war die Aussteiger-Insel schlechthin. Hier tummelten sich jeden Sommer, vom fürsorglichen Vater Staat wohl überwacht doch geduldet, die Verrückten und Geächteten, die Künstler und Freidenker, die politisch Verfolgten, die unangepassten Widerständler, die subversiven Elemente, die Feinde des Sozialismus – sie alle kamen jeden Sommer und feierten wilde Partys am Strand. Manche stiegen wirklich aus und blieben das ganze Jahr oder für immer. Und einige stiegen noch wirklicher aus und machten sich auf den Weg nach Mon, die legendäre Insel der Träume im Staate Dänemark. Hier gab es zwar jeden Abend Grenzpatrouillen am Strand, aber keine Mauer und keine Mauerschützen. Hier gab es nur das Meer als wilde Barriere. Und das war nicht zu unterschätzen.
Meine Recherchen auf Hiddensee ergaben: Ein paar tausend Ostdeutsche versuchten zwischen 1961 und 89 mit Segel- oder Schlauchboten und sogar auf Surfbrettern nach Mon oder Gedser zu kommen. Mehr als 4000 von ihnen wurden dabei entdeckt und ins Gefängnis gesteckt. Etwa 600-900 (die Zahlen variieren in den Quellen) gelang der Ausbruch über das Baltische Meer. Und 189 Personen starben bei diesem gefährlichen Unterfangen. Erik Jensen, der Hafenmeister von Klintholm Havn erinnert sich an die Gescheiterten: „Wenn unsere Fischer zwischen Møn und Rügen das Schleppnetz hochholten, lagen manchmal Leichen zwischen den Fischen. Ich kann mich an zwölf Tote erinnern. Wir brachten sie hier an Land und übergaben sie dem gerichtsmedizinischen Institut in Kopenhagen. Dort wurden sie untersucht und als unbekannte Personen begraben. Wir wussten nicht, woher sie kamen. Ostdeutschland hat uns keine Vermisstenmeldungen geschickt. Aber es wurden nirgendwo so viele Leichen aufgefischt wie zwischen Rügen und Møn.“
Das ist ein Teil der Geschichte, der im Schatten der Mauertoten, bisher noch zu wenig beleuchtet worden ist. Aber zurück zum Geschehen: Das alles wissen wir natürlich noch nicht, als wir hinüber zum Offshore Windpark schauen, den wir Wochen später von der anderen Seite betrachten werden, aber mein Bericht aus zeitlicher Ferne erlaubt diesen Abstecher auf Nebenschauplätze und also gehe ich ihn. Nach eingehender Betrachtung der Felsen, die mir weniger beeindruckend scheinen, als ihr Pendant auf Rügen – und meine Müdigkeit ist hier wohl der Hauptgrund dafür, heute kann ich mich für nichts richtig begeistern, außer für Betten - schlendern wir zurück zum GeoCenter, denn hier gibt’s ein Café mit einer sehr idyllisch auf einem Hügel gelegenen Sonnenterasse. Wir kaufen uns Kaffee und Küchlein, brezeln uns in die wärmende Sonne und beobachten das vielerlei Volk, das jetzt von überall her auf den Hügel rauscht. Die meisten kommen aus dem Museum, als wäre hier ein riesiges Tor aufgegangen, das all die fleißigen Besucher in einem Schwall nach draußen befördert. Wir besehn uns die schnatternden Massen noch zehn Minütchen, dann geben wir unseren Platz frei und schlendern gemütlich zu unseren Rädern.
Den Rückweg fahren wir, anders als Bikeline empfiehlt, auf dem N8, der uns mit steilem Gefälle quer durch den Buchenwald führt, was mich leise an den Gendarmenstieg erinnert. Dann düsen wir auf stimmungsvollen und wunderbar sonnigen Alleen immer bergab über Magleby bis wir in Borre auf die Hauptstraße der Insel treffen. Stefan will einen Abstecher an die Nordküste machen und dort in Meeresnähe nach Stege fahren, aber ich will das nicht. Ich will heute eigentlich nur noch ankommen und schlafen. Also fahren wir straßenbegleitend neben der Hauptstraße, was zugegebenermaßen kein sonderlich schöner Weg ist, denn der Verkehr ist anständig und es gibt wenig Schatten. Stefan grummelt, ich grummele, wir hatten schon bessere Laune auf dieser Tour, selbst an Regentagen.
In Elmelunde schimmert ein weißes Kirchlein im flirrenden Sommerlicht.
Das sehen wir uns an und entdecken voll Freude, dass es im Innern ein Kleinod ist. Reich mit bunten Fresken bemalt lädt es uns ein zum Schauen und Staunen.
Wir rasten kurz auf einer Friedhofsbank und bemerken dann, dass es an diesem Ort der Stille auch ein stilles Örtchen gibt, wo wir sogar unsere Flaschen wieder betanken können.
Und das scheint Usus hier zu sein, wie wir später beglückt feststellen. Von Elmelunde ist es nicht mehr weit bis zu unserem Hotel Stege Nor, das direkt am Steger Haff liegt und mir endlich die ersehnte Ruhe verspricht.
Das Hotel ist ein seltsames größeres Gebäude, von dem ich gerne wüsste, wofür es früher benutzt worden ist. Das gesamte Haus ist von außen mit Holzschindeln eingekleidet. Es liegt idyllisch inmitten von Wiesen am träumenden Haff. Vor dem Hotel fragt uns ein Däne, wo wir unsere Motoren versteckt hätten, die Frage haben wir schon öfter hier gestellt bekommen. Ich tippe nur auf meine Oberschenkel und sage Biomotor, was bei meinem Gegenüber erstauntes Gelächter auslöst. Das Innere des Hauses wirkt auf den ersten Blick wie ne Mischung aus Jugendherberge und Wohnzimmer. An eine geräumige Küche schließt sich wandlos der Speisesaal mit großen Fenstern auf eine schöne Terrasse. Alles ist zauberhaft in helles Kiefernholz gekleidet, das jetzt freundlich in der Nachmittagssonne erstrahlt. In der Küche sitzt der Besitzer, ein junger, großgewachsener, sportlicher Typ an seinem Laptop. Home Office, meint er zu uns, als wir eintreten. Ok, das Hotel betreibt er also nebenbei, oder seinen Job als Programmierer betreibt er nebenbei. Oder beides betreibt er nebenbei, denn eigentlich ist er ein passionierter Radfahrer, wie wir von ihm erfahren. Wir bequatschen mit ihm kurz die Einzelheiten, dann holen wir unsere Packtaschen.
Unser Zimmer im 1. Stock mit Blick auf das Haff ist eher altmodisch eingerichtet, aber sehr zauberhaft und gemütlich.
Den Haffblick haben wir mitgebucht.
Während ich erst mal dusche und ein paar Sachen wasche, stellt Stef unser Zelt auf der Wiese zum Trocknen auf. Dann kommt er hoch und drängelt, er will jetzt nach Stege in den Ort laufen und dort was zu essen finden. Ich aber will heute nirgends mehr hin und auch nichts mehr essen. Wir streiten deswegen, einigen uns dann darauf erst mal ne Runde zu schlafen und danach loszugehen. Aber auch nach der kurzen Ruhe fühle ich mich eher noch erschöpfter und zu keinen weiteren Aktivitäten in der Lage. Stefan zieht letztlich alleine los. Nach einer Weile kommt er zurück mit ein paar Lebensmitteln, die er gekauft hat und wir essen halbversöhnt und halbzerstritten auf dem Balkon im letzten Abendlicht. Herrje, was für ein trüber verlorener Tag. Ausgerechnet auf Mon, der absolut zauberhaftesten Insel, die wir bisher sahen, muss uns eine schlaflose Nacht die Freude an ihren Schönheiten rauben.
Hallo Sylvie, ja, jetzt sehe ich sie alle und sogar doppelt im Anhang. Danke!
Ja haha... dieses Programm kann einen uschig machen. Eigentlich hätte ich den gesamten Beitrag neu setzen müssen, aber dazu war ich zu faul. Und weil ich auch noch zu ungeduldig war und immer glaubte, es hätte sich hier alles aufgehängt, habe ich die Bilder doppelt und dreifach hochgeladen. Nu ja... vielleicht bereinige ich das ganz am Schluss noch mal. Jetzt will ich aber erst mal irgendwie zum Ende kommen mit meinem Bericht.
LG Sylvie
23. August 2021: Nach Seeland Wir schlafen lange und gut, aber am Morgen fühl ich mich immer noch wie gerädert. Aber wird schon werden, das Rad wird mir schon die nötige Frische einstanzen, hoffe ich. Das Frühstück im Stege Nor ist übersichtlich, sodass wir zweimal nach etwas mehr Brot und Wurst fragen. Das ist kein Problem, der Hotelchef, der eigentlich Radfahrer ist, sitzt nebenan in der Küche am Laptop und arbeitet. Er bringt uns das eilfertig und ignoriert dabei das Franzosenpärchen, das gerade gekommen ist und ratlos wie wir, ein fast leeres Büfett in Augenschein nimmt. Na, die Franzosen werden das schon schaukeln, wir frühstücken eilig und schwingen uns heiter aufs Rad.
Stege ist ein zauberhafter kleiner Ort mit einem kreisrunden (aber jetzt leeren) Wassergraben, der den mittelalterlichen Stadtkern umschließt. Auch Reste von der Stadtmauer und das alte Mühlentor sind noch vorhanden. Wir fahren einmal drumrum um den Kern und besehen uns dann im Inneren der Mauern die große romanische St. Hans Kirke.
Zwischendurch versuch ich mal wieder telefonisch ein Bett für uns in Vordingborg zu kriegen, denn dort wollen wir heute pausieren. Es klappt, wieder das letzte Zimmer, sagt der Betreiber. Also dann, lasst uns die Insel verlassen und nach Seeland rüber demmeln. Der Weg bis Koster ist nur teilweise angenehm. Er führt hauptsächlich neben der großen Hauptstraße entlang, aber es gibt auch nur wenige Alternativen hier und heute machen wir keine Spirenzchen, den Meeresblick kriegen wir schon noch von der Brücke aus.
Vor der Querung des Sunds allerdings habe ich ein bisschen Angst; zu präsent sind mir die Erinnerungen an unsere letzte Dammtour auf die Insel hinauf. Ich möchte das eigentlich in dieser Form nicht noch mal erleben und befürchte, dass alle Wege nach Mon zumindest für Radfahrer nur mit Stress zu bewältigen sind. Aber Entwarnung: Die Dronning Alexandrines-Brücke erhebt sich, schön wie ein fliegender Schwan, über den Ulvsund. Und diese Schönheit schließt mit ein, dass sie einen gut abgetrennten und ansehnlich breiten Streifen für Radfahrer mit sich führt.
Das der dänischen Königin gewidmete Bauwerk, wurde 1943 eröffnet und ziert als schönste Brücke Dänemarks sogar den 500-Kronen-Schein. Auch das Wetter ist heute allerschönst und wir trudeln gutgelaunt die 750 Meter über den Sund. Drüben, auf Seeland, blinkert uns Kalvehave im Sonnenschein entgegen.
Wir lassen die malerische Bucht aber rechts von uns liegen und fahren sobald wir Seeland erreichen scharf links auf den Bikeline-Weg, der uns kurz darauf etwas weiter ins Landesinnere führt. Auf dem ersten Hügel, im Schatten einer weißen Kirche mit Blick auf Brücke und Sund rasten wir erst mal und genießen die Aussicht.
Unten an der Hauptstraße hält gerade der Schulbus und spuckt ein halbes Dutzend Kinder aus seinem puckernden Leib. Die stürmen fröhlich den Hügel hinan, um in ihr Dorf zu kommen. Schulweg anderthalb Kilometer, konstatiert Stefan knapp. Die Dänenkinder dürfen noch was tun für ihre Gesundheit. Wir besichtigen die Kirche...
... und strampeln dann weiter hügelan, hügelab durch liebliche Dörfchen, Felder und Wäldchen. Irgendwann ziehts uns dann doch wieder mehr an die Küste und wir verlassen Bikeline, um durch endlose Buchenwälder zu fliegen.
Es ist warm heute, wir pausieren erneut an einem zauberhaften Badeplatz und springen kurz ins Wasser. Das Meer weist hier einen friedlichen Haff-Charakter auf und mutet eher wie ein größerer See an.
Wir bleiben auch danach so lange es geht in Küstennähe und durchfahren ein Gebiet aus immerwährenden schrebergartenartigen Feriensiedlungen, durchbrochen von Wiesen und Buchenwäldchen.
Immer noch 23. August 2021: Vordingborg
Vordingborg begrüßt uns mit seiner prominenten Burgruine, die mitsamt ihrem Gänseturm hoch über der Stadt thront.
Hier, also in der Burg, nicht unbedingt im Turm, wurde 1353 Dänemarks berühmte Königin Margarethe I. geboren, unter deren Ägide sich Schweden, Dänemark und Norwegen zur Kalmarer Union formierten. Ihr Vater war König Waldemar IV. (nicht der berühmte große Waldemar I.) und Kong Valdemar heißt auch unser Hotel, was direkt neben der Burg, gleich am Beginn der Fußgängerzone thront. Wir schangeln uns durch ungewohnt dichten Verkehr, die Stadt hat etwa 12.000 Einwohner, direkt auf die Burg zu und finden Kong Valdemar ziemlich sofort. Von außen sieht das Haus ziemlich heruntergekommen aus, scheint aber, dem Blick nach innen zu urteilen, früher mal rauschende Zeiten gehabt zu haben. Auf dem Weg zur Rezeption erhasche ich einen Blick in einen pompösen Ballsaal mit Marmorsäulen, glänzenden Lüstern und schweren hellblauen Samtvorhängen.
Der jetzige Besitzer ist mit seinem dunklen Teint zwar eindeutig kein Nordländer; die hier übliche Freundlichkeit und den bissigen Witz beherrscht er aber ohne Tadel. Er empfängt mich sehr freundlich und erklärt mir, dass wir unsagbares Glück gehabt hätten, denn wir haben zwar nicht sein bestes Zimmer bekommen, aber sein letztes. Echt jetzt? Ich muss fast lachen, als ich diesen Spruch zum zweiten Mal höre. Kennt der den Typen vom Ebsens oder ist das hier in Dänemark so ein allgemeiner Spruch, der von Hoteliers gerne benutzt wird, um ihre Gäste auf’s Äußerste vorzubereiten? Ich bin gespannt, antworte ich lachend, und das ist die pure Wahrheit. Wir machen schnell das Geschäftliche klar und dann fahren wir die Räder zum Hintereingang, wo wir sie auf dem Hotelparkplatz anschließen können.
Der Parkplatz ist ziemlich groß und riesig ist auch das Hotel. Von der Vorderseite unentdeckt schlummern nach hinten raus mehrere miteinander verbundene Neubauten, die zusammengenommen ein ähnlich unentflechtbares Gewirr aus Gängen und Trakten bilden wie das Ebesens Hotel in Maribo. Auf dem Weg nach oben halten wir den Atem an; wir sind in der Tat gespannt, was uns erwartet und rechnen mit einer grusligen Bruchbude. Aber die Brüchigkeit hält sich in Grenzen; wie gut, dass wir Schlechtes erwarteten, so konnten wir wenigstens positiv überrascht werden. Es riecht zwar etwas seltsam hier drinne und alles ist alt, aber immerhin brauchbar und zweckdienlich. Wir wechseln in Windeseile die Kleider und spornen uns für den Gang in die Stadt. Der Hunger treibt uns an.
Vordingborg schien uns eben noch belebt, aber nun ist es schon wieder halb sechse und die Stadt verfällt in die hier typisch dänische Abendstarre. Wenig Menschen auf den Straßen, alle Läden haben bereits geschlossen.
Es gibt genau zwei Restaurants in unmittelbarer Nähe; bei dem einen werden wir aus uns nicht erkennbaren Gründen nicht bedient, nach 30 Minuten Wartezeit, in der man uns mit konstanter Boshaftigkeit ignorierte, trollen wir uns von hier und suchen stattdessen das andere auf. Stef hatte hier nicht hingewollt, es ist ein muslimisch betriebenes Restaurant und hier gibt es kein Bier. Nun sitzen wir doch darinnen und genießen plaudernd das unverschämt gute Essen samt Nachtisch. Das Bier gibt’s im Anschluss in der Kneipe nebenan, wo man wie gewohnt Billard und Flipper spielt und sehr viel blauen Dunst fabriziert. Die Dame hinterm Tresen, blondbezopft, tätowiert und mit einer Lederweste bekleidet, kriegt einen Teil meiner Bewunderung ab; ich mag Menschen, die mir wild und unabhängig deuchen. Wir schlürfen das Bier vor der Tür, weil‘s uns drinnen zu rauchig ist. Und wir trinken es schnell, denn die Sonne sinkt und es wird frisch in Vordingburg.
Zum krönenden Abschluss des Tages klettern wir noch aufs Burggelände, bestaunen den imposanten Gänseturm, der auf der Turmspitze statt eines Hahnes eine güldene Gans befestigt hat. Man munkelt, Kong Valdemar wollte damit die Hanse verspotten, gegen die er mehrfach in Kriege gezogen ist. Allerdings wurde diese Gans hier erst lange nach seinem Tod an der Turmspitze befestigt. Nun ja, Geschichtsschreibung hat eben auch viel mit Geschichtenerzählen zu tun. Der Großteil der Burg ist nur noch in Mauern vorhanden. Auf denen lässt es sich trefflich sitzen und auf den Hafen hinabschauen.
Das tun wir ausgiebig, bevor uns die Abendkühle wieder nach unten ins Hotel treibt. Das Hotel hat unserer Meinung nach seinen Namen nicht verdient und also benennen wir’s kurzerhand um in King Voldemort.
24. August 2021: Kein Glück in Naestved Im King Voldemort gibt’s leider kein Frühstück für uns, sodass wir uns in der Stadt nach etwas Passendem umsehen müssen. Ich habe gestern ganz in der Nähe einen kleinen Bagel-Laden entdeckt, hier kehren wir ein, um uns fürstlich zu befrühstücken. Der Laden öffnet erst um zehn, wir müssen noch ne halbe Stunde warten. Also setzen wir uns raus in die Sonne und betrachten von hier aus das Stadtleben. Das ist nicht sonderlich quirlig um diese Zeit, wenig Menschen, wenig Verkehr, eine gähnende Stadt im Morgenrock.
Immerhin kommt eine Schulklasse vorbei und beäugt uns neugierig. Wenn die Kinder nicht wären – man könnte glauben, die Gegend sei eine Filmkulisse bevor der Dreh losgeht. Als wir endlich drinnen im Laden stehen, können wir uns vor lauter Leckereien nicht entscheiden. Ich nehme letztendlich einen Bagel und noch ein Rührei. Und Stef, weil er nicht futterneidisch werden will, nimmt das gleiche. Dazu noch Kaffee und Orangensaft, das wird ein opulentes Frühstück. Der Bagel kommt wie ein dicker Hamburger daher, das Rührei ist reichlich, und dazu - das hatten wir gar nicht registriert - gibt’s noch Pommes und Salat – uff. Hier war der Hunger größer als der Magen. Ich schaffe meinen Bagel nicht und binde ihn sorgsam verpackt auf meinen Gepäckträger. Den gibt’s jetzt unterwegs, statt Nüssen.
Nach diesem Frühstücksrausch in die Gänge zu kommen, fällt uns schwer. Ich brauche eine ganze Weile, ehe ich mich wieder freigestrampelt habe. Heute geht’s erst mal Naestved. Dort gibt’s ein Hotel so lieblich wie ein warmer Sommertag, das Hotel Kirstine. Das wäre mir ein Traum, dort nächtigen zu dürfen. Aber bisher haben wir kein Glück. Ich habe schon zweimal angerufen, doch Kirstine zeigte uns die kalte Schulter. Es gibt weitere lockende Herbergen dort, Naestved ist mit 44.000 Einwohnern die größte Stadt in der Gegend, aber auch hier finden wir nirgends noch ein freies Zimmer. Na egal, erst mal sind wir unterwegs und die Sonne scheint. Wir fahren zunächst eine längere Strecke immer neben der Hauptstraße entlang. Links von uns blinkt uns manchmal der Dybsofjord an, rechts von uns Felder, Felder, Felder. Puh… langsam werde ich dänemarkmüde. Es ist hier alles zauberhaft und wenn das Wetter gut ist, so wie heute, dann erst recht, aber nach 11 Tagen immergleichen Ambientes habe ich langsam genug und berate mit Stef die ein oder andere Ausstiegsmöglichkeit. Nach Flensburg ist es noch weit, wir müssen uns langsam um den Rückweg kümmern. Wir rasten kurz an einer urigen Imbissbude direkt am Fjord und trinken Kaffee hier...
... dann trudeln wir weiter bis nach Egesborg, wo wir uns mehr Richtung Küste und auf kleinere Straßen begeben.
Dieses Gebiet zwischen Dybso- und Karrebaekfjord kommt uns verträumt und verwunschen vor. Wir sehen lange Zeit keine Dörfer mehr, nur einzelne Gehöfte, die einsam zwischen riesigen Feldern hocken.
Der Sommertag ist licht und lau, aber die Ernte hat begonnen. Das macht die Stimmung melancholisch herbstlich. Auf einem kleineren Feldweg fahren wir einmal direkt an einem Mähdrescher vorbei, den wir vor lauter Staub kaum noch erkennen. Dafür hören wir ihn, der Lärm ist uferlos. Wir meiden fortan die allerkleinsten Wege und fahren gemäßigter auf wunderbaren, einsamen Teerstraßen entlang. Wir rasten oft heute, denn ich bin müde. Einmal direkt am Rande eines Stoppelfeldes im Schatten riesiger Pappeln, dann noch einmal am Ufer eines Sees, in dem wir eigentlich baden wollten, der sich aber dann als abgezäuntes Gelände erwies. Die Sonne brennt und unser Wasser geht zur Neige. Kirchen sind grad keine in der Nähe, aber in einem wunderschönen Garten sehen wir einen alten Herrn sinnierend in seinem Rollstuhl sitzen. Stefan fragt ihn nach Wasser und wird freundlich hineingebeten. Die Dame des Hauses tut uns sogar ein paar Eiswürfel in unsere Flaschen. Diese Herzlichkeit tut gut.
Der kühle Trunk frischt uns die Seele auf. Danach geht es wacker voran. In der Ferne grüßt uns munter der Karrebaekfjord.
Wir haben ihn bald erreicht und fahren lange am Ufer entlang. Der Fjord verjüngt sich hier zu einem Kanal, der am anderen Ufer mit eindrucksvollen Industriebauten aufwartet.
Auf unserer Seite hingegen wird das Gelände park- und sogar freizeitparkähnlich, es gibt viele Bänke, Skaterbahnen, allerlei Kurzweil und viele Menschen, die hier durch die letzten Sommerstrahlen flanieren. Am Ende des Kanals beginnt unverzüglich die Stadt, wir sind sofort mittendrin, der Verkehr ist mehrspurig mit fetten Ampelkreuzungen und beachtlichen Autokolonnen. Drüben, auf der anderen Seite dieses für uns ungewohnt unübersichtlichen Straßenkonstruktes winken uns schmucke Häuser und die riesige St. Peters-Kirche zu. Dort wollen wir hin, ein bisschen das alte Zentrum anschauen und das Hotel Kirstine suchen – ich will noch mal persönlich fragen, ob sie nicht doch ein Zimmer… ??? Beim Überqueren der Straßen bin ich wieder mal erstaunt, wie rücksichtsvoll die dänischen Autofahrer mit Radfahrern umgehen, selbst wenn wir uns verfransen, sie warten geduldig ab, bis wir unseren Weg gefunden haben, sie lassen uns vorfahren und winken uns in allen erdenklichen Situationen hinüber und herüber. Die Raser auf dem Damm nach Mon waren die absolute Ausnahme gewesen.
Kirstine empfängt uns im rotweißen Dirndl und ist genauso liebreich, wie auf den Booking-Fotos versprochen, ein Fachwerkhaus mit vielen Nebengelassen, die Balken sind dunkelkirschrot geschminkt. Wir erwischen das Hotel bei der Hinterpforte, die einen weitläufigen Garten vom Rest der Welt separiert. Hier gibt es kleine Brunnen, geschmackvoll umpflanzt, und allerlei zauberhafte Nischen unter Sonnenschirmen, in denen sich Gäste in edelstem Zwirn tummeln. Vermutlich gibt's hier eine Hochzeit oder höheres, aber ich wage dennoch den Eintritt. Da ich zum Hintereingang rein bin, muss ich mich durch mehrere verschlungene Restaurantabteilungen arbeiten. Erst kommt die Veranda, dann der verglaste Teil der Veranda, dann ein Jagdzimmer und dann, vorbei an einem Festsaal, ein normaler Speisesaal. Alles hier sieht aus wie in einem Märchenschloss, romantisch verschnörkelte Nussholzmöbel, riesige Blumenarrangements in jeder freien Ecke, Silberkübel, Kerzenhalter, Seidentapete. Wunderbar. Verschwitzt und braungebrannt, mit wirren Haaren, aber leuchtenden Augen, und in Hosen, die den Unterhosen meines Mannes gleichen, schiebe ich mich durch die duftende Menschenmenge. So plauze ich (nahe der Rezeption) mitten in einen Sektempfang. Ich ernte erstaunte Blicke aber noch viel mehr freundliches Lachen, die Dänen lassen sich auch durch tollkühne Radfahrer nicht aus der guten Laune bringen. Die Rezeptionistin ist sehr freundlich, sagt mir aber heute zum dritten Mal, dass leider kein Zimmer mehr verfügbar ist. OK, es soll halt nicht sein, dass wir an diesem wundersamen Ort die Nacht verbringen werden. Ich bedanke mich artig und trete wieder durch alle Säle, Gaststuben und Veranden den Rückzug an. Nix, sag ich zu Stefan und auch er bedauert das; der Blick in den Garten allein reicht aus, um hier verweilen zu wollen.
Dann fahren wir etwas bedrückt durch die schöne Innenstadt, die durch schöne Plätze besticht und uns sehr viel belebter vorkommt, als alle Plätzen zusammen, die wir bisher besuchten.
Im Restaurant Vivaldi gönnen wir uns zum Trost einen Kaffee mit Eis und schmieden einen Alternativplan aus.
Es gibt Zeltplätze in der Nähe, etwa 20 Kilometer von hier, direkt am Fjord. Die steuern wir an auf gut Glück. Auf dem Weg aus der Stadt schauen wir noch im Vinhuset vorbei und fragen auch hier nach freien Betten. Aber Fehlanzeige, es gibt hier weder letzte noch nicht beste Zimmer, die Stadt scheint einfach komplett ausgebucht. Also gut, dann eben wieder im Zelt.
Der weitere Bikeline-Weg führt direkt am Fjord entlang, diesmal aber auf der anderen Seite. Wir umfahren die hier ansässigen Industrieanlagen weitläufig, bevor wir auf einen exzellenten Radweg einbiegen, der hier über lange Strecken zwischen Straße und Waldrand verläuft. Der Weg scheint zu anderen Zeiten stark genutzt zu sein, eventuell als Arbeitsweg, denn an einer Stelle gibt’s sogar einen Kreisverkehr für Radfahrer. Mit drei verschiedenen Ausgängen. Wir staunen nicht schlecht, als wir das sehen und drehen auf dem Kreisel gleich eine Extrarunde. Selbstredend sind wir allein hier, aber die Vorstellung, dass hier zu Hochzeiten dutzende Radfahrer langfahren, die sich alle brav im Kreisverkehr einordnen, gefällt mir.
Nach den letzten Häusern der Zivilisation gibt’s hier wieder nur noch die Straße, den Wald und uns. Ab und zu lichten sich die Bäume und lassen etwas Raum für den Rest der Landschaft: weite Wiesen, dahinter der Fjord. Hier in den Hügeln gibt’s eine Golfschule. Ungefähr 20 Eleven jeglichen Alters und Geschlechts stehen brav in einer Reihe und üben gemeinsam den Aufschwung. Zirr - zirr - zirr - die Bälle schwirren weit ins Land und landen verloren irgendwo im Gras. Dann kommt die nächste Batterie Bälle in ihre Halter, der Trainer gibt das Signal zum Aufschwung und wieder zirrt und zurrt es konzertant durch die dänische Fjordluft. Wir verweilen ein Zeitchen am Rande und sehen dem seltsamen Treiben zu, dann schickt uns der beginnende Regen wieder auf’s Rad. Der erste Zeltplatz ist unser, hatten wir ausgemacht. Wenn es hier nichts gibt, nehmen wir den zweiten. Der Campingplatz heißt zum Weißen Schwan und gleich an der Einfahrt begrüßt uns ein gleichnamiges Restaurant, das einen sehr verwegenen und mittelalterlichen Eindruck macht. Dunkelschwarzes Holz, ein Dreiseitenhof, im Inneren ein riesiger Kamin und robuste Bierbänke, ebenfalls aus dunklem Holz. Leider ist es geschlossen, die Saison ist hier schon vorbei. Direkt hinter dem Restaurant stehen ein paar leere Blockhütten – das bringt uns auf eine Idee. Wir könnten doch hier in den Hütten…?? Dann müssen wir das Zelt nicht aufbauen. Das wollen wir gleich mal versuchen.
Die Rezeption ist nicht besetzt, auf einem festgeklebten Pappteller an der Tür gibt’s aber ne Telefonnummer. Das Gespräch mit dem Betreiber gestaltet sich schwierig, da der Empfang hier sehr schlecht ist. Die Hütten sind eigentlich schon zu, sagt der Mensch, aber wenn wir keine Bettwäsche verlangen, kann er uns eine vermieten. Juchu, ich triumphiere innerlich, muss mich aber dann wieder auf das Gespräch konzentrieren, weil man nun von mir wissen will, wie lange wir duschen wollen. Wir nehmen zweimal sechs Minuten entscheide ich spontan und schon ist die Sache beschlossen. Nach einer halben Stunde kommt eine alte Frau zur Rezeption gelaufen und bringt uns den Schlüssel. Dankbar ziehen wir ein.
Stefan fährt noch mal los, um in der Nähe was zu essen zu finden, ich mache mich los Richtung Waschhaus. Der Zeltplatz ist ziemlich groß, es gibt abenteuerliche Spielplätze hier und ein zauberhaftes Schwimmbad mit Innen- und Außenbecken. Und hinten rauscht ewig das Meer. Die sanitären Anlagen sind allererste Qualität, ein bisschen gruslig zwar, denn sie bestehen aus einer riesigen Halle mit gefühlt hundert weißen Türen. Keine Menschenseele ist hier zugegen, auch das Schwimmbad ist leer. Die Luft hier drinnen ist neblig-dunstig. Ich tappe hier ganz alleine durch die Halle, es ist offenbar grad keine Duschzeit in Dänemark, und denke mir so, dass dies der perfekte Ort für einen Mord ist. Es wäre ritschratsch ganz schnell geschehen, niemand sähe oder hörte etwas, erst danach wär das Geschrei groß. Noch unter der Dusche spinn ich die Story weiter, aber leider sind meine Duschmarken zu früh verbraucht, als dass ich sie hätte zu Ende denken können.
Inzwischen hat es aufgehört zu regnen, sodass ich die Sachen zum Trocknen auf die Balustrade hängen kann. Stef kommt zurück und wir stürzen uns erst mal hungrig zu Tisch. Zum Kochen haben wir keine Lust, also gibt es Brot mit allerlei Drum und Dran. Dann sitzen wir friedlich auf der Terrasse, trinken heißen Tee und schauen den Wolken beim Umherziehen zu.
Morgen soll es schon wieder stürmisch werden. Und es wird Regen geben.
25. August 2021: Wir schummeln uns nach Korsor Schon am Morgen sagt uns der Blick aus dem Fenster: Es wird ungemütlich. Oder eigentlich ist es das schon. Dicker Platzregen, stürmischer Wind, wir frühstücken gleich erst mal im Haus und nicht auf der Terrasse. Aber ich habe über Nacht eine Lösung gefunden. Wir fahren heute einfach mal nicht Rad, wir nehmen den Zug bis Korsor. Stefan guckt sich den Himmel an und nickt. Dänemarks weite Felder mögen bei Sonnenschein gut zu ertragen sein, aber bei Regen sind sie das nicht. Wir packen eilig zusammen und düsen in allerfeinstem Regenschleier zurück nach Naestved, finden den Bahnhof und dann geht das Abenteuer los.
Der Ticketautomat erzählt uns zunächst, dass wir für die Räder reservieren müssen, wegen Corona und so. Man kann sich aber zwecks der Platzreservierung leider nicht einfach durchs Menü hangeln, man muss das telefonisch tun. Also gut, ich rufe da an und lande in einer dänischen Warteschlaufe, á la, wenn Sie das wollen drücken sie die 1, wenn sie das nicht wollen, drücken sie nicht die 1. Ich verstehe natürlich nur Bahnhof und lege genervt auf. Ratlos stehen wir vor dem Automaten. Mein Vorschlag: Wir hangeln uns jetzt durch das Menü, kaufen, was wir kaufen können und wenn das nicht reicht, wird uns der Schaffner das schon mitteilen. Stefan ist nicht begeistert und fürchtet hohe Strafen, aber ich erinnere ihn daran, dass wir bisher ticketmäßig noch nie Probleme hatten und die Dänen das auf den Fähren zumindest immer recht lax gehandhabt hatten. In irgendeinem Nebenmenü finden wir dann sogar Fahrradkarten, die wir kaufen, aber wir sind uns nicht sicher, ob das alles reicht, denn wir fahren einmal mit der Regionalbahn und einmal mit dem IC.
Das nächste Problem winkt alsbald, der Zugang zum Bahnsteig ist nur über steile Treppen möglich, die keine Fahrradrampe besitzen. Uns verwundert das. Im Lande der Radwege und Radzuvorkommenheit gibt es ein solches nicht? Gerade als wir uns anschicken wollen, es zu versuchen und unsere Räder die steilen Treppen hochzuwuchten – ich meine, nach dem Gendarmenstieg kann uns fast kein Gelände mehr schrecken – macht uns ein freundlicher Herr darauf aufmerksam, dass es eine extra Brücke zu den Bahnsteigen gibt. Mit vielfach wendender Radrampe nach oben und Fahrstühlen nach unten auf die Bahnsteige. Ah, Gottseidank, diese Hürde wäre also auch geknackt.
Der Interregio hat ein Fahrradabteil, das wir postwendend aufsuchen wollen, aber leider ist dieser Waggon schon mit einer Schulklasse im Ausflugmodus besetzt. Die machen keine Anstalten, aufzustehen, als wir unsere dicken Gefährte dort hineinschieben. Auch die Lehrerin der Klasse sieht hier keinen Handlungsbedarf und lässt ihre Teenager gewähren. Also gut, die jungen Leute sitzen auf den Klappsessel an den Seitenwänden des Abteils; wir stellen unsere Räder einfach vor die zappelnden Schülerfüße und uns selbst stellen wir dicht daneben. Eine Stange zum Festhalten findet sich, fahren wir also die erste Strecke im Stehen. Das wird mir gar nicht langweilig, weil es wieder mal interessant ist, die Teenager zu beobachten. Wer hat das Sagen, wer eher nicht? Wie interagieren sie? Was machen sie für Dummheiten? Und wie ist ihre Ausrüstung, es geht wohl auf eine mehrtägige Fahrt, alle haben Schlafsäcke mit. Das alles ist mir ein willkommener Quell der Abwechslung und Information. In Slagelse müssen wir raus und stellen mit Schrecken fest, die Hammelherde hier schickt sich ebenfalls an, auszusteigen. Jetzt rede ich doch mit der Lehrerin und frage sie, ob wir zuerst aussteigen können, damit wir den Anschlusszug nach Korsor nicht verpassen. Aber die Frau ist ganz entspannt. Wir wollen auch nach Korsor sagt sie zu mir. Keine Angst, der Zug wartet auf uns.
Und so ist es dann auch. Im IC reisen wir etwas entspannter, denn wir sind alleine im Fahrradabteil. Der Schaffner kommt und taxiert mich regelrecht mit seinen stahlblauen Augen, guckt auf die Karten, guckt wieder auf mich. Ist alles in Ordnung?, frage ich bang. Er schweigt, guckt wieder alles durch, und dann sagt er freundlich: Ja, alles ok. Ich bin irritiert von diesen dänischen Beamten. Entweder, er wollte uns verunsichern, wie der Käpt‘n der Bogo-Fähre, oder wir haben zu viel bezahlt und er hatte keine Lust, uns das zu erklären oder wir haben zu wenig bezahlt und er hatte ebenso keine Lust, das weiter zu verfolgen. Am Bahnhof in Halsskov, einem Vorort von Korsor, springen wir aus dem Zug und machen uns los Richtung Zeltplatz. Ach ja, ich habe noch gar nicht davon gesprochen, wo wir heute übernachten wollen. Auf einem Zeltplatz, wie angedeutet, aber nicht im Zelt, sondern wieder in einer kleinen Hütte, die sogar mit Klo und Dusche ausgestattet ist. Der Platz liegt direkt am Meer und zwar am Fuße der Store Baelt-Brücke, die Seeland mit Fünen verbindet.
Der Zeltplatz ist eher klein und wirkt etwas verrumpelt, aber die Stimmung hier direkt an der Brücke ist eine ganz besondere. Ein beständiges Summen schwebt über dem Platz. Das kommt von den Autos, die unablässig den Belt überqueeren. Die Luft ist erfüllt von Sehnsucht, man möchte immerzu fort von hier, am besten fliegend durch Himmel und Wolken.
Die Schlafhütten sind recht komfortabel.
Auf kleinstem Raum hat man hier Bad und Küche, einen kleinen Chillbereich und sechs Schlafplätze untergebracht. Während wir einziehen, stell ich mir vor, wie die Halbgroßfamilie der Olsenbande hier den Sommer verbringen würde.
Wir leeren ein paar Taschen und machen uns los in die Stadt, um einzukaufen. Das schlechte Wetter ist hier noch nicht angekommen, wir fahren durch einen Mix aus Sonnenschein und Nieselregen, zunächst am Strand entlang, später aber als die Wege uns zu sehr versanden, wieder auf der Straße. Korsor hat etwa 14.000 Einwohner und ist ein beschauliches Städtchen mit wieder mal schöner Innenstadt – überhaupt haben wir hier nie Städte gesehen, die uns irgendwie hässlich dünkten, nur verlassen wirkten sie oft.
Wir checken erst mal die Restaurant-Lage hier, es gibt nicht sehr viele und sie öffnen nach 3G. Zum ersten Mal auf dieser Reise müssen wir nachweisen, dass wir gesund sind, zumindest was Corona betrifft. Wir überlegen, ob wir dann nicht doch lieber kochen, aber keiner von uns beiden hat wirklich Lust darauf. Also gut, erst mal gehen wir einkaufen, denn unser Jeden-Tag-Vorrat für den Fall, dass wir keine Bleibe finden, ist restlos aufgebraucht. Gleich neben dem Supermarkt gibt’s ein Testzentrum, das besuchen wir jetzt, damit wir ins Restaurant einreiten können. Im Gegensatz zum letzten Mal ist man in diesem Zentrum freundlich und kompetent, nach kurzer Zeit ist unsere Gesundheit bewiesen und wir dürfen essen gehen. Und das keine Minute zu spät, denn es fängt fürchterlich an zu regnen, sodass wir regelrecht hineinhechten in die gute Stube.
Das Essen ist gewohntermaßen ausgezeichnet, das Bier schmeckt herrlich, wir sitzen lange hier und schwatzen und beraten, wie es weitergehen soll. Nach einigem Hin und Her beschließen wir, unsere Reise an dieser Stelle zu beenden. Knapp 500 Kilometer sind wir gefahren, nun haben wir uns erst mal sattgesehen an Feldern und Wäldern, Orten und Menschen, und am tobenden Meer, das uns immer das liebste war auf unseren Wegen. Mein Vorschlag, mit den Rädern morgen in den Zug zu steigen und bis nach Flensburg zu fahren, findet bei Stefan jedoch wenig Zustimmung. Dieses ewige Gebuckle auf die Bahnsteige und in die Züge, wir müssen mehrmals umsteigen, und dann die Unsicherheit mit den Radfahrkarten – das alles hält ihn davon ab, von diesem Plan begeistert zu sein. Stattdessen offeriert er mir Folgendes: Er läuft morgen zum Bahnhof, fährt alleine nach Flensburg und kommt dann mit dem Auto zurück. Ich kann indessen einen ganzen Schreibtag einlegen und nachholen, was ich bisher versäumte. Hm… das klingt für mich ziemlich verlockend. Wir beschließen das kurzerhand und machen uns fröhlich auf den Heimweg.
Marinestützpunkt in Korsor
Der Regen ist vorbei und die Sonne macht sich langsam bettfertig.
Wir fahren zurückzu wieder am Strand entlang und erleben eine atemberaubende Sicht auf die Brücke, die sich 13 Kilometer lang über den großen Belt von Seeland bis nach Fünen schwingt.
Bis dorthin freilich können wir nicht gucken; vielmehr scheint die Brücke irgendwo im Nirgendwo zu enden. Sie verschwindet im Nebel und verschmilzt mit dem Abendrot.
Dort, wo sie hinführt, könnte ein ganz wunderbarer Ort sein, kein irdischer Ort, eher so ein bisschen das Himmelreich, wo es kein Leid und keine Widersprüche gibt.
Aber! Entwicklung und Veränderung ist nur möglich, wo verschiedene Welten aufeinandertreffen, wo Unterschiede sind und Ungerechtigkeiten, Diskussionen und Debatten, Diskurs und Gegensätze, wo man sich Brücken bauen muss (und will), um gemeinsam an all diesen Dingen und aneinander zu wachsen.
Diese Brücke ist für mich ein Zeichen der Hoffnung. Der Mensch ist in der Lage riesige Brücken über Meere und Täler zu bauen – da sollte doch der kurze Weg zu unseren Mitmenschen unsere leichteste Übung sein.
Liebe Sylvia, ich bin immer wieder begeistert von Deinen Berichten. Sie sind so lebendig und interessant geschrieben, so dass selbst ich als Wenigleser keinen Bericht von Dir verpasse. Danke für Deine Mühe und liebe Grüße auch an Stefan.
Zu Ende? Schade, ich hätte gerne weiter gelesen. Wenn ich die kleinen Städte mit ihren malerischen Häfen sehe, packt mich die Sehnsucht. Dort am Meer ist es überall schön.
Ditschi
Liebe Sylvia, ich bin immer wieder begeistert von Deinen Berichten. Sie sind so lebendig und interessant geschrieben, so dass selbst ich als Wenigleser keinen Bericht von Dir verpasse. Danke für Deine Mühe und liebe Grüße auch an Stefan.
Stani
Na herrlich mein Lieber! Ich überlege, ob ich noch ein Fazit schreibe.... Dann hast Du noch mal was zu lesen. :-) Grüß bitte Conni schön von mir!
Zu Ende? Schade, ich hätte gerne weiter gelesen. Wenn ich die kleinen Städte mit ihren malerischen Häfen sehe, packt mich die Sehnsucht. Dort am Meer ist es überall schön.
Ditschi
Hallo Ditschi,
der Abreisetag wäre noch übrig, da ist aber nicht mehr viel passiert. Bis auf die beeindruckende Fahrt über die Store-Belt-Brücke und vorbei an dieser winzigen Insel, auf der in den 60er Jahren die liederlichen Mädchen gefangen gehalten und zwangssterilisiert wurden. Auch das freie, liberale Dänemark hat Schattiges hinter sich. Aber vielleicht sind diese dunklen Epochen ja Voraussetzung dafür, dass es dann demokratisch und frei zugeht. Der Mensch muss es immer erst in die eine Richtung übertreiben, ehe er nachhaltig draus lernt und die andere Richtung einschlägt.
Danke, dass Du dabei warst. Es hat Spaß gemacht, mit Dir zu reisen.
LG Sylvie
Editiert vom Moderator
Realname gegen Username getauscht. Bitte Realnamen nur verwenden wenn diese vom Nutzer selbst offen im Forum genutzt werden.
Bei Nachfragen bitte eine PN an den Moderator senden. Dein Team der
also ich bin enttäuscht! in dein dusch-szenario hätte der axtmann soo gut reingepasst!
vielen dank für den schönen bericht. nachdem ich jetzt die ganze kultur hinter mir hab kann ich endlich auch mal nach dänemark.
und schöne stimmungsvolle bilder hast du geschossen!
Hallo Meiner,
der Axtmann ist hochgradig wasserscheu, der verirrt sich niemals in Duschzellen, was mein Glück war, denn sonst hätte ich ihm den Schaum vom Mund waschen müssen. Das wäre anstrengend geworden bei der Menge....
Beim nächsten Mal schreib ich keine Kultur mehr für Dich. Die musst Du Dir dann selbst zusammenklauben. Wärste mal mitgekommen Meiner, da wäre was Erlesenes draus geworden.
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