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Prolog
"Na, hast Du diesmal das richtige Zeltgestänge eingepackt?", fragte Frau November. Was als Frotzelei gedacht war, ließ es mir kalt über den Rücken laufen. Ich erinnerte mich an eine Wanderung durch Nordböhmen, auf der das falsche Gestänge nur deshalb nicht kassenwirksam wurde, weil Neuschnee unserer Tour ein vorzeitiges Ende bereitet hatte. Ich öffnete den Rucksack und tastete nach dem Packbeutel. "Oh Sch****..." hauchte ich, als ich statt Kaikialla-Rohren den Kreuzverbinder meiner Schildkröte fühlte. Was jetzt? Es war schon spät abends. Frau November blickte mir in die Augen. Es gab kein Entrinnen. Ich zog den Beutel ganz heraus und zeigte ihr den Kreuzverbinder. "Das", flüsterte ich und fühlte mich gerade aschfahl, "das hätte jetzt ganz blöd ausgehen können." Ich stand von meiner Bettkante auf, ging zum Gearschrank gegenüber und zog dort das richtige Gestänge aus dem Schublade.
1.9.
Nach einem solchen Anfang konnte auf unserer Reise nach Schwedisch-Lappland eigentlich nichts mehr wirklich schiefgehen. Selbst die mehr als einstündige Verspätung beim Abflug nach Göteborg brachte uns nicht mehr aus dem Konzept. "For operational reasons" brachte uns nämlich statt des Air-Berlin-Airbusses eine eingecharterte BAe 146 nach Göteborg. Dort erwarb ich "für alle Fälle" bei Stadium noch ein Paar billige Handschuhe, denn die hatte ich schlicht vergessen.



2.9.
Erwartungsgemäß fielen wir um am nächsten kurz nach sechs Uhr morgens ordentlich gerädert in Umea aus dem Nachtzug. Das Wort "Liegewagen" unterscheidet sich eben nicht ohne Grund vom Wort "Schlafwagen". Jetzt nur noch mal eben fünf Stunden mit dem Bus nach Hemavan. Auf dem Weg dorthin verschlechterte sich das Wetter mit jeder Kurve, und davon gibt es viele auf dieser Strecke. Wir stiegen also im Dauerregen aus. Eine gütige Fügung brachte es mit sich, dass unmittelbar neben der Endhaltestelle schon eine Abkürzung zum Kungsleden Richtung Ammarnäs führte. Wären wir - wie es die Karte suggerierte - am Vandrerhem vorbeigekommen, hätte ich sicherlich um einen Aufschub des Tourbeginns ersucht.




Drei Kilometer hinter der Viterskals-Hütte schlugen wir uns in die nicht vorhandenen Büsche und bauten den Kikeriki-"Hühnerstall" auf. Mit den richtigen Rohren ein Kinderspiel. Immerhin hatte der Regen jetzt etwas nachgelassen. Aber wo blieb das Wasser in dem Bach, der einige hundert Meter oberhalb uns die Felsen herunterstürzte? Hatten wir am falschen Bachbett geparkt? Wir liefen am Bach hangaufwärts und siehe da - dort floss noch Wasser, bevor es im Geröll versickerte.
Nachdem ich die sterblichen Reste eines Lemmings aus dem Vorzelt entfernt hatte, war ich froh, den Steripen mitgenommen zu haben. Aber: Die erste Ladung verarbeitete er noch tadellos, die zweite brach er in der Mitte ab: Aufgeregtes rotes Blinken verkündete leere Batterien. Och, nicht schon wieder... zum Glück hatte Frau November diesmal Ersatzbatterien im Gepäck. Aber es blieb beim roten Blinken. Erwärmen und Kreuzen der Batteriesätze brachte ebenfalls keine Besserung.
OT: Nachmessen der Spannung nach der Rückkehr ergab bei allen vier Batterien 3,06 Volt - also reichlich. Bleibt also ein Elektronikfehler. Dem Merten sein Laden hat das gute Stück anstandslos zurückgenommen, obwohl seit dem Kauf mehr als ein Jahr verstrichen war.



Technische Daten: 14,7 km in 5:15h
3.9.
Wir versuchen, das schlechte Wetter auszuschlafen, was uns aber nur teilweise gelingt: Aus dem Dauerregen ist Dauernieseln mit Schauern geworden. Aber die erste Begegnung mit einer Rentierherde hebt die Stimmung ein wenig. An der Rasthütte Syterskalet auf dem Sattel zwischen den beiden Sytertoppens machen wir einen ersten Keksstop. Drei pitschnasse Einheimische aus der Gegenrichtung kommen hinzu, sie sind vernünftiger als wir und machen eine reine Hüttentour. Immerhin lässt der Blick nach Osten auf etwas Sonne hoffen, und so brechen wir doch noch auf. Genau zum richtigen Zeitpunkt: kaum verlassen wir das Portal zwischen den Sytertoppens, wird es sonnig. Gelegentlich treibt der Wind einen Regenschauer in unsere Richtung, aber da er meistens einen Regenbogen im Gepäck hat, kann ich das tolerieren.




Regenbogen – einer von vielen an diesem Tag.
An der Syterstugan legen wir nur einen kurze Rast auf der Terrasse ein. Der Hüttenwart erzählt uns ungefähr drei Mal, dass er hier nur die Vertretung ist. Wie überhaupt der Mitteilungsdrang der Hüttenwarte erstaunlich ist - später in der Serve-Stuga werden wir dreimal auf eine Rasthütte hingewiesen.



Wir durchqueren die Schärenlandschaft des südlichen Tärnasjö, wo die Fjällkarte nur drei Brücken kennt. Ich zähle bis zu sieben, mindestens aber fünf - je nachdem, welchen Steg man schon als "Brücke" bezeichnen mag.

„Über sieben Brücken musst geeehhhnnn...“
Durch nordschwedischen Regenwald am Ostufer geht es jetzt zügig nach Norden. Unser Fortkommen wird beschleunigt durch die klimatischen Bedingungen: Es gibt keine Brennnesseln - keine Angst vor Berührung mit der Vegetation - und kein Springkraut - kein Grund für Herrn Pfad-Finder, mit der Vegetation herumzuspielen.
In der Tärnasjöstuga übernachten wir. Erwartungsgemäß sind meine Lowa Timok nass - und zwar so nass, dass die Sealskinz-Socken es nicht mehr schaffen, Feuchtigkeit nach Außen abzuführen. Weniger erwartungsgemäß sind auch Frau Novembers Lundhags nass. Der Trockenraum leistet bis zum Morgen ganze Arbeit.
Als Belohnung für 25 km gönnt sich Frau November eine Dose Ananas aus dem Hüttenshop. Doch dann begeht sie eine überaus verwerfliche Tat. Offenbar frei nach dem Motto "'Müll' darf man nicht trennen, denn er hat nur eine Silbe" wirft sie die leere Weißblechdose in den Sammelbehälter für Aludosen! Herr Pfad-Finder holt seine Standpauke aus der Schrankwand und hält einen Vortrag über die Notwendigkeit, Sekundärrohstoffe wirklich sortenrein zu trennen. Schließlich muss die Müllverbrennungsanlage später mit dem richtigen Mengenverhältnis von Hart- und Weichplastik, Papier und Tetrapaks befeuert werden.
Technische Daten: 25,3 km in 8:45h
4.9.
Warum wir die Schuhe über Nacht getrocknet haben, ist uns am Morgen nicht mehr ganz klar. Vielleicht, damit sie besser neues Wasser aufnehmen können? Jedenfalls regnet es. Nach dem Grundsatz "Später ist immer noch früh genug" verlassen wir gegen kurz nach neun Uhr als letzte Übernachtungsgäste die Hütte. Der Regen wird nur gelegentlich durch Nieselregen unterbrochen, den man durch den Nebel kaum erkennen kann.
Noch auf der Treppe zur Serve-Stuga begrüßte uns der Wirt mit warmem Saft. Da gab es keinen Grund mehr, schnell weiterzulaufen, sondern wir blieben für die Mittagspause. "Später ist immer noch früh genug!“



Und später regnete es fröhlich weiter. Lustlos schleppten wir uns durch das nasse Fjäll. Als wir die Rasthütte Vuomatjahkka gegen 17:30 erreichen, blinzelt zum ersten Mal an diesem Tag die Sonne durch. Ich erkläre die Tagesetappe trotzdem nach gut 21 Kilometern für beendet. Heute ist es Frau November, die mich gerne noch 5 km bis zur nächsten Rasthütte Juovvatjahkka weitertreiben würde (bitte nicht verwechseln, auch wenn fast die gleichen Buchstaben vorkommen!) Bei unserem bisherigen Tempo wären das zwei Stunden - und um 20 Uhr wird es dunkel. Aber: Wer den Hühnerstall trägt, hat die Macht. Frau November stellt den Antrag, dafür am nächsten Morgen um sieben Uhr aufzustehen. Herr Pfad-Finder stimmt ceteris paribus ("wenn alle anderen Faktoren unverändert bleiben") zu. Außerdem scheint Vuomatjahkka sehr beliebt zu sein, denn es stehen bereits neun Hilleberg-Tunnel rund um das Klohäuschen. Es hat schon etwas von einer Alien-Kolonie.



Obwohl ich dem Sonnenschein insgeheim keine 15 Minuten zugebilligt hatte, bleibt es den ganzen Abend trocken. Das ändert sich in der Nacht. Es setzt nicht nur Dauerregen ein, sondern ein kräftiger Wind beginnt am Hühnerstall zu zerren. Von Ceteris paribus kann keine Rede mehr sein.
Technische Daten: 21,2 km in 8:15h
5.9.
4:00 Es regnet und stürmt. "Musst Du raus?", fragt mich Frau November im Licht meiner Stirnlampe. Ich winke mit einer leeren Mountainhouse-Ziplocktüte. Soll heißen: Zivilisierte Männer würden rausgehen, andere machen sich die Vorteile der männlichen Anatomie zunutze.
6.22 Es regnet und windet. Herr Pfad-Finder kann sich keine Vorteile der männlichen Anatomie mehr zunutze machen, sondern muss raus. Nach seiner Rückkehr wird der Beschlusss vom Vorabend dahingehend präzisiert, dass nur dann um sieben Uhr aufgestanden wird, wenn es nicht mehr regnet.
7:00 Es regnet und windet. Eine neue Kalkulation der Laufzeit ergibt: Um Ammarnäs noch am selben Tag zu akzeptabler Tageszeit zu erreichen, müssten wir uns um 9 Uhr für oder gegen das Aufstehen entscheiden.
9:00 Es regnet und windet - wieder von neuem. Das Klacken vom Zusammenklappen der Zeltstangen unserer Nachbarn ist längst verhallt. Wir sind die einzigen, die noch ausharren. Und das soll jetzt auch so bleiben. Herr Pfad-Finder philosophiert über den Regen: "Immer, wenn man glaubt, dass es aufhört, fängt es wieder so richtig an."
9:40 Es pladdert. Herr Pfad-Finder schlägt die Brücke von seinen philosophischen Erwägungen über den subpolaren Regen zur praktischen Handlungsanweisungen. "Also sollten wir mit dem Packen beginnen, wenn es gerade so richtig schüttet." Frau November fragt nur: "Dir ist wohl vom Abwettern schon langweilig?" Leugnen wäre zwecklos.
10:52 Wir brechen auf - mit reduziertem Tagesziel Aigertstuga. Es nieselt nur noch leicht und hört bald ganz auf.
Die am Vortag aus dem Bauch heraus gefällte Entscheidung, nicht bis zur Rasthütte Juovvatjahkka weiterzugehen, erweist sich als goldrichtig. Rund um die Hütte erstrecken sich Blockfelder. Erst zwei Kilometer später kommt der erste Platz, wo wir unseren Hühnerstall hätten aufstellen können.



Um 15:05 erreichen wir die Aigertstuga. Es schüttet und stürmt, Frau November wird vom Wind hin- und hergeschüttelt. Aber: Sollen wir wirklich noch einmal so kurz vor Ammarnäs übernachten? Eine rasch durchgeführte Präzisions-Entfernungsberechnung - Breite des kleinen Fingers=2 km - ergibt eine Reststrecke von 8 km. Der Zufall will es, dass der Regen kurz nachlässt.

Erster Blick auf Ammarnäs – und der vorerst letzte auf einen Regenbogen.
Wir brechen um 15:50 auf und erreichen um 18:04 bei stabilem Sonnenschein die Hauptkreuzung in Ammarnäs. Nur der Supermarkt hat seit vier Minuten geschlossen. Kleiner Trost: Meine Entfernungsmessmethode wurde erneut bestätigt, es waren 7,8 km. Wir buchen uns beim Wirt des "Ammarnäsgarden" ins benachbarte STF-Vandrarhem ein und belohnen uns im Restaurant mit Erzeugnissen aus der örtlichen Fauna, während sich der Trockenraum für eine anstrengende Nachtschicht warmläuft.


Technische Daten: 20,7 km in 7:15h
6.9.
In der Nacht flattert keine Zeltplane, es prasselt kein Regen auf Silnylon, der morgendliche Pilgergang findet ohne Regenjacke statt. "Mal ausschlafen wäre nicht schlecht", nannte hier im Forum mal jemand seinen größten Traum. "Träume leben", das haben wir an diesem Morgen verwirklicht. Aber auch draußen wäre es komfortabel gewesen, denn das Wetter hat sich endlich stabilisiert.
Es ist kurz vor zehn Uhr, als wir endlich straßenfein sind. Gerade rechtzeitig, um den Supermarkt zur Öffnung aufzusuchen. Die Augen sind mal wieder größer als der Hunger, und so nimmt eine fürsorgliche Frau November Herrn Pfad-Finder den 600-Gramm-Beutel mit unkaputtbarem Polarbröd aus dem Einkaufswagen und ersetzt ihn durch den 900-Gramm-Beutel. "Ich trage es auch auch", sagt sie und hält Wort. Wahrscheinlich ahnte sie, dass sie nicht allzu lange daran tragen muss.
Nach dem Frühstück steht noch eine Besichtigung aller Sehenswürdigkeiten des Ortes an. Wir sind nach einer Stunde fertig. Zu sehen gibt es:




Um kurz vor 12 Uhr verlassen wir Ammarnäs auf dem Kungsleden Richtung Norden - und biegen an der ersten Weggabelung prompt "falsch" nach rechts ab. Statt steil, kurvig und steinig geht es sanft und in fast gerader Linie seitlich am Hang hoch. Nach drei Kilometern stoßen wir wieder auf den echten Kungsleden. Die ersten 300 Höhenmeter des Tages sind geschafft. Die Windschutzhütte Näsbergstjärn ist auf Harzer Niveau mit ungetrenntem Müll versaut, so dass wir über eine kleine Kekspause hinaus kein Verlangen spüren, hier länger zu weilen. Außerdem wollen die nächsten 100 Höhenmeter bewältigt werden.

Blick zurück
Als der Wald aufhört, bekommen wir sofort zu spüren, dass Sonnenschein auch in subpolaren Regionen nicht zwangsläufig für angenehmes Wanderwetter bürgt. Windböen quer über die Hochebene prügeln uns kräftig durch, so dass ich nicht nur die meine Wollmütze aus Acryl zum Einsatz bringe, sondern auch Handschuhe und schließlich sogar die Regenjacke. Wenigstens kommt der Wind "nur" von der Seite, nicht von vorne. Unser Plan, oben auf der Hochebene zu zelten, wird aber nicht vom Wind durchkreuzt, sondern von der Tatsache, dass alle Wasservorkommen restlos ausgetrocknet sind. Sollte Ammarnäs vielleicht eher Ammartork heißen?

"Bunt sind schohon die Wälder, gelb die Stohoopppelfelder...."
Es ist so trocken, dass wir sogar bezweifeln, an der Raststuga Stabburet Wasser zu finden. Deswegen verzichten wir gleich auf diesen Abstecher, obwohl uns der Wind kräftig auskühlt. Für einen Moment fallen sogar Schneeflöckchen. Wir verzichten auch auf einen Abstecher zum Vuodnánjöhkkie, obwohl dort vielleicht ein Bach gewesen wäre. Aber allein der Name weckt den Verdacht, dass hier bloß ein besoffener Lemming über die Tastatur des Kartographen gestolpert ist, bevor er sich in den Nadeldrucker gestürzt hat.

Kein Staub, sondern Schneeschäuerchen.
Frau November beugt schließlich sich meiner Logik, dass dort, wo eine Brücke eingezeichnet ist, noch am ehesten Wasser zu finden sein wird. In Wegstrecke umgerechnet bedeutet das, noch einmal acht Kilometer draufzulegen. Selbst unter den günstigen Wegverhältnissen hier heißt das in "Estimated Time of Arrival" 19 Uhr.
Tatsächlich schaffen wir bis kurz vor 19 Uhr. Unter der Brücke fließt hervorragendes Wasser in rauen Mengen durch, und gleich dahinter finden wir auch einen wunderbaren Stellplatz für den Hühnerstall. Allerdings auch etwas exponiert, so dass sich kurz vor Sonnenaufgang erstmals in dieser Saison Raureif auf dem Hühnerstall bildet.
Technische Daten: 22,0 km in 7:10h
7.9.
Als uns die Sonne endlich aus den Schlafsäcken treibt, ist der Raureif verschwunden. Schnell steigen wir den restlichen Weg zur Rävfalletstugan ab. Die wirkt völlig verlassen, so dass wir daran vorbeischießen und uns dann am Vindelälv entlang Richtung Süden aufmachen.

"Könnt Ihr Euch mal vielleicht entscheiden?" Man vergleiche die Entfernungsangaben nach Ammarnäs.
Der Weg ist anfangs eine Quadpiste, ab der Siedlung Aitelnas/Altenjas ein Schotterweg. Wir sind so schnell, dass wir den Abzweig des Kungsledens nach Osten erst nicht richtig ernstnehmen. Ausgeschildert ist er nämlich nicht, aber dafür ziemlich zugewachsen. Mein satellitengetriebener Zauberkasten wies mich allerdings schnell auf den Fehler hin.
Hinweis am Rande: Die Openstreetmap-Karte ist in Lappland nur Stückwerk. Lediglich Straßen 1. bis 2. Ordnung sind offenbar vollständig erfasst, die Wanderwege sind Stückwerk. Selbst der Kungsleden wies Lücken auf oder war extrem grob eingetragen.
Inzwischen ist es ziemlich warm geworden, und der nicht enden wollende Anstieg durch den Wald Richtung Dávtábåvnna kostet nicht nur Schweiß, sondern auch Nerven. Die Botanik hat vor dem Weg nicht Halt, und so kriegen die Schubladen der Grünen Schrankwand regelmäßig einen gewischt. Doch irgendwann haben wir den letzten derartigen Schlagbaum an der Baumgrenze passiert. Natürlich wird es jetzt gleich wieder zu kühl!


Einige Kilometer später habe ich eine Begegnung mit einer ziemlich neugierigen Rentierherde. Statt wie üblich sofort zu flüchten, kommen sie auf rund 50 Meter an mich heran und schnuppern - aber erfolglos, denn ich stehe in ihrem Lee. Während ich in aller Ruhe fotografiere, gibt das einzige weiße Tier das Signal zum Aufbruch: Die Herde trabt um mich herum und bleibt erst in meinem Windschatten stehen. Sie schnuppern erneut. Was sie riechen, scheint ihnen nicht zu gefallen, denn auf ein Zeichen des weißen Tieres brechen sie in wilde Flucht aus. Rieche ich schon wieder schlecht? Dabei hatte ich doch erst vorgestern geduscht!



Als wir in das Tal unter dem Láddievárdduo absteigen, ist es schon fast wieder Zeit für die Suche nach einem Stellplatz. Das "fast" erübrigt sich, als uns der Weg an einer wunderbaren Stelle auf einer Moräne vorbeiführt. Da wir die Mindestschwelle knapp überschritten haben ("Alles unter 20 Kilometern ist keine Wanderung"), lasse ich mich einfach fallen, obwohl es erst kurz nach fünf Uhr ist. Wer das Zelt trägt, hat die Macht - das Tragen meines Polarbröds schafft noch kein Gleichgewicht des Schreckens.

Unser schönster Stellplatz am nächsten Morgen.
Technische Daten: 20,9 km in 7:40h
8.9.
Auch wenn Frau November am Vorabend noch gerne weitergelaufen wäre, wird meine aus dem Bauch heraus gefällte Entscheidung am Morgen eindrucksvoll bestätigt. Nach wenigen hundert Metern ist nämlich Schluss mit den schönen Moränen, und man hat nur die Wahl zwischen Latschenweidenbuschland, Sümpfen und Schotterflächen.
Vor allem die Latschenweiden - oder wie sonst soll man schulterhohe Weidenbüsche bezeichnen? - nerven enorm. Die Äste schnippen nämlich nicht nur gefährlich in Augenhöhe herum, sondern fungieren auch als Fußangeln. So kommt die Rasthütte Sjnjultje (Lemming-Schreibweise?) ganz gelegen.



Nach sechs Kilometern wird es dann aber wieder erholsam: Den von Rijbas kommenden Weg halten Quads von störender Botanik frei. Nur durch die sumpfigen Abschnitte benutzen wir dann doch lieber die Planken.

Am Laisälven.



Frau November meint sich erinnern zu können, dass es in Bäverholmen so etwas wie einen Campingplatz mit Gastronomie gibt, was meine Motivation deutlich beflügelt. Die Rasthütte Barasjakka wird daher nur mit einem Kurzbesuch beehrt, bevor wir zum Schlussspurt ansetzen. Der wird noch einmal spannend, weil sich der Weg in einer Feuchtwiese mit schulterhohem Gras fast verliert. Die jahrelange Übung auf brandenburgischen Militärbrachen zahlt sich jedoch aus, und so kommen wir um kurz vor sechs am Värdshus ("Wirtshaus") in Bäverholmen an.
Aber: Alles still, alles dunkel. Kein schönes Essen ohne Abspülen also? Misstrauisch macht mich nur, dass überall Schlüssel stecken. Aber auch im benachbarten Wohnhaus ist kein Licht zu sehen. Während wir schon nach einem dezenten Stellplatz im Sichtschatten der Gebäude suchen, hört Frau November Tiergeräusche. "Ein Hund!" meint sie. "Hörte sich eher an wie ein Reh. Das wird es aber nicht sein. Wie machen eigentlich Rentiere?"
Die Frage erübrigt sich, denn Frau November sieht einen weißen Hund aus dem Wohnhaus laufen, dem ein Mann folgt. Auf unser Rufen reagiert er aber nicht, und so sind beide wieder drinnen verschwunden, als wir endlich am Haus ankommen. Wir klingeln. Eine ältere Frau öffnet uns, und Frau Novembers Schwedisch-Kenntnisse bewähren sich als echte Türöffner: Zelten kostet 50 Kronen inklusive Benutzung des Sanitärtrakts, und kochen wird sie für uns auch noch.
Während Elch und Saibling in die Pfanne wandern, bauen wir den Hühnerstall auf. Auch wenn das Värdshus eher auf Massenabfertigung ausgerichtet ist ("Tabletts bitte hier abstellen"), ist das Essen hervorragend - und kostet trotz abgelegener Lage nur halb soviel wie in Ammarnäs. Wir fühlen uns wirklich wie in einer Gast-Wirtschaft.

Nacht über dem Värdshus in Bäverholmen.
Technische Daten: 27,3 km in 9:20h
9.9.
Da wir dem teuren Silnylon das Eiskratzen ersparen wollen, warten wir mit dem Aufbruch, bis die Sonne alles schön aufgetaut und abgetrocknet hat. Außerdem ist ja Sonntag. Acht Kilometer verheißt der Wegweiser bis Adolfström. Einen kleinen Souvenirladen mit einem bescheidenen Angebot an Lebensmitteln gibt es dort, sagt Frau November. Sie hat den Dreh raus, wie man mich motivieren kann.
Die acht Kilometer ziehen sich hin wie neun, obwohl es am Ende nur sieben sind. Es geht sehr holprig durch den Wald. Zwar ist immer wieder ein großes Wasser zu sehen - der Iraft-See -, aber ohne die Sonne hätte ich bald die Orientierung verloren, so häufig wechselte der Pfad die Richtung. Kurz vor dem Ort stoßen wir auf eine von der Karte nicht dokumentierte Ferienhaus-Siedlung mit großzügiger Schotterstraße, aber gehorsam folgen wir dem Original-Kungsleden, der noch einmal durch den Busch führt. Endlich auf der "Hauptstraße", stehen wir auch schon bald vor dem "Handelsbod Adolfström". Ein Persil-Blechschild aus den dreißiger Jahren, ein Blech-Warenautomat und innendrin viel käufliches Blechspielzeug verleihen den Laden einen gewissen Retrocharme, der auch von den angebotenen Frischwaren weitergeführt wird. Unser Versuch, eine in in Ehren ergraute Banane und einen Apfel mit Denkerfalten zu kaufen, wird abgelehnt. Wir bekommen sie umsonst. "Ende der Saison" heißt es auch mit Blick auf die weitgehend leergekaufte Eistruhe. Aber ein Cornetto und ein sehr buntes Eis am Stil sind noch zu finden. Das Eis gibt es dann aber nicht mehr umsonst - Cola, Schokolade und Kekse auch nicht. Am Picknicktisch vor dem Laden lassen wir es uns sonntagsmäßig gutgehen.
Bis der Knall eines Schusses aus der Garage über die Straße die Stille zerreißt. Wir sitzen wie versteinert. Um Frau November aufzuheitern, witzele ich noch, dass wir jetzt mitten in einem schwedischen Krimi gelandet sind und die Untersuchung des Mordes damit endet, dass eine Weltverschwörung der militärisch-industriellen Komplexes aufgedeckt wird. In diesem Moment geht der Ladeninhaber derart betont gelassen an uns vorbei in Richtung Garage, dass seine Anspannung nicht zu übersehen ist. Ich verstumme. Wir beobachten, wie er vorsichtig in der Garage verschwindet. Es ist nichts zu hören. Gefühlte zehn Minuten später kommt er wieder heraus. Lächelnd. Im Gefolge ein offensichtlich leicht angeheiterter Rentner in Jagdkleidung. Da hat es wohl mal wieder einen Zwischenfall beim Waffenreinigen gegeben, mutmaße ich.
Als das letzte Eis gelutscht, die letzte Banane gegessen und die letzte Cola ausgetrunken stellen, stellen wir fest, dass die Berge nicht verschwunden sind - wie schon ein altes Sprichwort der Sami prophezeit. Oder so ähnlich. Auf uns wartet eine Menge Rauf und Runter. Bis zum höchsten Punkt auf dem Weg nach Jäkkvik sind es zwar nur 360 Höhenmeter, aber schon laut Karte sind 140 Höhenmeter doppelt zu bewältigen. Darüber hinaus lassen sich zwischen den 20-Meter-Höhenlinien der Fjällkarten noch jede Menge nervenraubende Gemeinheiten verstecken, wie wir in den vergangenen Tagen erfahren haben.
Immerhin startet der Weg als Fahrweg, so dass wir endlich mal nebeneinander gehen können. Dann müssen wir aber nach Osten abbiegen, und es geht in bekannter Manier durchs Gebüsch. Bisweilen wirkt der lockere Wald wie eine Obstplantage, nur dass noch zu klären wäre, welche Früchte man eigentlich von Birken ernten kann. Spontan fallen mir nur Birkenpollen ein, aber nach allem was ich höre, gibt es davon selbst in Deutschland ein Überangebot aus eigenem Anbau.



Den letzten Rastplatz unmittelbar vor der Brücke zum Pieljekaise-Nationalpark erkennt man an zahlreichen Feuerstellen und leeren Bierdosen. Herumliegende "Meßmer"-Teebeutel lassen Vermutungen bezüglich der Nationalität der Übeltäter zu. Liebe Kinder, mit Teebeuteln ist es wie mit Papiertaschentüchern: Sie sind nicht dazu bestimmt, sich bei Nässeeinwirkung schnell so zu zersetzen. Und in Regionen mit gerade einmal fünf Monaten Vegetationsperiode dauert es noch länger als im Harz.
Heute sind Doppelkekse der "Singoalla"-Reihe angesagt, Version Blaubeere mit Vanillegeschmack. Was soll ich sagen, ohne zu negativ rüberzukommen? "Dieses Produkt wird all jene überzeugen, die intensiv wirkende Aroma- und Farbstoffe in Kraftkleberkonsistenz bevorzugen, und die auch Stunden nach dem Verzehr noch blaubeerhaltige Luft aus dem Verdauungstrakt genießen wollen." Der Genuss landestypischer Produkte ist eben immer ein Prozess von Trial and Error.
Das Wolkenbild an diesem Nachmittag stimmt nicht optimistisch. Den Eiswolken sind Riffelwölkchen gefolgt, ein ziemlich verlässliches Zeichen für anstehenden Regen. So sind wir froh, dass die Pieljekaisestuga weder belegt noch verdreckt ist. Wir kochen in aller Ruhe unser vorerst letztes Outdoorabendessen, während die Mücken von draußen neidisch zugucken. Aber nicht lange, denn die Temperatur fällt nach Sonnenuntergang schnell dem Gefrierpunkt entgegen. Erreichen tut sie ihn nicht. Als ich gegen fünf Uhr morgens nach draußen pilgere, sind es schon wieder drei Grad und es nieselt. Na prima! Da fällt es nicht schwer, sich noch einmal richtig zum Schlafen hinzulegen.



Technische Daten: 21,0 km in 8:10h
10.9.
Beim zweiten Versuch kurz nach acht Uhr hat der Regen aufgehört, es sind sogar einzelne Wolkenlücken zu erkennen. Allerdings hängen die Wolken sehr tief. Wir entschließen uns zum zügigen Aufbruch, um wenigsten den Anstieg bis zum Fuß des Pieljekaise noch im Trockenen zurückzulegen.
Als ich vom Klo zurückkehre, blicke ich fassungslos auf mein Nachtlager: "Ich habe schon mal die Luft aus Deiner NeoAir gelassen", erklärt mir Frau November. Ich verstehe: Sie wollte kein Risiko eingehen, dass ich es mir noch einmal anders überlege. Langsam wird mir ihre Fähigkeit unheimlich, meine Gedankengänge vorwegzunehmen.
Schnell erreichen wir die kahle Hochfläche. Im Westen sehen wir eine Gestalt in Neon-Farben langsam durch die Heide schlendern. Meine erste Vermutung, dass es sich um einen Jäger handelt, wird beim Blick durchs Fernglas widerlegt: Das vermeintliche Neonorange ist Neonrosa, die Trägerin eine Frau, und als wir etwas weitergehen, sehen wir auch das zugehörige Zelt in einer Senke. Vielleicht ruht Herr Neon auf einer Evazote-Matte und ist nicht so einfach zum Aufstehen zu zwingen wie Herr Pfad-Finder?
Während Frau November es mal wieder eilig hat, lasse ich meine Blicke schweifen - und was sehe ich da? "Hier wächst eine gelbe Atom-Erdbeere!", rufe ich plötzlich aus. Dieser Ausruf, der vermutlich jeden anderen Mitreisenden aus diesem Forum bis ins Mark erschreckt hätte, lässt Frau November ziemlich kalt. Sie weiß um meine florale Inkompetenz und kann meine Beschreibung deuten. "Aha, eine Hjortron, eine Moltebeere", sagt sie trocken. "'Atom-Himbeere' hätte übrigens besser gepasst."
Kurz vor Jäkkvik stoßen wir auf eine letzte Raststuga. Sie zeigt deutliche Spuren von Missbrauch für alkoholbetriebene Partys. Wir vernichten die angebrochenen Kekspackungen und machen uns an den finalen Abstieg. Um 12:30 stehen wir vor Kyrkans Fjällgard. Der Zufall will es, dass der ansonsten kaum anzutreffende Herbergsvater gerade aus der Tür kommt. Wir bekommen einen eigenen Vier-Bett-Raum mit vollwertiger Küchenzeile. Was für ein Luxus!
Wir nutzen diese Freiheit für einen zünftigen Fresstag. Nach kurzem Blick auf die Kalorienwerte legen wir die Pommes zurück ins Tiefkühlfach und nehmen stattdessen einen Beutel Tiefkühlkroketten, einen Beutel Tiefkühl-Blumenkohl (sogar Bio!) und Sauce Hollandaise mit. Statt Butter rühren wir ordentlich Käse ein. Leckkkker! So macht es Spaß, dem Regen draußen zuzugucken - und Pläne zu schmieden für die restlichen Tage...



Technische Daten: 8,1 km in 2:50h
In der Summe: 181 km.
"Na, hast Du diesmal das richtige Zeltgestänge eingepackt?", fragte Frau November. Was als Frotzelei gedacht war, ließ es mir kalt über den Rücken laufen. Ich erinnerte mich an eine Wanderung durch Nordböhmen, auf der das falsche Gestänge nur deshalb nicht kassenwirksam wurde, weil Neuschnee unserer Tour ein vorzeitiges Ende bereitet hatte. Ich öffnete den Rucksack und tastete nach dem Packbeutel. "Oh Sch****..." hauchte ich, als ich statt Kaikialla-Rohren den Kreuzverbinder meiner Schildkröte fühlte. Was jetzt? Es war schon spät abends. Frau November blickte mir in die Augen. Es gab kein Entrinnen. Ich zog den Beutel ganz heraus und zeigte ihr den Kreuzverbinder. "Das", flüsterte ich und fühlte mich gerade aschfahl, "das hätte jetzt ganz blöd ausgehen können." Ich stand von meiner Bettkante auf, ging zum Gearschrank gegenüber und zog dort das richtige Gestänge aus dem Schublade.
1.9.
Nach einem solchen Anfang konnte auf unserer Reise nach Schwedisch-Lappland eigentlich nichts mehr wirklich schiefgehen. Selbst die mehr als einstündige Verspätung beim Abflug nach Göteborg brachte uns nicht mehr aus dem Konzept. "For operational reasons" brachte uns nämlich statt des Air-Berlin-Airbusses eine eingecharterte BAe 146 nach Göteborg. Dort erwarb ich "für alle Fälle" bei Stadium noch ein Paar billige Handschuhe, denn die hatte ich schlicht vergessen.
- Göteborg ist nah am Wasser gebaut
- Sieht aus wie eine PCC-Tram, ist es aber nicht
- Werbung für interessante Lippen- und Nagelerkrankungen

2.9.
Erwartungsgemäß fielen wir um am nächsten kurz nach sechs Uhr morgens ordentlich gerädert in Umea aus dem Nachtzug. Das Wort "Liegewagen" unterscheidet sich eben nicht ohne Grund vom Wort "Schlafwagen". Jetzt nur noch mal eben fünf Stunden mit dem Bus nach Hemavan. Auf dem Weg dorthin verschlechterte sich das Wetter mit jeder Kurve, und davon gibt es viele auf dieser Strecke. Wir stiegen also im Dauerregen aus. Eine gütige Fügung brachte es mit sich, dass unmittelbar neben der Endhaltestelle schon eine Abkürzung zum Kungsleden Richtung Ammarnäs führte. Wären wir - wie es die Karte suggerierte - am Vandrerhem vorbeigekommen, hätte ich sicherlich um einen Aufschub des Tourbeginns ersucht.
- Ankunft in Umea, 888 km von Stockholm entfernt
- Hemavan ist toll
- Eine schlechte Kopie des Steglitzer Bierpinsels
- Hier geht’s rein
- Manchmal war sogar mehr als Regen zu sehen

Drei Kilometer hinter der Viterskals-Hütte schlugen wir uns in die nicht vorhandenen Büsche und bauten den Kikeriki-"Hühnerstall" auf. Mit den richtigen Rohren ein Kinderspiel. Immerhin hatte der Regen jetzt etwas nachgelassen. Aber wo blieb das Wasser in dem Bach, der einige hundert Meter oberhalb uns die Felsen herunterstürzte? Hatten wir am falschen Bachbett geparkt? Wir liefen am Bach hangaufwärts und siehe da - dort floss noch Wasser, bevor es im Geröll versickerte.
Nachdem ich die sterblichen Reste eines Lemmings aus dem Vorzelt entfernt hatte, war ich froh, den Steripen mitgenommen zu haben. Aber: Die erste Ladung verarbeitete er noch tadellos, die zweite brach er in der Mitte ab: Aufgeregtes rotes Blinken verkündete leere Batterien. Och, nicht schon wieder... zum Glück hatte Frau November diesmal Ersatzbatterien im Gepäck. Aber es blieb beim roten Blinken. Erwärmen und Kreuzen der Batteriesätze brachte ebenfalls keine Besserung.
OT: Nachmessen der Spannung nach der Rückkehr ergab bei allen vier Batterien 3,06 Volt - also reichlich. Bleibt also ein Elektronikfehler. Dem Merten sein Laden hat das gute Stück anstandslos zurückgenommen, obwohl seit dem Kauf mehr als ein Jahr verstrichen war.
- Probebegehung der Brücke Richtung Klippan
- International verständliches Piktogramm
- Toter Lemming

Technische Daten: 14,7 km in 5:15h
3.9.
Wir versuchen, das schlechte Wetter auszuschlafen, was uns aber nur teilweise gelingt: Aus dem Dauerregen ist Dauernieseln mit Schauern geworden. Aber die erste Begegnung mit einer Rentierherde hebt die Stimmung ein wenig. An der Rasthütte Syterskalet auf dem Sattel zwischen den beiden Sytertoppens machen wir einen ersten Keksstop. Drei pitschnasse Einheimische aus der Gegenrichtung kommen hinzu, sie sind vernünftiger als wir und machen eine reine Hüttentour. Immerhin lässt der Blick nach Osten auf etwas Sonne hoffen, und so brechen wir doch noch auf. Genau zum richtigen Zeitpunkt: kaum verlassen wir das Portal zwischen den Sytertoppens, wird es sonnig. Gelegentlich treibt der Wind einen Regenschauer in unsere Richtung, aber da er meistens einen Regenbogen im Gepäck hat, kann ich das tolerieren.
- Unsere ersten Rentiere auf dieser Tour
- Raststuga Syterskalet
- Herr Maulwurf ist enthusiastisch wie immer

Regenbogen – einer von vielen an diesem Tag.
An der Syterstugan legen wir nur einen kurze Rast auf der Terrasse ein. Der Hüttenwart erzählt uns ungefähr drei Mal, dass er hier nur die Vertretung ist. Wie überhaupt der Mitteilungsdrang der Hüttenwarte erstaunlich ist - später in der Serve-Stuga werden wir dreimal auf eine Rasthütte hingewiesen.
- Die Syterstuga kommt in Sicht
- Wegmarkierungsstein
- Schärenlandschaft

Wir durchqueren die Schärenlandschaft des südlichen Tärnasjö, wo die Fjällkarte nur drei Brücken kennt. Ich zähle bis zu sieben, mindestens aber fünf - je nachdem, welchen Steg man schon als "Brücke" bezeichnen mag.
„Über sieben Brücken musst geeehhhnnn...“
Durch nordschwedischen Regenwald am Ostufer geht es jetzt zügig nach Norden. Unser Fortkommen wird beschleunigt durch die klimatischen Bedingungen: Es gibt keine Brennnesseln - keine Angst vor Berührung mit der Vegetation - und kein Springkraut - kein Grund für Herrn Pfad-Finder, mit der Vegetation herumzuspielen.
In der Tärnasjöstuga übernachten wir. Erwartungsgemäß sind meine Lowa Timok nass - und zwar so nass, dass die Sealskinz-Socken es nicht mehr schaffen, Feuchtigkeit nach Außen abzuführen. Weniger erwartungsgemäß sind auch Frau Novembers Lundhags nass. Der Trockenraum leistet bis zum Morgen ganze Arbeit.
Als Belohnung für 25 km gönnt sich Frau November eine Dose Ananas aus dem Hüttenshop. Doch dann begeht sie eine überaus verwerfliche Tat. Offenbar frei nach dem Motto "'Müll' darf man nicht trennen, denn er hat nur eine Silbe" wirft sie die leere Weißblechdose in den Sammelbehälter für Aludosen! Herr Pfad-Finder holt seine Standpauke aus der Schrankwand und hält einen Vortrag über die Notwendigkeit, Sekundärrohstoffe wirklich sortenrein zu trennen. Schließlich muss die Müllverbrennungsanlage später mit dem richtigen Mengenverhältnis von Hart- und Weichplastik, Papier und Tetrapaks befeuert werden.
Technische Daten: 25,3 km in 8:45h
4.9.
Warum wir die Schuhe über Nacht getrocknet haben, ist uns am Morgen nicht mehr ganz klar. Vielleicht, damit sie besser neues Wasser aufnehmen können? Jedenfalls regnet es. Nach dem Grundsatz "Später ist immer noch früh genug" verlassen wir gegen kurz nach neun Uhr als letzte Übernachtungsgäste die Hütte. Der Regen wird nur gelegentlich durch Nieselregen unterbrochen, den man durch den Nebel kaum erkennen kann.
Noch auf der Treppe zur Serve-Stuga begrüßte uns der Wirt mit warmem Saft. Da gab es keinen Grund mehr, schnell weiterzulaufen, sondern wir blieben für die Mittagspause. "Später ist immer noch früh genug!“
- Start im Regen
- Manchmal regnete es weniger...
- ...damit auch der Nebel durchkommen konnte.

Und später regnete es fröhlich weiter. Lustlos schleppten wir uns durch das nasse Fjäll. Als wir die Rasthütte Vuomatjahkka gegen 17:30 erreichen, blinzelt zum ersten Mal an diesem Tag die Sonne durch. Ich erkläre die Tagesetappe trotzdem nach gut 21 Kilometern für beendet. Heute ist es Frau November, die mich gerne noch 5 km bis zur nächsten Rasthütte Juovvatjahkka weitertreiben würde (bitte nicht verwechseln, auch wenn fast die gleichen Buchstaben vorkommen!) Bei unserem bisherigen Tempo wären das zwei Stunden - und um 20 Uhr wird es dunkel. Aber: Wer den Hühnerstall trägt, hat die Macht. Frau November stellt den Antrag, dafür am nächsten Morgen um sieben Uhr aufzustehen. Herr Pfad-Finder stimmt ceteris paribus ("wenn alle anderen Faktoren unverändert bleiben") zu. Außerdem scheint Vuomatjahkka sehr beliebt zu sein, denn es stehen bereits neun Hilleberg-Tunnel rund um das Klohäuschen. Es hat schon etwas von einer Alien-Kolonie.
- Vuomatjahkka
- Alien-Kolonie

Obwohl ich dem Sonnenschein insgeheim keine 15 Minuten zugebilligt hatte, bleibt es den ganzen Abend trocken. Das ändert sich in der Nacht. Es setzt nicht nur Dauerregen ein, sondern ein kräftiger Wind beginnt am Hühnerstall zu zerren. Von Ceteris paribus kann keine Rede mehr sein.
Technische Daten: 21,2 km in 8:15h
5.9.
4:00 Es regnet und stürmt. "Musst Du raus?", fragt mich Frau November im Licht meiner Stirnlampe. Ich winke mit einer leeren Mountainhouse-Ziplocktüte. Soll heißen: Zivilisierte Männer würden rausgehen, andere machen sich die Vorteile der männlichen Anatomie zunutze.
6.22 Es regnet und windet. Herr Pfad-Finder kann sich keine Vorteile der männlichen Anatomie mehr zunutze machen, sondern muss raus. Nach seiner Rückkehr wird der Beschlusss vom Vorabend dahingehend präzisiert, dass nur dann um sieben Uhr aufgestanden wird, wenn es nicht mehr regnet.
7:00 Es regnet und windet. Eine neue Kalkulation der Laufzeit ergibt: Um Ammarnäs noch am selben Tag zu akzeptabler Tageszeit zu erreichen, müssten wir uns um 9 Uhr für oder gegen das Aufstehen entscheiden.
9:00 Es regnet und windet - wieder von neuem. Das Klacken vom Zusammenklappen der Zeltstangen unserer Nachbarn ist längst verhallt. Wir sind die einzigen, die noch ausharren. Und das soll jetzt auch so bleiben. Herr Pfad-Finder philosophiert über den Regen: "Immer, wenn man glaubt, dass es aufhört, fängt es wieder so richtig an."
9:40 Es pladdert. Herr Pfad-Finder schlägt die Brücke von seinen philosophischen Erwägungen über den subpolaren Regen zur praktischen Handlungsanweisungen. "Also sollten wir mit dem Packen beginnen, wenn es gerade so richtig schüttet." Frau November fragt nur: "Dir ist wohl vom Abwettern schon langweilig?" Leugnen wäre zwecklos.
10:52 Wir brechen auf - mit reduziertem Tagesziel Aigertstuga. Es nieselt nur noch leicht und hört bald ganz auf.
Die am Vortag aus dem Bauch heraus gefällte Entscheidung, nicht bis zur Rasthütte Juovvatjahkka weiterzugehen, erweist sich als goldrichtig. Rund um die Hütte erstrecken sich Blockfelder. Erst zwei Kilometer später kommt der erste Platz, wo wir unseren Hühnerstall hätten aufstellen können.
- Keine guten Aussichten
- Total super Stellplätze hier!
- Nicht jedes weiße Tier ist ein Schaf, muss Highland-Experte Pfad-Finder lernen

Um 15:05 erreichen wir die Aigertstuga. Es schüttet und stürmt, Frau November wird vom Wind hin- und hergeschüttelt. Aber: Sollen wir wirklich noch einmal so kurz vor Ammarnäs übernachten? Eine rasch durchgeführte Präzisions-Entfernungsberechnung - Breite des kleinen Fingers=2 km - ergibt eine Reststrecke von 8 km. Der Zufall will es, dass der Regen kurz nachlässt.
Erster Blick auf Ammarnäs – und der vorerst letzte auf einen Regenbogen.
Wir brechen um 15:50 auf und erreichen um 18:04 bei stabilem Sonnenschein die Hauptkreuzung in Ammarnäs. Nur der Supermarkt hat seit vier Minuten geschlossen. Kleiner Trost: Meine Entfernungsmessmethode wurde erneut bestätigt, es waren 7,8 km. Wir buchen uns beim Wirt des "Ammarnäsgarden" ins benachbarte STF-Vandrarhem ein und belohnen uns im Restaurant mit Erzeugnissen aus der örtlichen Fauna, während sich der Trockenraum für eine anstrengende Nachtschicht warmläuft.
- Wasserfall
- Vandrarhem Modell „Stalag“

Technische Daten: 20,7 km in 7:15h
6.9.
In der Nacht flattert keine Zeltplane, es prasselt kein Regen auf Silnylon, der morgendliche Pilgergang findet ohne Regenjacke statt. "Mal ausschlafen wäre nicht schlecht", nannte hier im Forum mal jemand seinen größten Traum. "Träume leben", das haben wir an diesem Morgen verwirklicht. Aber auch draußen wäre es komfortabel gewesen, denn das Wetter hat sich endlich stabilisiert.
Es ist kurz vor zehn Uhr, als wir endlich straßenfein sind. Gerade rechtzeitig, um den Supermarkt zur Öffnung aufzusuchen. Die Augen sind mal wieder größer als der Hunger, und so nimmt eine fürsorgliche Frau November Herrn Pfad-Finder den 600-Gramm-Beutel mit unkaputtbarem Polarbröd aus dem Einkaufswagen und ersetzt ihn durch den 900-Gramm-Beutel. "Ich trage es auch auch", sagt sie und hält Wort. Wahrscheinlich ahnte sie, dass sie nicht allzu lange daran tragen muss.
Nach dem Frühstück steht noch eine Besichtigung aller Sehenswürdigkeiten des Ortes an. Wir sind nach einer Stunde fertig. Zu sehen gibt es:
- Eine schöne große Holzkirche, Baujahr 1912
- ein Samendorf
- einen Moränenkegel namens "Potatisbacken", dessen Südhang bis in die Gegenwart als Kartoffelfeld genutzt wird
- und den Aussichtspunkt auf dem Potatisbacken

Um kurz vor 12 Uhr verlassen wir Ammarnäs auf dem Kungsleden Richtung Norden - und biegen an der ersten Weggabelung prompt "falsch" nach rechts ab. Statt steil, kurvig und steinig geht es sanft und in fast gerader Linie seitlich am Hang hoch. Nach drei Kilometern stoßen wir wieder auf den echten Kungsleden. Die ersten 300 Höhenmeter des Tages sind geschafft. Die Windschutzhütte Näsbergstjärn ist auf Harzer Niveau mit ungetrenntem Müll versaut, so dass wir über eine kleine Kekspause hinaus kein Verlangen spüren, hier länger zu weilen. Außerdem wollen die nächsten 100 Höhenmeter bewältigt werden.
Blick zurück
Als der Wald aufhört, bekommen wir sofort zu spüren, dass Sonnenschein auch in subpolaren Regionen nicht zwangsläufig für angenehmes Wanderwetter bürgt. Windböen quer über die Hochebene prügeln uns kräftig durch, so dass ich nicht nur die meine Wollmütze aus Acryl zum Einsatz bringe, sondern auch Handschuhe und schließlich sogar die Regenjacke. Wenigstens kommt der Wind "nur" von der Seite, nicht von vorne. Unser Plan, oben auf der Hochebene zu zelten, wird aber nicht vom Wind durchkreuzt, sondern von der Tatsache, dass alle Wasservorkommen restlos ausgetrocknet sind. Sollte Ammarnäs vielleicht eher Ammartork heißen?
"Bunt sind schohon die Wälder, gelb die Stohoopppelfelder...."
Es ist so trocken, dass wir sogar bezweifeln, an der Raststuga Stabburet Wasser zu finden. Deswegen verzichten wir gleich auf diesen Abstecher, obwohl uns der Wind kräftig auskühlt. Für einen Moment fallen sogar Schneeflöckchen. Wir verzichten auch auf einen Abstecher zum Vuodnánjöhkkie, obwohl dort vielleicht ein Bach gewesen wäre. Aber allein der Name weckt den Verdacht, dass hier bloß ein besoffener Lemming über die Tastatur des Kartographen gestolpert ist, bevor er sich in den Nadeldrucker gestürzt hat.
Kein Staub, sondern Schneeschäuerchen.
Frau November beugt schließlich sich meiner Logik, dass dort, wo eine Brücke eingezeichnet ist, noch am ehesten Wasser zu finden sein wird. In Wegstrecke umgerechnet bedeutet das, noch einmal acht Kilometer draufzulegen. Selbst unter den günstigen Wegverhältnissen hier heißt das in "Estimated Time of Arrival" 19 Uhr.
Tatsächlich schaffen wir bis kurz vor 19 Uhr. Unter der Brücke fließt hervorragendes Wasser in rauen Mengen durch, und gleich dahinter finden wir auch einen wunderbaren Stellplatz für den Hühnerstall. Allerdings auch etwas exponiert, so dass sich kurz vor Sonnenaufgang erstmals in dieser Saison Raureif auf dem Hühnerstall bildet.
Technische Daten: 22,0 km in 7:10h
7.9.
Als uns die Sonne endlich aus den Schlafsäcken treibt, ist der Raureif verschwunden. Schnell steigen wir den restlichen Weg zur Rävfalletstugan ab. Die wirkt völlig verlassen, so dass wir daran vorbeischießen und uns dann am Vindelälv entlang Richtung Süden aufmachen.
"Könnt Ihr Euch mal vielleicht entscheiden?" Man vergleiche die Entfernungsangaben nach Ammarnäs.
Der Weg ist anfangs eine Quadpiste, ab der Siedlung Aitelnas/Altenjas ein Schotterweg. Wir sind so schnell, dass wir den Abzweig des Kungsledens nach Osten erst nicht richtig ernstnehmen. Ausgeschildert ist er nämlich nicht, aber dafür ziemlich zugewachsen. Mein satellitengetriebener Zauberkasten wies mich allerdings schnell auf den Fehler hin.
Hinweis am Rande: Die Openstreetmap-Karte ist in Lappland nur Stückwerk. Lediglich Straßen 1. bis 2. Ordnung sind offenbar vollständig erfasst, die Wanderwege sind Stückwerk. Selbst der Kungsleden wies Lücken auf oder war extrem grob eingetragen.
Inzwischen ist es ziemlich warm geworden, und der nicht enden wollende Anstieg durch den Wald Richtung Dávtábåvnna kostet nicht nur Schweiß, sondern auch Nerven. Die Botanik hat vor dem Weg nicht Halt, und so kriegen die Schubladen der Grünen Schrankwand regelmäßig einen gewischt. Doch irgendwann haben wir den letzten derartigen Schlagbaum an der Baumgrenze passiert. Natürlich wird es jetzt gleich wieder zu kühl!
- Unser treuer Begleiter, Herr Elch, genießt die Pause

Einige Kilometer später habe ich eine Begegnung mit einer ziemlich neugierigen Rentierherde. Statt wie üblich sofort zu flüchten, kommen sie auf rund 50 Meter an mich heran und schnuppern - aber erfolglos, denn ich stehe in ihrem Lee. Während ich in aller Ruhe fotografiere, gibt das einzige weiße Tier das Signal zum Aufbruch: Die Herde trabt um mich herum und bleibt erst in meinem Windschatten stehen. Sie schnuppern erneut. Was sie riechen, scheint ihnen nicht zu gefallen, denn auf ein Zeichen des weißen Tieres brechen sie in wilde Flucht aus. Rieche ich schon wieder schlecht? Dabei hatte ich doch erst vorgestern geduscht!
- Mal schnuppern
- Rumlaufen
- und noch mal schnuppern

Als wir in das Tal unter dem Láddievárdduo absteigen, ist es schon fast wieder Zeit für die Suche nach einem Stellplatz. Das "fast" erübrigt sich, als uns der Weg an einer wunderbaren Stelle auf einer Moräne vorbeiführt. Da wir die Mindestschwelle knapp überschritten haben ("Alles unter 20 Kilometern ist keine Wanderung"), lasse ich mich einfach fallen, obwohl es erst kurz nach fünf Uhr ist. Wer das Zelt trägt, hat die Macht - das Tragen meines Polarbröds schafft noch kein Gleichgewicht des Schreckens.
Unser schönster Stellplatz am nächsten Morgen.
Technische Daten: 20,9 km in 7:40h
8.9.
Auch wenn Frau November am Vorabend noch gerne weitergelaufen wäre, wird meine aus dem Bauch heraus gefällte Entscheidung am Morgen eindrucksvoll bestätigt. Nach wenigen hundert Metern ist nämlich Schluss mit den schönen Moränen, und man hat nur die Wahl zwischen Latschenweidenbuschland, Sümpfen und Schotterflächen.
Vor allem die Latschenweiden - oder wie sonst soll man schulterhohe Weidenbüsche bezeichnen? - nerven enorm. Die Äste schnippen nämlich nicht nur gefährlich in Augenhöhe herum, sondern fungieren auch als Fußangeln. So kommt die Rasthütte Sjnjultje (Lemming-Schreibweise?) ganz gelegen.
- Mangels Verkehrsschildern dienen hier Wegmarkierungs-Steine als Zielscheiben
- Sjnjultje
- Eine Libelle

Nach sechs Kilometern wird es dann aber wieder erholsam: Den von Rijbas kommenden Weg halten Quads von störender Botanik frei. Nur durch die sumpfigen Abschnitte benutzen wir dann doch lieber die Planken.
Am Laisälven.
- Flusslandschaft kurz vor Bäverholmen
- Pfad-Finder: "Das soll Elchkacke sein? Ist das eines solch großen und stolzen Tieres würdig?"
- Nachahmung auf Mandelbasis

Frau November meint sich erinnern zu können, dass es in Bäverholmen so etwas wie einen Campingplatz mit Gastronomie gibt, was meine Motivation deutlich beflügelt. Die Rasthütte Barasjakka wird daher nur mit einem Kurzbesuch beehrt, bevor wir zum Schlussspurt ansetzen. Der wird noch einmal spannend, weil sich der Weg in einer Feuchtwiese mit schulterhohem Gras fast verliert. Die jahrelange Übung auf brandenburgischen Militärbrachen zahlt sich jedoch aus, und so kommen wir um kurz vor sechs am Värdshus ("Wirtshaus") in Bäverholmen an.
Aber: Alles still, alles dunkel. Kein schönes Essen ohne Abspülen also? Misstrauisch macht mich nur, dass überall Schlüssel stecken. Aber auch im benachbarten Wohnhaus ist kein Licht zu sehen. Während wir schon nach einem dezenten Stellplatz im Sichtschatten der Gebäude suchen, hört Frau November Tiergeräusche. "Ein Hund!" meint sie. "Hörte sich eher an wie ein Reh. Das wird es aber nicht sein. Wie machen eigentlich Rentiere?"
Die Frage erübrigt sich, denn Frau November sieht einen weißen Hund aus dem Wohnhaus laufen, dem ein Mann folgt. Auf unser Rufen reagiert er aber nicht, und so sind beide wieder drinnen verschwunden, als wir endlich am Haus ankommen. Wir klingeln. Eine ältere Frau öffnet uns, und Frau Novembers Schwedisch-Kenntnisse bewähren sich als echte Türöffner: Zelten kostet 50 Kronen inklusive Benutzung des Sanitärtrakts, und kochen wird sie für uns auch noch.
Während Elch und Saibling in die Pfanne wandern, bauen wir den Hühnerstall auf. Auch wenn das Värdshus eher auf Massenabfertigung ausgerichtet ist ("Tabletts bitte hier abstellen"), ist das Essen hervorragend - und kostet trotz abgelegener Lage nur halb soviel wie in Ammarnäs. Wir fühlen uns wirklich wie in einer Gast-Wirtschaft.
Nacht über dem Värdshus in Bäverholmen.
Technische Daten: 27,3 km in 9:20h
9.9.
Da wir dem teuren Silnylon das Eiskratzen ersparen wollen, warten wir mit dem Aufbruch, bis die Sonne alles schön aufgetaut und abgetrocknet hat. Außerdem ist ja Sonntag. Acht Kilometer verheißt der Wegweiser bis Adolfström. Einen kleinen Souvenirladen mit einem bescheidenen Angebot an Lebensmitteln gibt es dort, sagt Frau November. Sie hat den Dreh raus, wie man mich motivieren kann.
Die acht Kilometer ziehen sich hin wie neun, obwohl es am Ende nur sieben sind. Es geht sehr holprig durch den Wald. Zwar ist immer wieder ein großes Wasser zu sehen - der Iraft-See -, aber ohne die Sonne hätte ich bald die Orientierung verloren, so häufig wechselte der Pfad die Richtung. Kurz vor dem Ort stoßen wir auf eine von der Karte nicht dokumentierte Ferienhaus-Siedlung mit großzügiger Schotterstraße, aber gehorsam folgen wir dem Original-Kungsleden, der noch einmal durch den Busch führt. Endlich auf der "Hauptstraße", stehen wir auch schon bald vor dem "Handelsbod Adolfström". Ein Persil-Blechschild aus den dreißiger Jahren, ein Blech-Warenautomat und innendrin viel käufliches Blechspielzeug verleihen den Laden einen gewissen Retrocharme, der auch von den angebotenen Frischwaren weitergeführt wird. Unser Versuch, eine in in Ehren ergraute Banane und einen Apfel mit Denkerfalten zu kaufen, wird abgelehnt. Wir bekommen sie umsonst. "Ende der Saison" heißt es auch mit Blick auf die weitgehend leergekaufte Eistruhe. Aber ein Cornetto und ein sehr buntes Eis am Stil sind noch zu finden. Das Eis gibt es dann aber nicht mehr umsonst - Cola, Schokolade und Kekse auch nicht. Am Picknicktisch vor dem Laden lassen wir es uns sonntagsmäßig gutgehen.
Bis der Knall eines Schusses aus der Garage über die Straße die Stille zerreißt. Wir sitzen wie versteinert. Um Frau November aufzuheitern, witzele ich noch, dass wir jetzt mitten in einem schwedischen Krimi gelandet sind und die Untersuchung des Mordes damit endet, dass eine Weltverschwörung der militärisch-industriellen Komplexes aufgedeckt wird. In diesem Moment geht der Ladeninhaber derart betont gelassen an uns vorbei in Richtung Garage, dass seine Anspannung nicht zu übersehen ist. Ich verstumme. Wir beobachten, wie er vorsichtig in der Garage verschwindet. Es ist nichts zu hören. Gefühlte zehn Minuten später kommt er wieder heraus. Lächelnd. Im Gefolge ein offensichtlich leicht angeheiterter Rentner in Jagdkleidung. Da hat es wohl mal wieder einen Zwischenfall beim Waffenreinigen gegeben, mutmaße ich.
Als das letzte Eis gelutscht, die letzte Banane gegessen und die letzte Cola ausgetrunken stellen, stellen wir fest, dass die Berge nicht verschwunden sind - wie schon ein altes Sprichwort der Sami prophezeit. Oder so ähnlich. Auf uns wartet eine Menge Rauf und Runter. Bis zum höchsten Punkt auf dem Weg nach Jäkkvik sind es zwar nur 360 Höhenmeter, aber schon laut Karte sind 140 Höhenmeter doppelt zu bewältigen. Darüber hinaus lassen sich zwischen den 20-Meter-Höhenlinien der Fjällkarten noch jede Menge nervenraubende Gemeinheiten verstecken, wie wir in den vergangenen Tagen erfahren haben.
Immerhin startet der Weg als Fahrweg, so dass wir endlich mal nebeneinander gehen können. Dann müssen wir aber nach Osten abbiegen, und es geht in bekannter Manier durchs Gebüsch. Bisweilen wirkt der lockere Wald wie eine Obstplantage, nur dass noch zu klären wäre, welche Früchte man eigentlich von Birken ernten kann. Spontan fallen mir nur Birkenpollen ein, aber nach allem was ich höre, gibt es davon selbst in Deutschland ein Überangebot aus eigenem Anbau.
- Auf dem Weg nach Adolfström
- Der "Handelsbod"
- Durchs Gebüsch hoch zum Pieljekaise-Nationalpark

Den letzten Rastplatz unmittelbar vor der Brücke zum Pieljekaise-Nationalpark erkennt man an zahlreichen Feuerstellen und leeren Bierdosen. Herumliegende "Meßmer"-Teebeutel lassen Vermutungen bezüglich der Nationalität der Übeltäter zu. Liebe Kinder, mit Teebeuteln ist es wie mit Papiertaschentüchern: Sie sind nicht dazu bestimmt, sich bei Nässeeinwirkung schnell so zu zersetzen. Und in Regionen mit gerade einmal fünf Monaten Vegetationsperiode dauert es noch länger als im Harz.
Heute sind Doppelkekse der "Singoalla"-Reihe angesagt, Version Blaubeere mit Vanillegeschmack. Was soll ich sagen, ohne zu negativ rüberzukommen? "Dieses Produkt wird all jene überzeugen, die intensiv wirkende Aroma- und Farbstoffe in Kraftkleberkonsistenz bevorzugen, und die auch Stunden nach dem Verzehr noch blaubeerhaltige Luft aus dem Verdauungstrakt genießen wollen." Der Genuss landestypischer Produkte ist eben immer ein Prozess von Trial and Error.
Das Wolkenbild an diesem Nachmittag stimmt nicht optimistisch. Den Eiswolken sind Riffelwölkchen gefolgt, ein ziemlich verlässliches Zeichen für anstehenden Regen. So sind wir froh, dass die Pieljekaisestuga weder belegt noch verdreckt ist. Wir kochen in aller Ruhe unser vorerst letztes Outdoorabendessen, während die Mücken von draußen neidisch zugucken. Aber nicht lange, denn die Temperatur fällt nach Sonnenuntergang schnell dem Gefrierpunkt entgegen. Erreichen tut sie ihn nicht. Als ich gegen fünf Uhr morgens nach draußen pilgere, sind es schon wieder drei Grad und es nieselt. Na prima! Da fällt es nicht schwer, sich noch einmal richtig zum Schlafen hinzulegen.
- Pieljekaise
- Pieljekaisestuga
- Singoalla Blaubeere-Vanille

Technische Daten: 21,0 km in 8:10h
10.9.
Beim zweiten Versuch kurz nach acht Uhr hat der Regen aufgehört, es sind sogar einzelne Wolkenlücken zu erkennen. Allerdings hängen die Wolken sehr tief. Wir entschließen uns zum zügigen Aufbruch, um wenigsten den Anstieg bis zum Fuß des Pieljekaise noch im Trockenen zurückzulegen.
Als ich vom Klo zurückkehre, blicke ich fassungslos auf mein Nachtlager: "Ich habe schon mal die Luft aus Deiner NeoAir gelassen", erklärt mir Frau November. Ich verstehe: Sie wollte kein Risiko eingehen, dass ich es mir noch einmal anders überlege. Langsam wird mir ihre Fähigkeit unheimlich, meine Gedankengänge vorwegzunehmen.
Schnell erreichen wir die kahle Hochfläche. Im Westen sehen wir eine Gestalt in Neon-Farben langsam durch die Heide schlendern. Meine erste Vermutung, dass es sich um einen Jäger handelt, wird beim Blick durchs Fernglas widerlegt: Das vermeintliche Neonorange ist Neonrosa, die Trägerin eine Frau, und als wir etwas weitergehen, sehen wir auch das zugehörige Zelt in einer Senke. Vielleicht ruht Herr Neon auf einer Evazote-Matte und ist nicht so einfach zum Aufstehen zu zwingen wie Herr Pfad-Finder?
Während Frau November es mal wieder eilig hat, lasse ich meine Blicke schweifen - und was sehe ich da? "Hier wächst eine gelbe Atom-Erdbeere!", rufe ich plötzlich aus. Dieser Ausruf, der vermutlich jeden anderen Mitreisenden aus diesem Forum bis ins Mark erschreckt hätte, lässt Frau November ziemlich kalt. Sie weiß um meine florale Inkompetenz und kann meine Beschreibung deuten. "Aha, eine Hjortron, eine Moltebeere", sagt sie trocken. "'Atom-Himbeere' hätte übrigens besser gepasst."
Kurz vor Jäkkvik stoßen wir auf eine letzte Raststuga. Sie zeigt deutliche Spuren von Missbrauch für alkoholbetriebene Partys. Wir vernichten die angebrochenen Kekspackungen und machen uns an den finalen Abstieg. Um 12:30 stehen wir vor Kyrkans Fjällgard. Der Zufall will es, dass der ansonsten kaum anzutreffende Herbergsvater gerade aus der Tür kommt. Wir bekommen einen eigenen Vier-Bett-Raum mit vollwertiger Küchenzeile. Was für ein Luxus!
Wir nutzen diese Freiheit für einen zünftigen Fresstag. Nach kurzem Blick auf die Kalorienwerte legen wir die Pommes zurück ins Tiefkühlfach und nehmen stattdessen einen Beutel Tiefkühlkroketten, einen Beutel Tiefkühl-Blumenkohl (sogar Bio!) und Sauce Hollandaise mit. Statt Butter rühren wir ordentlich Käse ein. Leckkkker! So macht es Spaß, dem Regen draußen zuzugucken - und Pläne zu schmieden für die restlichen Tage...
- Abstieg nach Jäkkvik
- Moltebeere
- Kyrkans Fjällgard in Jäkkvik - der Regen hat uns eingeholt

Technische Daten: 8,1 km in 2:50h
In der Summe: 181 km.
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