[NP] Mittendrin im Schneesturmunglück rund um den Thorong La Pass am 14.10.2014

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    [NP] Mittendrin im Schneesturmunglück rund um den Thorong La Pass am 14.10.2014

    Tourentyp
    Lat
    Lon
    Mitreisende
    Hallo zusammen,

    im Oktober 2014 unternahm ich als Ein-Mann-Gruppe eine Trekkingtour rund um die Annapurnas in Nepal. Im Unterschied zu den meisten Trekkingtouren rund um die Annapurnas, erfolgte die Übernachtungen fast ausnahmslos im Zelt, somit war ich mit einer kompletter einheimischer Begleitmannschaft (Guide, Koch, 3 Träger) unterwegs. Stationen der Tour (von Bhulbhule bis Nayapul nur auf Schusters Rappen): Besisahar - Bhulbhule - Tal - Chame - Pisang - Manang - Thorung La - Mutinath - Kagbeni - Kali Gandaki bis Tatopani - Ghorepani - Poon Hill - Nayapul.

    Der 5416m hohe Thorung La Pass gilt als Höhepunkt dieser Trekkingtour. Weltweite Bekanntheit gelangte dieser Pass mit dem Schneesturmunglück vom 14.10.2014. Und genau an diesem Tag befanden wir uns mit geschätzt mehr als 400 Personen (Trekker, Guides, Träger, ...) auf der Strecke über den Pass.

    Mir und alle meinen nepalesischen Begleitern wurde die Chance gegönnt, dieses Unglück vom 14.10.2014 am Thorung La körperlich und seelisch unverletzt überleben zu dürfen. Viele hatten dieses Glück nicht und manche haben den Traum oder die berufliche Notwendigkeit an diesem Tag den 5416m hohen Thorung La Pass zu überqueren mit dem Wertvollstem in ihrem Leben bezahlt, mit ihrem eigenen Leben.

    Nehme ich die Zahlen aus Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Thorong_La), so wurden nach dem Unglück mehr als 300 Personen mit Hubschrauber gerettet, die Zahl der Toten wird mit 43 angegeben (Eigene Anmerkung: wahrscheinlich im "Großraum" Thorung La, also auch weitab vom Pass). Noch 5 Tage später wurden 45 Personen vermisst.

    Mit diesem Reisebericht, der weitestgehend identisch so auch auf meiner Homepage zu lesen ist, möchte ich die Geschehnisse an diesem Tage wie ich sie erlebt habe wiedergeben. Ich beschränke mich hier aber nur auf die beiden Tage vor der Passquerung und die Passquerung selbst.


    Am Tag nach dem Schneesturm. am Morgen des 15.10.2014 - Blick auf den Thorung La Pass (in Bildmitte), Muktinath und Jarkot auf den Weg nach Kagbeni

    Es gibt Tage, die wünscht man seinem ärgstem Feind nicht. Oder, wie aus einer Trekkingtour, die von “Insidern” gerne verächtlich als Synonym eines “Banana Pancake Trails” bezeichnet wird, ganz schnell eine Fortsetzung von Jon Krakauers Tatsachenroman “In eisigen Höhen” werden kann.

    Da der Bericht etwas umfangreicher ist (trotz nur 2 1/2 Tagen Inhalt), muss ich ihn auf mehrere Teile aufteilen (es gibt die 50.000 Buchstaben Grenze).
    • Teil 1: Der Weg bis zum Pass
    • Teil 2: Der Weg vom Pass nach Muktinath Phedi Teehaus
    • Teil 3: Muktinath Phedi Teehaus nach Muktinath

    Der im Bericht genannte Ram prasad Rai war mein Guide und Koch, Shukra Bir Rai war mein Assistenzguide. Zwei Profis in ihrem Fach, ohne die ich diesen Bericht wahrscheinlich nie mehr hätte schreiben können.

    Hinweis: Dieser Reisebericht ist v.a. ab Teil 2 nicht unbedingt als Gute-Nacht-Lektüre zu empfehlen.


    Sonnenuntergang an der Annapurna 2 (7937m) am 11.10.2014, fotografiert von einem Teehaus bei Ghusang (4000m ü.NN) aus


    Tag 10 (12.10.2014): Teehaus oberhalb von Ghusang - Ledar



    12.10.2014, gegen 12 Uhr - Zeltplatz in Ledar - Annapurna III und Gangapurna im Hintergrund

    ...

    Gegen 17 Uhr sehe ich dann über den Annapurnamassiv etwas, was mir so gar nicht gefällt: geschätzte 2km oberhalb der Berge am Annapurnamassiv sind drei kleinere flache und langgestrecke Wolken zu sehen. Von der Größe her eigentlich absolut unbedeutend, aber was machen die da so weit oben? Ich kenne kein Foto, wo sich kilometerweit oberhalb eines 8000ers einzelne Wolken befinden, überlichweise ist ja bei den tischtuchartigen “Föhnhauben” Schluß. Skukra und Ram prasad messen diesen Wolken (die ich leider nicht fotografiert habe) keine Bedeutung bei, aber für mich bedeuten solche Wolken, dass verdammt viel Unruhe in der Atmosphäre zu sein scheint. Ich sage zu Skukra: »In den nächsten 48 Stunden ändert sich das Wetter grundlegend, hoffentlich nur auf der anderen Seite des Massivs! Skukra, diese Wolken sind 24 Stunden zu früh da!«. Wenn die Wolken so weit oben sind, dann wirken sie wie ein Staubsauger , der Luftfeuchte nach oben zieht. Die uns abgewandte Seite des Annapurnamassivs ist ähnlich einem Amphitheater aufgebaut, da kann verdammt viel feuchte Luft aus den niederen Lagen aufgewirbelt werden, v.a. da mit der süd- bis südwestlichen Windrichtung dazu alles passt. Hoffentlich sind meine Sorgen dazu unbegründet.

    Sage nie zu deinem Guide, dass Du seit einigen Minuten ganz leichtes absolut harmloses Kopfweh hast, nur mit dem Wort “Kopfweh” schrillen bei ihm alle Alarmglocken. Als Folge davon dürften im weiten Umkreis alle Knoblauchzehen ausverkauft sein, denn die folgende Nudelsuppe besteht eigentlich mehr aus Knoblauch als aus Nudeln. 30 Minuten später ist das Kopfweh wieder verschwunden, eigentlich wie von mir vermutet, denn Uhrzeit des Auftretens, Lage und Intensität haben mich eher auf die noch nicht gänzlich ausgestandene Erkältung schließen lassen. Als Folge sage ich zu Shukra Bir: »Ich muss meine Matte im Zelt in eine andere Richtung drehen. Wenn mir heute Nacht wegen dem Knoblauch einer entfleucht, dann wären bei Euch Gasmasken angesagt.«.

    Heute Nacht ist es deutlich wärmer im Vergleich zu Gestern, drückt da irgendwas die angewärmte Luft aus dem Manangtal herauf?

    Tagesdaten: Start: Teehaus oberhalb von Ghusang (3930m ü.NN) - 7:30 Uhr, Ziel: Ledar (4200m ü.NN) - 11:00 Uhr, ↑401m, ↓141m


    Tag 11 (13.10.2014): Ledar - Thorung La High Camp


    Die Nacht heute war ruhig, aber noch vor 6 Uhr beim Weg zu den großen Stehgeschäftsräumen sind schon die ersten Trekker in Richtung Thorung Phedi, der letzten Ansiedlung vor dem Pass unterwegs. Diese sind deshalb schon so früh auf den Beinen, weil die Plätze in den Lodges vor dem Pass im Windhundverfahren vergeben werden, d.h., wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Shukra Bir deutet mir an, dass wir uns da keine Sorgen machen müssen, wir sind die Allereinzigen im Zelt und können uns den Platz aussuchen.

    In der Dunkelheit ist es doch noch knackig kalt geworden, nur etwas später als in den letzten Tagen, über dem Annapurnamassiv sind einige Wolken zu sehen, wesentlich mehr wie in den letzten Tagen, aber der Blauanteil am Himmel überwiegt noch deutlich.

    Nur um 8 Uhr finde ich über der Annapurna III und dahinter ein deutlich indifferentes Wolkenbild vor, mit nur noch etwas durchscheinenden blauem Himmel über den ganzen Annapurnas. Damit ist mir klar, zumindest über den Annapurnas kündigt sich ein Wetterumschwung an, hier im kaum 15km entfernten Ledar ist es fast noch wolkenlos. Gegen 11 Uhr wissen wir, wo der Hase hinläuft, werden die Wolken mehr, dann wird sich der Gemütlichkeitsgrad der Tour reduzieren. Das Wolkenbild für sich alleine könnte zwar alles bedeuten (heiter in 1h oder Niederschläge), aber es ist so ganz anders als an allen Tagen zuvor und deshalb lässt es mir auch keine Ruhe.

    Lange laufen wir an der Ostseite des Kone Khola entlang, bis wir wieder gut 100 Höhenmeter absteigen müssen. Die verlorenen Höhenmeter müssen auf der gegenüberliegenden Seite wieder hinzugewonnen werden, dafür gibt es aber dort für die Ungeduldigen auch ein Teehaus. Wenn man aber in Richtung der Annapurnas blickt, dann haben wir dort schon eine geschlossene Wolkendecke, hier ist es erst bewölkt. Nur wenig an- und absteigend verläuft der Pfad in Richtung Ende des Tales. Es gilt aber auch einen stark erdrutschgefährdeten Hang zu queren. Gegen 10 Uhr treffen wir in Thorung Pedi, oft auch Thorung La Base Camp genannt, auf 4520m ü.NN ein.

    Für viele ist hier bereits die heutige Endstation, wir wollen aber noch die 370 Höhenmeter hinauf ins Thorung La High Camp wandern, dann sparen wir uns Morgen viele Höhenmeter. In steilen Serpentinen und über steiles Blockgelände führt uns der Weg nach oben, in der hier noch scheinenden Sonne eine sehr schweißtreibende Angelegenheit. So dauert es auch gut eine Stunde bis wir am 4890m hoch gelegenen High Camp ankommen. Unsere Zelte, es sind ja die Einzigen hier oben, sind deutlich zu erkennen. Um 12 Uhr hat es inzwischen komplett zugezogen, die Sonne ist nicht mehr zu sehen.


    Zwei einsame Zelte am Thorung La High Camp

    Das Mittagessen gibt es heute in meinem Zelt. Nur es wird immer dunkler. Konnten wir bis 13:30 Uhr die Spitze des Chulu West problemlos sehen, so fällt jetzt die Wolkendecke. Den 4980m hohen Aussichtsberg in Campnähe wollen wir nicht besuchen, da die Sichtverhältnisse immer schlechter werden. Wir machen nur einen kurzen Spaziergang in Richtung des Aussichtsberges. Hatte ich in den letzten Tagen immer ein Hardshell als oberste Jackenschicht, so habe ich mich jetzt für meine Daunenjacke entschieden. Nicht weil es so kalt ist, sondern, wenn man schon eine Jacke mit 1,5kg tagtäglich mitschleppen lässt, dann muss ich sie auch irgendwann mal anziehen. Wenn schon eine Übernachtung am kalten Tilicho See entfallen ist, dann darf sie Morgen als oberste Kleidungsschicht herhalten.

    Die nicht überlebensunwichtige Bedeutung meines eher als Spass gemeinten Satzes an Skukra: »Ich zieh die Daunenjacke heute schon mal an, damit Ihr wisst, wie ich morgen bei der Passquerung ausschaue!« kann ich heute noch nicht erahnen. Aus einer grünen Hardshell ist eine dunkelblaue Expeditionsdaunenjacke geworden. Nicht nehmen lassen wir uns den Besuch der restlos gefüllten menschlichen Legebatterie im Camp für die Lodgenächtiger.

    Gegen 15:30 Uhr oder auch etwas später beginnt der Schneefall, zunächst als Graupel, dann als "angenässter Pulverschnee". Kein wirklich starker Schneefall, aber es schneit sich ein. Die Wolkendecke sinkt immer weiter.

    Abendessen gibt es gegen 17:30 als Candle-Light-Dinner im Zelt. Wir wollen uns Morgen schon um 4:15 Uhr in Richtung Thorung La Pass auf den Weg machen, denn ab 7 Uhr soll es am Pass oft einen kalten und starken Wind geben und den wollen wir meiden. Ab 19 Uhr haben wir hier am High Camp schon eine geschlossene Schneedecke und erstmals muss ich auch den Schnee vom Zelt klopfen. Eigentlich wäre ab jetzt Bettruhe angesagt, aber der Schnee auf dem Zelt verlangt doch noch 2-3x ein Klopfkomando. Aber ab 22 Uhr ist mir das Schneeklopfen leid und ich schlafe bis 3:30 Uhr ungestört durch. 5,5 Stunden ununterbrochenen am Stück auf fast 5000m geschlafen, dass ist neuer Rekord für mich.

    Tagesdaten: Start: Ledar (4200m ü.NN) - 7:30 Uhr, Ziel: Thorung La High Camp (4890m ü.NN) - 11:45 Uhr, ↑898m, ↓317m


    Morgenhimmel am Annapurnamassiv von Ledar aus: 13.10.14 - 8:00 Uhr


    Aufziehende Wolkenfront, von Thorung Phedi Teehaus (4400m) - 9:30 Uhr


    Zuziehende Wolkenfront, von Thorung La High Camp (4890m) aus - 12:00 Uhr; ab 13:30 ist der Chulu West, der weiße Berg am linken Bildrand, immer weniger zu sehen, ab 15 Uhr überhaupt nicht mehr


    Tag 12: Thorung La High Camp - Thorung La - Muktinath

    Aufbruchstimmung

    Kurz vor 3:30 Uhr werde ich wach, im Zelt ist es noch nicht komplett abgedunkelt, d.h., das Zelt befindet sich noch nicht gänzlich unter dem Schnee begraben. Im Zelt ist es trotz der Höhe von 4900m ü.NN eigentlich gar nicht so kalt, da dürfte der Schnee an der Außenseite als gute Isolationsschicht wirken. Beim Verlassen des Zeltes zum ersten Pinkelstopp am heutige Tag fällt mir auf, dass sich die Schneemassen seit meinem letzten Boxenstopp um 22 Uhr nachts zwar vermehrt haben, aber nicht um dramatische Mengen. Es dürften jetzt etwa 20-30cm Neuschnee an unserem ebenen Zeltplatz liegen.


    Thorung La HC - 14.10.2014 um 3:30 Uhr - Blick aus meinem Zelt zum Zelt der Begleitmannschaft - links Abdeckplane mit Ausrüstung

    Auch aus dem Mannschaftszelt sind jetzt Geräusche zu vernehmen, als Erster verlässt Guide und Koch Ram prasad das Zelt und geht zur Abdeckplane, wo meine Begleitmannschaft ihre komplette Ausrüstung gelagert hat, denn bei 5 Mann in einem 2,5mx2m großen Zelt gibt es da für solche Dinge wirklich keinen Platz mehr. In stoischer Ruhe packt er zunächst seinen Eispickel aus und beginnt mit dem strukturierten Sortieren der Schneemengen rund um Abdeckplane und den Zelten. Damit meine Mannschaft weiß, ich bin wach und alles ist in Ordnung, gehe ich zum Zelt und wünsche ein freundliches »Namaste«. Nur bei Shukra Bir bin ich mir aufgrund seines Gesichtsausdrucks nicht ganz sicher, ob er davon überzeugt ist, dass bei mir alles in Ordnung ist. Ich stehe noch barfuß in meinem Schlafanzug (kurzes T-Shirt und kurze Unterwäsche) im tiefen Schnee vor dem Zelt bei deutlichen Minustemperaturen.

    Seine Frage »Keine Schuhe an hier im kalten Schnee?«

    beantworte ich mit »Nö, dann werden wenigstens die Tevas nicht nass bis ich sie im Packsack verpacke!«.

    Nach Erledigung der drängendsten Angelegenheiten beginne ich mit dem Verpacken meiner Ausrüstung. Wir haben Neuschnee ohne Altschneelage, deshalb lasse ich meine Grödel im aufgegebenen Gepäck, meine Hardshell-Jacke packe ich aber zusätzlich in den Rucksack ein, könnte ja zusätzlich zur Kälte noch nass und windig werden und dann wäre die Daunenjacke als wichtigster Witterungsschutz schnell an ihrem Grenzbereich angelangt. Erstmals seit dem Chukhung Ri im Everestgebiet in der letzten Herbstsaison bin ich auch „untenrum“ wieder winterhart angezogen, d.h. zwischen Trekkinghose und kurzer Unterwäsche gibt es noch die langen Liebestöter. Über der Trekkinghose dient dann die Regenhose als Wetterschutz und als Gamasche. Obenrum ist es dann das kurze Trekkinghemd, ein altes Hanes-Sweatshirt und meine (Expeditions-)Daunenjacke mit Kapuze, sinnigerweise eine Mountain Equipment Annapurna, und Fingerhandschuhe. Wobei die Handschuhe nicht unbedingt für kalte und nasse Bedingungen geeignet sind, dafür gibt es aber in der Daunenjacke extra Handschuhtaschen. Einen Ersatzakku für die Kamera trage ich sicherheitshalber in der innersten Jackentasche, man weiß nie, wie kalt es oben werden kann.

    Die ruhige und zielgerichtete Art und Weise wie das ganze Team heute arbeitet, lässt mich vermuten, dass solche Bedingungen wie gerade jetzt hier gar nicht so unüblich sein dürften. Nur unser Starttermin mit 4:15 Uhr dürfte sich unmöglich halten lassen, es dauert wegen der Witterungsbedingungen einfach alles länger, trotz tatkräftiger Mithilfe meinerseits beim Abbau (normalerweise lassen sie mich sonst nie mithelfen). Auch einer der Träger überrascht mich heute, er war bis jetzt immer in Badelatschen unterwegs und heute steht er in Schuhen da, die durchaus auch ein Meindl Island sein könnten. An den Vortagen hatte ich die Thematik „Schuhwerk“ schon einmal angesprochen und u.a. gesagt: »Jeden von uns, den ich ohne vernünftiges Schuhwerk am Pass sehe, den streiche ich das Trinkgeld und für euch als Guides gibt es 10% Abzug für jeden „Ertappten“!«.

    Auf meine Frage: »Wie habt Ihr denn diese Schuhe da wieder organisiert?«

    antwortet Shukra Bir: »Gar nicht«.

    »Wie gar nicht?« frage ich verdutzt zurück und Shukra Bir sagt:

    »Er war vor 2 Jahren mit 18 ganz oben auf dem Mera Peak und seither hat er sie. Er zieht sie aber nur an, wenn es unbedingt sein muss, damit sie auch lange halten! Solche Schuhe bekommt man selten geschenkt und sie passen ihm auch noch richtig gut«. Anmerkung des Verfassers: Der Aussichtsberg Mera Peak ist mit fast 6500m Höhe der wohl höchste Berg der Welt, der von Trekkern noch ohne Expeditionserlaubnis aber unter erschwerten Bedingungen (Steigeisen) „erwandert“ werden darf.

    Vor dem Start gibt es für mich noch ein persönliches Problem zu lösen, schaffe ich bis dorthin noch ein großes Geschäft oder nicht? Die Strecke heute ist sicherlich vegetationslos und Versteckmöglichkeiten für die Erledigung und Ergebnisse des großen Geschäfts dürften keine vorhanden sein. Und viele Stunden mit Pobackenübungen und mit der Angst herumzulaufen, dass es bei den in diesen Höhen wesentlich häufiger erforderlichen Druckausgleichsmaßnahmen im Verdauungsapparat zu Phasentrennungen kommen könnte, dies will ich mir nicht antun. Aber meine Wünsche werden erfüllt und es verwundert mich, dass vor den wenigen Latrinen um diese Uhrzeit gar nichts los ist, trotz Überbelegung der Legebatterien hier, haben die alle verschlafen?

    Es ist fast 5 Uhr, bis wir soweit fertig sind, dass wir starten können. Wir werden zwei Teams bilden, einer der Guides und ich und der zweite Guide und die Träger als zweites Team. Und wir machen aus, dass wir uns spätestens oben am Häuschen am Pass treffen und dort nur gemeinsam weiter- oder zurückgehen, egal was passiert! Beim „Briefing“ sage ich zu Shukra Bir und Ram prasad, dass ich heute deutlich langsamer sein dürfte im Vergleich zu den Vortagen. Meine Erkältung ist zwar fast gänzlich weg, ich fühle mich pudelwohl ohne irgendwelche Anzeichen von höhenbedingten Unpässlichkeiten (eine „Höhenkrankheit“ ist für mich keine Krankheit, sondern das Ergebnis der Unfähigkeit des eigenen Körpers auf die geänderten Bedingungen in der Höhe zu reagieren) aber es war verdächtig wenig Schleimlösung nach meiner Erkältung in den letzten Tagen. Ich weiß nicht, war es nicht mehr Schleim oder ist da höhenbedingt eingetrockneter Schleim noch in der Lunge. Als „Zwergfellatmer“ benutzt man als Standardatemreservoir andere Lungenbereiche im Vergleich zu einem „Brustkorbatmer“.

    Durch die Höhe verliert man beim Atmen schon sehr viel Flüssigkeit, es kann also sein, dass der Schleim eingetrocknet ist. Ein ähnliches Phänomen hatte ich vor Jahren in Bolivien in 4000m Höhe. Aus der Freude, dass bei einem Schnupfen die Nase nicht läuft, wurde später die Erkenntnis, dass der deshalb eingetrocknete „Rotzballen“ irgendwo in der Nebenhöhle auf einen Nerv gedrückt hatte und ich als Folge tagelang massivste Schluckbeschwerden hatte (und sonst gänzlich beschwerdefrei war). Als Folge daraus werde ich heute versuchen, ein bestimmtes Belastungsprofil nicht zu überschreiten, d.h. ich dürfte wahrscheinlich viele Pausen machen. Und eine 100%ige geistige Flexibilität hat hier für mich deutlich den Vorrang vor dem Genießen körperlicher Höchstleistungen. Das „Geil Puls 250 ohne schwarz vor Augen“ und dann den Guide fragen „Is heute Bundesliga?“ kann ich mir ersparen. Gesund und munter in Muktinath ankommen ist wichtig, wie lange ich bis zum Pass brauche ist zweit- oder drittrangig! Das Ersteres für einige Leute, die auch heute über den Pass wollen , absolut unmöglich werden wird, von dieser Information sind wir noch weit entfernt.

    Für mich heißt es jetzt noch einmal in mich zu gehen und die aktuelle Situation zu analysieren und Schlüsse daraus zu ziehen, wie auf die geänderten Bedingungen eingegangen werden soll. Der Schnee hat hier 30cm, also dürften es oben am 550m höher gelegenen Pass max. 50cm Schnee sein, Schneeverwehungen nicht berücksichtigt. Hier ist der Schnee ein „angenässter“ Pulverschnee oder ein trockener Pappschnee. Da es keine Föhnwetterlage ist, dürfte der Schnee weiter oben nicht nässer sein, eher trockener und flugfreudiger. Die Schneemassen dürften zur Gänze Neuschnee sein, also keine lawinenfördernde Schneeschichten. Hier ist kaum Wind, es schneit großflockig aber kristallig, d.h. der Schnee wird sich verzahnen, passt also. Wir sind spät dran, d.h. vor 7 Uhr sind wir unmöglich am Pass, es wird also kalt und windig werden. Hier auf 4900m haben wir keinen Nebel, ob es oben so sein wird? Der Pass wird windbetreffend eine nicht geringe Düsen- bzw. Injektorwirkung haben, d.h. nach dem Pass dürfte es größere Windturbulenzen und Schneemengen geben als vor dem Pass, ich denke mal mit 100m Höhenunterschied dürfte man rechnen. Wird es z.B. auf 5300m vor dem Pass witterungsbezogen „knackig“, dann dürfte dies bis auf 5200m auf der windabgewandten Lee- bzw. Muktinath-Seite andauern. Gibt es überhaupt schon eine Spur oder erkennt man die richtige Spur anhand der Geländebedingungen? Es ist ja alles Neuschnee und beim Gang zu den Latrinen war der Schnee außerhalb des Lagers noch jungfräulich.

    Unter normalen Bedingungen wäre es laut Reiseführer, auf dessen genannte Gehzeiten bis jetzt fast immer Verlass waren, 3 Stunden von hier bis zum Pass. Rechnen wir mal 1 Stunde für den Schnee und 1 Stunde für mein heutiges Tempo dazu, dann heißt es 10 Uhr am Pass. Vom Pass bis nach Muktinath sind es 3,5h normal, rechnen wir heute mit 5h und 30 Minuten Pause oben am Pass, dann dürften wir, wenn nicht Gröberes passiert, um 15:30 Uhr in Muktinath sein. Ab 17:30 wird es schnell dunkel, trotz verspätetem Start haben wir also genügend Zeit und Verlaufen soll man sich hier ja kaum können. Ein leicht in die Welt gesprochener Satz eines noch Unwissenden. Und zu allem Überfluß ist heute wieder Oktober der 14., auf den Tag genau ein Jahr seit dem Schneechaos auf meiner Everestrunde 2013.

    Der Weg beginnt

    Kurz nach 5 Uhr starte ich mit Shukra Bir. Zunächst müssen wir ein paar Höhenmeter nach oben, bis wir das „Hauptlager“ erreicht haben, alle Spuren dorthin und zurück passen nur zu meiner Schuhgröße. Nach dem Satz von mir zu Shukra Bir »Schau’mer mal, wie hart es wirklich wird!« gehen wir im Schnee in die Nacht. Schon nach einigen Metern ist klar ersichtlich, eine Spur ist heute noch nicht nach oben gelegt worden und im Lager unten herrscht auch nur eine begrenzte Betriebsamkeit, es warten aber schon einige Menschenansammlungen, dass sie starten können. Shukra Bir legt die Spur an und ich versuche meine Fußtritte genau in seine Tritte zu legen, damit schöne Trittstufen entstehen und es für die Nachfolgenden weniger anstrengend werden wird nach oben zu gelangen. Nur Schrittgröße und Schuhabdruckgröße differieren zwischen mir und Shukra Bir schon deutlich (Schuhgröße 44 bzw. 10,5 zu 35+x, Körpergröße 1,85m zu max. 1,65m), aber irgendwie kriegen wir das schon hin.

    Auf dem ersten Hausberg nach dem Lager, sage ich zu Shukra Bir, dass es so nicht weitergehen kann. Ich rede weiter, dass ich keine Lust habe, im knietiefen Schnee mit ihm für alle anderen stundenlang den Spurbob zu spielen. In der Ebene wäre mir das egal, aber konstitutionsbedingt haben meine für die Körpergröße und -masse eher zu kurz geraden Beine beim hohen Anheben der Beine raus aus dem Schnee den Berg nach oben wesentlich mehr Aufwand zu treiben. Wenn sich keiner erbarmt, dann gibt es heute keinen Pass und auch kein Muktinath. Aus, pasta! Aber wir müssen keine fünf Minuten warten, bis die erste Gruppe an uns vorbeimarschiert, zwei Bergführer voraus und die Meute hinterher. Die Meute oft damit kämpfend, wie man die Stöcke ohne Schneeteller mit möglichst wenig Nachteilen und Kollateralschäden benützen kann.

    Am Zelt waren es 30cm Schnee, jetzt hier knietief, sind es dann 3 Meter am Pass? Darüber mache ich mir überhaupt keine Gedanken, denn knietief ist er hier vor und nach einem kleinen Kamm, also dürfte er abseits davon auch nicht tiefer werden. Von unseren kleinen Aussichtspunkt haben wir einen schönen Blick in den beleuchteten „Innenhof“ des Lagers, inzwischen stehen die Trekker dort in längeren Zweierreihen vor den beiden Latrinen an. Wo kommen denn die ganzen Leute her? Am Anfang meiner Tour war fast nix los und jetzt kriechen sie aus allen Ecken und Enden heraus, dass sind ja mit den Einheimischen ein paar Hundert!

    Schon die ersten Meter nicht selbst gespurter Neuspur zeugen davon, dass der oder die beiden Spuranleger ihr Handwerk verstehen und die Spurführung so machen, wie ich sie auch machen würde. Nur die „Nachfolgegeneration“ macht schon aus der besten Spur Schrott, kaum einer tritt in die Tritte des Vordermannes. Für Nachfolgende bleibt dann nur noch ein Wirrwarr an festgetretenem Schnee oder auch mal wieder nicht festgetretenem Schnee, jeder Schritt dann ein neues Erlebnis. Haben die denn keine Ahnung, was eine Spur ist! Zu Bundeswehrzeiten hätte man gesagt: »Kameradenschweine«. Nach den ersten „Steilanstiegen“ wird es wieder ebener und die zusammengetretene Spur macht jetzt weniger Zusatzaufwand notwendig. Ich kann zwar dem Tempo der Vorauslaufenden folgen, brauche aber wegen der mir selbst auferlegten Beschränkungen mehr Pausen. Eigentlich hatte ich als Belastungsgrenze einen „klopfenden“ Puls im Hals festgelegt, aber der persönliche Begrenzungslevel liegt schon früher an. Wegen der unruhigen Spur ist sehr viel Nivellierarbeit mit den Knien und den Unterschenkeln notwendig. Aufgrund der nicht niedrigen Schafthöhe meiner Bergschuhe, auch noch gepaart mit einem ungünstigeren Hebelarm zum Knie, bin ich stärker mit dem Ausgleichen beschäftigt wie zuvor angenommen. Wird dieser Beschäftigungsanteil zu hoch bzw. ich merke, dass dies eintreten würde, dann trete ich an einer geeigneten Stelle aus der Spur und warte etwas. Da ich ja nicht wirklich außer Atem bin, auf über 5000m ist man eigentlich nur beim Luftanhalten nicht außer Atem, reicht es eigentlich immer zu einem kleinen Gespräch mit Shukra Bir.

    Als erster Meilenstein beim Aufstieg steht die Querung einer doch sehr imposanten Stahlbrücke hier auf gut 5000m an, ein Bauwerk, dass mir oben so nicht vermuten würde. Gab es bis jetzt fast immer nur Hängebrücken oder Holzbrücken, so steht hier mitten im Nichts eine gut 40m lange DIN konforme panzertaugliche Stahlträgerbrückenkonstruktion. Da es doch noch sehr dunkel ist, verzichte ich darauf, den Fotoapparat aus dem Rucksack zu nehmen.

    Irgendwie wird es heute auch nicht richtig hell, es ist zwar kaum Nebel aber in der Ferne gibt es überhaupt keine Sicht. Vor einem steileren Gegenanstieg (ich weiß aus der Erinnerung nicht mehr, ob es schon bei der Bachquerung über den Steg oder erst später bei einem Steinhaus auf dem Weg war bzw. ob dies ein oder zwei Ereignisse waren) machen wir eine etwas längere Pause. Ich bin zwar sehr langsam unterwegs, könnte also beim Warten außerhalb der Spur zu jedem heute auf der Strecke ein »Namaste« sagen, aber ich bin zufrieden. Was mir aber jetzt schon auffällt, unter den Trekkern müssen auch welche sein, die wahrscheinlich noch nie Schnee unter ihren Füssen hatten. Auch ihre Ausrüstungen sind manchmal interessant. Sind sie bei Trägern oft nur verschlissen, so sind viele Trekker doch neu ausgestattet aber eher mit Feinkost Albrecht (wenn es den außerhalb Deutschlands auch gibt) als Hauptlieferant. Ob diese Outdoorsachen nicht ein wenig zu unrobust sind? Vom Schuhwerk gibt es von Tevas bis zu normalen Bergschuhen alles, nur quasi steigeisenfeste wie meine Schuhe sehe ich kaum. Und manch Einer müsste doch mehrere Lagen dickste Unterwäsche unter den dünnen Außenjacken tragen, was ich mir aber bei den figurbetonten Schnitten von Jacken und Hosen nur bedingt vorstellen kann. Ob sich das später nicht noch rächt, auch wenn es nur noch gut 400 Höhenmeter bis oben sind? Den Vogel schießt aber ein vermeintliches Double des einem vom Survival-Duo auf DMAX ab: Caprihose und bei der Fußbekleidung dann Plastiktüte, dicke Socken und Sandalen, da friert es mich ja schon vom Zuschauen. Mit Daunenjacke sind auch einige unterwegs, dies sind aber meist die ganz dünnen oder die Thamel-TNF-Variante. Mit dicker Daunenjacke bin ich allein auf weiter Flur.

    Vor der Rast hatten mich auch schon meine Träger überholt, sie waren einige Minuten nach mir gestartet. Bevor wir weitergehen, beschließen wir ohne mein Zutun, dass jetzt Ram prasad bei mir bleibt und Shukra Bir mit den Trägern bis zum Pass vorausgeht. Sie sind schneller als ich und immer Warten in der Kälte hat keinen Sinn. Oben am Pass gibt es eine Hütte, wo sie dann im Warmen auf mich warten können. Die Begleitung durch Ram prasad hat für mich noch einen weiteren Vorteil, er trägt wie schon an den Vortagen mein aufgegebenes Hauptgepäck, d.h. im Falle des Falles könnte ich sehr kurzfristig auf 100% meiner Ausrüstung zurückgreifen.

    Langsam und mit vielen Pausen geht es immer nach der identischen Leier weiter, nur mit der Zeit wird die Sicht schlechter. Da man meist zwischen zwei „endmoränenartigen“ Erhebungen unterwegs ist, kann man die tatsächlich mögliche Sichtweite nicht abschätzen, und irgendwann müssen wir doch dann auch in die windreicherer Regionen vorstoßen, hatte sie eigentlich schon hier erwartet. Was mich hier schon etwas stutzig macht, ist, dass die umgebenden Berge nicht zu sehen sind. Liegt es am Schnee und dem heute bescheidenen Tageslicht oder ist der Nebel wesentlich stärker als vermutet? Da mein Gesicht und v.a. die Klettverschlüsse der Jacke noch eisfrei sind, dürfte es (noch) nicht am Nebel liegen.

    Ich sage zu Ram prasad: »Du wirst sehen, wenn jetzt die Sicht weiter oben vielleicht noch schlechter wird, dann können wir davon ausgehen, dass die Leute dann wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen das Weite sucht und sich Keiner mehr für den Anderen interessiert! Dann kann Jeder selber schauen, wie er weiter kommt. Das täte mich schon ziemlich wundern, wenn’s nicht so wäre!«

    Ankunft im Auge des Schneesturms

    Nur mit der mentalen Freiheit bei den ersten Trekkern dürfte es inzwischen nicht mehr weit her sein. Wie ein Häuflein Elend sitzen zwei Trekkerrinnen im Schnee und machen auf mich den Eindruck, dass sie mit der Welt am Ende sind. Bis ich auf deren Höhe bin, werden sie aber schon von anderen Guides eindringlich aufgemuntert alles andere zu tun, nur nicht hinsetzen. Und dies sagen sie nicht ohne Grund: würde man sich in großen Höhen zu zügig vom Hinsetzen erheben, dann kann es zu einem massiven Abfall des Blutdrucks kommen, der dann eine Ohnmacht oder auch einen Kreislaufkollaps zur Folge haben kann. Mit Shukra Bir und Ram prasad habe ich vereinbart, dass, wenn ich mich auf der Passetappe freiwillig außerhalb eines Gebäudes hinsetzen würde, dies für sie bedeutet, dass ich nicht mehr Herr meiner Sinne wäre und ein absoluter Notfall vorliegen würde. D.h. runter von der Höhe, schnellstmöglich, egal wie und wenn sie mich einfach den Abhang runterrollen.

    Auch wenn man jetzt die ersten Maultiere, nicht verwandt mit rosa Elefanten, sieht, der Sinneseindruck hat seine Richtigkeit. Man kann für den Passaufstieg auch Maultiere buchen und als Immobilie auf den Tierrücken zum Pass gelangen. Aber wie lange dann oben das Auftauen dauert sei dahingestellt. Wie festgefroren sitzen die Reiter für wahrscheinlich mehr als 200USD auf den Maultieren.

    Beim Blick auf meinen Höhenmesser erkenne ich, dass wir jetzt gut 5250m Höhe erreicht haben. Der Wind wird jetzt deutlich stärker und somit auch die Sicht schlechter. Die vielen Schlaglöcher in der Schneespur sind noch die gleichen. Wenn ich Ram prasad so anschaue, dann sind sein Pokerface und seine Augen noch ein Herz und eine Seele. Er bietet sich an, meinen Rucksack zu übernehmen, da sage ich nicht nein, sind für mich wegen der schweren Kamera (2,5kg) 10kg weniger zu tragen. Während einer schöpferischen Pause frage ich Ram prasad danach, wie es um den Pass herum ausschaut. Die Sicht könnte ja nochmals schlechter werden und ich habe keine Lust am Pass vorbei zu laufen und dann mit riesen Umwegen oder gar nicht im Tal anzukommen: Inzwischen sieht man keine Bergwände mehr zur Orientierung und ob ich den Personen vor mir im Noch-Sichtbereich zwecks richtiger Route noch trauen kann, bezweifle ich immer mehr. Er sagt mir, dass wir uns eher hangaufwärts rechts halten sollen und bei einer Gesteinsformation, die er mir beschreibt, etwa 50 Höhenmeter unterhalb des Passes diese mit Abstand links unterhalb umrunden sollten, d.h. sie liegt oberhalb der eigentlichen Strecke. Dann sind es noch 10 bis 15 Minuten bis zum Gipfel. Wenn mein Höhenmesser 5350m anzeigt soll ich es ihm sagen. Ich versuche mir im Kopf aus den Beschreibungen von Ram prasad ein Bild von der nicht zu sehenden Landschaft zu machen, hoffentlich bin ich da im richtigen Film.

    Aus dem Wind wird jetzt langsam ein Orkan, wegen meiner Daunenjacke und der aufgesetzten Daunenkapuze ist mir der Fast-Rückenwind zuvor kaum aufgefallen. So wie ich die Menschen kenne, wird es vor uns keine Polonaise an Menschen mehr geben, sondern Jeder wird für sich sein eigenes Süppchen kochen und nur noch bedingt auf seine Umwelt achten.

    Hatten wir bis jetzt noch eine zu verfolgende Spur, so wird diese von Minute zu Minute nur noch eine konturlose Schneewüste. Es besteht keine Chance mehr, die Lage der Fußstapfen des 20m vor mir Laufenden zu identifizieren, der extreme Wind begräbt mit dem Schnee einfach alles. Ich sehe nur noch einige Einzelkämpfer vor mir und diese sind deutlich langsamer wie ich. Beim letzten Blick hinter mir vor geraumer Zeit, konnte ich bereits erkennen, dass Ram prasad und ich heute die Lumpensammler sind. Aber sind wir überhaupt noch auf den richtigen Weg? Ein ständiges Auf- und Ab vor dem Pass steht zwar in den Reiseführern, der Abstand der ganzen Zwischenhügel ist mir aber fast zu gering. Und die Sicht ist inzwischen sehr bescheiden, vielleicht noch maximal 100m bei „Normalwind“ und bei einer Böe ist es sekundenlang nur noch weiß mit Sichtweite bei fast 0. Es lässt sich eigentlich gar nicht mehr abschätzen, ob wir uns im Tal zwischen den Kamelbuckeln oder obenauf befinden. Nur die Windrichtung zeigt an, dass die eingeschlagene Gehrichtung gar nicht so falsch sein kann. Jetzt heißt es immer die Umgebung und die Lage der Vorauslaufenden zur Umgebung zu beobachten, damit wir nach einer Böe wissen, wo es weiter geht.

    Wie aus dem Nichts tauchen Maultiere auf, die uns ohne Besatzung entgegen kommen. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: sie kennen den Weg nicht und nehmen uns beide als Orientierung oder, was ich vermute, sie gehen den Weg, den sie jeden Tag gehen, v.a. wenn sie ohne Führer unterwegs sind. Folglich sollten wir uns eigentlich auf dem richtigen Weg befinden. Trotzdem, eine Orientierung ist eigentlich fast nicht möglich, wo ist nun Ram prasads Gesteinsformation? Wir sind wieder an einem Scheidepunkt angekommen, wie gehen wir jetzt weiter? Die Logik meint geradeaus, mein Bauchgefühl sagt links durch eine kleine Querung, denn ich meine weiter hinten Umrisse eines Felsens, wahrscheinlich kaum 100m weg, zu sehen. An Ram prasad sehe ich, dass sein Pokerface und seine Augen inzwischen zwei verschiedene Sprachen sprechen. Auch aus dem Zick-Zack der inzwischen sehr langsam vor oder auch schon hinter mir Laufenden werde ich nicht schlau. Welcher von diesen Personen eingeschlagene Weg könnte zielführend sein? Im 90° Winkel vor uns ist alles dabei. Selber den vermeintlich richtigen Weg zu suchen und dabei darauf zu achten, unter allen Umständen Keine(n) der in “weiter Umgebung” um mir Laufenden aus den Augen zu verlieren. Da diese wahrscheinlich körperlich und mental völlig am Ende sind, vereinfacht es die Sache jetzt überhaupt nicht.

    Wer hat den Weg geklaut?

    Und wie geht es jetzt weiter, geradeaus oder halblinks? Ich frage Ram prasad, wo er weitergehen würde und stelle bewusst keine Ja/Nein oder Bevorzugt-Diese-Antwort-Frage. Er ist jetzt selber auch am Rätseln. Da er als Koch auf der Annapurnarunde nur selten gebraucht wird, macht er die Route nicht regelmäßig aber dennoch oft genug. Ich sage ihm, dass mein Höhenmesser 5380m anzeigt, wegen des Sturms dürften wir aber einen erhöhten Druckabfall haben, d.h. von dem Wert dürfen wir einige Meter abziehen.

    Und an wen aus den vorauslaufenden Personen sollen wir uns am Besten halten bzw. am meisten aufpassen? Ram prasad und ich beschließen, der am weitesten rechts von uns befindlichen Person unser besonderes Augenmerk zu widmen. Es dürfte sich aus unserer Entfernung gesehen von der Konstitution und der Kleidungsfarbe her um eine Frau handeln, was sich auch später bewahrheitet. Sie sitzt an einem kleinen Felsen und steht gerade von diesem wieder auf. Ich erkenne, dass sie keinen Rucksack mehr trägt und sie sich komplett alleine “weiterschlägt”. Warum ist sie hier ohne Rucksack unterwegs und ganz alleine? Wirft man hier einen Rucksack einfach weg? Zwar nicht auszuschließen, aber dafür läuft sie mir jetzt zu zielstrebig weiter! Wo ist dann die Person, die jetzt den Rucksack von dieser Person trägt? Ist es der Ehepartner, dann wäre diese Vorgehensweise ein Scheidungsgrund ersten Ranges, den anderen hier einfach sich selbst zu überlassen. Ist es der Guide oder der "Lumpensammler" einer Gruppe, dann wäre es eigentlich grob verantwortungslos den Kunden in solch einer Situation sich selbst zu überlassen.

    Die Whiteouts, so bezeichnet man Schneesturmphänomene, wenn man nur noch weiß sieht, und deshalb keine Konturen, geschweige denn Himmel und Erde, nehmen an Häufigkeit zu und haben zeitlich inzwischen die Oberhand. Ich schlage Ram prasad vor, während einer Whiteout-Pause sich den Felsumriss anzuschauen, den ich gesehen habe und der von der Beschreibung zu der Gesteinsformation von Ram prasad passen könnte. Ich habe absichtlich meinen linken Fuß genau in Richtung der Formation stehen lassen, um diese nach einem Whiteout wieder schnell zu finden. Nach gut einer Minute kann man den Felsen wieder sehen, sogar etwas besser als zuvor. Die Wandlung von Ram prasads Pokerface in ein kleinkindliches Freudengesicht (er ist älter als ich) in den nächsten Sekundenbruchteilen ist ein Ereignis, dass man sich lebenslang einprägen kann.

    Mir sagt es nur, Volltreffer, der Weg passt! Jetzt wo die schlimmste Anspannung aus der Situation draußen ist, frage ich ihn: »Wie lange hättest Du Dein Pokerface noch durchgehalten, deine Augen haben mir seit geraumer Zeit etwas ganz anderes erzählt?«,

    »Nicht mehr lang, schaut ihr Europäer den anderen Menschen nicht nur ins Gesicht, sondern auch auf die Augen?« antwortet er sichtlich überrascht.

    Darauf ich: »Wir gehen zum Fels und dann langsam in Richtung Pass. Wir müssen aber aufpassen, dass wir von denen schräg vor und hinter uns niemanden verlieren!« und gebe den Personen dabei mehrmals deutliche Handzeichen, wo der Weg hingeht. Ob sie es bemerken, weiß ich nicht. Bei diesen wenigen Personen ist aber ersichtlich, dass sie den Willen haben weiterzukommen, persönliche Hilfestellungen also noch nicht unbedingt notwendig sind. An die genaue Personenzahl kann ich mich nicht erinnern, aber man vergleicht hier im Unterbewusstsein Bilder des Erinnerungsmusters. Obwohl man die Personen nicht wissentlich durchzählt, habe ich einmal die “Alarmmeldung”, irgendwas fehlt in meinem Wahrnehmungsbild, nur was? Irgendetwas war pastell-graufarbig und das fehlt jetzt. Pastellfarben sind hier ab 10m nur noch ein Grauschleier. Wo ist die Frau von zuvor denn jetzt abgeblieben? Eigentlich haben wir immer versucht darauf aufzupassen, dass sie nicht sitzen bleibt und uns nachfolgt, aber kaum ist man ein paar Augenblicke mit sich selbst beschäftigt, findet man sie nicht mehr. Kaum einige Sekunden später erspähen wir sie wieder in unsere Richtung laufend, eine kleine Kuppe hatte die Sicht versperrt.

    Die Gesteinsformation ist schnell erreicht, sie liegt auf einem kleinen Plateau, es liegt auch fast kein Schnee. Da wir ja noch vor dem Pass sind und wahrscheinlich etwas zu hoch sind, schlage ich vor nach halblinks leicht bergab zu gehen. So makaber es auch klingen mag, ob wir von hier wirklich bergab oder bergauf laufen müssen, kann wegen des gänzlich fehlenden Horizonts schnell falsch eingeschätzt werden. Es dauert nicht mehr lange, und der Schnee wird wieder knietief, die Whiteouts sind aber kräftig und häufig wie zuvor. Und während ich mit dem Spur legen beschäftigt bin, klopft mir Ram prasad auf die Schulter und zeigt nach vorne. Da ist er, der Pass, oder wenigstens die Teehütte und rechts davon die Gebetsfähnchen und die Passschilder, wir haben es geschafft. Kaum 50m liegen sie entfernt!

    Ich gebe allen hinter mir Laufenden eindeutige Zeichen, wo der Pass sich befindet.

    Ankunft am Thorong La

    Aber nach ein paar Sekunden ist es wieder vorbei mit der Sicht, zweifelsfrei ist nur noch erkennbar, wo ist oben und wo ist unten. Jetzt heißt es wieder die Geduld zu bewahren und auf ein Sichtfenster zu warten und dann die nächsten 20-30 Schritte zu wagen. Nach zwei weiteren Zwischenstopps haben wir endlich die Hütte am Pass erreicht. Nur irgendwie habe ich mir den Pass unabhängig vom heutigen Wetter etwas anders vorgestellt. Man geht zwischen der Passmarkierung und dem Teehaus hindurch, erwartet hätte ich eigentlich, dass der Weg an beiden vorbeiführt.

    Vor der Hütte erkenne ich auch mehrere Tragekörbe, von zwei bin ich mir absolut sicher, dass sie zu uns gehören, und ein weiterer dürfte auch ein unsriger sein. D.h. die Träger müssten alle den Pass erreicht haben. Die Windverhältnisse sind schon extrem hier, aber warum stehen da noch ein paar Menschen vor der Hütte, ist im Innern kein Platz mehr? Im Bereich des Passschildes ist niemand, ist auch nicht verwunderlich, der Wind pfeift in Orkanstärke und zwischen Hütte und Passmarkierung dürfte z.T. mehr als ein Meter Schnee liegen. Kaum sehen wir uns um, ist auch schon Shukra Bir da und begrüßt uns freudestrahlend mit sichtlich allergrößter Erleichterung.

    Shukra Bir sagt: »Die anderen sind schon lange im Innern der Hütte, die ist aber inzwischen restlos überfüllt. Kein Chance auf einen Platz!«

    »Und der Rest der Meute wartet auf Einlass?« antworte ich und Shukra Bir erwidert: »So in etwa«. Auf meine Frage zu Shukra Bir, wie er in dem Schneechaos so schnell mitbekommen hat, dass Ram prasad und ich gerade am Pass eingetroffen sind, wir haben ihn ja außerhalb der Hütte nicht gesehen , antwortet er lapidar: »Ich habe nur etwas in Knallorange an der Tür vorbeigehen sehen, was nach einem Rucksack ausgeschaut hat. Und dein Rucksack ist der Einzige in Knallorange, den ich in den letzten Tagen gesehen habe!«.

    Während unseres Gesprächs bemerke ich im Augenwinkel, dass jemand eine Rettungsdecke auswickelt. Ich drehe mich um und sehe, dass mehrere Personen um eine Frau herum stehen, die im Gesicht so ziemlich jede Farbe des Regenbogens, sei es knalliges rot, intensives blauviolett, kräftiges braungelb, … hat und am ganzen Körper nur noch fürchterlich zittert. So viele unterschiedliche und extreme Farbnuancen hat ja in Deutschland fast keine einzige Frau in ihrem Beauty-Case. Die Kleidungsfarbe der Frau ist ähnlich der Person, die ich vor dem Pass überholt habe und wo ich nach dem Erreichen des Passes gesehen habe, dass diese auch nur noch wenige Meter hat. Was nicht passt, ist, irgendwie fehlt da jetzt mindestens eine Konfektionsgröße und, wenn es die identische Person ist, so stark verfroren hat sie mir vor dem Pass auch nicht gewirkt. Mehrere Personen, es scheinen Nepali zu sein, scharen sich im Halbkreis um die Person und versuchen sie auch zu stützen. Aber warum steht denn keiner in Ihrem Rücken, der orkanartige Wind bläst genau in ihren Rücken. Die können doch nicht vorne ihr die Rettungsdecke umlegen und am Rücken der Frau setzt sich ihr Schockgefrieren fort!

    Noch bevor ich mich auf den Weg mache, mich als Windschutz zwischen Windböen und der Frau zu stellen, mache ich mir leise oder auch laute Gedanken, ich vermute ich habe es nur gedacht und nicht laut ausgesprochen (im Originalton-Süd hätte es hier sowieso niemand verstanden) was die Vorgehensweise hier soll: »Bringt die Frau schnellstmöglich hier weg, mit dieser dünnen Jacke erfriert die hier sonst! Die ist restlos unterkühlt! Rein in die Hütte egal wie, oder sofort ab nach unten und wenn ihr sie am Seil runterzieht! Lieber 50 blaue Flecken und ein paar Knochen mehr als zeit Lebens gefriergetrocknet!«

    Man bin ich froh, dass wir alle hier am Pass zusammen sind. Oft während des Aufstiegs habe ich mich mit dem Gedanken beschäftigt: was passiert, wenn einer aus Übereifer am Pass gleich weiter rennt und ich aber noch vor dem Pass umkehren muss. Ich hatte immer im Hinterkopf, dass ich es mir im Sinne der Unversehrtheit der Gruppe gar nicht leisten darf, den Pass nicht zu erreichen. Danke, wieder eine Angst weniger.

    Beim Eigencheck bei mir merke ich, dass bei mir alles in Ordnung ist. Die Schuhe sind trocken, die Füße angenehm temperiert, eigentlich alles angenehm, nur an den Händen beginne ich auszukühlen. Und ich bin der Einzige mit dickerer Daunenjacke hier. In welchen mentalen Zustand wäre ich jetzt, bei frierenden Zehen oder kaltem Bauch? Auch Shukra Bir und Ram prasad sind mir die wenigen Meter gefolgt. Sicherheitshalber will ich zumindest den Blick vom Pass zurück wagen, könnte ja jemand kommen, der Hilfe braucht. Aber nach kaum 10 Sekunden gebe ich dieses Vorhaben freiwillig auf. Wer schießt hier mit abertausenden kleinen extrem heißen Stahlkugeln bei dem orkanartigen Wind mitten in mein Gesicht? Mit der Hand muss ich den Klettverschluss meiner Kapuze festhalten, damit der Wind den Klettverschluss nicht noch aufreißt. Da sind doch hier gefühlte -50°C oder noch niedriger! Da muss doch die oberste Hautschicht im Gesicht schon weggefroren sein, das Gesicht brennt binnen weniger Sekunden auf das Fürchterlichste! Ist das in der Luft noch Schnee oder schon flüssiger Stickstoff im Sturm? Solche gefühlten kalten Temperaturen wie gerade aktuell habe ich bis jetzt noch nicht einmal im Ansatz in meinem Leben erlebt. Da waren ja meine kältesten -21°C ja noch tropische Hitze. Scheiß Wind!

    Wenn ich mich jetzt wieder aus dem Wind drehe, haben die Anderen die frierende Frau schon in die Hütte gebracht, oder muss ich mich dann um eine gesundheitserhaltenden Lösung der Sache kümmern? In meinem Rucksack wären noch eine Daunenhose zum Drüberziehen und die dann abzugebende Daunenjacke könnte ich mit meiner Hardshell tauschen, müsste mir dann aber eine zweite “Langarmlage” unterhalb der Hardshell anziehen.

    Kaum wende ich den Wind wieder den Rücken zu, wird es wieder erträglich und auch mein Gesicht scheint sich wieder zu erholen. Auch sehe ich, dass die Menschen versuchen, die extrem stark unterkühlte Frau in das Innere der Hütte zu bringen bzw. dass sie sich fast nicht mehr außerhalb der Hütte befindet. Ihre Versorgung dürfte gesichert sein. Wünschen wir ihr das Beste.

    »Sag mal Shukra Bir, stehen da noch Leute hinter der Hütte, da müsste doch kaum Wind sein?« frage ich und erhalte als Antwort von ihm, »Da ist nur eine riesige Schneeverwehung, da kann keiner hin!«. »Shukra Bir, hinter der Hütte sind normal Turbulenzen, deshalb die Schneeverwehung. Zwei Meter weiter hinten sollte kaum Wind sein, kann auch ein Meter mehr oder weniger sein, da können wir uns hinstellen!«. Shukra Bir schaut mich absolut ungläubig an, geht aber trotzdem hinter die Hütte. Kaum angekommen winkt er uns umgehend herbei. Und tatsächlich ist an der Stelle sehr deutlich weniger Wind. Ich habe mich zwar während meines Studiums für die Strömungsmechanik kaum begeistern können, aber anscheinend lernt man im Studium auch mal was fürs (Über-)Leben.

    Auf meine Frage an Ram prasad, ob denn Zustände wie aktuell öfters vorkommen, erhalte ich als Antwort, dass es schon heftig sei, sie aber solche Zustände schon mitgemacht haben, aber noch nie hier am Thorung La.

    Auch wenn die aktuellen Witterungszustände nicht unbedingt der Lebensdauer von Elektronikbauteilen freundlich gesinnt sind, beschließe ich, dass Shukra Bir ein Bild von mir am Passschild machen soll, als Beweisfoto, welche Zustände hier herrschen. Das glaubt mir sonst keiner danach und es müssen ja nicht immer diese Schönwetterfotos bei den Reiseveranstaltern sein. Für diesen Zweck ist es mir egal, ob meine Fotokamera dieses Ansinnen übersteht, auch wenn deren Neuwert über dem Preis dieser Reise liegt!


    Schönwetterphase (kein Witz !!!) am Thorung La - 14.10.2014 9:23 Uhr - Das Bild wurde mit 1/250s Belichtungszeit aufgenommen, man beachte im verlinkten Bild in Originalgröße die Länge der Schneefahnen

    Das Bild in Originalgröße anschauen.


    In voller Konzentration nach dem nächsten Whiteout die 10m entfernte Hütte am Thorong La Pass wieder zu finden


    Auch wenn diese Aufnahme am Thorung La Pass beim Gang vom Teehaus zum Passschild erfolgte, es zeigt exemplarisch auch die Spur- und Schneeverhältnisse auf der Manangseite rund um den Thorung La.


    Ende von Teil 1 (der Text darf nur 50.000 Zeichen lang sein).
    Zuletzt geändert von Bergzebra; 21.01.2016, 18:07.
    Schaffe Dir Erinnerungen bevor Du nur noch diese hast!

    Nur heute wärmt uns das Feuer, gestern war es Holz und morgen wird es Asche sein.
    (Autor unbekannt)

  • Bergzebra
    Erfahren
    • 18.02.2013
    • 285
    • Privat

    • Meine Reisen

    #2
    Mittendrin im Schneesturmunglück rund um den Thorong La Pass am 14.10.2014

    Teil 2: Thorung La - Muktinath Phedi Teehaus


    Da Shukra Bir schon mehrmals Fotos mit meiner Kamera gemacht hat und auch ein sehr gutes Auge für das Motiv hat, übernimmt er gerne die Aufgabe als Fotograf. Ram prasad macht mit seiner Statur noch einen Behelfsschneeschutz, denn Wind und Schnee haben wir hier auch. Nur wo soll ich mich jetzt hier hinstellen? Für die 30 Meter zum eigentlichen braunen Hinweisschild brauche ich wegen der Schneemassen eine Tunnelbohrmaschine, der Weg scheidet also aus. Kein Einziger hat es seit meiner Ankunft gewagt in die Nähe der Passmarkierung und Gebetsfahnen zu gehen, keine Spur, einfach nix im Schnee zu sehen. Auch wäre es verantwortungslos gegenüber dem Fotografen, dass dieser sich wegen eines Fotos ungeschützt und mitten in das Windinferno stellen muss.

    Ich beschließe, mich zum zweiten und kleinen weißen Schild vorzutasten. Vorzutasten? Wenn mal wieder, wie jede Minute hier, ein neuer Whiteout seine Vorstellungsrunde tätigt, sehen wir von hier nicht einmal die gegenüberliegene eigentlich unübersehbare Passmarkierung. Aber wer nichts wagt! Nach gut 5m wird der Schnee jetzt mehr als knietief, viele würden hier hüfthoch sagen, aber hüfthoch beginnt ja oftmals schon unmittelbar oberhalb des Knies. Obwohl ich mehr als einen halben Meter im Schnee stehe, wird es zum Balanceakt, die notwendige 180° Drehung zu machen, damit ich mit dem Gesicht wieder in Richtung Kamera schaue. Penetrant versucht es der Orkan, mich bei diesem Ansinnen umzuwerfen, aber nachdem auch mein rechter Fuß wieder sein Schneeiglu hat, kann ich dem Wind doch standhalten. Aus Gleichgewichtsgründen muss ich aber die Hände außerhalb der Jackentasche lassen, auch wenn die Hände inzwischen doch schon stark auskühlen. Für zwei bis drei Sekunden sehe ich meine Kamera und Shukra, dann ist wieder ein Whiteout und ich kann mich nur noch auf meine Erinnerung berufen, wo die Kamera denn aktuell sein müsste.

    Was bei diesen Bedingungen der Unterschied zwischen der windzu- und der windabgewandten Seite sein kann, kann ich in den nächsten gut 43 Sekunden erleben (Zeitunterschied zwischen erstem und letzten Foto laut Speicherdatum Kamera). Ich sage dazu nur eines: Einmal im Leben reicht!

    Die rechte Hand ist die windabgewandte Seite, hier bemerke ich, dass an den Fingerkuppen es langsam etwas kalt wird, ist ja nicht weiter verwunderlich, meine Handschuhe sind ja eigentlich gut, aber für solche Bedingungen nicht gedacht („… Wer rechnet denn schon damit, dass …“). Nur was in der gleichen Zeit an meiner linken Hand abgeht, habe ich mir bis jetzt noch so gar nicht vorstellen können. Ein Gefühl als hätte jemand „Flüssigeis“ in alle Fingerspitzen gleichzeitig mit einer Spritze gespritzt und ich „darf“ nun miterleben, wie sich die gefrorene Flüssigkeit von Sekunde zu Sekunde von den Fingerspitzen bis zur Handfläche über alle 3 Fingerglieder ausbreitet. An jedem Fingergelenk beim Passieren von Selbigem dann ein deftiger Zusatzschmerz, als wäre eine Engstelle und jetzt wird das „Eis“ einfach durchgedrückt, ohne Rücksicht auf Verluste. Obwohl ich zeitig beginne, meine Finger schnell zu bewegen, meinem „Flüssigeis“ interessiert dies nicht die Bohne. Interessanterweise habe ich nicht das Gefühl, die Bewegung der Finger wäre eingeschränkt, also kein Taubheitsgefühl. Die linke Hand in die untere linke Jackentasche zu stecken funktioniert nicht. Nicht weil ich zu unbeholfen dazu wäre, nein, der linke Arm wird wegen der Sturmböen dringend für Ausbalancierungszwecke benötigt.

    Bleiben oder weitergehen?

    So schnell wie möglich bin ich wieder hinter der Hütte im windreduzierten Bereich verschwunden. Jetzt kann ich die linke Hand in die Jackentasche stecken und kann dort auch noch schnelle Greifbewegungen machen. Langsam merke ich auch, wie das „Flüssigeis“ wieder in Richtung Fingerspitzen zurückwandert. Vor dem Verstauen der Kamera im Rucksack versuche ich die Feinmotorik meiner Fingerspitzen zu testen, Tasten drücken, Stellräder betätigen, alles funktioniert tadellos, ich erspare mir jetzt also, dass ich den Handschuh ausziehe, auch wenn von der gefühlten Temperatur zwischen linker und rechter Hand noch deutliche Unterschiede da sind.

    Shukra Bir schlägt vor, dass wir noch eine Zeit lang hier warten sollten, dann aber im Innern der Hütte. Ich bin einverstanden, gebe aber zu bedenken, dass wir unbedingt noch im Hellen in Muktinath ankommen sollten, egal wie die Bedingungen sein werden. Rechnen wir mal den worst case, dann dauert es keine 3-4 Stunden sondern 7-8 Stunden. Und die Zelte müssen ja auch noch aufgebaut werden. Ram prasad sagt aber sofort, dass Zelt aufbauen in Muktinath ungeschickt wäre, wir haben sie im nassen Zustand verpackt, trocknen ist heute unmöglich, es wäre besser, dass ich ein Zimmer nehmen würde. Wir einigen uns darauf, dass wir uns bis maximal 10:30 Uhr (jetzt ist es noch vor 10 Uhr) in der Hütte aufhalten. Wir sind zwar immer noch die Einzigen hinter der Hütte, aber vor der Hütte hat sich der Andrang deutlich reduziert. Aber Shukra Bir erkennt sofort, dass es in nächster Zeit keinen Platz in der Hütte geben wird.

    Er teilt mit, dass er die Träger holt und wir dann aufbrechen sollten, alle zusammen! Unsere 3 Träger kommen auch ziemlich schnell aus der Hütte, sie machen einen entspannten Eindruck und haben noch immer ihre schelmischen Lausbubengesichter der letzten Tage. Um die Situation noch weiter zu entspannen, gibt es von mir nochmals einen süddeutschen „Socherer“ translated in Englisch: »Vor ner Stunde standen wir noch am Abgrund, jetzt sind wir aber schon einen Schritt weiter« und alle lachen. Hoffentlich wird dieser Spruch nicht zur Realität.

    Was mir hier am Pass und die ganze Zeit zuvor schon auffällt, niemand redet mit dem Anderen, irgendwie sind alle schweigend mit sich selbst im Gespräch vertieft.

    Nachdem wir unsere Vollzähligkeit überprüft haben, können wir starten, es kann ja nur noch leichter und einfacher werden, es geht ja nur noch nach unten und der Wind kommt von hinten. Ein deftiger Irrglaube, wie die nächsten Stunden zeigen werden, aber von dieser Geschichte können wir hier am Pass oben noch nichts wissen. In den letzten Stunden hatten wir absolut null Geländesicht, ich habe keine Ahnung, wie die Umgebung hier ausschaut und ob. z.B. bei unserem Aufstieg manchmal doch ziemliche Umwege dabei waren, was ich sehr vermute. Es ist für mich seither nicht einschätzbar, ob von der umgebenden Bergwelt zusätzliche Gefahren drohen, man sieht keine Bergwelt, ohne Whiteout ist es auch nur Nebel mit maximal 100m Sicht. Folglich hat man keine Chance eine Bergkuppe oder irgendetwas Anderes vom Horizont zu unterscheiden, geschweige denn, was oder wo ist hier überhaupt der Horizont? Gibt es ihn überhaupt noch?

    Ein nicht mehr vorhandener Horizont, weißer als Weiß oder wenn der hellste Tag zur Nacht werden kann

    Shukra Bir übernimmt die Führung, gefolgt von mir, Ram prasad und den drei Trägern. Unmittelbar nach dem Pass biegt er scharf rechts ab, ich denke mir nur, er wird schon wissen was er macht. Wir laufen noch einige Meter, der Schnee wird immer tiefer, für meine Rais jetzt wirklich schon hüfthoch. Und die Sicht ist auf einem Schlag, obwohl hier fast kein Wind herrscht, komplett weg. Sind wir jetzt hier im falschen Film? Keine zwei oder drei Minuten unterwegs und wir wissen nicht mehr wo wir sind, wie es zurück geht oder wie wir weitergehen sollen! (Anmerkung des Verfassers: Erst Monate später erkenne ich in einem Internetbild, bei dem der Thorung La Pass bei schönen Wetter aus einem gänzlich anderen Blickwinkel als sonst üblich abgelichtet wurde, was zu diesem Wetterphänomen an dieser Stelle geführt hat.) Shukra Birs in den letzten Minuten gezeigter fast schon Übereifer hat auch einen deftigen Dämpfer erfahren.

    Wie machen wir jetzt weiter, Panik schieben bringt nix und eine Panik schließe ich für mich einmal grundsätzlich aus, egal was passiert, Panik bei mir darf unmöglich sein und wird es nicht geben! Panik, Du kannst mir mal den Buckel runterrutschen! Wie schaut es bei den Anderen aus? Panikattacken? Beginnt einer hohl zu drehen? Geht einer in einen Jammerlappenmodus über? Jetzt wird mir schlagartig bewusst, für was man 200m Seil am Mesokanto La braucht. Ein Königreich für ein 200m langes Seil. Aber es hilft das beste Königreich nichts, wenn kein Seil da ist! Aber wie reduzieren wir jetzt die Gefahr uns im Chaos hier zu verlieren, ohne Seil, mit Seil wären wir in 30m Abstand verbunden und blieben immer zusammen. Mit Handzeichen, Gestik und augenblicklich autodidaktisch erlernter Zeichensprache (Dialekt unbekannt) schlage ich ein Ziehharmonika-Prinzip vor. Im Reiseführer habe ich gelesen, dass es Markierungsstangen am Abstieg gibt, da müssen wir uns dann von Stange zu Stange durchhangeln. Wenn wir die erste Stange finden, dann sollte das Grausamste überstanden sein. Alle nicken, haben sie aber auch kapiert, was ich damit meine? Nicken sie, weil ich Ihr aktueller Boss bin, nicken sie, weil man bei Kunden immer nickt oder nicken sie, weil sie mein Vorhaben verstanden haben?

    Wir sind sechs Personen, wir sind zunächst alle an einem uns allen bekannten Ort, auch wenn wir deren Lage im „Raum“ aktuell nicht beurteilen können. Nun geht die erste Person, bei uns macht dies Shukra Bir, in die Richtung, wo er den nächsten Orientierungspunkt vermutet. Hat er nach maximal 20 Meter (oder einer kürzeren Sichtweite bei noch schlechteren Bedingungen) noch nichts gefunden, dann geht die zweite Person, meist ich, zum Standpunkt der ersten Person. Dann startet die erste Person wieder die nächsten 20 Erkundungsmeter. Hat er auch dann nichts gefunden, geht die 3. Person zum Platz der 2.Person und die 2.Person zum Platz der 1.Person. Das Spielchen geht so lange weiter, bis entweder der nächste Punkt gefunden ist, oder sich die letzte Person vom allseits bekannten Punkt entfernen müsste. Eventuell markiert diese den letzten Platz eindeutig, dann kann sich das Prozedere noch um eine Abstandslänge verlängern. Ist der letzte bekannte Punkt ein markanter Punkt (z.B. vielleicht eine heute später noch zu findende Markierungsstange), kann sich die letzte Person noch soweit von diesem Punkt entfernen, dass sie zu 100% (!!!) diesen wiederfindet.

    Ist der nächste Wegpunkt gefunden, dann rücken alle strukturiert von hinten nach vorne nach und man geht zum nächsten Wegpunkt von neuem. Dort startet dann die Logik wieder von vorne.

    Wird der nächste Wegpunkt trotz voll ausgebreiteter Ziehharmonika nicht gefunden, dann geht es entweder zurück zum Punkt der letzten Person oder man macht eine Gefahrabwägung zwecks gemeinsamen Verirrens und zieht die Ziehharmonika zunächst etwas zusammen und anschließend wieder auseinander.

    Die Sache verläuft natürlich dynamisch und nicht statisch, d.h. es liegt in der Eigenverantwortung des Einzelnen gegenüber dem Rest der Gruppe, wann er gedenkt seine Position zu verlassen mit der Gewissheit, dass ein „Blöd gelaufen“ im Fehlerfall von allen anderen nicht akzeptiert werden wird.

    Sofern vorhanden, muss jede Person von seinem Vordermann und Nachfolger die Position wissen! Wir wissen nicht, wie lange der Whiteout anhalten wird. Seit wir hier stehen ist er zu 100%. Gehen wir davon aus, dass es besser werden wird, je weiter wir nach unten kommen. Ich gebe meinen Männern unmissverständlich zu verstehen, im Whiteout sofort stehen zu bleiben und für die Dauer des Whiteouts still zu verharren und auf keinen Fall den Kopf zu drehen, wenn nicht die Füße die Richtung des Vordermanns markieren. Andernfalls kann die Zeit beim nächsten Whiteout nicht ausreichen, die Position des Vordermannes in der kurzen verbleibenden Intermezzo-Zeit wieder zu finden. Wenn einer von uns 20m von der Linie der Anderen abweicht, kann es sein, dass die Nachfolgenden an ihm vorbeigehen ohne ihn zu sehen!

    Hoffentlich bekommen wir gegenseitig mit, wenn einer von uns mental abdreht, aber wie gehen wir dann mit dieser Situation um? Aktuell wirken alle konzentriert und dass Jeder Jeden beobachtet.

    Auf ins Gefecht, ich wusste bis jetzt nicht, dass ein Abgrund aus einer weißen Wand bestehen kann.

    Shukra Bir macht die Speerspitze, nach einigen Metern wird die weiße Wand doch etwas löchrig, ich erkenne, dass er am Hang bleibt und nicht nach links den Hang absteigt. Wo bleibt die erste Markierungsstange? Unsere Ziehharmonika ist fast schon ausgereizt und teilweise wird der Schnee bei mir über manche Meter auch hüfthoch. Ich versuche den Schnee so platt zu drücken, dass die Nachfolgenden dort keine Tunnel bohren müssen. Dabei bleibt mir fast nichts Anderes übrig, mich nach vorne in den tiefen Schnee fallen zu lassen, mich wieder auf die Füsse zu stellen und das ganze so oft zu wiederholen, bis die “Tiefstelle” überwunden ist. Man ist in solchen Situationen zu 100% all die Zeit angespannt und versucht mit allen Aufnehmereinheiten so viele Umgebungsinformationen wie möglich zu sammeln, wenn schon die Sehsinne nur bedingt einsetzbar sind.

    Wenn Shukra Bir die erste Stange gefunden hat, dann haben wir gewonnen. Aktuell sehen wir sie noch nicht, aber in einem kurzen Augenblick, wo der Whiteout etwas stärker nachlässt, lässt sich ein senkrechter Grauschleier, etwa 2m hoch schräg voraus erkennen, der dürfte noch mehr als 100m weg sein (Anmerkung des Verfassers: Eine Entfernung in solch einer Situation zu schätzen ist ungenauer wie die Zahl vorauszuahnen bei „Sag mal eine Zahl zwischen 10 und 500”).

    Wie ein Irrer rennt Shukra Bir zur vermuteten Stange und hebt die Hand. Ich gebe mit eindeutigen Hand- bzw. Armzeichen, beide Arme zum “Y” für “Yes” heben und dann mit dem jeweiligen Arm die Richtung anzeigen. So hoffe ich wenigstens, meinen Hintermännern verstehen zu geben, dass wir einen Treffer haben, wo dieser ist und über welchen Weg wir dorthin gelangen sollen. Der kürzeste Weg kann auch der mit dem meisten Schnee sein, und an manch kleinem Kamm liegt manchmal wegen der Verwehungen null Schnee, so wird aus einer Gerade schnell einmal ein U. Ich sage zu Ram prasad der gerade neben mir steht: »The worst thing is done«, er nickt wohlwollend.

    Genau nach dem gleichen Prinzip folgen die nächsten Markierungspunkte, man kann sich einbilden, dass sich die Sicht um eine Idee bessert. Aber wahrscheinlich sind nur die Whiteouts weniger heftig, der Nebel bleibt der Gleiche. Von einer Stange sieht man heute hier oben auf noch über 5300m ü.NN nie die nächste Stange. Aufgrund meiner Handzeichen komme ich mir fast als „Flaggenmann“ vor, aber ich denke, so kann ich den Hintermännern die Ungewissheit in der Situation etwas nehmen.

    Nur was haben wir hier wirklich für Windgeschwindigkeiten, es gibt ja nichts außer den Stangen zur Orientierung, man hat das Gefühl in einem weit gefassten Tunnel oder in einer Wolke mit Innensicht aber null Blick nach außen hin zu sein. Wie aus dem Nichts taucht links in Sinne unserer Laufrichtung talwärts etwas auf, das ich als roter Regenüberzug eines Tagesrucksacks identifiziere. Wie von einer Tarantel gestochen schießt er an uns vorbei und verschwindet nach wenigen Sekunden aus unserem Sichtfeld. Da sind ja Sturmböen bei uns in Deutschland bei einem Sommergewitter nur eine Tempo-30-Zone!

    Aber warum kommt von da ein solcher Überzug?

    Hat da jemand weiter oben seinen Regenschutz verloren?

    Ist da oben überhaupt einer?

    Kann doch gar nicht sein, die werden doch alle so wie wir am Pass abgebogen sein! Und nach uns dürfte doch kaum jemand schon vom Pass gestartet sein. Na ja, da wird wohl einer am Pass oben etwas unvorsichtig seinen Rucksack abgesetzt haben und eine Windbö hat dann den Überhang weggeweht.

    Beim ununterbrochenen Abscannen der Umgebung und Umgebungspersonen kann ich nichts erkennen, dass wir irgendwie in einem Lawinenbereich wären, aber ich kenne die Umgebung außerhalb unseres „Tunnels“ nicht und den Rest muss ich mir aus dem Reiseführer dazu denken. Kaum ist wieder eine Minute vergangen, kommt jetzt ein blauer Rucksackschutz aus der gleichen Ecke wie zuvor der rote Überhang angeflogen, macht kurz zwei oder drei Bauchlandungen links von uns (linksseitig ist die Gegend etwas tiefer liegend), „steht“ wieder auf und verschwindet ganz schnell wieder talwärts im Nichts. Dass kann es jetzt doch nicht sein! Da oben ist doch niemand! Wie können jetzt zwei solche Dinger unterwegs sein? Ich habe doch nichts bemerkt, dass auf einem aktuellen Lawinenabgang hindeuten könnte, kein Grollen in der Luft, keine Druckschwankungen im Ohr, keine „Stoßwinde“. Im letzten Jahr auf der Everestrunde zwischen Gokyo und Machermo, damals auch am 14.Oktober, habe ich ja aus nächster Nähe ein Dutzend an Lawinen erlebt. Man sieht sie noch nicht, aber man hört sie schon (oder man hört gerade eben nichts mehr) oder hat das Gefühl, irgendetwas stimmt jetzt nicht mehr. Aber nichts von den mir bekannten Anomalitäten kann ich wahrnehmen. Dehne meine Sinneswahrnehmungen jetzt auch noch zusätzlich auf eventuelle Lawinenabgänge aus!

    Was mich seit dem Verlassen der Passhöhe an mir selbst verwundert, irgendwie funktioniere ich wie eine Maschine, die im absoluten Überlastmodus läuft, ohne dass der Kreislauf SOS funkt. In dem körperlichen Anstrengungsprofil v.a. wegen der Schneequerungen wäre man doch schon auf 3000m nach ganz kurzer Zeit “liegend” K.o. (zum “stehend” K.o. hätte man dort schon keine Luft mehr). Aber hier bin ich nicht mal richtig außer Atem, so gaukelt es einem wenigstens der eigene Verstand vor. Ich merke aber bei klaren Verstand, dass bei jedem Atemzug der Bauchnabel trotz Brauereigewölbeansatz fast immer an den Rückenwirbeln anstößt, so tief sind die Atemzüge. Es ist fast so, als ob eine Gehirnhälfte zur anderen sagt, “Kümmer Du Dich um das Körperliche, ich mache das Mentale” und dann die andere Gehirnhälfte sagt: “Ich rühre mich schon, wenn es wirkliche Probleme gibt”. Wie lange kann ich diesen Alarmzustand noch unbeschadet durchstehen? Wann gibt es den kompletten Zusammenbruch? Nein, diesen kompletten Zusammenbruch erlaube ich mir nicht!

    Abwechslung und Lichtblicke

    Als ich im weiteren Verlauf nicht weit nach einer Markierungsstange warte, weil Shukra Bir den besten Weg zur nächsten entdeckten Markierungsstange sucht, sehe ich neben unserer Strecke leicht links hinter uns mehrere Schatten, die aus dem Nebel langsam heraustreten und nachdem ich mich noch etwas weiter umdrehe, werde ich fast wie aus dem Nichts von einer Frau ungezwungen auf Englisch angesprochen: »Hi, ich habe Dich schon beim Weg zum Pass gesehen, Du warst der Einzige, der beim Weg zum Pass immer aus der Spur rechtzeitig getreten ist und sich Zeit gelassen hast. Wir sind den Berg nur raufgerannt.«.

    Ich frage zurück: »Wie lange seid Ihr schon seit dem Pass unterwegs, Euer Weg scheint nicht unbedingt eine Abkürzung zu sein?«

    Ich erhalte als Antwort: »Kann ich jetzt gar nicht genau sagen, aber seit einer Ewigkeit suchen wir einen Weg und kommen nicht weiter. Und bei Euch schaut es aus, als ob Ihr den Weg wissen würdet.«

    Ich antworte Ihr: »Wissen tun wir ihn nicht, aber bis jetzt haben wir ihn immer auf Anhieb gefunden. Und ich denke wir werden auch weiter einen Weg finden, der passt. Lauft uns einfach hinten nach, dann kriegen wir das schon irgendwie hin!«

    Am Rande eines abfallenden Hanges an der Markierungsstange stehend erkläre ich ihr: »Siehst Du dort hinten den schmalen senkrechten 2 Meter hohen gräulichen Schatten, dass dürfte die nächste Markierungsstange sein. Oder was ist sonst hier gerade? Es bringt einem jetzt aber nichts direkt den Hang hinab darauf zuzulaufen, denn dann könnte man eine Lawine lostreten.« … »Meist ist es besser am Hang entlang und dann eine Kurve zu laufen.« … »Du siehst da auch Stellen wo kein Schnee liegt. Ich habe festgestellt, dass heute meist 1 Meter neben der linksseitigen Hangkante am wenigsten Schnee liegt. Am rechtsseitigen Hang kannste an der Kante laufen, da ist meist kein Schnee.« Ihren Kopf- und Augenbewegungen zu urteilen, die den Weg beschreiben, den ich zur nächsten Markierungsstange gehen würde, scheint sie meine Worte verstanden zu haben.

    Auch wenn ich jetzt noch weiter im Gespräch mit einer sehr sympathischen Erscheinung vertieft bin, die Konzentration auf meine Gruppe und die Umgebung sollte ich nicht zu sehr vernachlässigen, auch wenn die Frau auf mich einen ruhigen, gefassten, konzentrierten und die Schneesturmsituation im Griff habenden Eindruck macht. Eine rühmliche Ausnahme, wie die nächsten Stunden zeigen werden. Dass bei sehr vielen anderen Trekker(innen) heute Herz und Hirn nicht mehr unbedingt am eigentlich dafür vorgesehen Platz sein werden, von diesen Begebenheiten ist uns aktuell noch nichts bekannt. Nicht selten wird dann das Herz in die Hose gerutscht und das Hirn (zumindest Teile davon) im A... sein.

    Als ich letztendlich weitergehe, Ram prasad hat sich als wartender Verbindungsmann zwischen mir und unserer Gruppe geopfert, sehe ich, dass uns jetzt doch einige Personen folgen. Soll ich jetzt Shukra Bir etwas einbremsen, ich weiß nicht, ob unsere „Neuankömmlinge“ unser Tempo mithalten können, die wirken mit einer Ausnahme irgendwie etwas desorientiert. Ich denke aber, meine Gesprächspartnerin von gerade dürfte das schon managen können. Leute freut Euch auf die zweite Luft!

    Wenige Markierungsstangen später ist talwärts vor uns eine Polonaise an Menschen im Nebel erkennbar, die Menschenpolonaise scheint einer Spur zu folgen, wir haben die talgehende Spur erreicht. Da können wir uns dann hinten anhängen und der Weg ins Tal ist nur noch eine Frage der Zeit. Es dauert nicht lange und wir schließen auf die Gruppe auf und ich sehe, dass vor dieser gut 10 Personen umfassenden Gruppe noch eine weitere längere Schlange sich gen Tal fortbewegt.

    In der Spur oder wenn der gemeine Dreisatz nicht wäre

    Endlich einmal etwas langsamer unterwegs, aber der Blick auf meinem Höhenmesser verrät mir, dass wir immer noch irgendwo auf 5200m sind! Im Schulterblick zurück erkenne ich, dass auch unsere „Zweitgruppe“ noch in Sichtweite nur unwesentlich hinter uns ist, die dürften dann auch erkennen, wie es weiter geht. Aber irgendwie geht es jetzt vor uns sehr zähflüssig voran, suchen die da auch noch die Spur, aber die müssten doch die vorgelagerte Gruppe sehen? Bei einem staubedingten Halt spricht mich mein aktueller Vordermann an (Shukra Bir ist drei Personen vor mir, der Rest unserer Gruppe hinter mir): »Jetzt haben wir es gleich geschafft, noch ein zwei Stunden und wir sind in Muktinath!«

    Etwas verdutzt frage ich Ihn: »Wie lange seid Ihr denn schon seit dem Thorung La unterwegs?«

    Er schaut auf seine Uhr und sagt: »Gut zwei Stunden und drei bis vier Stunden dauert ja der Abstieg bis Muktinath insgesamt!«

    Ich denke mir, wo er Recht hat, hat er Recht und schaue zunächst verdutzt auf meinen Höhenmesser, der zeigt immer noch 5150m an. Ein Blick auf meine Uhr verrät mir, wie haben etwas nach halb Elf Uhr, wir sind kaum 30 Minuten unterwegs. Wir haben in kaum einer halben Stunde eineinhalb Stunden Rückstand aufgeholt! Soll ich ihm jetzt die Wahrheit sagen? Ich entschließe mich dazu und sage zu ihm: »Wenn Ihr in dem Tempo weiter geht, dann seit Ihr nicht vor 22 Uhr in Muktinath!«

    Eigentlich habe ich mich darauf eingestellt, in ein geschocktes Gesicht schauen zu müssen, aber mir steht jetzt ein Gesicht gegenüber, dass in der Ausdrucksweise einem Schluck Wasser in der Kurve gleicht! Was kann man sich unter „einem Schluck Wasser in der Kurve“ vorstellen, eigentlich gar nichts. Und genauso nichtssagend ist sein Gesichtsausdruck. Er hat nichts verstanden, dreht sich um und geht wie ferngesteuert einfach in der Spur weiter. Hab ich den Mann jetzt beleidigt? Hat er überhaupt etwas von meinen Worten kapiert? Oder er hat es einfach nicht hören wollen?

    Extrem gemächlich geht es weiter, kaum alle 30m stehen mir wieder, na ja so langsam habe ich mir den Gang nach unten nun auch wieder nicht vorgestellt. Ich denke mir, dass wird sich schon wieder beschleunigen. Aktuell ist die Steilheit der Spur etwas flacher, manchmal ist der Pfad sogar für manche Meter schneelos. Es geht langsam talwärts, aber es geht immer talwärts, die Sicht ist um keinen Deut besser wie weiter oben, nur die Whiteouts sind nicht mehr da. Die Spur folgt dabei auch den Markierungsstangen und verläuft nicht immer in der direkten Linie, sondern als ob jemand genau weiß, wie man sie vernünftig hier legen sollte.

    Ein fürchterliches Magengefühl

    Wir nähern uns langsam einen längerem Taleinschnitt, der wie eine vergrößerte Halfpipe wirkt, mit der Senke/Rinne in Tal- bzw. unserer Laufrichtung. Inzwischen bin ich von unserer Gruppe der „Frontmann“. Die nächste Markierungsstange ist noch nicht erkennbar und auch der Horizont über der Halfpipe ist nur eintönig grauweiß also absolut nicht vorhanden. Die Menschen vor mir gehen in der Rinne der Halfpipe durch selbige. Nur irgendwas in mir sagt mir ohne Worte unmissverständlich: „Halt Heinrich, Du gehst Da nicht durch, nicht auf dem Weg! Keine Widerrede!“. Ich mache mit meinen Armen eine eindeutige Stoppbewegung und alle hinter mir bleiben stehen, wahrscheinlich ohne zu wissen warum.

    Der hinter mir laufende Ram prasad fragt verdutzt: »Was ist los?«,

    ich antworte: »Irgendwas stimmt hier überhaupt nicht!«,

    Ram prasad: »Warum?«,

    Ich: »Ich geh den Weg auf keinen Fall, den die anderen da gehen, der kann nicht stimmen!«,

    Ram prasad: »Warum?«,

    Ich: »Keine Ahnung, aber ich geh in definitiv nicht! Schau da links 20m oben am Hang, das erste Steinmännchen seit dem Pass und auch noch richtig massiv gebaut und von der Sicht müsste die nächste Stange eigentlich sichtbar sein, wir sehen aber nichts. Der Hang da rechts auf der anderen Seite gefällt mir nicht! Von da ist irgendwas im Busch!«.

    Ich gebe meinen Hintermännern ein Zeichen, dass es hier nicht weitergeht und deute auf das Steinmännchen und sage zu Ram prasad oder Shukra Bir: »Warum ist da oben ein Steinmännchen? Geht der Weg dort oben weiter und wir würden unten einfach durch ein potentielles Lawinengebiet marschieren? Irgendwas in mir sagt, geh da unten nicht durch!« Anscheinend erkennen sie die Ernsthaftigkeit meiner Körpersprache sowie das „mentale Unwohlsein“ und Shukra Bir und einer der Träger machen sich auf, ob vom Anfang der Halfpipe ein Pfad auf den Hügel der Halfpipe zum Steinmännchen geht, kommen aber ohne eindeutiges Ergebnis zurück. Sie meinen, entweder da ist kein Weg, oder der Neuschnee ohne Altschneelage lässt keinen Weg erkennen. Sie vermitteln mir aber das Gefühl, der Weg müsste eigentlich weiter oben verlaufen.

    Wir beschließen einfach einmal stehen zu bleiben und zu beobachten, was die Menschen gut 100m vor uns machen. Wir sehen nur, dass sie kurz stehen bleiben und dann vom Halfpipetal nach links bis auf gut der halben Höhe der Seitenmoräne ausweichen und dort an der Grenze zwischen Schneeauflage und gefrorenen Moränenschutt weitergehen. Von einem Augenblick zum nächsten Augenblick ist mein in dieser Situation nicht nachvollziehbares mentales Unwohlsein gänzlich verschwunden. Ich kann mir aber keinen Reim daraus machen warum und wieso, wenigstens aktuell nicht! Dreh ich da schon hohl und merke es nicht und meine ich könnte es an den anderen sehen, wenn bei denen der Keilriemen schleift? Ich gehe einfach als erster los und wechsle sofort auf die fast Zweidrittelhöhe der linken Seitenmoräne an der Grenze zwischen Schneeauflage und gefrorenen Moränenschutt und alle anderen folgen mir. Nach geschätzten 100-200m in der „Halfpipe“ ist die nächste Markierungsstange am Ende einer Linkskurve zu sehen, ich denke mir der „Originalweg“ könnte jetzt doch oben verlaufen sein. Bestätigung in meiner Vermutung finde ich an der nächsten Markierungsstange. Von dieser Stange sieht man das Steinmännchen aber nicht die vorgelagerte Markierungsstange. Ich kann mir aber in der aktuellen Situation noch keinen Reim daraus machen, warum die Menschen vor mir mitten in ihren Weg diesen Schlenker nach links gemacht haben.

    Auch keinen Reim kann ich mir zunächst daraus machen, warum wir so langsam unterwegs sind. OK, manche vor uns sind etwas unbeholfen mit ihren Stöcken, die gehen halt einfach nicht aus der Piste, Heinrich, musst eben damit leben! Aber: Warum haut es die Leute vor mir und mich auch manchmal einfach nur hin. Gut, die Spur ist jetzt deutlich steiler und glatt ist sie auch, aber das kann doch nicht der Grund sein. Irgendeiner im Umkreis von 50m liegt eigentlich immer, und sie fliegen schon vom Rumstehen um. Ich war doch im letzten Jahr auch auf solch einer Spur unterwegs und da ist niemand gestürzt, was ist diesmal anders?

    Ein deutscher Unfall

    Ich komme gar nicht dazu mir den Grund dazu, zu evaluieren, als ich 100m vor uns etwas sehe und zum hinter mir laufenden Ram prasad sage: »Schau mal da vorne, ein deutscher Unfall!«. Verständnislos fragt Ram prasad zurück: »Ein deutscher Unfall?«, worauf ich ihn antworte: »Oder kannst Du mir sagen, warum jemand auf gut 5000m vor einem Menschenauflauf zwei Stöcke kreuzt? Könnte ja ein Schifahrer auf 5000m ü.NN in die ungesicherte Unfallstelle rasen!«. Als wir näher kommen, sehen wir eine Menschentraube von sicherlich 10 Personen um eine am Boden im Schnee liegende und von ihren Schmerzen gekrümmte Frau, die unter Weinkrämpfen und in deutscher Sprache sprechend unmissverständlich ihre starken Schmerzen kund tut. Eine männliche Person spricht sie auf Deutsch an, dass sie jetzt aus 2 Trekkingstöcken eine Schiene bauen werden, neben ihr liegt eine einfache zusammenbastelbare Alutrage und wenn ich mir die doch sehr ungewöhnliche Lage ihres rechten Fußes betrachte, kann ich mir aus eigener leidvoller Erfahrung ausdenken, dass Minimum das Wadenbein gebrochen ist. Auf 5000m, das wird ein makaberes Unterfangen, hoffentlich darf die Frau ihr Unglück überleben! Ich schaue in das schmerzverzerrte Gesicht der Frau und denke nur noch: Nein, das kann es jetzt wirklich nicht sein! Bitte nicht! Das wird doch jetzt nicht die … sein! Die Frau hat eine große Ähnlichkeit mit einer Person aus einer Gruppe von einer meiner früheren Reisen. Instinktiv schaue ich in die Gesichter der umherstehenden Personen, ob ich unter ihnen ihren Ehemann sehe. Ich finde ihn nicht darunter, ist die Frau doch jemand anders, oder weiß ihr Ehemann noch nichts vom Unglück! Ihr „Aua, dass tut so weh“ lässt mich aber erkennen, dass ihr Regionalakzent aus einer anderen Ecke Deutschlands stammen muss.

    Im kurzfristigen Schockzustand und doch sichtlich erleichtert führe ich meine Hände unweigerlich zum Gebet und hoffe, dass Gott ihr die Chance lässt, diese Situation lebend zu überstehen. (Anmerkung des Verfassers: Spätere Pressemeldungen bestätigen das Überleben, auch wenn in der Presse zunächst von einem deutschen Mann die Rede ist. Aber: Schuhgröße, Kleidung, Aussehen und die Tonlage des „Aua“ passten nicht zu einem Mann). Schlagartig wird mir bewusst, dass ich seit der „weißen Wolke“ unmittelbar nach dem Thorung La Pass die ganze Zeit nur noch als 100% konzentrierte Maschine funktioniert habe, deutlich mehr als eine Stunde immer nur konzentriert, die Umwelt beobachten, die Anderen beobachten, beobachten, wie die Anderen einem selber beobachten, Fehler erkennen, Endscheidungen treffen, Entscheidungen umsetzen deren Erfolgschancen oder Richtigkeit man nicht kennt, Hauptsache entscheiden, Sicherheit verbreiten, nichts übersehen, versuchen Fehler anderer zu verhindern, Risikoabwägungen treffen und vieles mehr und dann alles immer wieder von vorne. Und zu Hause ist es fast unmöglich so viel Konzentration aufzubringen, beim Go-Kart-Fahren zwei absolut fehlerfreie Runden unmittelbar nacheinander hinzulegen. Was ist das jetzt?

    Die primäre und weitere Versorgung des Unfallopfers scheint uns allen gesichert, so dass wir entscheiden, weiter talwärts zu gehen. Ich mache zu Ram prasad mit Blick auf die „Unfallstelle“ eine Handbewegung mit der vor dem Körper hin und her gewedelten Hand und auseinandergezogenen und zusammengepressten Lippen (<=> mit „Nichts Gescheites“, „Au weh“, „Eijeijei“, …), ich weiß zwar nicht, ob es diese Handbewegung in Nepal auch gibt, Ram prasads eindeutige Reaktion und Mimik darauf, zeigen mir aber, dass er gleicher Meinung ist.

    Aber was hat hier passieren können? Die Gründe dazu werden wir im weiteren Verlauf des Abstiegs nur allzu oft noch miterleben dürfen, aber immer mit einem glücklicheren Ausgang. Auch mich hat es schon mehrmals einfach flachgelegt, ich konnte immer irgendwie nicht mehr das Gleichgewicht halten , aber warum? Hab ich da immer auf den Vordermann/-frau geschaut, mich nicht auf den Weg konzentriert? Habe ich immer versucht, ungeschützten Annährungen von Trekkingstockspitzen oder dem Lichtraumprofil wild um sich fuchtelnder Trekkingstöcke von hinstürzenden hilflosen Trekkingstockbesitzern aus dem Weg zu gehen? Stand ich am (Ab-)Hang einfach nicht sicher genug? Und warum ist da letztes Jahr bei gleichen Schneeverhältnissen und Hanglagen nicht passiert? Was läuft hier schief, weiter oben ging es doch auch problemlos und auch die Träger haben ihre Schlittschuheinlagen? Mit Stöcken haut es die Anderen noch wesentlich öfters hin!

    Was passiert denn hier noch alles?

    Beim inzwischen schon immer ungeduldig werdenden Warten in der steilen Spur darauf, dass es vorne mal wieder irgendwann weiter geht, wird mir der Grund für die Stürze schnell bewusst und auch die Abstellmaßnahme(n) dazu: es liegt am schmelzenden Schnee! Schmelzender Schnee, hier bei deutlich unter 0°C? Ja der Schnee schmilzt, aber nur unter den Schuhsohlen, und meist nur beim Rumstehen! Steht man nicht tief in der Spur, dann bildet sich aus dem Schnee ein geschmolzener “Schmierfilm” zwischen Schuhsohle und Schnee und dann ist es dort absolut glatt. Stockbenutzer treten wegen der zusätzlichen Verteilung der Belastung auch auf die Stöcke dann mit noch weniger Belastung auf die Schuhsohlen auf, die Verzahnung in der Spur ist geringer. A- und AA-Schuhe, Letztere benannt nach dem Wort von Kleinkindern, wenn ungewollt das große Geschäft verrichtet wurde, oder die Sommerbereifungen von so manch Einem/Einer haben ein weiches wenig verzahnendes Profil, verschlimmern also den Effekt. Und zu allem Übel kommt auch noch der Abstand innerhalb der Spur von meist nur einen Meter zum Vordermann/-frau dazu. Der Bewegungsablauf erfolgt also wissentlich v.a. nur mit dem Verstand und kaum intuitiv. Weiter oben hatten wir oft viele Meter Abstand zum Nächsten, ich kann mich nicht erinnern, immer genau auf den nächsten Schritt geachtet zu haben, ich war irgendwie immer mental schon ein paar Schritte weiter. Was funktioniert jetzt anders?

    Es bleibt mir nichts anderes übrig, Ich muss mich mit der Thematik auseinandersetzen. Ich erinnere mich daran, dass ich bei meinem Arbeitgeber Schulungen zu Ergonomie und Arbeitsphysiologie mache und zähle Eins und Eins zusammen. Warum habe ich da nicht gleich daran gedacht!

    Da wären die Probleme mit den Trekkingstöcken: Sie stören einfach den unterbewusstseinsgesteuerten intuitiven Bewegungsverlauf und ersetzen ihn oft durch einen verstandsgesteuerten, immer auf den nächsten Schritt bedachten, Bewegungsablauf. Der übliche Winkel Ruhesehachse der Augen zum Lot der Kopflängsachse beträgt 10-15° (<=> 10-15° zur Horizontalen, wenn man den Kopf gerade halten würde). Da der Hinterkopf meist schwerer als der vordere Bereich des Kopfes ist, halten die meisten Menschen aus Gleichgewichtsgründen in entspannter Haltung den Kopf um 5-10° nach vorne gebeugt. In entspannter Haltung ergibt dies zusammen eine zwischen 15° und 25° zur Horizontalen nach unten verlagerte Sehachse. Bei einer Augenhöhe von 1,5m ergibt das etwa einen Abstand von 5m bis die Augen im zentralen Sehfeld den Boden sehen. Und in diesen Abstand sollten sich in schwieriger Lage die Füße bzw. das “Gefahrsteuerobjekt“ des Vordermanns befinden. Bei 1m Abstand befindet man sich im „Verstandsteuermodus“, man muss sich immer fürchterlich auf die vor einem lauernde “Gefahr” konzentrieren und liegt doch dann manchmal im Schnee. Im 5 Meter Abstand läuft es sich wie von selbst, das Unterbewusstsein regelt alles (richtig) ohne gezieltes Zutun.

    Aber was hilft einem jetzt die beste Theorie, hinter mir höre ich schon wieder einen Notleidenden, der verzweifelt versucht, die Auswirkungen seines Sturzes auf seine (zweibeinige) Umwelt zu verringern. Instinktiv springe ich hangseitig aus der Spur und werfe mich in den Schnee, in der Hoffnung dort auf kein hartes Hindernis zu stoßen. Ich sehe noch im Augenwinkel, wie die Person mit ausgestrecktem Bein an meinem „ursprünglichen“ Standplatz vorbeirauscht. Zum Glück war niemand von meiner Gruppe als Hindernis dazwischen. In unmissverständlicher Zeichensprache gebe ich ihm zu verstehen, nie mit ausgestreckten Beinen hinzufallen, sondern zumindest die Beine anzuwinkeln. Wenn er mit einem seiner ausgestreckten Beine in meinen unvorbereiteten Standfuß (den ich beim Stehen hier meist nie 100% durchstrecke, manchmal geht es aber ohne Durchstrecken nicht) in 20 -30cm Abstand über den Boden rauscht, dann dürfte die Frau von weiter oben mit dem gebrochenen Bein zu mir sagen: „Willkommen im Klub!“. Und jetzt muss ich ihm auch noch beim Aufstehen helfen, da er mit angeschnallten Stockschlaufen und Trekkingstöcken bei dieser Tätigkeit hilfloser als ein gestrandeter Wal wirkt. Aber mit dieser Hilflosigkeit hat er bei der Trekkingstockmafia heute hier am Berg wirklich kein Alleinstellungsmerkmal.

    Langsam merke ich, dass aus der ursprünglichen Konzentration auf das „Situation-überstehen-müssen“ eine Konzentration auf ein „Was-passiert-denn-hier-noch-alles“ wird. Wenn ich auf meinen Höhenmesser schaue, dann sind wir erst bei 4900m angelangt. Wir haben noch 1200 Höhenmeter vor uns! Noch nicht einmal ein Drittel ist geschafft! Mir wird bewusst, dass es in diesem langsamen Tempo unmöglich weitergehen kann, wir müssen schneller vom Berg runter. Ich spiele ernsthaft mit dem Gedanken hier die „Villarica“-Methode anzuwenden, aber dazu haben wir mit unserem einzigen Eispickel zu wenig von dieser Sorte. Ich ordne diese Möglichkeit in der Prioritätenliste unter „wenns wirklich nicht mehr anders geht“ ein.

    Aber was ist die „Villarica“-Methode?

    Menschen die am schneebedeckten Vulkan in Mittelchile schon oben waren, dürften sofort wissen, was damit gemeint ist. Aufgrund der Schneequalität dort über bis zu 1600m abwärts ist es viel zu gefährlich im Zick-Zack oder in der Direttissima abzusteigen. Stattdessen setzt man sich in den Schnee und rutscht über immer wieder selbst neu geschaffene Bobbahnen oder in der Bobbahn des Vordermanns im Schnee den Berg hinunter. Der Eispickel dient als Bremse, indem man ihn mit beiden Händen fest in der Hand hält. Den Griff bodenparallel nach vorne, eine Hand am Griff, die zweite Hand zwischen Griff und Hauen und die Hauen parallel zum Oberkörper. Aber wir haben hier nur einen Eispickel, ich müsste als auch der Bremser für die mir unmittelbar nachfolgenden Leute meiner Gruppe sein. Ob ich da 400-500kg zusätzlich bremsen kann? Wenn da ein falscher Fels zwischen linkem und rechtem Bein auftaucht, dann gibt es nicht nur Ärger mit dem Kindergeld, sondern ich könnte durchaus zu einer gespaltenen Persönlichkeit entarten! Wenn dann jemand aus einem Schadensersatz prozessierfreudigen Land stammt und aus dort schadensersatzirrelevant geltenden Dilettantismus diese Spur in der Direttissima als die Normalspur aufgefasst, ich will mir die Folgen daraus gar nicht ausmalen.

    Bummelzüge und Beratungsresistenzen

    Ich sage zu Shukra Bir und Ram prasad, dass ich nicht mehr hinter den ganzen Bummelzügen nachlaufe und an geeigneten Stellen überholen werde und dann in meinem Tempo weitergehen werde. Da ich mir noch nicht ganz sicher bin, ob meine jetzt ausgedachte Abstiegsmethode auch so funktioniert, verkneife ich mir es noch, ihnen zu sagen, dass sie es mir in gleicher Art nachmachen sollen. Nur ein Überholen von Personen stellt sich gar nicht so einfach dar. Die Spur ist immer so eng und keiner kommt auf die Idee, sie hangseitig zu verbreitern, damit es auch leichter für Personen in Normalspurweite funktioniert. Talseitig besteht sonst immer die Gefahr in ein nur oberflächlich festgetretenes Loch zu treffen. Schon seit geraumer Zeit versuche ich immer hangseitig die Spur um eine Schuhbreite zu verbreitern. Dies hat zur Folge, dass sich hinter mir die „Einbrechlöcherquote“ deutlich verringert.

    Soll ich jetzt mit voller Penetranz einfach überholen? Ich entscheide mich dagegen, aus der Angst heraus, jemand könnte später behaupten, ich sei schuld, dass er/sie an dieser Stelle gestürzt sei. Es ist aber schon erstaunlich, wenn man bereits auf gleicher Höhe mit der Vorderperson steht, diese diesen Umstand eigentlich problemlos bemerken müsste, dass diese sich nur noch fester an die Stöcke klammert und ohne Blickontakt sturr nach vorne blickend unbeirrt weitergeht. Frei nach dem deutschen Volkslied: “Uf der nepalschen Eisenbahne ...”.

    Aber irgendwann findet sich dann doch eine Möglichkeit und ich bin in meiner „Einheit“ ganz vorne. Dann laufen aber die nächsten Schritte schon wie geschmiert, sicherheitshalber versuche ich sehr betont mit der Hacke aufzutreten, damit sich das Profil besser im festgetretenen Schnee verhakt. Auch die Geschwindigkeit verändert sich zum Schnellen rasant, kein Vergleich mehr zu vorher, ich fühle mich absolut sicher, auch im steilen Gelände, absolut kein Vergleich mehr zu vorher. Aber nach dem Aufholen von hundert Meter Vorsprung ist es vorbei mit der Herrlichkeit, der nächste Bummelzug besetzt das Gleis. Die letzten Meter vor dem letzten Waggon gemütlich auslaufend, erkenne ich im Blick zurück, dass meine Guides und Träger meinem Vorbild folgen, zwar wesentlich vorsichtiger, aber sie versuchen es wenigstens.

    Während eines nun wieder notwendigen Streckenhaltes sage ich zu Shukra Bir »Jetzt seht ihr, wie es hier eigentlich funktionieren sollte. Macht es einfach so wie ich oder versucht es wenigstens in dieser Richtung. Ich weiß, mit Euren Bereifungen und Traglasten ist es nicht so einfach wie mit meinem Antarktisprofil, aber probiert es einfach! Das machen wir jetzt so, bis der Schnee aufhört!«. Ich erkenne in den jetzt wieder ins Spitzbübische übergehenden Gesichtern meiner Begleiter, dass sie von der bisherigen ewigen Warterei auch schon richtig genervt waren.

    Da ich sehe, dass die Frontpersonen unseres aktuellen Bummelzuges einen sehr unbeholfenen Eindruck machen, versuche ich vor dem nächsten Steilstück zum Triebkopf unseres Zuges zu mutieren, sprich ich setze mich an die Spitze. Denn das die jetzt da vorne zu dritt händchenhaltend seitlich die Spur abrutschen, und fast nach jedem Meter hinfallen, da stellt es mir die Haare zu Berge. Da 40m vor mir schon der nächste Bummelzug „wartet“, bleibe ich vor dem Steilstück stehen, stoße dabei aber auf Unverständnis in den Gesichtern der hinter mir Laufenden, auch wenn ihre Gesichter ansonsten absolut desorientiert wirken.

    Ich sage zu den trekkingstockbewaffneten Händchenhalteclan hinter mir »Look at me and do it in the same way!« und starte nach der inzwischen erprobten Manier den Abstieg an der Steilstelle. Aber bereits nach wenigen Schritten höre ich, dass hinter mir wieder die Trekkingstöcke klappern. Unterhalb der Steilstelle angekommen sehe ich, dass sie wieder händchenhaltend das Steilstück abrutschen, meist fallend, mal halbstehend, irgendwie mich wundernd, dass sie sich dabei nicht auch noch gegenseitig verknoten.

    Richtig frustriert denke ich mir: Leute, man hat den Kopf nicht nur, damit es nicht in den Hals reinregnet! Auch sehe ich, dass meine Begleiter auch nur noch den Kopf über diese Darbietung schütteln. Sind die Leute hier denn absolut beratungsresistent? Haben die denn nicht den Ernst der Lage kapiert, der Schneesturm ist vorbei, aber wir haben noch einen verdammt langen Weg vor uns? Auch ihr Gelächter beim Stürzen und Hinfallen kann ich nicht einer Albernheit aufgrund der Unterbeschäftigung beim Warten einordnen, irgendwie habe ich das Gefühl, hier sind viele schon auf der Stufe nach einem Nervenzusammenbruch angekommen. Kaum noch zugänglich für Informationen nach außen hin, irgendwie nur noch an den nächsten Augenblick denkend und fürchterlich davor Angst habend, etwas falsch zu machen.

    Aber auch mich legt es nach dem Überholen des nächsten Bummelzuges noch einmal in die Bauchlage, ich finde aber sofort den Schuldigen. Ich sollte beim Arbeiten nicht unbedingt den schönen Mädels nachschauen, auch wenn die sonst zu erblickenden Geländeformen kaum Abwechslung bieten. Es wird die letzte Bauchlandung am heutigen Tage und auf der ganzen Reise bleiben.

    Interessanterweise sehe ich, dass außer meinen Begleitern niemand unserem Vorbild folgt, obwohl ersichtlich ist, dass unsere Vorgehensweise um ein Vielfaches schneller ist. An der nächsten größeren Steilstelle versuche ich wieder mich an die Spitze der Kolonne zu setzen und will wieder warten, dass die Steilstelle frei ist, denn die Beholfenheit der Menschen hat sich nur unwesentlich verbessert. Dann spüre ich, dass jemand mit einem Trekkingstock, ungeschützte Spitze ohne Schneeteller voraus, auf meine Schulter klopft. Instinktiv schütze ich mit meiner linken Hand mein Auge und versuche die gefährliche Stockspitze aus dem Gefahrenbereich zu bringen. Dies gelingt mir auch, aber nach dem Umdrehen macht mir der zugehörige Stockbesitzer nonverbal durch leichtes Schlagen des linken Stockes in Hüfthöhe deutlich, dass ich doch gefälligst weitergehen soll. Ich denke mir zunächst, dass er froh sein soll, dass er sich nicht im Lichtraumprofil meiner rechten Hand befindet, rege mich aber wegen dieser Gedankenlosigkeit nicht weiter auf. Eigentlich sollte doch jeder wissen, dass man jemanden mit dem Stock auf Augenhöhe falls überhaupt dann nur mit den Griffen voraus antippt. Jetzt habe ich aber vor, dass ich an dieser Steilstufe zusätzlich zum letzten Mal mit meinen Schuhhacken zusätzlich Stufen in den Schnee haue, vielleicht kapieren sie es dann.

    Aber auch diese Liebesmüh hätte ich mir sparen können, es gilt leider wieder: „the same procedure as last time“. Ich denke nur noch, dass ich mir hier doch nicht unnötig mein Schuhwerk ruiniere und den Leuten geht diese Hilfestellung sowas von restlos am Arsch vorbei. Was meine Schuhe betrifft, wundert es mich sowieso, dass bis auf eine kleine Stelle an der Schuhspitze der Schuh außen immer noch komplett trocken ist, innen ja sowieso. Aber weiter unten im Tal wird der Schnee schon noch nasser werden. Aber wie weit geht der Schnee noch hinab? Wir haben hier immer noch eine große Nebelwolke, es gibt keinen Horizont zu sehen. Ich denke mal mindestens bis Chabarbu (oft auch Muktinath Phedi genannt), und das müsste doch aus der aktuellen Erinnerung bei 4200m ü.NN liegen, die aktuelle Pegelstandsmeldung ist aber immer noch irgendwo bei 4700m ü.NN.

    Um Missverständnissen vorzubeugen, muss ich auch einmal die Lanze über nicht wenige brechen, die hier nach unten gehen. Man hat das Gefühl, sie wissen was sie tun, haben verstanden, dass Trekkingstöcke ohne Schneeteller heute äußerst kontraproduktiv sind und tragen sie in den Händen. Sie kommen meist auch sturzfrei durch Steilstellen und wirken auch durchaus entspannter. Was ich aber vermisse, fast niemand übernimmt Eigeninitiative oder übernimmt die Führung eines Bummelzuges. Sind die beim Beginn des Aufstiegs noch homogenen Gruppen inzwischen kunterbunt auf viele Bummelzüge verteilt? Es ist auch schnell erkennbar, wenn jemand mit Erfahrung vor einem geht. Das Abbremsen in der Spur ist meist nicht abrupt, sondern geschieht mit einer Vorankündigung. Dies erleichtert das Nachfolgen ungemein. Aber anscheinend ist sich keiner des immer akuter werdenden zeitlichen Problems bewusst, wenn es weiter so langsam nach unten geht. Dafür muss man aber den Spurlegern, sowohl beim Aufstieg und auch beim Abstieg, bis jetzt ein wirklich großes Lob aussprechen. Riesen Danke an Euch dafür!

    Irgendwann wird es auch nach dem gefühlt einhunderstem Kochrezept langweilig. Seit geraumer Zeit unterhalten sich zwei Frauen vor mir in einem deutschsprachig angelehnten Regonalakzent über die unterschiedlichsten Kochrezepte und wie schlecht sie heute drauf wären. Dass ich eigentlich schon seit einer gefühlten Ewigkeit überholen möchte, interessiert sie nicht die Bohne. Sie schaffen es bei ihren zwischenzeitlichen Sturzeinlagen diese so zu organisieren, dass wieder die komplette Spur inklusive Umgebung versperrt ist. Erst nach mehreren Versuchen, beim zwischenzeitlich notwendigen Wiederaufstehen haben sie sich nicht helfen lassen wollen, genehmigen sie den Überholvorgang.

    Im weiteren Verlauf des Abstiegs verlieren wir ziemlich rasch an Höhe, wir müssen zwar viele weitere Bummelzüge überholen, die Wartezeiten dazu halten sich aber in Grenzen und auf diese eindrängend wollen wir ja auch nicht wirken. Wieder einmal am Ende eines Bummelzuges angelangt, fällt mir an meinem Vordermann auf, dass er nur einen kleinen Rucksack trägt. Er wirkt als Einheimischer, alle vor ihm scheinen nicht Einheimische zu sein. Ich schätze ihn als Guide der vorgelagerten Gruppe ein und frage ihn, »Deine Gruppe da vor Dir?«, er antwortet, »Nein, ich weiß nicht wo meine Leute sind, hast Du sie gesehen?«, darauf ich, »Wie schauen sie denn aus?«, darauf er »Keine Ahnung!«. Sofort kommt mir mein Spruch von gestern zu meiner Begleitmannschaft in den Sinn: „… damit Ihr wisst, wie ich morgen ausschaue …“



    Ende von Teil 2 (der Text darf leider nur 50.000 Zeichen lang sein).
    Zuletzt geändert von Bergzebra; 21.01.2016, 18:36.
    Schaffe Dir Erinnerungen bevor Du nur noch diese hast!

    Nur heute wärmt uns das Feuer, gestern war es Holz und morgen wird es Asche sein.
    (Autor unbekannt)

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    • Bergzebra
      Erfahren
      • 18.02.2013
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      • Meine Reisen

      #3
      [NP] Mittendrin im Schneesturmunglück rund um den Thorong La Pass am 14.10.2014

      Teil 3: Muktinath Phedi Teehaus - Muktinath

      Nur rund um mein linkes Auge und am rechten Auge dann auch nur mit zeitlicher Verzögerung kündigt sich das nächste Unheil an. Bisher hatte ich diesem Umstand noch keiner Bedeutung beigemessen. Eigentlich wie fast alle hier bin ich wegen der schlechten Sichtbedingungen ohne Gletscherbrille unterwegs, vom Gefühl könnte man ja meinen, manche Vollmondnächte sind heller als heute der helligste Tag.

      Seit geraumer Zeit schlägt irgendetwas immer gegen mein linkes Auge. Als Übeltäter entlarve ich einen horizontal liegenden Eiszapfen, der sich an meine Augenbrauen angehängt hat und jetzt bei fast 2cm Durchmesser immer versucht am Augapfel anzuklopfen. Wie bringe ich nun diesen Kameraden am linken Auge und auch dem kleineren Ableger am rechten Auge wieder los, die nerven inzwischen schon gewaltig? Abschmelzen mit den Handschuhen gibt nur eiskalte Finger. Mit der Hand zerdrücken klappt nicht. Einfach abreißen bringt nur eine augenbrauenlose Gesichtshälfte, über die Schmerzen dazu möchte ich jetzt gar nicht reden. Ram prasad ist mit meinem aufgegebenen Gepäck und auch meinem Tagesrucksack weiter oben, da hätte ich eine Kombizange drin, soll ich auf ihn warten? Oder habe ich etwas anderes, um die Eiszapfen zu zerstören. Ich denke nach: Ersatzakku nein, Handschuhe haben kein Metall oder Hartplastik, Jackenreißverschluss könnte sprichwörtlich ins Auge gehen, Gürtel der Trekkinghose – ich mach jetzt hier keinen Striptease, Münze aus dem Geldbeutel – ob das mit Handschuhen funktioniert, Taschenmesser ist im Rucksack bei Ram prasad. Uhrband, das könnte funktionieren. Es hat eine schneidenhafte Kontur und ich könnte es so umbiegen, dass ich die ganze Sache außerhalb des Gefahrenbereichs rund um das Auge machen könnte. Mit der Seite des Metallarmbands ist zwar ein gehöriger Druck notwendig, die Eiszapfen lassen sich in kleine Stücke teilen und komplett beseitigen. Wieder ein Problem weniger.

      Eigentlich ohne besondere Vorkommnisse geht es immer weiter nach unten, meist in langen Serpentinen. Damit der Abstand zu meinen Mannen nicht zu groß wird, warte ich an manchen Spitzkehren wieder auf sie bzw. wir geben uns durch gegenseitige Handzeichen zu erkennen, den Standort des Anderen jeweils gesehen zu haben. Und irgendwann ist es dann soweit, am Ende des Nebels sind unterhalb von mir einige Steinhütten mit angelagerten Terrassen erkennbar. Das müssten jetzt die Teehütten von Chabarbu bzw. Muktinath Phedi sein. Ich bin gleich auf 4200m Höhe angekommen, die Sichtbedingungen sind aber nur unwesentlich besser. Shukra Bir und der Rest dürften noch etwas weiter oben sein.

      Zwischenstation in Chabarbu (Muktinath Phedi)

      Wenn ich auf die Uhr schaue, dann ist es etwas nach 13:30 Uhr, es sind also gut 3,5 Stunden seit dem Pass vergangen, ohne Bummelzüge hätte dies alles wahrscheinlich mindestens eine Stunde weniger gedauert. Es befinden sich nur wenige Personen rund um die Hütten. Soll ich hier warten oder die Reise gleich fortsetzen? Hunger habe ich keinen, anstrengend ist es inzwischen sowohl psychisch als auch physisch nicht mehr. Ich entschließe mich aber zu warten, denn ich weiß nicht, wie erschöpft meine Mannschaft ist und so ewig lange dürfte es bis Muktinath auch nicht mehr dauern.

      Als Erstes werden meine Kleidungsschichten wieder in die Originallage zurückversetzt, v.a. meine langen Liebestöter waren schon seit geraumer Zeit nur noch auf Halbmast, gehalten vom Schritt meiner Trekkinghose. Sie wären aber wenigstens sauber geblieben, wenn ich mir bis jetzt in die Hose gemacht hätte.

      Ich beschließe in irgendeiner der Hütten mir ein Fanta zu gönnen, meine Thermoskanne mit warmem Wasser ist ja mit Ram prasad noch auf der Strecke. Im Eifer des Gefechts haben wir gar nicht mehr daran gedacht, dass ich meinen Tagesrucksack schon längst wieder selber tragen könnte. Beim Bestellen der Fantaflasche kommen mir Selbstzweifel, ob das Verschwinden in einer Hütte eine so gute Idee war. Wenn jetzt Shukra Bir und der Rest einfach außen vorbeigeht und mich nicht sieht, warten die dann? Zügig versuche ich mit der gekauften Flasche wieder nach außen zu gehen, am Türeingang kommt mir aber schon Shukra Bir freudestrahlend entgegen.

      Ich sage: »Tschuldigung, ich hätte draußen warten sollen, war keine gute Idee in einer Hütte zu verschwinden!«

      Er antwortet: »Kein Problem, wir machen doch hier sowieso Pause, habe ich Dir doch gestern gesagt!«

      Auch wenn ich all meine Hirnwindungen und Verstaubungsreservoire in der Kopfgegend durchsuche, diese Information muss sich bei mir aber verdammt gut versteckt haben, denn gesagt hat es mir Shukra Bir sicherlich. Ich sage gleich zu Shukra Bir, dass er für alle Tee bestellen soll, auf meine Kosten, was er auch umgehend macht. Er bietet mir das mitgeschleppte Lunchpaket an, ich gebe ihm aber zu verstehen, dass ich überhaupt keinen Hunger habe und es dann später in Muktinath essen werde. Oder, falls jemand von der Mannschaft Hunger hat, dann darf er es selbstverständlich vertilgen.

      Nur wie es mit meinem aktuellen Gesamtgewicht ausschaut, da gibt es doch so manche Zweifel. Die Handschuhe sind tropfnass, alle oberen inneren Kleidungslagen durchgeschwitzt. Bei meiner Daunenjacke habe ich das Gefühl, das ist inzwischen keine Daunenjacke mehr, sondern ein Warmwasserboiler, sie fühlt sich richtig schwer an.

      Es dauert doch etwas, bis auch noch der Letzte von uns eingetroffen ist. Wir sind vollzählig und irgendwie ramponiert schaut auch keiner von uns aus, aber jeder, einschließlich meiner einer zusatzwassermassenmäßig doch wie ein begossener Pudel. Dafür gibt es aber nochmal eine Runde heißen Tee für den Magen. Und erstmals seit über 10 Stunden kann ich mich an eine Mauer bzw. irgendwo anlehnen, eine Abwechslung nach über 600 Minuten zu 100% der Zeit mit Ausnahme der Schneeeinlagen nur auf beiden Beinen zu stehen.

      Ich frage Shukra Bir: »Wie lange dürfte es heute bei den Bedingungen noch bis nach Muktinath dauern?«

      Shukra Bir antwortet: »In deinem Tempo eine Stunde!«

      Ich sage zu Shukra Bir, dass ich mir vor der Hütte etwas die Beine vertrete, in der Hütte ist es mir einfach zu viel geschäftiges Treiben. Kaum bin ich aus der Hütte heraus, sehe ich Richtung Pass blickend Leute die Spur zu den Teehäusern herabkommend, Leute die ich wenige Minuten vor meiner Ankunft hier in Chabarbu überholt habe. Man sind die grausam langsam! Da ist es ja bereits dunkel, bis die ersten Leute, die wir oben überholt haben, hier ankommen. Nicht gut. Gar nicht gut. Ganz und gar nicht gut! Auch in der Hütte waren die Mehrzahl der Trekker, wie schon zuvor am Pass, meist mit sich selbst schweigend im Gespräch vertieft. Da müssten wir wahrscheinlich ewig warten, bis wir unsere “Zweitgruppe” von der Zeit der Markierungsstangensuche weiter oben wieder zu Gesicht bekommen würden.

      Nachdem sich von uns alle erholt haben, starten wir gegen 14:15 Uhr mit dem Weiterweg hinab nach Muktinath.

      Die Sicht hat sich inzwischen etwas gebessert, statt 100-200m sind es inzwischen doch schon gut 300m Sichtweite geworden. Beim Blick aus dem doch etwas dunklem Teehaus habe ich vor wenigen Minuten noch fast gedacht, es scheint die Sonne, so war der Helligkeitsunterschied zwischen Innen und Außen. Es war aber nur eine optische Täuschung.

      Nun stellt sich für mich die Frage: Handschuhe wieder anziehen oder nicht. Sie sind restlos durchnässt, auch bei meiner Daunenjacke vermute ich die aktuelle Winddichtheit auch nur noch aufgrund neu eingelagerter Wassermassen im Daunenbereich. Mit nassen Handschuhen weitergehen wäre ja nicht das Problem, aber entweder sind meine Hände jetzt gewachsen oder die Handschuhe sind geschrumpft. Schon das Anziehen des ersten linken Handschuhs artet in einem Gewaltakt aus, da bin ich aber auf der rechten Hand noch handschuhlos. Wie soll das jetzt beim rechten Handschuh mit bereits angezogenem linken Handschuh auf der Hand funktionieren? Irgendwie rutsche ich mit den Fingern immer wieder ab. Ich entscheide den weiteren Weg zunächst ohne Handschuhe zu probieren. Ich habe mir zwar in Jugendjahren einmal Erfrierungen an beiden Handrücken eingehandelt gehabt, eine Sache, die ich niemanden wünsche, und bin somit eigentlich vorsichtig, die aktuellen Bedingungen lassen mich aber einen Versuch wagen. Glücklicherweise hat meine Daunenjacke auch eine Fleecestulpe im Ärmel, diese kann dann die Handrücken behelfsmäßig abdecken. Da muss ich eben genau aufpassen, ob es so funktioniert. Die Bedingungen sind aber aktuell so, dass es fast windstill ist und nur noch ein sporadischen Schneefall vorherrscht.

      Weiter nach Muktinath

      Bei der Ankunft in Chabarbu ist mir eigentlich keine Spur aufgefallen, die talwärts führt, ich muss aber auch eingestehen, ich habe nicht explizit danach Ausschau gehalten. Die einzelnen Teehäuser hier sind terrassenförmig nebeneinander gebaut, umfriedet immer mit einer niedrigen Steinmauer. Verbunden sind die Areale immer über Treppen. Nur an diesen Treppen ist es inzwischen spiegelglatt, da hilft auch ein übertriebener Hackeneinsatz mit den Schuhen nur noch sehr bedingt. Also heißt es jetzt sich vorsichtig die meist wenigen Stufen auf das Niveau des nächsttiefer liegen Teehauses zu hangeln. Der Verlauf der Spur ab jetzt unterscheidet sich in seinem Verlauf deutlich von der Spur oberhalb von Chabarbu. Waren es oberhalb meist dem Gelände angepasste Serpentinen, oft auch mit kleinen Loops im Gegenhang, so geht es hier in gleichmäßigem Gefälle fast in gerader Linie weiter, Richtungsänderungen meist nur in langgezogenen Kurven. Etwaige Hindernisse werden in direkter Linie angesteuert und dann auf kürzestem Wege überwunden bzw. durchschritten. Auf der Strecke ist es fast leer, ok ein paar Bummelzugfans muss man immer mal einkalkulieren. Aber es findet sich zwischendurch auch eine kleine Gruppe, wo der Frontmann trotz Stockeinsatz ein sauberes Tempo vorlegt und die folgenden Personen ohne Stürze problemlos im 5 Meter Abstand folgen können. Ich erspare mir hier zunächst das Überholen, erst als die Gruppe eine kleine Pause macht, nehme ich diesen Vorgang in Angriff.

      Inzwischen ist die Sicht soweit gediegen, dass man erstmalig auch etwas von der linken Bergflanke in Laufrichtung sieht. In Richtung Muktinath ist es immer noch eine weiße Wand, zwar jetzt mit mehr Respektsabstand, aber einen Horizont haben wir immer noch nicht. Eigentlich hätte ich erhofft, hier zumindest die gegenüberliegende Bergwelt im Ansatz und somit auch die Schneegrenze sehen zu können, aber davon gibt es aktuell noch überhaupt nichts im Angebot. Also gehe ich jetzt einmal davon aus, dass der Schnee bis Muktinath so weiter geht. Ein Schnee, der meine Schuhe immer noch fast gänzlich von eindringenden Wassermassen verschont, nur die Schuhspitzen sind etwas angefeuchtet. Auch der weitere Abstieg ohne Handschuhe funktioniert, die Hände fühlen sich warm an, auch meine Handrücken machen auf mich einen gut durchbluteten Eindruck.

      Ohne Komplikationen geht es immer weiter talwärts, nur vereinzelt sehe ich Menschen, der eingeschlagene Weg dürfte also nicht unbedingt falsch sein. Nur jetzt gibt es mit der Spur jetzt ein kleines Problem, es gibt eine Abzweigung und welche Spur ist nun die Richtige davon? Ein Weg geht geradeaus weiter, der zweite Weg geht im rechten Winkel ab in Richtung der linken Hangseite. So jetzt ist guter Rat teuer, geradeaus oder links, ist eine Spur nur eine Sackgasse, eine ungewollt verlängerte Abkürzung oder geht nur ein Weg nach Muktiniath? Der „Austretungszustand“ beider Wege ist gleich, meine Mannen sind deutlich hinter mir, warten und fragen? Am Übergang zum Nebel sehe ich gut 200m gerade voraus, dass sich anscheinend Schatten nach links bewegen. Als Folge entscheide ich mich, der linken Spur zu folgen und nicht zu warten. Es hat den Anschein für mich, die Spur geradeaus ist eine Sackgasse. Nach 100m auf der neuen Spur ist für mich deutlich ersichtlich, ich bin auf dem richtigen Wege, denn rechter Hand ist immer mehr ein quer zum Hang verlaufender tiefer Taleinschnitt zu erkennen. Vermutlich war beim Erstanleger der Spur die Sicht schlechter und er erkannte den Irrweg erst kurz vor der Abbruchkante. Eigentlich habe ich vermutet, die Spur würde von Muktinath nach Chabarbu angelegt worden sein, der aktuelle Irrweg überzeugt mich aber vom Gegenteil. Hätte ich an der Abzweigung eine Schneeanhäufung machen sollen, um die Spur geradeaus zu „sperren“? Da ich aber sehe, dass der Irrweg nur aus einer Gerade ein Dreieck macht, erspare ich mir den Rückweg.

      Von der zeitlichen Abfolge (wer war zuerst da) der zwei folgenden Talquerungen bin ich mir nicht mehr sicher. Eine Talquerung ist über eine Hängebrücke, die zweite erfolgt mittels Durchquerung des Tals und Querung eines Bachbetts über Steine, auf der gegenüberliegende Seite geht es dann an einer Wasserleitung entlang.

      Später, nach einer weiteren Linkskurve taucht dann das oberhalb von Muktinath gelegene große Hinweisschild über den Ort auf und erstmals ist der Nebel weg, zumindest unterhalb von 3600m ü.NN. Es ist einige Minuten nach 15 Uhr, zu sehen ist eine immer noch tiefliegende Wolkendecke. Aber die aktuelle Schneegrenze ist deutlich zu erkennen. Es liegt auch noch in tieferen Lagen unterhalb von Muktinath Schnee, nochmals unterhalb davon ist es nur noch grau, dies müsste dann eigentlich in Richtung Kali Gandaki Tal sein. Linkerhand ist einsam und verlassen ein umfriedeter Bereich zu sehen, mit ein paar älter wirkenden Gebäuden, dass dürfte dann der Tempelkomplex von Muktinath sein. Den habe ich mir eigentlich größer und pompöser vorgestellt und einen größeren Verbindungsweg vom unterhalb des Tempelkomplexes zu erkennenden Hauptort Ranipauwa (der gern auch Muktinath genannt wird) ist auch nicht zu sehen.


      Achtung FOTOMONTAGE !!! Bild ist erst am Folgetag an gleicher Stelle in der Nähe des Muktinath Tempels entstanden. Es soll grob zeigen, wie die Sichtbedingungen am 14.10.2014 gegen 15 Uhr waren - Himmel war heller - Hügel im Tal wesentlich dunkler.


      Das gleiche Bild im Original am 15.10.2014 gegen 8 Uhr, links ist unverkennbar in 42km Entfernung der 8167m hohe Dhaulagiri I zu sehen.


      Um in den Hauptort gelangen zu können, müssen wir den Weg entlang der Mauern des Tempelkomplexes nehmen. Die Schneehöhe hat sich zwar inzwischen deutlich verringert, aber es wird auf den bereits benutzten Pfaden glitschig und langsam treten auch erste Matschpfützen auf. Wenn jetzt der Matsch die Überhand gewinnt, dann ist es vorbei mit den trockenen Wanderstiefeln, denn an irgendeiner Naht findet der Matsch immer seinen Weg ins Schuhinnere. Aber da muss man jetzt durch. Schwieriger als erwartet wird der Weg aus Schnee, Matsch und Glatteis bis zum „Stadttor“ von Muktinath. Hier erwartet uns schon ein Uniformierter und fragt Shukra Bir: »Seid Ihr über den Pass ? Ich hab schon gedacht, der ist heute geschlossen. Bis jetzt ist noch fast niemand hier angekommen!«

      In Muktinath angekommen

      Im tiefsten Matsch und kaum auszuweichenden 10cm tiefen Wasserpfützen auf und neben der Straße, wobei auf und neben der Straße eigentlich nicht zueinander abgegrenzt werden können, geht es weiter in den Ort hinein. Der Ort wirkt bei unserer Ankunft touristisch wie ausgestorben. Nur Einheimische sieht man, oft die Schneemassen der letzten 24 Stunden sortierend. Es werden Eingänge wieder zugänglich gemacht und die (Flach-)Dächer vom Schnee befreit, ein in irgendeiner Art organisierter Winterdienst ist nicht erkennbar. An manchen Flachdächern sind es manchmal auch mehr als 5 Personen, die mit kleinen Schaufeln bewaffnet versuchen, den Schnee vom Dach zu werfen.

      Einquartiert werde ich heute im Royal Mustang Hotel, insgesamt werden wir da nur zwei Gäste sein. Im Ort gibt es wegen des Schnees keinen Strom. Meine Mannschaft macht es sich im Hinterhof “gemütlich”, zugfrei und ein Dach über dem Kopf. Noch vor dem Betreten des Hotels spricht mich Shukra Bir an: »Am Checkpoint haben sie mir gesagt, dass sie 12 Touristen und 40 Nepali vermissen. Ein Guide hat mich auch angesprochen, dass ihm ein Kunde und zwei Träger abgehen!«. Ich antworte verdutzt: »Reden die vom Pass hier oder der Annapurnaregion oder ganz Nepal?« und erhalte zunächst keine Antwort von Shukra Bir, so dass ich weiter spreche: »Bis zum Pass war es zwar nicht unbedingt einfach aber später geht doch eine Spur hinab. Da wird es noch spät werden bis heute alle eintreffen!«

      Im eiskalten Hotel, die Stromradiatoren funktionieren wegen des Stromausfalls nicht, habe ich zunächst freie Auswahl beim Zimmer, ich scheine der einzige Gast zu sein. Endlich wieder ein Dach über den Kopf und die ganze Sache einmal etwas setzen lassen. Ausgepowert fühle ich mich überhaupt nicht, aber die nächsten Dinge nehme ich in etwas gemütlicherer Geschwindigkeit vor.

      Zunächst muss ich erst einmal raus aus den nassen Sachen, meine Daunenjacke gleicht einer wassergefüllten Plastiktüte mit Inhalten tierischen Ursprungs. Statt 1,5kg hat sie jetzt sicherlich 4-5kg. Als Shukra Bir fragt, wann es den Fünf-Uhr-Tee geben solle, deute ich ihn an, dass sie alle sich zuerst einmal sortieren sollten und die nassen Sachen trocknen und dann halt irgendwann mal den Tee machen können. Eine Stunde Hin oder Her ist egal. Ich frage Shukra Bir weiter: »Braucht Ihr warmes Wasser zum Händewaschen?«, er antwortet, »Hast Du welches?«, ich erwidere, »Geh einmal zum Handwaschbecken im Flur und halte deine Hände über das Becken!«. Ich nehme meine Daunenjacke , halte sie über seine Hände und winde sie etwas aus, lauwarmes Wasser ergießt sich über seine Hände und Shukra Bir schaut mich sichtlich perplex an. Ich sage zu ihm »No! I’m not a warm brother!«.

      Weitere Kleidungsstücke von mir sind zwar auch durchnässt, aber nicht so schlimm wie meine Daunenjacke. Im Tagesrucksack ist es sogar relativ trocken. Und meine Reisetasche hat ihren Inhalt gänzlich trocken gehalten, auch wenn es geheißen hat, der Reißverschluss sei nur wasserabweisend . Die Strümpfe in den Schuhen sind wegen des Schneematsches etwas klamm geworden, die Schuhe selbst sind innen aber noch trocken. Bei meiner Trekkinghose entscheide ich mich, diese nach dem Ausziehen der langen Liebestöter wieder anzuziehen. Wegen der Regenhose ist sie nur an manchen Stellen etwas schweißnass, bei 100% Luftfeuchte hilft bestes Gore-Tex nix. Und im getragenen Zustand trocknet sie heute ohne Ofen oder Heizung noch am schnellsten.

      Nachdem ich meine Nässlichkeiten etwas sortiert habe, erscheint Skukra und fragt: »Hast Du für uns etwas zum Anziehen, es ist bei uns alles nass!«. Ich gehe mit ihm zu meiner offenen Reisetasche und sage zu ihm: »Bedient Euch!«. Aus Pietätsgründen verzichte ich später auf ein Foto von manch einem von meiner Mannschaft, kann aber dazu sagen: Gut 1,6m große Rais schauen in deutscher XXL-Kleidung manchmal schon etwas drollig aus.

      Der Fünf-Uhr-Tee lässt dann nicht mehr lange auf sich warten, das Teegebäck ist mein erstes Essen seit heute 4 Uhr. Jetzt bemerke ich auch, dass noch ein Gast im Hotel ist. Er bringt einen ganzen Schwung an nassen Kleidern, seine nassen Schuhe und seinen nassen Rucksack in den Essraum und ein Bediensteter des Hotels versucht an einem Heizstrahler eine Gasflasche anzubringen, scheitert aber zunächst an den unpassenden Anschlüssen.

      Als einzige Gäste kommen wir Beide schnell ins Gespräch. Es stellt sich heraus, dass er kaum 60km von mir entfernt wohnt und er heute auch über den Pass gegangen ist. Alleine und ohne Träger. Bei ihm sei die ganze Ausrüstung nass und er müsse sie irgendwie jetzt trocken bringen. Es wird in den nächsten Stunden eine abwechslungsreiche Unterhaltung. Er erzählt mir, er konnte im letzten Jahr nur mit Verzögerung den Pass machen, weil es so geschneit hatte. Nachdem ich ihn erklärt habe, dass ich letztes Jahr rund um den Everest das gleiche Problem hatte, sage ich zu ihm: »Tja und wieder ist Oktober der 14.!«

      Wir sprechen auch über die Bedingungen am heutigen Tag und sind einhellig der fränkischen Meinung (ans Hochdeutsche angelehnt): „Jeden Tag braucht es Das nicht!“, der Franke meint aber hier eher „Gut es einmal erlebt zu haben, aber einmal im Leben reicht“. Den tatsächlichen Informationsgehalt der Aussage über die vermissten Personen, können wir beide nicht einordnen. Vor allem auch deshalb nicht, weil im Ort keine anormale Hektik vorherrscht und auch sonst nichts darauf hindeutet, dass etwas organisiert wird oder organisiert werden muss.

      Das Abendessen schmeckt wie immer vorzüglich und Shukra Bir erzählt wie stolz er ist, dass wir alle ohne die kleinste Blessur hier angekommen sind und wie stolz er ist, für solch eine auf Sicherheit bedachte Agentur arbeiten zu dürfen. Ich gönne es ihm von ganzem Herzen, dass er sich fühlt, als wäre er jetzt 2,5m groß. Er sagt, er könne nur aktuell nicht bei der Agentur anrufen und die Passüberschreitung mitteilen, da wegen des Stromausfalls auch kein Handy funktioniert.

      Meinem Vorschlag, morgen nicht wie geplant nach Jomsom weiterzugehen und stattdessen einen Schwenk über Kagbeni zu machen, ist er nicht abgeneigt. Wir können dabei unseren Sicherheitstag nutzen. Kagbeni liegt 1000m tiefer, bis Mittag dürften wir nach dem Besuch des Muktinath Tempel dort eintreffen und den Nachmittag dann zum Trocknen und Reinigen der Ausrüstung nützen. Tags drauf würde es dann nicht nur bis nach Jomson, sondern gleich noch weiter bis nach Marpha gehen.

      In fast schon überheblicher Manier sage ich zu Shukra Bir: »Bis jetzt war die Tour Arbeit, ab jetzt beginnt der Urlaub!«.

      Dass diese Aussage, was den “Urlaub” betrifft, meist nur körperlich möglich sein wird, psychisch in den nächsten Tagen aber noch ganz andere Hämmer auftreten werden und diese nicht an den nun folgenden Wanderstrecken oder Umgebungsbedingungen liegen werden, von dieser Erkenntnis sind wir am heutigen Abend noch weit entfernt.

      Oder doch näher als einem lieb ist?

      Tagesdaten: Start: Thorong La High Camp (4890m ü.NN) - 5:15 Uhr, Ziel: Muktinath (3760m ü.NN) - 15:30 Uhr, ↑526m, ↓1670m


      Weiter geht es auf der Reise unter http://www.hber.de/Annapurna/Muktinath_-_Marpha/muktinath_-_marpha.html.

      Die gesamte Reise könnt Ihr lesen unter http://www.hber.de/Annapurna/annapurna.html

      Ein persönliches Nachwort zur Reise gibt es unter http://www.hber.de/Annapurna/Nachwort/nachwort.html
      Zuletzt geändert von Bergzebra; 21.01.2016, 18:41.
      Schaffe Dir Erinnerungen bevor Du nur noch diese hast!

      Nur heute wärmt uns das Feuer, gestern war es Holz und morgen wird es Asche sein.
      (Autor unbekannt)

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      • moeTi
        Erfahren
        • 24.07.2014
        • 447
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        • Meine Reisen

        #4
        AW: [NP] Mittendrin im Schneesturmunglück rund um den Thorong La Pass am 14.10.2

        Sehr sehr viel Text, dennoch habe ich deinen Bericht nun schon zum zweiten mal gelesen. Danke für deine Erfahrungen!
        http://www.outdoorlogbuch.de

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        • beigl
          Fuchs
          • 28.01.2011
          • 1666
          • Privat

          • Meine Reisen

          #5
          AW: [NP] Mittendrin im Schneesturmunglück rund um den Thorong La Pass am 14.10.2

          Sehr beeindruckend, danke.
          Ich, bloque: Projekt Zentralalpenweg

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          • ninja
            Neu im Forum
            • 12.10.2015
            • 9
            • Privat

            • Meine Reisen

            #6
            AW: [NP] Mittendrin im Schneesturmunglück rund um den Thorong La Pass am 14.10.2

            Sehr spannend zu lesen, danke für den Einblick!
            Living outside the couch zone - Mein Outdoor-Blog auf:
            www.outcozo.com

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            • -CaRsTeN-
              Fuchs
              • 11.04.2002
              • 1256
              • Privat

              • Meine Reisen

              #7
              AW: [NP] Mittendrin im Schneesturmunglück rund um den Thorong La Pass am 14.10.2

              Hallo,

              Toller Bericht, wobei du sicherlich lieber auf diese Erfahrungen verzichtet hättest.

              Sei froh dass dir nichts passiert ist.

              Ich durfte in 2008 den Thorong La bei Traumwetter einen Tag nach einem starken Schneefall überqueren. Das war damals schon anstrengend teilweise durch den mehr als Kniehohen gespurten Schnee zu wandern.


              Gruesse
              Carsten
              http://www.bergwandern.net
              Beschreibung von Tages- und Mehrtagestouren in den Ostalpen sowie ein umfangreicher Bericht über die Besteigung des Kilimanjaro und zur Annapurna Runde in Nepal

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              • Bergzebra
                Erfahren
                • 18.02.2013
                • 285
                • Privat

                • Meine Reisen

                #8
                AW: [NP] Mittendrin im Schneesturmunglück rund um den Thorong La Pass am 14.10.2

                Zitat von -CaRsTeN- Beitrag anzeigen
                Toller Bericht, wobei du sicherlich lieber auf diese Erfahrungen verzichtet hättest.
                Wer würde das nicht.

                Was ich mir bis zu diesem Tage nicht im entferntesten vorstellen konnte, dass soviele Menschen mental in einen beratungsresistenten Totalausfall ausarten können. Im Zeitraum Start vom Pass bis Finden einer Spur könnte ich es ja nachvollziehen, aber doch nicht danach. Soviele Menschen mit auf Gucklochgröße geschlossenen Scheuklappen. Ich hatte mich mental schon darauf eingestellt, dass mir jemand sagt: "Ja mei, dann halt im nächsten Leben!". Aus manchen Gesichtsausdrücken hat man es schon herausinterpretieren können.

                Es gibt aber auch nicht wenige Ausnahmen, in diesem Artikel http://www.schwaebische.de/region_artikel,-Ueberleben-im-Schneesturm-_arid,10107931_toid,441.html wird z.B. der von mir beschriebene "deutsche" Unfall auf über 5000m beschrieben.

                Nur wenn mehr als 150 Trekker (plus 250 Einheimische) unterwegs sind, dann sollte doch, wenn die Gauß'sche Glockenkurve der Normalverteilung noch seine Gültigkeit hat, zumindestens ein paar Personen mit deutlich erweiterten Bergerfahrungen dabei sein. Während des kompletten Abstiegs habe ich z.B. nie jemanden (von meiner nepalesichen Begleitmannschaft und mir abgesehen) bemerkt, der an einer Spitzkehre auf jemanden gewartet hätte. Wir hatten vereinbart, dass der Erste in der Spur (was unterhalb 5000m meistens ich war) an einer übersichtlichen Spitzkehre wartet und die Hand hebt. Weiter ging es dann erst, wenn alle mit Handheben reagiert hatten (also die Vollzähligkeit überprüft war). Die 3 Träger herauszufinden war einfach, denn diese waren die 3 einzigen mit Tragekörben. Mein Guide hatte meinen knallorangen Rucksack, die Farbe hatte auch fast ein Alleinstellungsmerkmal und mein Assistenzguide trug neben dem Zelt der Begleitmannschaft meine Reisetasche. Tja und wenn Arcteryx bei der Taschenkonstruktion mitdenkt, dann machen sie so lange Trageriemen, dass diese auch noch über den Erstrucksack reichen. Sprich, keine 2.Person hat solch eine "Tragekonstruktion", die Person ist also leicht von den anderen zu unterscheiden. Nur sollte man sich die aktuellen(!) "äußeren Eigenheiten" bereits einprägen, bevor das Kind in den Brunnen fällt.

                2 Jahre vor dem Thorong La hatte mir ein Guide bei einer "einfachen" Wanderung im venezolanischen Dschungel erzählt: "Orientiere Dich nicht an dem, was Du meinst schon einmal gesehen hast, sondern daran, was in die Situation nicht reinpasst!" Und ein ganz blasser kurzfristig sichtbarer dünner gerader senkrechter Schatten in gut 50m Entfernung kommt in natürlicher Form auf 5300m eigentlich nicht vor. Dies kann also nur eine Markierungsstange sein, auch wenn man diese eindeutig erst 2-3 Whiteouts und 20-30m weiter zweifelsfrei erkennen konnte.

                Und falls jemand lästern sollte, 5 Einheimische, damit ein Westler die Annapurnarunde machen kann: Man sichert damit 5 Einheimischen gut 1/3 (ohne Trinkgeld) ihres Jahreseinkommens. Der Stellplatz vor der Lodge für das Zelt ist teurer als ein Lodgezimmer (manche Lodgebetreiber halfen sogar beim Zeltaufbau) und die außen liegenden Lieferantenklos sind meist sauberer (da seltener frequentiert) und vor allen geruchsneutraler als gebäudeinnenliegende Stehklos.

                Und: Lieber mit Babysitter (Guide) im nepalesichen Hochgebirge unterwegs, als Zeit Lebens gefriergetrocknet!
                Schaffe Dir Erinnerungen bevor Du nur noch diese hast!

                Nur heute wärmt uns das Feuer, gestern war es Holz und morgen wird es Asche sein.
                (Autor unbekannt)

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                • Torres
                  Freak

                  Liebt das Forum
                  • 16.08.2008
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                  #9
                  AW: [NP] Mittendrin im Schneesturmunglück rund um den Thorong La Pass am 14.10.2

                  dass soviele Menschen mental in einen beratungsresistenten Totalausfall ausarten können.
                  Oh, das ist gar nicht so selten, wenn man mit Menschenmassen/größeren Gruppen zu tun hat. Ich habe Deinen Bericht mit Spannung gelesen und fand Deine Überlegungen hochinteressant. Es erfordert allerdings auch ein sehr eigenständiges Denken, so unterwegs zu sein, wie Du das warst. Das ist bei Gruppen nicht häufig gegeben - bewusst oder unbewusst. Viele Menschen sind schnell verleitet, die Verantwortung abzugeben, wenn andere voranlaufen und auf eigene Entscheidungen zu verzichten, auch wenn sie recht hätten. Und nicht selten wird ein gesundes Sicherheitsbedürfnis als übertrieben angesehen, so dass die Furcht, sich zu blamieren, dazu kommt.

                  Insofern ist Dein Bericht sehr lehrreich, sich auch auf Eventualitäten vorzubereiten. Dass Du im Team unterwegs warst, und wie Du damit umgegangen bist, fand ich übrigens auch gut.
                  Oha.
                  (Norddeutsche Panikattacke)

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                  • nimrodxx
                    Fuchs
                    • 10.03.2009
                    • 1662
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                    #10
                    AW: [NP] Mittendrin im Schneesturmunglück rund um den Thorong La Pass am 14.10.2

                    Zitat von Bergzebra Beitrag anzeigen
                    Was ich mir bis zu diesem Tage nicht im entferntesten vorstellen konnte, dass soviele Menschen mental in einen beratungsresistenten Totalausfall ausarten können.
                    Bei Flugzeugunfällen sagt man, das nur ungefähr 7% der Insassen noch logische Gedanken fassen können und rationale Entscheidungen treffen können, der Rest reagiert "instinktiv" und macht im besten Fall noch das was man Ihnen zubrüllt. Das geht aber nur mit Erfahrung, die vermutlich nur wenige Beteiligte bei einer Katastrophe haben dürften. Ich fürchte du bist dabei tatsächlich die Ausnahme

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                    • Bergzebra
                      Erfahren
                      • 18.02.2013
                      • 285
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                      #11
                      AW: [NP] Mittendrin im Schneesturmunglück rund um den Thorong La Pass am 14.10.2

                      Ein afrikanisches Sprichwort lautet: "Die Angst vor der Gefahr ist meist größer als die Gefahr selbst"

                      Zitat von Torres Beitrag anzeigen
                      Insofern ist Dein Bericht sehr lehrreich, sich auch auf Eventualitäten vorzubereiten. Dass Du im Team unterwegs warst, und wie Du damit umgegangen bist, fand ich übrigens auch gut.
                      Auf viele Eventualitäten kann man sich nicht vorbereiten (denn dann greift gerne das obige Sprichwort). Man kann sich aber darüber Gedanken machen, was in bestimmten Situationen nicht passieren sollte bzw. darf. Warum treffen manche Fallschirmspringer mit traumwandlerischer Sicherheit genau den einen einzigen Baum in 1km Umkreis, obwohl sie sich die ganze Zeit darauf konzentriert haben gerade dieses nicht zu tun. Unser Körper will eben immer genau dorthin, wo die Augen hinschauen. D.h. bei Gefahr die Lösung dort suchen, wo man hinwill und nicht dorthin schauen, wo die Gefahr herkommt.

                      Auch wenn die Verantwortung als Arbeitgeber bei der Agentur in Kathmandu liegt, ich darf es mir nicht erlauben, nur wegen meines Ansinnens an einem bestimmten Tag über den Pass zu wollen, dass die Gesundheit der Mannschaft unnötig gefährdet wird.

                      Aus meinem Reisebericht (auf der Homepage) an einem der Folgetage:
                      ...

                      Nachdem Abendessen frage ich unseren Koch Ram prasad, woher er denn wisse, dass ich aus Franken komme. Er schaut mich verdutzt an und ich gebe ihn zu verstehen, dass seine Apfelringe als Nachspeise (mit frischen Äpfeln vom Hotel) dem fränkischen Originalrezept und Geschmack verdammt Nahe kommt.

                      Im Anschluss sitzen wir, wie eigentlich an fast allen Tagen, noch in lockerer Runde zusammen. Heute stellt sich in der Runde die Frage: Was hätten wir gemacht, wenn wir oben am Pass den Weg nicht sofort gefunden hätten. Die Antwort dazu war bei uns allen einheitlich: dann hätten wir das Zelt aufgebaut, die Öfen angeheizt und gewartet bis es besser wird. Und jeder ist der Meinung, dass dies nur dann funktionieren kann, wenn keiner verloren geht und dessen war sich jeder bewusst. Was hilft das schönste Zelt, der beste Kocher, Essen für eine Woche, wenn der Mann mit dem Treibstoff abgeht. Ich sage in die Runde, dass wenn ich am Berg abgegangen wäre, es dort oben wahrscheinlich das geringste Problem gewesen wäre. In Kathmandu angekommen wäre aber mein Fehlen dann das größte Übel. Ich spreche in die Runde: »Was hätte ich Euren Frauen, Eltern oder Kindern sagen sollen, wenn einer von Euch es nicht überlebt hätte, sicherlich nicht: “Äh war nicht so geplant, ist halt passiert, shit happens!”«
                      Schaffe Dir Erinnerungen bevor Du nur noch diese hast!

                      Nur heute wärmt uns das Feuer, gestern war es Holz und morgen wird es Asche sein.
                      (Autor unbekannt)

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                      • Torres
                        Freak

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                        • 16.08.2008
                        • 30726
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                        #12
                        AW: [NP] Mittendrin im Schneesturmunglück rund um den Thorong La Pass am 14.10.2

                        Ja, ich hatte den Rest auch gelesen.

                        So soll es sein. Ich bin allerdings schon mit vielen Gruppen unterwegs gewesen und da waren es meistens Lippenbekenntnisse. Es ist mir nur ein Mal passiert, dass wirklich konsequent auf alle geachtet wurde, und das hing dann allerdings auch an der Führungsperson (ein BW Offizier), und da haben dann auch alle mitgemacht, egal wie verlockend oder wie brenzlig die Situation war.
                        Oha.
                        (Norddeutsche Panikattacke)

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                        • Mika Hautamaeki
                          Alter Hase
                          • 30.05.2007
                          • 3979
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                          #13
                          AW: [NP] Mittendrin im Schneesturmunglück rund um den Thorong La Pass am 14.10.2

                          Vielen Dank für den Eindrucksvollen Bericht. Habe viel glernt!
                          So möchtig ist die krankhafte Neigung des Menschen, unbekümmert um das widersprechende Zeugnis wohlbegründeter Thatsachen oder allgemein anerkannter Naturgesetze, ungesehene Räume mit Wundergestalten zu füllen.
                          A. v. Humboldt.

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                          • Bergzebra
                            Erfahren
                            • 18.02.2013
                            • 285
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                            • Meine Reisen

                            #14
                            AW: [NP] Mittendrin im Schneesturmunglück rund um den Thorong La Pass am 14.10.2

                            Wenn ich sie schon immer wieder im Bericht erwähne, dann soll meine Begleitmannschaft auch einmal im Bild zu sehen sein:

                            Beim gemeinsamen Kuchenvertilgen am Abschiedsabend in Hille. Träger Bibash Rai muss als Fotograf herhalten




                            Halt an einer Chatara zu Beginn der Annapurnarunde. Wir waren eigentlich immer gemeinsam unterwegs, nicht unterteilt nach Guide+Kunde und Rest.




                            Beim Versuch die Lasten der Träger zu tragen, mein Respekt für ihre Leistungen. Die blaue Tasche ist mein "aufgegebenes Gepäck". Zum wiederholten Male hatte mein Guide meinen Fotoaparat "geklaut", da die Kamera noch auf ISO 100 eingestellt war, sind die Bilder in den frühen Morgenstunden in Tatopani etwas verwackelt (ich konnte ja seinen "Diebstahl" nicht ahnen).




                            Und für mich der schönstgelegene Zeltplatz auf der Annapurnarunde (oberhalb von Ghusang bei Manang).

                            Schaffe Dir Erinnerungen bevor Du nur noch diese hast!

                            Nur heute wärmt uns das Feuer, gestern war es Holz und morgen wird es Asche sein.
                            (Autor unbekannt)

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                            • Bergzebra
                              Erfahren
                              • 18.02.2013
                              • 285
                              • Privat

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                              #15
                              [NP] Annapurnarunde - Mitten im Schneesturm rund um den Thorong La am 14.10.2014

                              Für "Ortsunkundige" die Berge auf den "Zeltplatzfoto" von meinem letzten Post:



                              v.l.n.r: Annapurna II (7937m), Annapurna IV (7525m), Annapurna III (7555m), Gangapurna (7455m).

                              Die Hütte selbst liegt etwas über 4000m. Der Schlauch links am gelben Faß ist die Wasserversorgung, ist direkt in den Felsen gelegt. Die Person mit Hut in Bildmitte zwischen den beiden Zelten bin ich.
                              Schaffe Dir Erinnerungen bevor Du nur noch diese hast!

                              Nur heute wärmt uns das Feuer, gestern war es Holz und morgen wird es Asche sein.
                              (Autor unbekannt)

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                              • Bergzebra
                                Erfahren
                                • 18.02.2013
                                • 285
                                • Privat

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                                #16
                                AW: [NP] Mittendrin im Schneesturmunglück rund um den Thorong La Pass am 14.10.2

                                Da wahrscheinlich sehr viele von Euch nur den Bericht hier auf outdoorseiten.net lesen und nicht auf meine verlinkte Homepage klicken, hier das Nachwort zu dieser Reise (wie es auch auf meiner Homepage steht). Wissenstand dieses Nachworts ist der Zeitpunkt des ursprünglichen Verfassens dieses Berichts zum Jahreswechsel 2014/2015.


                                Nachwort zur Reise und vor allem zum 14.10.2014 am Thorong La

                                Mir wurde die Chance gegönnt, das Unglück am Thorong La körperlich und seelisch unverletzt überleben zu dürfen.

                                Viele hatten dieses Glück nicht und manche haben den Traum oder die berufliche Notwendigkeit an diesem Tag den 5416m hohen Thorong La Pass zu überqueren mit dem Wertvollstem in ihrem Leben bezahlt, mit ihrem eigenen Leben.
                                Du kannst nicht verhindern,
                                dass die Vögel der Besorgnis über deinen Kopf fliegen,
                                aber du kannst verhindern,
                                dass sie sich auf deinem Kopf ein Nest bauen.
                                (Martin Luther)

                                In meinem Reisebericht habe ich die Geschehnisse so und mit diesen Wissensständen wiedergegeben, wie ich sie an diesem Tag erlebt habe. Für meine fünf nepalesischen Begleiter, denen ich mit meinem Reisebericht nochmals meinen allergrößten Dank und Respekt aussprechen möchte, und für mich waren die z.T. dramatischen Ereignisse an diesem Tag rund um den Pass nicht erkennbar. Es war zwar bei Weitem nicht ein Tag wie jeder andere, aber aus den Verhalten der Personen, die wir am Unglückstag am Berg begegnet sind, haben sich für uns keine “besorgniserregenden” Problematiken erkennen lassen, die auf eine Katastrophe hindeuten ließen.

                                Oft haben wir uns auf der Tour an den darauffolgenden Tagen nach dem Thorong La unterhalten, ob wir etwas übersehen haben, ob wir etwas hätten merken müssen. Wir haben dazu nichts gefunden. Wir haben nichts gesehen, haben nichts bemerkt oder am Verhalten von Personen ableiten können, dass hier Lawinenabgänge waren oder bereits Unglücke eingetreten waren. Aus der Presse ist auch nicht die Uhrzeit dazu zu entnehmen, sprich wir wissen gar nicht, waren z.B. die dort genannten Lawinenabgänge vor uns, nach uns oder genau während unseres Auf- und/oder Abstiegs.

                                Was hat nun wirklich zu diesem großen Unglück geführt? An Spekulationen dazu kann und will ich mich nicht beteiligen. Schnell getroffene Aussagen in der Presse sind nicht immer zielführend und greifen die Problematik erst dann auf, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Wie immer ist es ein Mix aus verschiedenen Einflußfaktoren, die erst alle zusammen zu solch einem Unglück führen können. Und alles erst wirklich verschlimmert hat der starke Nebel, denn dann war auch in wetterspezifischen Phasen der “Entspannung” die Sicht und Orientierungsmöglichkeiten eher bescheiden. Für Außenstehende stellt sich dann sofort die Frage: warum dann überhaupt an den Start gehen, wenn eh schon Nebel ist? Die Sicht vom Thorong La High Camp am Morgen in Richtung Thorong Phedi war für die Nachtzeit ohne Einschränkungen, bis gut 5200m nach oben war sie für die Schneefallverhältnisse “voll in Ordnung”, nur um den Pass und weit bis nach Muktinath hinab war starker Nebel. Auch wird sich ein Außenstehender die Frage stellen: wenn es schon so “bescheiden” auf dem Weg zum Pass ist, warum dann nicht gleich umkehren? Die Frage lässt sich einfach beantworten: wer läuft gerne im arschkalten Gegenwind zurück, wenn der übliche Abstieg eigentlich nur Rückenwind hat.

                                Man sollte aber immer bedenken, solch eine Trekkingtour geht durch ein mehr als hochalpines Gebiet, wo auf sehr engem Raum größte Höhenunterschiede auftreten und der Charakter der Tour nach dem Ort Manang bis nach Muktinath nicht mehr ein gemütliches hochalpines Wandern darstellt. Ebenfalls sollte man als unbeteiligter Außenstehender bedenken, dass sich alle Touristen schon für viele Tage außerhalb ihrer üblichen Komfortwohlfühlzonen befinden und sich auch mit den v.a. ab den Ort Manang auftretenden Problematiken der Verarbeitung von Einflüssen der Höhe über 4000m auseinandersetzen und verarbeiten müssen.

                                Wenn man aus der Presse die “Ergebnisse” eines Trekkingtages erfahren muss, dann stellen sich einem unweigerlich die Frage, warum hat man am Tag, als man mittendrin war, nichts davon mitbekommen? Man (bzw. Ich) beobachtet in solch einer Situation doch das Verhalten anderer Menschen und versucht daraus Gefahrenpotentiale oder Unwägbarkeiten ab- und Gegenmaßnahmen dazu einzuleiten.

                                Warum haben wir beim Abstieg nie eine Hektik bei Hunderten von Menschen erlebt? Es war eigentlich immer eine richtige Gemütlichkeit, kaum jemand hat mit jemanden gesprochen. Kein Mensch hat ein Verhalten an den Tag gelegt, dass auf katastrophale Ereignisse hindeuten würde. Nur ein einziges Mal ist eine mehrköpfige Gruppe aus der Spur getreten und hat eine Pause gemacht, weil die schwächsten in der Gruppe nach meinem Dafürhalten Probleme aufzeigten.

                                Warum ist der “Buschfunk” komplett ausgefallen? Die Passquerung war auf den Tag genau ein Jahr nach den Ereignissen 2013 bei meiner Everestrunde (siehe diesen Forumsbeitrag), auch hier waren massive Schneefälle. Schon vor der “letztjährlichen” Gefahrenstelle gab es in Windeseile die Info, dass fünf Personen verschüttet, jetzt aber schon wieder befreit worden sind. In der damaligen Situation gab es für den weiteren Abstieg sofort Personen (Guides, Gruppenmitglieder, ...), die für viele die Findung der richtigen Entscheidung abnahmen. Aussagen wie “rechts gehen ist kein Problem” oder “immer unter einen Felsvorsprung warten” oder dass Zeigen des richtigen Weges mit den Stöcken verdeutlichen einerseits die Dramatik der Situation aber auch den Vorteil, dass einem das Treffen einer dann falschen Entscheidung genommen wird. Nichts davon gab es rund um den Thorong La beim Abstieg zu sehen. Man hatte fast das Gefühl, da ist eine einzige in viele Teilbereiche zerrissene Menschenschlange an Lemmingen im Schafherdengehorsam unterwegs. Nur wo waren dann die Hütehunde?

                                Woher kamen all diese leeren nichtssagenden Tunnelgesichter bei so vielen Menschen? Wie groß war der Einfluß der (ungewohnten) Höhenlage auf ihre situativen Entscheidungskompetenzen?

                                Warum haben Menschen technische Ausrüstungen wie GPS, Höhenmesser, Apps, Pulsmesser usw. dabei und sind dann unfähig an solch einem Tag den gemeinen Dreisatz zu kapieren, geschweige denn anzuwenden? Wenn man für 250m Höhenabstieg zwei Stunden braucht, wie lange braucht man dann für 1700m? Und wie spät ist es dann, wenn aktuell noch nicht einmal 11 Uhr ist? Man muss die Frage dann noch erweitern: Wie viele Stunden läuft man dann im Dunkeln, wenn um 17:30 Uhr Sonnenuntergang ist? Ist man bereit im Dunkeln zu laufen? Ab wann bekommt man einen riesen Hunger?

                                Warum versuchen Menschen nicht aus dem Verhalten anderer ihr eigenes Verhalten zu optimieren? Wenn jemand beim Abstieg sehr deutlich schneller als man selbst ist, liegt es daran, dass diese Person vielleicht den Wahnsinn mit dem Löffel gefressen hat? Warum ist man selbst so langsam und manche sind so schnell? Kann man selbst nicht schneller oder lähmt die Angst vor einer falschen Entscheidung das ganze Verhalten?

                                Meine Begleitmannschaft und ich hatten aber einen entscheidenden Vorteil im Vergleich zu den Allermeisten an diesem Tag am Pass: wir hatten ein “Backup”, eine zweite Lösung falls die Erste nicht mehr funktionieren kann. Und ein Backup in der Hinterhand erleichtert die situative Entscheidungsfindung ungemein. Unser Backup war eine komplette Zelt- und Kochausrüstung und Essen für mehrere Tage und jedem von uns war bewusst, dass dieses Backup nur dann funktionieren kann, wenn wir alle zusammen blieben. Was hilft die beste Ausrüstung, Zelte, Kocher, wenn der Mann mit dem Essen abgeht?

                                Als Abschluss ein Gebet, dass ich bei der Ankunft in Muktinath nach der Passüberquerung gesprochen habe. Eigentlich ein für mich auch zu diesem Zeitpunkt alltägliches Gebet, dass passender nicht hätte sein können. Nur die Wichtigkeit dieser Aussage war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt.


                                “Lieber Gott wir danken Dir. Hilf den Menschen die Deine Hilfe brauchen, zeige ihnen den richtigen Weg und lasse sie den richtigen Weg finden.”
                                Schaffe Dir Erinnerungen bevor Du nur noch diese hast!

                                Nur heute wärmt uns das Feuer, gestern war es Holz und morgen wird es Asche sein.
                                (Autor unbekannt)

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