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Land: Frankreich, Korsika
Reisezeit: 14.10. - 24.10.2009
Region/Kontinent: Südeuropa
TEIL 1
Prolog
Es ist spät abends. Das Feuer im Kamin ist fast erloschen. Meine Familie schläft bereits und ich starre in die Glut. Ruhe liegt über der Nacht. Dunkelrot glimmt das verbrannte Holz und die Erinnerung setzt langsam ein. Bilder. Geräusche. Sonne. Blau. Unendlich tiefes Blau.
Es hat lange gedauert, bis ich mich diesmal auf meine Gefühle eingelassen habe. Etwas Unerhörtes war geschehen und ich bin immer noch aufgewühlt, wenn ich zurückblicke. Es sind nicht so sehr die Erlebnisse, es ist viel mehr die Intensität dieses einen Augenblicks. Es ist die fast banale Beiläufigkeit die zu diesem entscheidenden Moment führte, der Moment selbst und wie sich danach doch alles in einen Sinn fügte.
Wind, Schweiß, der erste Schnee, das Knirschen der Stiefel im Schnee.
Ich starre in die Glut.
Selten ergibt sich die Gelegenheit in einem Jahr, in welchem man eine Bergtour unverrichteter Dinge abbrechen musste, diese doch noch einmal gehen zu können. Normalerweise verhindert allein der übliche Lauf der Dinge die Möglichkeit einer zweiten Chance. Auch die bildhaft ausgemalte Vorstellung, ein Stück des anstrengenden Weges nach so kurzer Zeit noch einmal in allen Einzelheiten gehen zu müssen, ist wenig Ansporn, sich in dieser Angelegenheit stärker zu engagieren. Und natürlich hat sich auch der Gram um die kleine Schmach irgendwo eingenistet und versperrt den völlig unbeschwerten Blick. Am besten ist es also, so oder so, die frischen Geschichten etwas ruhen zu lassen, bis die Sehnsucht beginnt, sie wieder von allein heraus zu kramen.
Ungünstige Bedingungen führten dazu, dass meine Familie den Urlaub dieses Jahr zwar zusammen aber doch getrennt verbringen musste. Mich behinderte ein völlig verhageltes Projekt, meine Familie der sich stetig steigernde Regen am Bodensee.
Auf die Sonne sehnsüchtig wartend bemühte sich meine Frau die meiste Zeit Regenvarianten auszudenken, während ich im klammen Zelt hockte und mit einer merkwürdigen Anwandlung von Perfektion einen nicht zu rettenden Bericht verfasste. Als sich innerhalb von zwei Wochen das Wetter immer weiter verschlechterte und die Kinder begannen ihr Heimweh lautstark zu äußern, packten wir eines Morgens kommentarlos unsere Sachen wieder ein und fuhren zurück. Einfach so. Es beschwerte sich auch niemand. Zehn Minuten nach unserer Ankunft war der Rest des Urlaubs gerettet.
Der Sommer verging und etwas fehlte. Eine alte Unruhe trieb mich ab und an hinaus in den Wald, ohne dass mir bewusst wurde, was ich suchte. Sehnsucht legte sich mit den langsam kürzer und kälter werdenden Tagen wie Herbstnebel auf mich. Mit der aufgehenden Sonne verflüchtigten sich normalerweise die Gespinste, bis eines kühlen Morgens der Nebel nicht mehr weichen wollte. Dicht eingepackt lag die Stadt lautlos um mich herum. Der Nebel trennte mich von der Stadt und diese von mir. Es fehlte mir der freie Blick.
Ich verspürte die Erleichterung der Anderen, als ich mich endlich getraute, diese winzige Bitte vorzubringen. Ich muss noch einmal los.
14.10.2009 – Ein entspannter Fehlstart
Arbeit bis zu letzten Minute. Am Abend vor dem Aufbruch komme ich erst ab zehn Uhr dazu, die Ausrüstung und Vorräte zu verpacken.
Drei Uhr morgens Autobahn. Fünf Uhr Start im Flieger. Schlaf. Sieben Uhr Landung. Es wird gerade hell, als ich als einer der Letzten das Flughafenterminal in Bastia verlasse. Mein Gepäck kam und kam nicht. Eigentlich hatte ich geplant mit einem Taxi direkt nach Casamozza zu fahren, um den einzigen in dieser Jahreszeit noch fahrenden Hochlandbus zu erreichen. Da es nunmehr doch nicht mehr sicher ist, dass ich diesen Bus rechtzeitig erreichen kann, vereinbare ich mit dem Taxifahrer zuerst in Casamozza nach dem Bus zu sehen, um mich im Fall der Fälle bis nach Ponte Lecchia fahren zu lassen. Von dort aus könnte ich notfalls mit dem Zug nach Vizzavona weiterreisen.
2009-10-14, Panorama auf der Pionte Muratello
In Casamozza, einem recht überschaubaren Dorf entlang der Straße nach Ponte Lecchia, liegt der Bushalteplatz im Licht der aufgehenden Sonne verlassen da. Kein Mensch weit und breit. Wir haben den Bus um drei Minuten verpasst. Claude der Taxifahrer schlägt mir vor, den Bus mit etwas forscherer Fahrweise einzuholen. Er meint, das könne nicht lange dauern. Als wir mit der Aufholjagd beginnen, hat der Bus, der Zeit nach zu urteilen, etwa fünf Kilometer Vorsprung. Claude setzt alles daran sein Versprechen einzulösen. Selbst für korsische Verhältnisse fährt er schnell. Sehr schnell. Etwas fatalistisch schaue ich in mich hinein.
Rasend schnell zieht die herbstliche Landschaft an uns vorbei. Am Horizont ist ein Bus auszumachen. Auf den Bergen liegt noch kein Schnee. Das Taxi prescht an langen Baufahrzeugen vorbei, überholt in engen Kurven Traktoren, liefert sich mit langsamen Kleintransportern Hupkonzerte. Die Flüsse und Bäche sind fast alle ausgetrocknet. Auf den Geraden fährt das Taxi in Fahrbahnmitte, rechts und links wild überholend. Die Maronen sind reif und hängen in hellen, grün stacheligen Büscheln in den Bäumen. Ein Pferdegespann biegt unendlich langsam auf die Straße. Pilze wachsen am Straßenrand. Das Taxi wird hin und her geschleudert. Schwarz-braun seidig glänzendes Fell. Das Taxi rutscht durch eine enge Kurve. Taunass glänzende Mauersteine an einer alten Brücke. Der Bus ist nur ein halbvoll besetzter Reisebus.
2009-10-14, Weg zu den Cascade des Anglais
Nach verblüffend kurzer Zeit stehe ich mitten in Ponte Lecchia an der am Kreisverkehr zentral gelegenen Tankstelle, welche zugleich als „Busbahnhof“ fungiert. Der Spaß hat achtzig Euro gekostet, meine Reisekasse ist geplündert. Ich betrete den kleinen Laden der Tankstelle. Der Tankwart meint, den Bus noch nicht gesehen zu haben, aber könne sich auch irren. Eine Gaskartusche gibt es bei ihm nicht zu kaufen. Auch der kleine Laden fünfzig Meter in Richtung Corte hat diese bereits aus dem Sortiment genommen. Im Supermarkt in Richtung Calvi das gleiche Bild.
Zum Ende der Nachsaison hat die Bahngesellschaft CNCF mit der seit Jahren geplanten Erneuerung der Bahngleise zwischen Ponte Lecchia und Ajaccio begonnen, um ab dem kommenden Jahr auch auf diesem Streckenabschnitt neue und schnellere Züge einsetzen zu können. Stromlinienförmige, weiß lackierte, kleine Schmalspur-TGVs sollen dann der wild schönen Insel einen weiteren Anstrich von Zivilisation geben. Ich stelle mir das Ergebnis so vor, als würde man einem alten korsischen, zerfurchten und mit einer aus der Mode gekommenen Hornbrille versehenen Gesicht eine neue Designerbrille aufsetzen. Dieses neue Gesicht wird bestimmt interessant und modern aussehen, eben wie aus unserer heutigen Zeit, aber auch einen Teil seiner charmanten Vergangenheit verloren haben. Und damit wird wieder ein Stück meiner Welt verschwinden.
Ersatzweise ist eine Busverbindung eingerichtet worden.
Da der nächste Bus erst gegen Mittag erwartet wird, schlendere ich zur Tankstelle zurück. Vielleicht nimmt mich ja jemand früher mit. An der Tankstelle steht ein kleiner weißer Bus. Ich renne. Gerade als er abfahren will, kann ich noch an eine der hinteren Scheiben klopfen. Es ist der Hochlandbus. Geduldig wartet der Fahrer und verstaut mein Gepäck, während ich ihm die Geschichte mit dem Taxi erzähle. Tja, er habe heute leider dreißig Minuten Verspätung, meint darauf der Fahrer mit einem breiten Grinsen. Aber die könne er wieder aufholen, wenn ich es eilig hätte. Es würde ihm auch keine Mühe vielmehr eine Freude bereiten, mich pünktlich ans Ziel zu bringen. Generös erwidere ich, dass ich gerade jetzt wieder alle Zeit der Welt gefunden hätte. Ich bin der einzige Fahrgast.
Die Fahrt in einem korsischen Überlandbus ist überraschend interessant. Neben dem Transport von Fahrgästen erfüllt er scheinbar noch eine Vielzahl anderer Funktionen. In kleineren Dörfern warten manchmal ältere Frauen an der Bushaltestelle, steigen aber nicht zu, bekommen stattdessen gegen Quittung Bargeld wie bei einer mobilen Sparkasse ausgezahlt. In Corte werden mehrere Frachtstücke aus- und zugeladen. In Vivario wird Post ausgetauscht. Ich als Fahrgast bin für den Fahrer nur eine kleine, willkommene Abwechslung außerhalb der Saison.
Mitten in den Bergen, in der Nähe einer der um die vorletzte Jahrhundertwende oberhalb von Vizzavona erbauten Villen, steige ich aus und begebe mich als erstes zum im Tal liegenden Bahnhof. Die Zeiten, als dieser Ort noch ein beliebter und mondäner Ferienort gewesen war, liegen bereits lange zurück. Nach kurzer Blüte ist dieser Ort vor etwa sechzig Jahren wieder eingeschlafen. Seither versinken die alten Prachtbauten Jahr für Jahr tiefer im wieder heranrückenden Wald oder beginnen zu verfallen. Die Köcher zum Aufnehmen der Wappenflaggen rosten vor sich hin. Die Fenster sind blind, Farbe blättert ab. Vor meinen Augen ziehen die fünfziger Jahre in schwarz-weiß vorbei.
Den Weg hier hinunter ins Tal hätte ich mir ersparen können. Die Station, die Refuge und das Hotel sind geschlossen, weil einerseits die Saison bereits vorbei und andererseits der Bahnbetrieb wegen der Gleisbauarbeiten eingestellt worden ist. Lebensmittel und Gas sind auch hier nicht mehr zu bekommen. Ich werde die Tour demnach ohne Gaskartuschen beginnen. Auf den Hütten wird sich schon etwas finden. Manchmal werden dort halbvolle Kartuschen von Wanderern zurückgelassen.
Es ist kurz vor elf Uhr, als ich mich auf den Weg begebe. Die Sonne scheint, ein leicht kühler Wind streicht von den Bergen herab. Still liegt der Wald vor mir. Ich breite die Arme aus und umarme die Welt. Im lichtdurchfluteten Dom der Bäume steige ich bergan. Nach etwa einer Stunde erreiche ich die Cascade des Anglais.
2009-10-14, Cascade des Anglais, oberer Teil
Unfassbar diese Stille, in welcher nur das Plätschern des Wassers zu hören ist. Schon als Junge konnte ich stundenlang am Ufer sitzend, die Zeit vergessen und dem unbändigen Murmeln lauschen. Im Dunkeln kehrte ich dann glücklich zu meinen erschreckten, mich suchenden Eltern zurück. Die Ängste nicht verstehend, die Belehrungen überhörend, das Abendbrot verschmähend wollte ich dann nur noch eins, in meinem Bett liegend dem Klang des Wassers nachlauschen. Wasser. Es zwingt mir seinen Rhythmus auf, ordnet meine Gedanken, reinigt mich.
Ich fülle meine Flaschen, kann nicht widerstehen, raste und lasse die Hände durch das Wasser gleiten. Es tastet nach mir. Paralysiert meine Gedanken. Bindet mich am Ufer fest. Das Ziel deiner Reise ist erreicht, flüstert es mir zu. Inzwischen bin ich alt genug den Zauber zu brechen.
Mit jedem Meter, welchen ich an Höhe gewinne, schneidet sich der Bach l‘Agnone tiefer in das Gestein ein. Auf dem Hochplateau angekommen durchzieht er in steilen, engen Kehren die Felsen. Einige kleine Wasserfälle säumen seinen Weg. Der Hochwald weicht zurück und macht Platz für die niedrige Macchia. In Serpentinen windet sich der Weg hinauf zum höchsten Punkt dieser Tour, zur Pionte Muratello.
2009-10-14, Aufstieg zur Pionte Muratello
Auf halber Höhe des letzten Anstiegs auf etwa eintausendneunhundert Metern scheuche ich Unmengen von Krähen auf. Immer wieder fliegen sie in einem riesigen Schwarm eine nicht einsehbare Stelle hinter mehreren großen Felsblöcken an. Sie landen, wenn ich mich entferne und nach jeder Kehre stieben sie wieder davon. Eine abstruse Choreografie. Hinter den Felsen wird vermutlich ein verendetes Tier liegen, welchem ihr Interesse dient. Zwei Raubvögel kreisen in großer Höhe über dem Tal.
2009-10-14, kurz vor der Pionte Muratello
Auf der Pionte Muratello angekommen zieht ein eiskalter Wind aus Norden über den Kamm hinweg. Zum ersten Mal an diesem Tag muss ich mir eine dünne Fleecejacke überziehen. Aber es ist immer noch ein traumhaft schönes Wetter. Große Wolkenberge werfen in schneller Folge ihre Schatten und treiben ein wildes Spiel mit der Sonne. Der Nachmittag hat begonnen.
Soweit ich sehen kann, sind die vor mir liegenden Berge entlang der nächsten Streckenabschnitte noch vollkommen schneefrei. Von rechts stößt die alpine Variante dieser Tour, welche in einem weitläufigen Bogen über den Monte d’Oro verläuft, mit dem von mir begangenen Weg zusammen. Aufgrund der anstrengenden letzten Tage und er fast schlaflos verbrachten Nacht habe ich mir dieses kleine Extra diesmal doch nicht gegönnt. Hier an dieser Stelle, nach knapp neun Kilometern, liegen bereits etwas mehr als eintausenddreihundert Meter Aufstieg hinter mir und noch einmal knapp siebenhundert Meter Abstieg vor mir.
Von hier oben kann ich die tief unter mir liegende Refuge de l’Onda bereits als kleinen Punkt erkennen. An der noch tiefer gelegenen Bergeries de l’Onda treiben Schäfer mit lauten Rufen und mit Hilfe von Hunden ihre Tiere zusammen. Der Abtrieb hat jetzt auch schon auf den niedriger gelegenen Weideplätzen begonnen und so werden sie die Tiere noch heute ins Tal zu ihrem Winterquartier bei Canaglia führen.
Zu Beginn des Abstiegs entdecke ich noch die kleine Plakette zu Gedenken von Jean Pierre Etienne, welcher an dieser Stelle im April 2003 bei einer Winterbegehung zusammen mit seinem Hund spurlos verschwand. Der Text gibt mir mehr Rätsel auf, als dass er Fragen beantwortet. In der heutigen Zeit einfach für immer zu verschwinden, grenzt fast an ein Mysterium.
2009-10-14, Gedenkplakette für Jean Pierre Etienne
Der Weg hinunter zur Refuge de l’Onda zieht sich über einen platten Kamm mit allerlei Geröll, ist aber schnell und relativ bequem zu gehen. Um zur Hütte zu kommen, führt der Weg noch ein Stück weiter bergab an ihr vorbei, um mit einer anschließenden Kehre wieder zu ihr zurück zu führen. Als ich mich direkt oberhalb der Hütte befinde, sehe ich, dass Rauch aus dem Schornstein aufsteigt. Bis jetzt war ich allein, heute Abend aber werde ich Gesellschaft haben. Auch gut.
2009-10-14, Abstieg zur Refuge de l’Onda
In der Nähe der Hütte ist für mein Zelt kein Platz mehr zu finden. Die einzigen freien Stellen sind mit Baumaterial belegt, mit welchem die Hütte winterfest gemacht werden soll. An anderen Stellen türmen sich die Reste des Jahres zu hohen Bergen auf. Metallene Hügel aus mit rotem Band verschnürten blauen Gasflaschen, riesige, randvoll mit Müll gefüllte weiße Säcke aus verstärktem Polyamidfasergewebe, graue Stapel verschlissener Matratzen. Ich müsste bis zur Bergeries de l’Onda absteigen, um einen ebenen Platz finden zu können.
Ich stoße die Tür zur Hütte auf und das vielfältige Gemurmel von etwa zwanzig Wanderern erstirbt mit einem Schlag. Neugierig mustern sie mich, den Neuen. Ich grüße und sofort setzt das Gemurmel wieder ein. Französisch, Spanisch, Englisch, verschiedene Dialekte. Ich bin erleichtert, dass die Menge mich augenscheinlich ignoriert.
Obgleich sich in verschiedenen Sprachen unterhaltend, scheint sich die Menge zu kennen. Es scheinen ausschließlich Bergführer zu sein, welche in dieser Hütte zum letzten Mal in diesem Jahr zusammenkommen, ihren Abschied feiern und am nächsten Tag zu ihrer letzten Tour aufbrechen werden.
Ich setze mich in die äußerste Ecke des Gemeinschaftsraumes und studiere meine aktuellen Wetterkarten. Auf den Bildern kann ich erkennen, dass das über den Alpen stehende Tiefdruckgebiet in den nächsten Tagen langsam nach Süden abgedrängt werden wird. Nachdem in den letzten Tagen in den Alpen bereits der erste Schnee gefallen ist, wird dieses Wetter voraussichtlich auch hier Auswirkungen haben. Und vermutlich wird sich dieses Wetter einmal im Uhrzeigersinn um die Insel drehen, bevor es von einem aus Südwest nachdrängenden Hochdruckgebiet wieder nach Norden verschoben werden wird.
Eine junge Frau gesellt sich zu mir. Anna-Maria aus Brüssel, Bergführerin, genannt Maria. Tiefblaue Augen, strahlendes Lächeln, aschblondes Haar. Sie hat ein klassisch geradlinig, schönes Gesicht. Wenn ich verlegen bin, schaue ich meinem Gegenüber über die Gläser meiner Brille hinweg direkt ins Gesicht. Das wird mir meist als interessierte Aufmerksamkeit ausgelegt, hilft mir aber dabei, nicht zu viel zu erkennen.
Sie fragt mich in fünf verschiedenen Sprachen und ohne eine Antwort abzuwarten, woher ich komme. Ich kann erst einmal gar nicht antworten. Ihre Augen. Sie fragt mich auf Englisch, ob ich wirklich keine dieser Sprachen, Französisch, Spanisch, Italienisch, Englisch oder Deutsch verstehen würde. Diese Augen. Ich antworte ihr auf Englisch, ich wäre noch am Überlegen, in welcher Sprache ich ihr am besten antworten könne.
Sie lacht, überlegt kurz, erkennt meinen Akzent und antwortet fast akzentfrei in Deutsch, dass sie schon so lange kein Deutsch mehr gesprochen hätte und sich deshalb riesig freuen würde, es wieder einmal auszuprobieren. Sie beginnt den Osterspaziergang zu rezitieren, „ Vom Eise befreit sind Strom und Bäche …“. Mir wird bewusst, dass die anderen Bergführer ob der deutschen Sprache jetzt mit einem Mal zu uns herüber sehen. Auch ihnen schenke ich einen Blick über meine Brille hinweg und dazu ein verlegenes Lächeln.
Maria studiert interessiert meine Wetterkarten und meint lakonisch, dass das Wetter sich halt immer mal wieder ändern würde. Und mit ihrem bezaubernden Lächeln meint sie zu mir, ich würde die Sache etwas zu Deutsch angehen. Recht hat sie ja, ich bin eben ein alter deutscher Angsthase. Da außer mir und Maria keiner Deutsch spricht, schlage ich vor, bei Englisch zu bleiben.
Beiläufig erfahre ich, dass sie sich heute mit ihrem Freund und weiteren Freunden, alles Bergführer, hier auf der Hütte zum gemeinsamen Saisonabschluss getroffen habe. Einige von ihnen würden ab morgen ein kleines, entspanntes Speed-Hiking in Richtung Norden veranstalten wollen.
Von diesen Events am Ende einer Saison auf Korsika habe ich schon früher einmal eher zufällig im Internet gelesen. Die Regeln sind denkbar einfach. Es werden nur die Start- und die Ankunftszeit vermerkt. Die Route, die Ausrüstung, die Pausen und eben das ganze Drumherum sind unwichtig. Es zählt nur die Gesamtzeit zwischen zwei Etappen. Dadurch, dass bei gutem Wetter normalerweise ein recht hohes Tempo gegangen wird, versuchen die Teilnehmer meistens noch eine zweite Etappe, ein sogenanntes Double, dranzuhängen. Auch bei einem Double gelten die gleichen Regeln, wichtig ist nur die Gesamtzeit jeder einzelnen Etappe. Wer allerdings am Endziel als Erster ankommt, erhält einen Punkt extra, womit die Doubles für die Gesamtwertung dann doch eine gewisse Bedeutung erlangen.
Für mich persönlich sind diese Speed-Hiking-Events eher nichts. Einerseits bin ich schon etwas zu alt, um dauerhaft ein so hohes Tempo gehen zu können. Andererseits versuche ich meistens autonom, also ohne Benutzung von Hütten, unterwegs zu sein, und habe deshalb besonders bei Solotouren entsprechend viel Equipment dabei. Auf dieser Tour beträgt das Anfangsgewicht meines Rucksacks ziemlich genau sechzehn Kilogramm und ist damit etwa vier bis sechs Kilogramm schwerer als das der Bergführer. Dankend lehne ich die Einladung, mich an dem Event zu beteiligen, ab.
Bei der Vorbereitung zum gemeinsamen Abendbrot lerne ich nach und nach die anderen Bergführer kennen. Die meisten von ihnen sind Franzosen und leben auf Korsika, wenngleich kein einziger Korse unter ihnen ist. Vier stammen aus Spanien. Eigentlich sind es sechs, aber zwei von ihnen bestehen darauf, dass sie Basken und keine Spanier sind. Die Gruppe komplettieren zwei Iren und ein Brite. Bis auf zwei fast sechzigjährige Ausnahmen sind die meisten von ihnen in den Zwanzigern oder Anfang der Dreißiger und somit deutlich jünger als ich.
Neben der heiteren, gelösten Stimmung fällt mir besonders auf, dass sehr aufwändig gekocht wird. In den Rucksäcken der Bergführer scheinen sich fast nur Lebensmittel zu befinden. Ich bin der Einzige, der Instant-Nahrung mit sich führt.
Da ich in der letzten Nacht fast gar nicht geschlafen habe und die Feier sich noch eine ganze Weile hinziehen wird, verabschiede ich mich als Erster zum Schlafen. Trotz oder gerade wegen der netten Gesellschaft habe ich den festen Vorsatz, am nächsten Morgen als Letzter aufzustehen und die ganze Gruppe vor mir aufbrechen zu lassen. Ihr Vorhaben ist nicht ganz das, was ich mir vorgestellt habe, als ich mich nach langem Ringen zur Wiederholung meiner gescheiterten Frühjahrstour entschlossen habe.
Kurz vor dem Einschlafen, beim Nachsinnen über den vergangenen Tag, bemerke ich deutlich, dass sich ein Teil von mir zu dieser Gruppe hingezogen fühlt. Eine Solotour bedeutet ja immer auch ein etwas höheres Risiko im Falle von Verletzungen. Und so gerate ich regelmäßig mit mir in Konflikt, wenn es die Möglichkeit gibt, sich für einige Zeit an eine nette Gruppe anhängen zu können. Aber ausgerechnet Speed-Hiking. Ausgeschlossen. Mein Entschluss steht fest.
2009-10-14, Etappenprofil, Länge 11,3 km, Aufstieg _.___ m, Abstieg ___ m
15.10.2009 – Über den Berg
Am nächsten Morgen, noch bevor es hell wird, klappern mich im Schein ihrer Kopflampen die Bergführer beim Verpacken ihrer Ausrüstung wach. Ich bin wohlig ausgeruht, lasse die Augen geschlossen und dämmere noch eine Weile vor mich hin. Nach einiger Zeit verebbt das Klappern und in der Hütte ist es wieder angenehm still. Als ich meine Augen in der fahlen Dämmerung öffne, ist das Erste, was mir auffällt, dass mein Atem als weißer Rauch in die kalte Hüttenluft steigt. In der Nacht muss es einen Temperatursturz gegeben haben. Ein Blick aus dem Fenster zeigt mir leicht verschneite Berge. Ich schäle mich aus dem warmen Schlafsack und verspüre sofort die Minusgrade in der Hütte.
In kurzer Unterwäsche stehe ich im Halblicht des aufziehenden Tages und werfe beim Anziehen laut polternd meine Trekkingstöcke um. Die Tür zur Küche geht auf und strahlend, wie auch sonst, begrüßt mich Maria und fragt, ob ich auch etwas frisch gebrühten Kaffee trinken möchte. Patrick, ihr Freund, bäckt derweil frische Pfannkuchen mit dunkelroten Beeren. Schon wieder verlegen setze ich mich zu ihnen an den Tisch. Mit uns prallen so verschiedene Lebensentwürfe aufeinander. Auf der einen Seite mein dehydriertes, blasses Essen als Zeichen äußersten Verzichts und auf der anderen Seite die farbenfrohe, frische französische Küche, aus dem Hut gezaubert zwischen Schnee und Stein.
Den dampfenden Kaffee in den Händen frage ich die Beiden, warum sie nicht bereits mit den Anderen aufgebrochen sind. Patrick erklärt mir darauf, dass sie wegen des Schneefalls heute kein Double gehen werden. Es wäre heute vor allem auf dem zweiten Abschnitt zwischen der Refuge de Petra Piana und der Refuge de Manganu etwas zu riskant noch in einen Schneesturm zu geraten. Aus diesem Grund würden sie auch die Talvariante über die Bergeries de Tolla und die Bergeries de Gialgo zur Refuge de Petra Piana und nicht die alpine Variante gehen. Die Talvariante wäre zwar etwas länger dafür aber weitgehend schneefrei. Bis auf den britischen Bergführer mit seiner französischen Partnerin würden auch die Anderen, die beiden Basken, den Talweg vorziehen. Der Rest der Gesellschaft ist in Richtung Süden aufgebrochen.
Hubschrauberlärm schreckt uns auf. Donnernd schwebt eine dieser wendigen Maschinen das Tal hinauf und bleibt etwa fünf Meter über der Hütte stehen. Ein Mann seilt sich ab und erklärt uns, dass sie jetzt die Hütte winterfest machen würden. Solange der Hubschrauber in der Nähe der Hütte wäre, dürften wir diese auch nicht mehr verlassen, da das Ein- und Abhängen der Lasten bei dem Wind sehr risikoreich sei. Wir schauen uns das kostenlose Schauspiel aus dem Fenster an und ziehen unwillkürlich den Kopf ein, als eine der Lasten beim Anflug leicht gegen das Dach prallt. Die Verladefläche an dieser Hütte ist so eng, dass der Pilot alle Mühe hat, die im Wind pendelnden Lasten sicher auf den Boden zu bekommen.
2009-10-15, Heli an der Refuge de l'Onda
Während draußen hektisch die Arbeiten beginnen, packen wir unsere Ausrüstung zusammen und machen uns abmarschbereit. Zwischen zwei Flügen, es ist jetzt fünfzehn Minuten vor neun Uhr, brechen wir auf und genießen das Schauspiel aus sicherer Entfernung noch eine kleine Weile. Kurz nach der Hütte trennen sich unsere Wege. Maria und Patrick gehen weiter hinab in das Tal, während ich beginne, den Anstieg zur Punta di l’Altore zu erklimmen. Wie geplant werde auch ich die alpine Variante gehen.
Auf halber Höhe drehe ich mich noch einmal um. Meine Augen blinken silbern im schneidenden Wind. Wie im Frühjahr gibt es auch im Herbst diesen einen Tag, an welchem du merkst, dass die Jahreszeiten wechseln. Und heute hat für mich der Winter begonnen. An eben diesem, meinem ersten Wintertag ist es unverkennbar kalt. Raureif und kalt verbackener Schnee überzuckert das Land. Die Rinnsale sind gefroren. Und es ist völlig egal, ob noch einmal wärmere Tage den Herbst wiederbringen werden, heute hat für mich der Winter begonnen.
2009-10-15, Aufbruch an der Refuge de l'Onda
Der erste Teil der heutigen Tour ist relativ einfach zu gehen. Über einen mit kleineren Felsbrocken übersäten Hang geht es hinauf bis zur Punta di l’Altore, einer Art Plateau vor dem eigentlichen Gipfel, der Capu a Meta, welcher den Beginn einer etwa drei Kilometer langen Gratwanderung markiert. Auf dem Hang liegen etwa fünf Zentimeter feinkörniger Neuschnee. Die Temperatur beträgt minus fünf Grad Celsius und die Sonne scheint. Den ganzen Vormittag werden ständig weitere Schneemengen aus Nordwest durch tief fliegende, schmale Wolkenbänder herangetragen, welche sich an den Hängen in Höhen ab eintausendfünfhundert Metern ablagern. Die Wegemarkierungen sind mittlerweile weitgehend von Schnee bedeckt, aber der Weg ist durch die Spuren der vor mir gehenden Bergführer noch gut zu erkennen. Nach etwa einer dreiviertel Stunde habe ich das erste Plateau erreicht.
2009-10-15, Punta di l’Altore
Der weitere Weg hinauf zur Capu a Meta wird inzwischen von einem kleineren Schneesturm verdeckt. Ungefähr einhundert Höhenmeter oberhalb von mir kann ich, als die Wolken aufreißen und für Sekunden einen Blick auf den Gipfel freigeben, den britischen Bergführer mit seiner französischen Partnerin erkennen, wie sie sich meines Erachtens deutlich zu weit rechts den Weg durch die ersten tieferen Schneewehen hinauf bahnen. Ich vertraue meinem GPS und steige weitgehend blind im Schneegestöber auf einer weiter links führenden Route hinterher.
In früheren Zeiten, also noch vor der Einführung der ersten privat nutzbaren GPS-Geräte, wäre ich als Solo-Geher in der gleichen Situation bestimmt nicht in dieses Wetter eingestiegen. Inzwischen stellt die mangelnde Sicht in einem einfacheren Gelände aber kein so großes Problem mehr dar, wenn eine insgesamt für dieses Wetter ausreichende Ausrüstung vorhanden ist. Unangenehm bleiben mir aber weiterhin das blinde Technikvertrauen und die Ungewissheit vor den folgenden Situationen. Ich mag es einfach nicht, blind in den Bergen herumzustapfen, auch wenn es inzwischen technisch funktioniert.
Das stürmische Wetter verkrustet immer wieder meine Gletscherbrille und das GPS-Gerät, so dass ich regelmäßig anhalten muss, um beides zu reinigen. Ich beeile mich, so gut es geht, diesem Wetter zu entfliehen. Auf der Capu a Meta angekommen bin ich etwas außer Atem wegen des schnellen Aufstiegs. Ich mache eine kurze Rast und bin sehr erstaunt, dass plötzlich die beiden Bergführer, Christopher und Barbara, zu mir aufschließen. Sie sind ebenfalls sichtlich erschöpft, da die Schneeverwehungen auf ihrem Umweg noch tiefer als bei mir gewesen sein müssen. Beide sind ohne GPS unterwegs und verlassen sich auf ihrer Hausstrecke ausschließlich auf ihre Erfahrung, ihr Gespür und einen Kompass.
Da die Sicht weiter sehr schlecht ist, führe ich nunmehr auf dem anschließenden Wegstück, dem Gipfelgrat Serra di Tenda, unsere kleine, neu gebildete Gruppe an. Auf halber Strecke zum höchsten Punkt der heutigen Tour, der Pointe de Pinzi Corbini, muss in einen Felskessel etwa achtzig bis einhundert Meter abgestiegen werden, um in diesem anschließend bis zum Sattel Bocca a Meta zu queren. Ich bin mir nicht wirklich sicher, ob ich den richtigen Punkt für den Abstieg gefunden habe, da der Schnee den im Sommer gut sichtbaren Pfad vollständig bedeckt und auch sonst die Landschaft in kürzester Zeit umgestaltet hat. Ich wähle in Ermangelung besserer Alternativen einfach die für mich offensichtlichste Stelle für einen Abstieg aus. Immerhin hat mittlerweile das Schneetreiben nachgelassen, so dass uns die Sicht in den scharf gezackten Felskessel und auf die umliegenden Berge ermöglicht wird.
2009-10-15, Gipfelgrat Serra di Tenda
Die Schwierigkeit beim Abstieg besteht nunmehr darin, dass die eigentlich einfachen und deshalb ungesicherten Kletterstellen vollständig mit einer zu Schneenadeln verkrusteten Schicht überzogen sind. Dies ist zwar wunderschön anzuschauen aber leider auch höllisch glatt. Wir beschließen, untereinander jeweils einen größeren Abstand einzuhalten und uns nicht gegenseitig zu helfen, da wegen mangelnder Sicherungsmöglichkeiten jeder diesen Abstieg allein meistern muss. Ich steige als Erster ein.
2009-10-15, Zugang zur Kletterstelle
Schon auf den ersten Metern merke ich, dass die freistehenden Felsbrocken wie mit einer dünnen glasartigen Schicht überzogen sind. Der erste Schnee muss an den noch warmen Felsen geschmolzen und direkt danach durch den kalten Wind gefroren sein. Auf dieser dünnen Eisschicht sind anschließend weitere Schneeflocken auskristallisiert und haben sich wie bei einem Igel als ein Stachelkleid um den Fels geschmiegt. In konzentrischen Wirbeln angeordnet, geben sie dem Granit ein wahrhaft lebendiges und zugleich majestätisches Aussehen. Ich sträube mich, mit meinen profanen Bewegungen, Tritten und Griffen diese Schönheit zu zerstören. Ich muss innehalten, um wenigstens etwas davon zu fotografieren. Vergänglichkeit.
2009-10-15, Oberhalb der Kletterstelle
Bei meinem Abstieg versuche ich mich so konzentriert und gespannt wie nur möglich zu bewegen, um diese Glätte wenigstens etwas zu beherrschen. Ich muss gestehen, dass ich bisher selten so wenig Gefühl zum Fels hatte, wie an diesem Morgen. Es ist quasi gar kein Vertrauen mehr zum Untergrund vorhanden. Als heimlicher Vertreter einer dynamischen Ein- bis Zweipunkttechnik beim Klettern versuche ich nunmehr die hochgelobte Dreipunkttechnik in eine Vierpunkttechnik umzuinterpretieren. Schieben der Hände und Füße statt Klettern. An manchen Stellen bin ich so ratlos, dass ich sogar kleinere Sprünge als das geringere Übel ansehe, um mir hinterher die Dummheit dieser Idee für immer in das Gedächtnis einzubrennen. Steigeisen oder ein Seil wären jetzt nicht schlecht.
2009-10-15, Mitten in der Kletterstelle
Von weiter oben muss sich meine Art der Fortbewegung als ziemlich unorthodoxe Methode dargestellt haben. Zumindest ernte ich aufmunternde Zurufe und meine beiden Begleiter versuchen sich in einer Adaption derselben. Ich möchte jetzt nicht behaupten, dass wir grazil und elfengleich den Berg hinabgewandelt sind, aber wir haben es letztlich ohne Blessuren geschafft. Und wir sind uns einig, von einem Beherrschen der Situation war hier nicht mehr viel übrig geblieben. Glück gehabt.
2009-10-15, Unterhalb der Kletterstelle
Die anschließende Querung ist dafür völlig unproblematisch. Der Schnee hat zwar an einigen Stellen, vor allem zwischen den Blocksteinen, eine Höhe von zwanzig bis vierzig Zentimeter erreicht, aber gleichzeitig haben sich inzwischen die Schneeverwehungen zu einer weitgehend stabilen Decke verfestigt. Ich sinke kaum noch ein und komme sehr schnell voran. An dem Sattel Bocca a Meta angekommen raste ich kurz. Kurz darauf stoßen auch Christopher und Barbara zu mir. Da die Beiden an dieser Stelle ebenfalls rasten möchten und sich das Wetter mit strahlendem Sonnenschein jetzt von seiner besten Seite zeigt, verabschiede ich mich, um allein weiter zu gehen.
2009-10-15, Querung zum Sattel Bocca a Meta
Schnell erklimme ich den einhundertsechzig Meter über uns liegenden Gipfel Pointe de Pinzi Corbini. Oben angekommen lasse ich den Blick noch einmal schweifen, winke den beiden Bergführern zu und bin mir bewusst, dass ich die Herausforderung angenommen habe. Entgegen zu meinem abends zuvor gefassten Vorsatz treiben mich meine beiden Begleiten nunmehr unwissentlich und unsichtbar vor sich her. Ich spüre, dass ich mich nur noch ungern einholen lassen möchte. Ich spüre, wie dieser kleine Wettbewerb von mir Besitz ergreift, mein Denken verändert, mich assimiliert. Es ist jetzt schon etwas weniger meine eigene Tour, aber es macht auch Spaß. Der Versuch herauszufinden, wie lange ich mit der Gruppe mithalten kann, übt einen unwiderstehlichen Reiz auf mich aus. Es noch einmal zu probieren, wie in alten Zeiten.
Da nach dem Gipfel die restlichen dreieinhalb Kilometer der heutigen Tour fast ausschließlich horizontal oder bergab verlaufen, schlage ich jetzt probeweise ein für mich ungewöhnlich hohes Tempo ein. Nun ich renne nicht gerade, aber ich gehe straff. Trotz dessen gelingt es mir nicht, meine beiden „Verfolger“ auf Distanz zu halten. Etwa dreihundert Meter vor dem Ziel kommen sie mich freundlich grüßend und sich ständig unterhaltend an mir vorbei gerauscht. Nach wenigen Minuten geselle ich mich an der Refuge de Petra Piana zu ihnen und kurz darauf treffen auch Maria und Patrick ein. Die beiden Basken Joshua und Elias waren die Ersten an der Hütte und haben bereits den Ofen vorgeheizt, um zum Mittagessen die von ihnen unterwegs frisch gesammelte Maronen rösten zu können. Als wir ankamen, lagen sie bereits auf der Veranda in der Sonne und haben uns aus der Ferne beobachtet.
2009-10-15, Blick zurück von der Pointe de Pinzi Corbini (unterhalb die beiden Bergführer)
Überaschenderweise stellt sich beim Vergleich der einzelnen Zeiten heraus, dass ich mit vier Stunden und achtunddreißig Minuten Gesamtzeit knapp vier Minuten Vorsprung auf die beiden Basken herausgelaufen bin. Fairerweise muss dazu aber angemerkt werden, dass sowohl die beiden Basken als auch Maria und Patrick im Wald nicht unerhebliche Mengen Maronen für uns alle gesammelt haben. Aber so sind sie nun einmal, die Regeln. Und das Wichtigste auf dieser Tour ist allemal das gute Essen.
Durch diesen kleinen Achtungserfolg, welcher mich fast an die Grenze meiner Leistungsfähigkeit gebracht hat, muss ich jetzt natürlich allen versprechen, auch an den nächsten Tagen nicht zu kneifen. Ich ziere mich zwar noch etwas, lasse mir die ein oder andere verbale Hintertür offen, weis insgeheim aber schon, dass ich es versuchen werde. Es scheint ein bisschen möglich zu sein, mithalten zu können.
Nach dem Mittagessen, kurz vor zwei Uhr nachmittags, beschließen Christopher und Barbara trotz der schlechten Wetterprognosen mit Sturm, Schnee und tiefen Temperaturen ein Double zu versuchen. Zu dieser Jahreszeit ist dieser Zeitpunkt die späteste mögliche Uhrzeit, um noch eine Tour beginnen zu können. Eigentlich ist es sogar schon zu spät, da der Sonnenuntergang etwa eine halbe Stunde nach sechs Uhr erfolgen wird. Das Tageslicht erlischt in den Bergen demzufolge je nach Wolkenstand kurz nach sechs Uhr. Vier Stunden bis zur Dunkelheit für eine Tour, welche regulär mit sechseinhalb Stunden angegeben wird, ist mir eindeutig zu riskant. Noch dazu führt die folgende Route gerade im zweiten Teil an einigen bei Schnee und Eis nicht ganz ungefährlichen Stellen im Bereich der Breche de Capitello vorbei. Ich winke ab, dass ist eindeutig nichts für mich. Ebenso entscheiden sich die Anderen zum Verbleib an der Hütte, auch wenn das für sie einigen ungewohnten Müßiggang bedeutet.
Während Christopher und Barbara ihr Double versuchen, nutzen wir die Gelegenheit, uns näher miteinander bekannt zu machen. Ein völlig entspannter Nachmittag beginnt für uns, welchen wir mit allerlei kulinarischen Versuchen zu füllen gedenken. Einige der Kochpausen kann ich zudem nutzen, um die nähere Umgebung zu erkunden und Fotos zu machen.
Im Laufe des Nachmittags fällt die Temperatur von etwa plus fünf auf minus fünf Grad Celsius. Der Wind frischt auf, aber in diesem Tal fällt heute kein Neuschnee mehr. Die mit einem Steinbecken eingefasste Quelle in der Nähe der Hütte beginnt einzufrieren, bis nur noch ein kleines Rinnsal an den Eiszapfen hinabfließt. Es ist der eisige Wind, der hier alles auszukühlen beginnt. Wir verkriechen uns früh in den Schlafsäcken.
Wie immer nutze ich die ersten Minuten der Nacht, den Tag etwas nachzuschmecken, die Bilder zu fangen, das Glück zu begreifen. Heute muss ich aber vorher noch einige Dinge mit mir regeln. In dem Augenblick, in dem ich mich auf das Speed-Hiking eingelassen habe, also in dem Augenblick, als ich akzeptierte, mehr als eine einzelne Tour schnell gehen zu wollen, akzeptierte ich zugleich, dass ich die Idee meiner eigenen Tour aufgab. Die Konsequenz daraus ist recht einfach. Es geht nur ganz oder gar nicht. Das Handicap der schwereren Ausrüstung kann ich nicht noch durch den Nachteil einer Zeltübernachtung vergrößern. Demzufolge werde ich ab jetzt auf dieser Tour ausschließlich in den Hütten übernachten. Und die Vorteile sind nicht zu verachten. Es gibt dank der Solarstromanlagen Licht. Es gibt mehrere Kochplatten, wodurch sich das Kochen deutlich vereinfacht. Es gibt einen Holzofen, was die Regeneration des ausgelaugten Körpers in einem warmen Raum befördert. Und der Zeltabbau in der Nacht entfällt, wodurch sich die Erholungsphasen verlängern. Und wie so immer, mein Entschluss steht auch jetzt wieder fest.
2009-10-15, Etappenprofil, Länge 7,9 km, Aufstieg _.___ m, Abstieg ___ m
... weiter gehts im Teil 2 weiter unten in diesem Thread
Reisezeit: 14.10. - 24.10.2009
Region/Kontinent: Südeuropa
TEIL 1
Prolog
Es ist spät abends. Das Feuer im Kamin ist fast erloschen. Meine Familie schläft bereits und ich starre in die Glut. Ruhe liegt über der Nacht. Dunkelrot glimmt das verbrannte Holz und die Erinnerung setzt langsam ein. Bilder. Geräusche. Sonne. Blau. Unendlich tiefes Blau.
Es hat lange gedauert, bis ich mich diesmal auf meine Gefühle eingelassen habe. Etwas Unerhörtes war geschehen und ich bin immer noch aufgewühlt, wenn ich zurückblicke. Es sind nicht so sehr die Erlebnisse, es ist viel mehr die Intensität dieses einen Augenblicks. Es ist die fast banale Beiläufigkeit die zu diesem entscheidenden Moment führte, der Moment selbst und wie sich danach doch alles in einen Sinn fügte.
Wind, Schweiß, der erste Schnee, das Knirschen der Stiefel im Schnee.
Ich starre in die Glut.
Selten ergibt sich die Gelegenheit in einem Jahr, in welchem man eine Bergtour unverrichteter Dinge abbrechen musste, diese doch noch einmal gehen zu können. Normalerweise verhindert allein der übliche Lauf der Dinge die Möglichkeit einer zweiten Chance. Auch die bildhaft ausgemalte Vorstellung, ein Stück des anstrengenden Weges nach so kurzer Zeit noch einmal in allen Einzelheiten gehen zu müssen, ist wenig Ansporn, sich in dieser Angelegenheit stärker zu engagieren. Und natürlich hat sich auch der Gram um die kleine Schmach irgendwo eingenistet und versperrt den völlig unbeschwerten Blick. Am besten ist es also, so oder so, die frischen Geschichten etwas ruhen zu lassen, bis die Sehnsucht beginnt, sie wieder von allein heraus zu kramen.
Ungünstige Bedingungen führten dazu, dass meine Familie den Urlaub dieses Jahr zwar zusammen aber doch getrennt verbringen musste. Mich behinderte ein völlig verhageltes Projekt, meine Familie der sich stetig steigernde Regen am Bodensee.
Auf die Sonne sehnsüchtig wartend bemühte sich meine Frau die meiste Zeit Regenvarianten auszudenken, während ich im klammen Zelt hockte und mit einer merkwürdigen Anwandlung von Perfektion einen nicht zu rettenden Bericht verfasste. Als sich innerhalb von zwei Wochen das Wetter immer weiter verschlechterte und die Kinder begannen ihr Heimweh lautstark zu äußern, packten wir eines Morgens kommentarlos unsere Sachen wieder ein und fuhren zurück. Einfach so. Es beschwerte sich auch niemand. Zehn Minuten nach unserer Ankunft war der Rest des Urlaubs gerettet.
Der Sommer verging und etwas fehlte. Eine alte Unruhe trieb mich ab und an hinaus in den Wald, ohne dass mir bewusst wurde, was ich suchte. Sehnsucht legte sich mit den langsam kürzer und kälter werdenden Tagen wie Herbstnebel auf mich. Mit der aufgehenden Sonne verflüchtigten sich normalerweise die Gespinste, bis eines kühlen Morgens der Nebel nicht mehr weichen wollte. Dicht eingepackt lag die Stadt lautlos um mich herum. Der Nebel trennte mich von der Stadt und diese von mir. Es fehlte mir der freie Blick.
Ich verspürte die Erleichterung der Anderen, als ich mich endlich getraute, diese winzige Bitte vorzubringen. Ich muss noch einmal los.
14.10.2009 – Ein entspannter Fehlstart
Arbeit bis zu letzten Minute. Am Abend vor dem Aufbruch komme ich erst ab zehn Uhr dazu, die Ausrüstung und Vorräte zu verpacken.
Drei Uhr morgens Autobahn. Fünf Uhr Start im Flieger. Schlaf. Sieben Uhr Landung. Es wird gerade hell, als ich als einer der Letzten das Flughafenterminal in Bastia verlasse. Mein Gepäck kam und kam nicht. Eigentlich hatte ich geplant mit einem Taxi direkt nach Casamozza zu fahren, um den einzigen in dieser Jahreszeit noch fahrenden Hochlandbus zu erreichen. Da es nunmehr doch nicht mehr sicher ist, dass ich diesen Bus rechtzeitig erreichen kann, vereinbare ich mit dem Taxifahrer zuerst in Casamozza nach dem Bus zu sehen, um mich im Fall der Fälle bis nach Ponte Lecchia fahren zu lassen. Von dort aus könnte ich notfalls mit dem Zug nach Vizzavona weiterreisen.
2009-10-14, Panorama auf der Pionte Muratello
In Casamozza, einem recht überschaubaren Dorf entlang der Straße nach Ponte Lecchia, liegt der Bushalteplatz im Licht der aufgehenden Sonne verlassen da. Kein Mensch weit und breit. Wir haben den Bus um drei Minuten verpasst. Claude der Taxifahrer schlägt mir vor, den Bus mit etwas forscherer Fahrweise einzuholen. Er meint, das könne nicht lange dauern. Als wir mit der Aufholjagd beginnen, hat der Bus, der Zeit nach zu urteilen, etwa fünf Kilometer Vorsprung. Claude setzt alles daran sein Versprechen einzulösen. Selbst für korsische Verhältnisse fährt er schnell. Sehr schnell. Etwas fatalistisch schaue ich in mich hinein.
Rasend schnell zieht die herbstliche Landschaft an uns vorbei. Am Horizont ist ein Bus auszumachen. Auf den Bergen liegt noch kein Schnee. Das Taxi prescht an langen Baufahrzeugen vorbei, überholt in engen Kurven Traktoren, liefert sich mit langsamen Kleintransportern Hupkonzerte. Die Flüsse und Bäche sind fast alle ausgetrocknet. Auf den Geraden fährt das Taxi in Fahrbahnmitte, rechts und links wild überholend. Die Maronen sind reif und hängen in hellen, grün stacheligen Büscheln in den Bäumen. Ein Pferdegespann biegt unendlich langsam auf die Straße. Pilze wachsen am Straßenrand. Das Taxi wird hin und her geschleudert. Schwarz-braun seidig glänzendes Fell. Das Taxi rutscht durch eine enge Kurve. Taunass glänzende Mauersteine an einer alten Brücke. Der Bus ist nur ein halbvoll besetzter Reisebus.
2009-10-14, Weg zu den Cascade des Anglais
Nach verblüffend kurzer Zeit stehe ich mitten in Ponte Lecchia an der am Kreisverkehr zentral gelegenen Tankstelle, welche zugleich als „Busbahnhof“ fungiert. Der Spaß hat achtzig Euro gekostet, meine Reisekasse ist geplündert. Ich betrete den kleinen Laden der Tankstelle. Der Tankwart meint, den Bus noch nicht gesehen zu haben, aber könne sich auch irren. Eine Gaskartusche gibt es bei ihm nicht zu kaufen. Auch der kleine Laden fünfzig Meter in Richtung Corte hat diese bereits aus dem Sortiment genommen. Im Supermarkt in Richtung Calvi das gleiche Bild.
Zum Ende der Nachsaison hat die Bahngesellschaft CNCF mit der seit Jahren geplanten Erneuerung der Bahngleise zwischen Ponte Lecchia und Ajaccio begonnen, um ab dem kommenden Jahr auch auf diesem Streckenabschnitt neue und schnellere Züge einsetzen zu können. Stromlinienförmige, weiß lackierte, kleine Schmalspur-TGVs sollen dann der wild schönen Insel einen weiteren Anstrich von Zivilisation geben. Ich stelle mir das Ergebnis so vor, als würde man einem alten korsischen, zerfurchten und mit einer aus der Mode gekommenen Hornbrille versehenen Gesicht eine neue Designerbrille aufsetzen. Dieses neue Gesicht wird bestimmt interessant und modern aussehen, eben wie aus unserer heutigen Zeit, aber auch einen Teil seiner charmanten Vergangenheit verloren haben. Und damit wird wieder ein Stück meiner Welt verschwinden.
Ersatzweise ist eine Busverbindung eingerichtet worden.
Da der nächste Bus erst gegen Mittag erwartet wird, schlendere ich zur Tankstelle zurück. Vielleicht nimmt mich ja jemand früher mit. An der Tankstelle steht ein kleiner weißer Bus. Ich renne. Gerade als er abfahren will, kann ich noch an eine der hinteren Scheiben klopfen. Es ist der Hochlandbus. Geduldig wartet der Fahrer und verstaut mein Gepäck, während ich ihm die Geschichte mit dem Taxi erzähle. Tja, er habe heute leider dreißig Minuten Verspätung, meint darauf der Fahrer mit einem breiten Grinsen. Aber die könne er wieder aufholen, wenn ich es eilig hätte. Es würde ihm auch keine Mühe vielmehr eine Freude bereiten, mich pünktlich ans Ziel zu bringen. Generös erwidere ich, dass ich gerade jetzt wieder alle Zeit der Welt gefunden hätte. Ich bin der einzige Fahrgast.
Die Fahrt in einem korsischen Überlandbus ist überraschend interessant. Neben dem Transport von Fahrgästen erfüllt er scheinbar noch eine Vielzahl anderer Funktionen. In kleineren Dörfern warten manchmal ältere Frauen an der Bushaltestelle, steigen aber nicht zu, bekommen stattdessen gegen Quittung Bargeld wie bei einer mobilen Sparkasse ausgezahlt. In Corte werden mehrere Frachtstücke aus- und zugeladen. In Vivario wird Post ausgetauscht. Ich als Fahrgast bin für den Fahrer nur eine kleine, willkommene Abwechslung außerhalb der Saison.
Mitten in den Bergen, in der Nähe einer der um die vorletzte Jahrhundertwende oberhalb von Vizzavona erbauten Villen, steige ich aus und begebe mich als erstes zum im Tal liegenden Bahnhof. Die Zeiten, als dieser Ort noch ein beliebter und mondäner Ferienort gewesen war, liegen bereits lange zurück. Nach kurzer Blüte ist dieser Ort vor etwa sechzig Jahren wieder eingeschlafen. Seither versinken die alten Prachtbauten Jahr für Jahr tiefer im wieder heranrückenden Wald oder beginnen zu verfallen. Die Köcher zum Aufnehmen der Wappenflaggen rosten vor sich hin. Die Fenster sind blind, Farbe blättert ab. Vor meinen Augen ziehen die fünfziger Jahre in schwarz-weiß vorbei.
Den Weg hier hinunter ins Tal hätte ich mir ersparen können. Die Station, die Refuge und das Hotel sind geschlossen, weil einerseits die Saison bereits vorbei und andererseits der Bahnbetrieb wegen der Gleisbauarbeiten eingestellt worden ist. Lebensmittel und Gas sind auch hier nicht mehr zu bekommen. Ich werde die Tour demnach ohne Gaskartuschen beginnen. Auf den Hütten wird sich schon etwas finden. Manchmal werden dort halbvolle Kartuschen von Wanderern zurückgelassen.
Es ist kurz vor elf Uhr, als ich mich auf den Weg begebe. Die Sonne scheint, ein leicht kühler Wind streicht von den Bergen herab. Still liegt der Wald vor mir. Ich breite die Arme aus und umarme die Welt. Im lichtdurchfluteten Dom der Bäume steige ich bergan. Nach etwa einer Stunde erreiche ich die Cascade des Anglais.
2009-10-14, Cascade des Anglais, oberer Teil
Unfassbar diese Stille, in welcher nur das Plätschern des Wassers zu hören ist. Schon als Junge konnte ich stundenlang am Ufer sitzend, die Zeit vergessen und dem unbändigen Murmeln lauschen. Im Dunkeln kehrte ich dann glücklich zu meinen erschreckten, mich suchenden Eltern zurück. Die Ängste nicht verstehend, die Belehrungen überhörend, das Abendbrot verschmähend wollte ich dann nur noch eins, in meinem Bett liegend dem Klang des Wassers nachlauschen. Wasser. Es zwingt mir seinen Rhythmus auf, ordnet meine Gedanken, reinigt mich.
Ich fülle meine Flaschen, kann nicht widerstehen, raste und lasse die Hände durch das Wasser gleiten. Es tastet nach mir. Paralysiert meine Gedanken. Bindet mich am Ufer fest. Das Ziel deiner Reise ist erreicht, flüstert es mir zu. Inzwischen bin ich alt genug den Zauber zu brechen.
Mit jedem Meter, welchen ich an Höhe gewinne, schneidet sich der Bach l‘Agnone tiefer in das Gestein ein. Auf dem Hochplateau angekommen durchzieht er in steilen, engen Kehren die Felsen. Einige kleine Wasserfälle säumen seinen Weg. Der Hochwald weicht zurück und macht Platz für die niedrige Macchia. In Serpentinen windet sich der Weg hinauf zum höchsten Punkt dieser Tour, zur Pionte Muratello.
2009-10-14, Aufstieg zur Pionte Muratello
Auf halber Höhe des letzten Anstiegs auf etwa eintausendneunhundert Metern scheuche ich Unmengen von Krähen auf. Immer wieder fliegen sie in einem riesigen Schwarm eine nicht einsehbare Stelle hinter mehreren großen Felsblöcken an. Sie landen, wenn ich mich entferne und nach jeder Kehre stieben sie wieder davon. Eine abstruse Choreografie. Hinter den Felsen wird vermutlich ein verendetes Tier liegen, welchem ihr Interesse dient. Zwei Raubvögel kreisen in großer Höhe über dem Tal.
2009-10-14, kurz vor der Pionte Muratello
Auf der Pionte Muratello angekommen zieht ein eiskalter Wind aus Norden über den Kamm hinweg. Zum ersten Mal an diesem Tag muss ich mir eine dünne Fleecejacke überziehen. Aber es ist immer noch ein traumhaft schönes Wetter. Große Wolkenberge werfen in schneller Folge ihre Schatten und treiben ein wildes Spiel mit der Sonne. Der Nachmittag hat begonnen.
Soweit ich sehen kann, sind die vor mir liegenden Berge entlang der nächsten Streckenabschnitte noch vollkommen schneefrei. Von rechts stößt die alpine Variante dieser Tour, welche in einem weitläufigen Bogen über den Monte d’Oro verläuft, mit dem von mir begangenen Weg zusammen. Aufgrund der anstrengenden letzten Tage und er fast schlaflos verbrachten Nacht habe ich mir dieses kleine Extra diesmal doch nicht gegönnt. Hier an dieser Stelle, nach knapp neun Kilometern, liegen bereits etwas mehr als eintausenddreihundert Meter Aufstieg hinter mir und noch einmal knapp siebenhundert Meter Abstieg vor mir.
Von hier oben kann ich die tief unter mir liegende Refuge de l’Onda bereits als kleinen Punkt erkennen. An der noch tiefer gelegenen Bergeries de l’Onda treiben Schäfer mit lauten Rufen und mit Hilfe von Hunden ihre Tiere zusammen. Der Abtrieb hat jetzt auch schon auf den niedriger gelegenen Weideplätzen begonnen und so werden sie die Tiere noch heute ins Tal zu ihrem Winterquartier bei Canaglia führen.
Zu Beginn des Abstiegs entdecke ich noch die kleine Plakette zu Gedenken von Jean Pierre Etienne, welcher an dieser Stelle im April 2003 bei einer Winterbegehung zusammen mit seinem Hund spurlos verschwand. Der Text gibt mir mehr Rätsel auf, als dass er Fragen beantwortet. In der heutigen Zeit einfach für immer zu verschwinden, grenzt fast an ein Mysterium.
2009-10-14, Gedenkplakette für Jean Pierre Etienne
Der Weg hinunter zur Refuge de l’Onda zieht sich über einen platten Kamm mit allerlei Geröll, ist aber schnell und relativ bequem zu gehen. Um zur Hütte zu kommen, führt der Weg noch ein Stück weiter bergab an ihr vorbei, um mit einer anschließenden Kehre wieder zu ihr zurück zu führen. Als ich mich direkt oberhalb der Hütte befinde, sehe ich, dass Rauch aus dem Schornstein aufsteigt. Bis jetzt war ich allein, heute Abend aber werde ich Gesellschaft haben. Auch gut.
2009-10-14, Abstieg zur Refuge de l’Onda
In der Nähe der Hütte ist für mein Zelt kein Platz mehr zu finden. Die einzigen freien Stellen sind mit Baumaterial belegt, mit welchem die Hütte winterfest gemacht werden soll. An anderen Stellen türmen sich die Reste des Jahres zu hohen Bergen auf. Metallene Hügel aus mit rotem Band verschnürten blauen Gasflaschen, riesige, randvoll mit Müll gefüllte weiße Säcke aus verstärktem Polyamidfasergewebe, graue Stapel verschlissener Matratzen. Ich müsste bis zur Bergeries de l’Onda absteigen, um einen ebenen Platz finden zu können.
Ich stoße die Tür zur Hütte auf und das vielfältige Gemurmel von etwa zwanzig Wanderern erstirbt mit einem Schlag. Neugierig mustern sie mich, den Neuen. Ich grüße und sofort setzt das Gemurmel wieder ein. Französisch, Spanisch, Englisch, verschiedene Dialekte. Ich bin erleichtert, dass die Menge mich augenscheinlich ignoriert.
Obgleich sich in verschiedenen Sprachen unterhaltend, scheint sich die Menge zu kennen. Es scheinen ausschließlich Bergführer zu sein, welche in dieser Hütte zum letzten Mal in diesem Jahr zusammenkommen, ihren Abschied feiern und am nächsten Tag zu ihrer letzten Tour aufbrechen werden.
Ich setze mich in die äußerste Ecke des Gemeinschaftsraumes und studiere meine aktuellen Wetterkarten. Auf den Bildern kann ich erkennen, dass das über den Alpen stehende Tiefdruckgebiet in den nächsten Tagen langsam nach Süden abgedrängt werden wird. Nachdem in den letzten Tagen in den Alpen bereits der erste Schnee gefallen ist, wird dieses Wetter voraussichtlich auch hier Auswirkungen haben. Und vermutlich wird sich dieses Wetter einmal im Uhrzeigersinn um die Insel drehen, bevor es von einem aus Südwest nachdrängenden Hochdruckgebiet wieder nach Norden verschoben werden wird.
Eine junge Frau gesellt sich zu mir. Anna-Maria aus Brüssel, Bergführerin, genannt Maria. Tiefblaue Augen, strahlendes Lächeln, aschblondes Haar. Sie hat ein klassisch geradlinig, schönes Gesicht. Wenn ich verlegen bin, schaue ich meinem Gegenüber über die Gläser meiner Brille hinweg direkt ins Gesicht. Das wird mir meist als interessierte Aufmerksamkeit ausgelegt, hilft mir aber dabei, nicht zu viel zu erkennen.
Sie fragt mich in fünf verschiedenen Sprachen und ohne eine Antwort abzuwarten, woher ich komme. Ich kann erst einmal gar nicht antworten. Ihre Augen. Sie fragt mich auf Englisch, ob ich wirklich keine dieser Sprachen, Französisch, Spanisch, Italienisch, Englisch oder Deutsch verstehen würde. Diese Augen. Ich antworte ihr auf Englisch, ich wäre noch am Überlegen, in welcher Sprache ich ihr am besten antworten könne.
Sie lacht, überlegt kurz, erkennt meinen Akzent und antwortet fast akzentfrei in Deutsch, dass sie schon so lange kein Deutsch mehr gesprochen hätte und sich deshalb riesig freuen würde, es wieder einmal auszuprobieren. Sie beginnt den Osterspaziergang zu rezitieren, „ Vom Eise befreit sind Strom und Bäche …“. Mir wird bewusst, dass die anderen Bergführer ob der deutschen Sprache jetzt mit einem Mal zu uns herüber sehen. Auch ihnen schenke ich einen Blick über meine Brille hinweg und dazu ein verlegenes Lächeln.
Maria studiert interessiert meine Wetterkarten und meint lakonisch, dass das Wetter sich halt immer mal wieder ändern würde. Und mit ihrem bezaubernden Lächeln meint sie zu mir, ich würde die Sache etwas zu Deutsch angehen. Recht hat sie ja, ich bin eben ein alter deutscher Angsthase. Da außer mir und Maria keiner Deutsch spricht, schlage ich vor, bei Englisch zu bleiben.
Beiläufig erfahre ich, dass sie sich heute mit ihrem Freund und weiteren Freunden, alles Bergführer, hier auf der Hütte zum gemeinsamen Saisonabschluss getroffen habe. Einige von ihnen würden ab morgen ein kleines, entspanntes Speed-Hiking in Richtung Norden veranstalten wollen.
Von diesen Events am Ende einer Saison auf Korsika habe ich schon früher einmal eher zufällig im Internet gelesen. Die Regeln sind denkbar einfach. Es werden nur die Start- und die Ankunftszeit vermerkt. Die Route, die Ausrüstung, die Pausen und eben das ganze Drumherum sind unwichtig. Es zählt nur die Gesamtzeit zwischen zwei Etappen. Dadurch, dass bei gutem Wetter normalerweise ein recht hohes Tempo gegangen wird, versuchen die Teilnehmer meistens noch eine zweite Etappe, ein sogenanntes Double, dranzuhängen. Auch bei einem Double gelten die gleichen Regeln, wichtig ist nur die Gesamtzeit jeder einzelnen Etappe. Wer allerdings am Endziel als Erster ankommt, erhält einen Punkt extra, womit die Doubles für die Gesamtwertung dann doch eine gewisse Bedeutung erlangen.
Für mich persönlich sind diese Speed-Hiking-Events eher nichts. Einerseits bin ich schon etwas zu alt, um dauerhaft ein so hohes Tempo gehen zu können. Andererseits versuche ich meistens autonom, also ohne Benutzung von Hütten, unterwegs zu sein, und habe deshalb besonders bei Solotouren entsprechend viel Equipment dabei. Auf dieser Tour beträgt das Anfangsgewicht meines Rucksacks ziemlich genau sechzehn Kilogramm und ist damit etwa vier bis sechs Kilogramm schwerer als das der Bergführer. Dankend lehne ich die Einladung, mich an dem Event zu beteiligen, ab.
Bei der Vorbereitung zum gemeinsamen Abendbrot lerne ich nach und nach die anderen Bergführer kennen. Die meisten von ihnen sind Franzosen und leben auf Korsika, wenngleich kein einziger Korse unter ihnen ist. Vier stammen aus Spanien. Eigentlich sind es sechs, aber zwei von ihnen bestehen darauf, dass sie Basken und keine Spanier sind. Die Gruppe komplettieren zwei Iren und ein Brite. Bis auf zwei fast sechzigjährige Ausnahmen sind die meisten von ihnen in den Zwanzigern oder Anfang der Dreißiger und somit deutlich jünger als ich.
Neben der heiteren, gelösten Stimmung fällt mir besonders auf, dass sehr aufwändig gekocht wird. In den Rucksäcken der Bergführer scheinen sich fast nur Lebensmittel zu befinden. Ich bin der Einzige, der Instant-Nahrung mit sich führt.
Da ich in der letzten Nacht fast gar nicht geschlafen habe und die Feier sich noch eine ganze Weile hinziehen wird, verabschiede ich mich als Erster zum Schlafen. Trotz oder gerade wegen der netten Gesellschaft habe ich den festen Vorsatz, am nächsten Morgen als Letzter aufzustehen und die ganze Gruppe vor mir aufbrechen zu lassen. Ihr Vorhaben ist nicht ganz das, was ich mir vorgestellt habe, als ich mich nach langem Ringen zur Wiederholung meiner gescheiterten Frühjahrstour entschlossen habe.
Kurz vor dem Einschlafen, beim Nachsinnen über den vergangenen Tag, bemerke ich deutlich, dass sich ein Teil von mir zu dieser Gruppe hingezogen fühlt. Eine Solotour bedeutet ja immer auch ein etwas höheres Risiko im Falle von Verletzungen. Und so gerate ich regelmäßig mit mir in Konflikt, wenn es die Möglichkeit gibt, sich für einige Zeit an eine nette Gruppe anhängen zu können. Aber ausgerechnet Speed-Hiking. Ausgeschlossen. Mein Entschluss steht fest.
2009-10-14, Etappenprofil, Länge 11,3 km, Aufstieg _.___ m, Abstieg ___ m
15.10.2009 – Über den Berg
Am nächsten Morgen, noch bevor es hell wird, klappern mich im Schein ihrer Kopflampen die Bergführer beim Verpacken ihrer Ausrüstung wach. Ich bin wohlig ausgeruht, lasse die Augen geschlossen und dämmere noch eine Weile vor mich hin. Nach einiger Zeit verebbt das Klappern und in der Hütte ist es wieder angenehm still. Als ich meine Augen in der fahlen Dämmerung öffne, ist das Erste, was mir auffällt, dass mein Atem als weißer Rauch in die kalte Hüttenluft steigt. In der Nacht muss es einen Temperatursturz gegeben haben. Ein Blick aus dem Fenster zeigt mir leicht verschneite Berge. Ich schäle mich aus dem warmen Schlafsack und verspüre sofort die Minusgrade in der Hütte.
In kurzer Unterwäsche stehe ich im Halblicht des aufziehenden Tages und werfe beim Anziehen laut polternd meine Trekkingstöcke um. Die Tür zur Küche geht auf und strahlend, wie auch sonst, begrüßt mich Maria und fragt, ob ich auch etwas frisch gebrühten Kaffee trinken möchte. Patrick, ihr Freund, bäckt derweil frische Pfannkuchen mit dunkelroten Beeren. Schon wieder verlegen setze ich mich zu ihnen an den Tisch. Mit uns prallen so verschiedene Lebensentwürfe aufeinander. Auf der einen Seite mein dehydriertes, blasses Essen als Zeichen äußersten Verzichts und auf der anderen Seite die farbenfrohe, frische französische Küche, aus dem Hut gezaubert zwischen Schnee und Stein.
Den dampfenden Kaffee in den Händen frage ich die Beiden, warum sie nicht bereits mit den Anderen aufgebrochen sind. Patrick erklärt mir darauf, dass sie wegen des Schneefalls heute kein Double gehen werden. Es wäre heute vor allem auf dem zweiten Abschnitt zwischen der Refuge de Petra Piana und der Refuge de Manganu etwas zu riskant noch in einen Schneesturm zu geraten. Aus diesem Grund würden sie auch die Talvariante über die Bergeries de Tolla und die Bergeries de Gialgo zur Refuge de Petra Piana und nicht die alpine Variante gehen. Die Talvariante wäre zwar etwas länger dafür aber weitgehend schneefrei. Bis auf den britischen Bergführer mit seiner französischen Partnerin würden auch die Anderen, die beiden Basken, den Talweg vorziehen. Der Rest der Gesellschaft ist in Richtung Süden aufgebrochen.
Hubschrauberlärm schreckt uns auf. Donnernd schwebt eine dieser wendigen Maschinen das Tal hinauf und bleibt etwa fünf Meter über der Hütte stehen. Ein Mann seilt sich ab und erklärt uns, dass sie jetzt die Hütte winterfest machen würden. Solange der Hubschrauber in der Nähe der Hütte wäre, dürften wir diese auch nicht mehr verlassen, da das Ein- und Abhängen der Lasten bei dem Wind sehr risikoreich sei. Wir schauen uns das kostenlose Schauspiel aus dem Fenster an und ziehen unwillkürlich den Kopf ein, als eine der Lasten beim Anflug leicht gegen das Dach prallt. Die Verladefläche an dieser Hütte ist so eng, dass der Pilot alle Mühe hat, die im Wind pendelnden Lasten sicher auf den Boden zu bekommen.
2009-10-15, Heli an der Refuge de l'Onda
Während draußen hektisch die Arbeiten beginnen, packen wir unsere Ausrüstung zusammen und machen uns abmarschbereit. Zwischen zwei Flügen, es ist jetzt fünfzehn Minuten vor neun Uhr, brechen wir auf und genießen das Schauspiel aus sicherer Entfernung noch eine kleine Weile. Kurz nach der Hütte trennen sich unsere Wege. Maria und Patrick gehen weiter hinab in das Tal, während ich beginne, den Anstieg zur Punta di l’Altore zu erklimmen. Wie geplant werde auch ich die alpine Variante gehen.
Auf halber Höhe drehe ich mich noch einmal um. Meine Augen blinken silbern im schneidenden Wind. Wie im Frühjahr gibt es auch im Herbst diesen einen Tag, an welchem du merkst, dass die Jahreszeiten wechseln. Und heute hat für mich der Winter begonnen. An eben diesem, meinem ersten Wintertag ist es unverkennbar kalt. Raureif und kalt verbackener Schnee überzuckert das Land. Die Rinnsale sind gefroren. Und es ist völlig egal, ob noch einmal wärmere Tage den Herbst wiederbringen werden, heute hat für mich der Winter begonnen.
2009-10-15, Aufbruch an der Refuge de l'Onda
Der erste Teil der heutigen Tour ist relativ einfach zu gehen. Über einen mit kleineren Felsbrocken übersäten Hang geht es hinauf bis zur Punta di l’Altore, einer Art Plateau vor dem eigentlichen Gipfel, der Capu a Meta, welcher den Beginn einer etwa drei Kilometer langen Gratwanderung markiert. Auf dem Hang liegen etwa fünf Zentimeter feinkörniger Neuschnee. Die Temperatur beträgt minus fünf Grad Celsius und die Sonne scheint. Den ganzen Vormittag werden ständig weitere Schneemengen aus Nordwest durch tief fliegende, schmale Wolkenbänder herangetragen, welche sich an den Hängen in Höhen ab eintausendfünfhundert Metern ablagern. Die Wegemarkierungen sind mittlerweile weitgehend von Schnee bedeckt, aber der Weg ist durch die Spuren der vor mir gehenden Bergführer noch gut zu erkennen. Nach etwa einer dreiviertel Stunde habe ich das erste Plateau erreicht.
2009-10-15, Punta di l’Altore
Der weitere Weg hinauf zur Capu a Meta wird inzwischen von einem kleineren Schneesturm verdeckt. Ungefähr einhundert Höhenmeter oberhalb von mir kann ich, als die Wolken aufreißen und für Sekunden einen Blick auf den Gipfel freigeben, den britischen Bergführer mit seiner französischen Partnerin erkennen, wie sie sich meines Erachtens deutlich zu weit rechts den Weg durch die ersten tieferen Schneewehen hinauf bahnen. Ich vertraue meinem GPS und steige weitgehend blind im Schneegestöber auf einer weiter links führenden Route hinterher.
In früheren Zeiten, also noch vor der Einführung der ersten privat nutzbaren GPS-Geräte, wäre ich als Solo-Geher in der gleichen Situation bestimmt nicht in dieses Wetter eingestiegen. Inzwischen stellt die mangelnde Sicht in einem einfacheren Gelände aber kein so großes Problem mehr dar, wenn eine insgesamt für dieses Wetter ausreichende Ausrüstung vorhanden ist. Unangenehm bleiben mir aber weiterhin das blinde Technikvertrauen und die Ungewissheit vor den folgenden Situationen. Ich mag es einfach nicht, blind in den Bergen herumzustapfen, auch wenn es inzwischen technisch funktioniert.
Das stürmische Wetter verkrustet immer wieder meine Gletscherbrille und das GPS-Gerät, so dass ich regelmäßig anhalten muss, um beides zu reinigen. Ich beeile mich, so gut es geht, diesem Wetter zu entfliehen. Auf der Capu a Meta angekommen bin ich etwas außer Atem wegen des schnellen Aufstiegs. Ich mache eine kurze Rast und bin sehr erstaunt, dass plötzlich die beiden Bergführer, Christopher und Barbara, zu mir aufschließen. Sie sind ebenfalls sichtlich erschöpft, da die Schneeverwehungen auf ihrem Umweg noch tiefer als bei mir gewesen sein müssen. Beide sind ohne GPS unterwegs und verlassen sich auf ihrer Hausstrecke ausschließlich auf ihre Erfahrung, ihr Gespür und einen Kompass.
Da die Sicht weiter sehr schlecht ist, führe ich nunmehr auf dem anschließenden Wegstück, dem Gipfelgrat Serra di Tenda, unsere kleine, neu gebildete Gruppe an. Auf halber Strecke zum höchsten Punkt der heutigen Tour, der Pointe de Pinzi Corbini, muss in einen Felskessel etwa achtzig bis einhundert Meter abgestiegen werden, um in diesem anschließend bis zum Sattel Bocca a Meta zu queren. Ich bin mir nicht wirklich sicher, ob ich den richtigen Punkt für den Abstieg gefunden habe, da der Schnee den im Sommer gut sichtbaren Pfad vollständig bedeckt und auch sonst die Landschaft in kürzester Zeit umgestaltet hat. Ich wähle in Ermangelung besserer Alternativen einfach die für mich offensichtlichste Stelle für einen Abstieg aus. Immerhin hat mittlerweile das Schneetreiben nachgelassen, so dass uns die Sicht in den scharf gezackten Felskessel und auf die umliegenden Berge ermöglicht wird.
2009-10-15, Gipfelgrat Serra di Tenda
Die Schwierigkeit beim Abstieg besteht nunmehr darin, dass die eigentlich einfachen und deshalb ungesicherten Kletterstellen vollständig mit einer zu Schneenadeln verkrusteten Schicht überzogen sind. Dies ist zwar wunderschön anzuschauen aber leider auch höllisch glatt. Wir beschließen, untereinander jeweils einen größeren Abstand einzuhalten und uns nicht gegenseitig zu helfen, da wegen mangelnder Sicherungsmöglichkeiten jeder diesen Abstieg allein meistern muss. Ich steige als Erster ein.
2009-10-15, Zugang zur Kletterstelle
Schon auf den ersten Metern merke ich, dass die freistehenden Felsbrocken wie mit einer dünnen glasartigen Schicht überzogen sind. Der erste Schnee muss an den noch warmen Felsen geschmolzen und direkt danach durch den kalten Wind gefroren sein. Auf dieser dünnen Eisschicht sind anschließend weitere Schneeflocken auskristallisiert und haben sich wie bei einem Igel als ein Stachelkleid um den Fels geschmiegt. In konzentrischen Wirbeln angeordnet, geben sie dem Granit ein wahrhaft lebendiges und zugleich majestätisches Aussehen. Ich sträube mich, mit meinen profanen Bewegungen, Tritten und Griffen diese Schönheit zu zerstören. Ich muss innehalten, um wenigstens etwas davon zu fotografieren. Vergänglichkeit.
2009-10-15, Oberhalb der Kletterstelle
Bei meinem Abstieg versuche ich mich so konzentriert und gespannt wie nur möglich zu bewegen, um diese Glätte wenigstens etwas zu beherrschen. Ich muss gestehen, dass ich bisher selten so wenig Gefühl zum Fels hatte, wie an diesem Morgen. Es ist quasi gar kein Vertrauen mehr zum Untergrund vorhanden. Als heimlicher Vertreter einer dynamischen Ein- bis Zweipunkttechnik beim Klettern versuche ich nunmehr die hochgelobte Dreipunkttechnik in eine Vierpunkttechnik umzuinterpretieren. Schieben der Hände und Füße statt Klettern. An manchen Stellen bin ich so ratlos, dass ich sogar kleinere Sprünge als das geringere Übel ansehe, um mir hinterher die Dummheit dieser Idee für immer in das Gedächtnis einzubrennen. Steigeisen oder ein Seil wären jetzt nicht schlecht.
2009-10-15, Mitten in der Kletterstelle
Von weiter oben muss sich meine Art der Fortbewegung als ziemlich unorthodoxe Methode dargestellt haben. Zumindest ernte ich aufmunternde Zurufe und meine beiden Begleiter versuchen sich in einer Adaption derselben. Ich möchte jetzt nicht behaupten, dass wir grazil und elfengleich den Berg hinabgewandelt sind, aber wir haben es letztlich ohne Blessuren geschafft. Und wir sind uns einig, von einem Beherrschen der Situation war hier nicht mehr viel übrig geblieben. Glück gehabt.
2009-10-15, Unterhalb der Kletterstelle
Die anschließende Querung ist dafür völlig unproblematisch. Der Schnee hat zwar an einigen Stellen, vor allem zwischen den Blocksteinen, eine Höhe von zwanzig bis vierzig Zentimeter erreicht, aber gleichzeitig haben sich inzwischen die Schneeverwehungen zu einer weitgehend stabilen Decke verfestigt. Ich sinke kaum noch ein und komme sehr schnell voran. An dem Sattel Bocca a Meta angekommen raste ich kurz. Kurz darauf stoßen auch Christopher und Barbara zu mir. Da die Beiden an dieser Stelle ebenfalls rasten möchten und sich das Wetter mit strahlendem Sonnenschein jetzt von seiner besten Seite zeigt, verabschiede ich mich, um allein weiter zu gehen.
2009-10-15, Querung zum Sattel Bocca a Meta
Schnell erklimme ich den einhundertsechzig Meter über uns liegenden Gipfel Pointe de Pinzi Corbini. Oben angekommen lasse ich den Blick noch einmal schweifen, winke den beiden Bergführern zu und bin mir bewusst, dass ich die Herausforderung angenommen habe. Entgegen zu meinem abends zuvor gefassten Vorsatz treiben mich meine beiden Begleiten nunmehr unwissentlich und unsichtbar vor sich her. Ich spüre, dass ich mich nur noch ungern einholen lassen möchte. Ich spüre, wie dieser kleine Wettbewerb von mir Besitz ergreift, mein Denken verändert, mich assimiliert. Es ist jetzt schon etwas weniger meine eigene Tour, aber es macht auch Spaß. Der Versuch herauszufinden, wie lange ich mit der Gruppe mithalten kann, übt einen unwiderstehlichen Reiz auf mich aus. Es noch einmal zu probieren, wie in alten Zeiten.
Da nach dem Gipfel die restlichen dreieinhalb Kilometer der heutigen Tour fast ausschließlich horizontal oder bergab verlaufen, schlage ich jetzt probeweise ein für mich ungewöhnlich hohes Tempo ein. Nun ich renne nicht gerade, aber ich gehe straff. Trotz dessen gelingt es mir nicht, meine beiden „Verfolger“ auf Distanz zu halten. Etwa dreihundert Meter vor dem Ziel kommen sie mich freundlich grüßend und sich ständig unterhaltend an mir vorbei gerauscht. Nach wenigen Minuten geselle ich mich an der Refuge de Petra Piana zu ihnen und kurz darauf treffen auch Maria und Patrick ein. Die beiden Basken Joshua und Elias waren die Ersten an der Hütte und haben bereits den Ofen vorgeheizt, um zum Mittagessen die von ihnen unterwegs frisch gesammelte Maronen rösten zu können. Als wir ankamen, lagen sie bereits auf der Veranda in der Sonne und haben uns aus der Ferne beobachtet.
2009-10-15, Blick zurück von der Pointe de Pinzi Corbini (unterhalb die beiden Bergführer)
Überaschenderweise stellt sich beim Vergleich der einzelnen Zeiten heraus, dass ich mit vier Stunden und achtunddreißig Minuten Gesamtzeit knapp vier Minuten Vorsprung auf die beiden Basken herausgelaufen bin. Fairerweise muss dazu aber angemerkt werden, dass sowohl die beiden Basken als auch Maria und Patrick im Wald nicht unerhebliche Mengen Maronen für uns alle gesammelt haben. Aber so sind sie nun einmal, die Regeln. Und das Wichtigste auf dieser Tour ist allemal das gute Essen.
Durch diesen kleinen Achtungserfolg, welcher mich fast an die Grenze meiner Leistungsfähigkeit gebracht hat, muss ich jetzt natürlich allen versprechen, auch an den nächsten Tagen nicht zu kneifen. Ich ziere mich zwar noch etwas, lasse mir die ein oder andere verbale Hintertür offen, weis insgeheim aber schon, dass ich es versuchen werde. Es scheint ein bisschen möglich zu sein, mithalten zu können.
Nach dem Mittagessen, kurz vor zwei Uhr nachmittags, beschließen Christopher und Barbara trotz der schlechten Wetterprognosen mit Sturm, Schnee und tiefen Temperaturen ein Double zu versuchen. Zu dieser Jahreszeit ist dieser Zeitpunkt die späteste mögliche Uhrzeit, um noch eine Tour beginnen zu können. Eigentlich ist es sogar schon zu spät, da der Sonnenuntergang etwa eine halbe Stunde nach sechs Uhr erfolgen wird. Das Tageslicht erlischt in den Bergen demzufolge je nach Wolkenstand kurz nach sechs Uhr. Vier Stunden bis zur Dunkelheit für eine Tour, welche regulär mit sechseinhalb Stunden angegeben wird, ist mir eindeutig zu riskant. Noch dazu führt die folgende Route gerade im zweiten Teil an einigen bei Schnee und Eis nicht ganz ungefährlichen Stellen im Bereich der Breche de Capitello vorbei. Ich winke ab, dass ist eindeutig nichts für mich. Ebenso entscheiden sich die Anderen zum Verbleib an der Hütte, auch wenn das für sie einigen ungewohnten Müßiggang bedeutet.
Während Christopher und Barbara ihr Double versuchen, nutzen wir die Gelegenheit, uns näher miteinander bekannt zu machen. Ein völlig entspannter Nachmittag beginnt für uns, welchen wir mit allerlei kulinarischen Versuchen zu füllen gedenken. Einige der Kochpausen kann ich zudem nutzen, um die nähere Umgebung zu erkunden und Fotos zu machen.
Im Laufe des Nachmittags fällt die Temperatur von etwa plus fünf auf minus fünf Grad Celsius. Der Wind frischt auf, aber in diesem Tal fällt heute kein Neuschnee mehr. Die mit einem Steinbecken eingefasste Quelle in der Nähe der Hütte beginnt einzufrieren, bis nur noch ein kleines Rinnsal an den Eiszapfen hinabfließt. Es ist der eisige Wind, der hier alles auszukühlen beginnt. Wir verkriechen uns früh in den Schlafsäcken.
Wie immer nutze ich die ersten Minuten der Nacht, den Tag etwas nachzuschmecken, die Bilder zu fangen, das Glück zu begreifen. Heute muss ich aber vorher noch einige Dinge mit mir regeln. In dem Augenblick, in dem ich mich auf das Speed-Hiking eingelassen habe, also in dem Augenblick, als ich akzeptierte, mehr als eine einzelne Tour schnell gehen zu wollen, akzeptierte ich zugleich, dass ich die Idee meiner eigenen Tour aufgab. Die Konsequenz daraus ist recht einfach. Es geht nur ganz oder gar nicht. Das Handicap der schwereren Ausrüstung kann ich nicht noch durch den Nachteil einer Zeltübernachtung vergrößern. Demzufolge werde ich ab jetzt auf dieser Tour ausschließlich in den Hütten übernachten. Und die Vorteile sind nicht zu verachten. Es gibt dank der Solarstromanlagen Licht. Es gibt mehrere Kochplatten, wodurch sich das Kochen deutlich vereinfacht. Es gibt einen Holzofen, was die Regeneration des ausgelaugten Körpers in einem warmen Raum befördert. Und der Zeltabbau in der Nacht entfällt, wodurch sich die Erholungsphasen verlängern. Und wie so immer, mein Entschluss steht auch jetzt wieder fest.
2009-10-15, Etappenprofil, Länge 7,9 km, Aufstieg _.___ m, Abstieg ___ m
... weiter gehts im Teil 2 weiter unten in diesem Thread
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