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Im Faltboot von den Alpen an die Adria
Über Lago Maggiore, Ticino & Po bis nach Venedig
Schuld an allem war der Schweizer Michael Rytz. Es war an einem kalten Winterabend 2012. Ich saß daheim vor dem Computer und starrte auf den Bildschirm. Meine Gedanken jedoch waren frei und flogen draußen durch den Schneeregen. Schlagartig erwachte ich aus meiner Trance als ich auf das Video: "Im Kajak von Locarno nach Venedig" stieß. Die Idee, diese Tour selbst einmal zu fahren, hatte sich von diesem Moment an fest in meine Hirnwindungen eingegraben.
Guido mein Paddelpartner reagierte auf meinen Vorschlag wenig motiviert: "Diese Italien Tour wäre nix für mich. Der Film ist zwar nett gemacht, aber Italien steht bei mir nicht auf der Favoritenliste." ließ er mich in einer kurzen Mail wissen. "Das werden wir ja noch sehen." dachte ich mir, aber für den Moment ließ ich das Thema unter den Tisch fallen und wir traten gemeinsam die Reise an den Allier an.
Der Gedanke an Italien war jedoch keinesfalls gestorben. Immer und immer wieder spukte die Tour durch meinen Kopf, bis ich schließlich begann sie konkret zu planen. Als ich das fertige Konzept auf dem Tisch liegen hatte, rieb ich es Guido erneut unter die Nase. Nach einiger Zeit des Nachsinnens willigte dieser schließlich ein. "Na gut, dann lass uns den Po halt machen."
Der Lago Maggiore und das Tessin
Es war ein warmer Samstag Abend als wir gemeinsam in Locarno ankamen. Da Unterkünfte hier für Ausländer kaum zu bezahlen sind, griffen wir auf die Möglichkeit des Couchsurfens zurück. Wir wurden von Sandra, einer netten Falknerin in ihrer Wohnung aufgenommen. Den Weg dorthin legten wir mit dem Taxi zurück. Guido der alte Knacker hatte sich beim Transport seiner Ausrüstung den Rücken beleidigt. Als uns der Taxifahrer vor Sandras Wohnung hinausgeschmissen hatte, zählte Guido stirnrunzelnd die Scheine in seiner Hand. "Ich kenne mich ja mit den hiesigen Zahlungsritualen nicht aus, aber da habe ich dem einen Fünfziger gegeben und der gibt mir glatt 85 Franken zurück." Bevor wir den Taxifahrer jedoch auf seinen Fehler aufmerksam machen konnten, war dieser bereits aus unserem Sichtfeld verschwunden. "Das fängt ja gut an." grinste Guido. "Gleich am ersten Tag bekommen wir Geld geschenkt und das in der Schweiz. Das wird uns zuhause keiner glauben."

Blick ins Tessin von Sandras Balkon
Die Nacht verbrachte ich draußen auf Sandras Balkon. Ich würde noch genug Zeit mit Guido auf dieser Tour verbringen, da musste ich nicht gleich am ersten Tag mit ihm in einem Bett schlafen. Am nächsten Morgen karrte uns die nette Gastgeberin noch mit all unserem Gepäck zum Hafen von Locarno, wo wir ein kleines Passagierschiff bestiegen. Aus Zeitgründen hatten wir uns entschieden nicht den ganzen Lago Maggiore abzupaddeln, der über 60 Kilometer lang ist, sondern ein Stück mit dem Schiff zu fahren und erst in Italien einzusetzen. Das Tessin ist eine atemberaubend schöne Gegend und ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus während das Boot mit uns an Bord über den See jagte.

Unser Passagierschiff, im Hintergrund die Berge.
An beiden Ufern ragten hohe bewaldete Berge in den Himmel, auf deren Gipfel eisige Gletscher schimmerten. An den Ufern gediehen mediterane Pflanzen wie Palmen und Kakteen, die zwischen den hohen Bergen fast fehl am Platz wirkten. Das Wasser des Sees leuchtete in einem tiefen Blau und ich erschauderte bei der Vorstellung auf dem bis zu 370 Meter tiefen Gewässer Schiffbruch zu erleiden. Unser Boot klapperte Orte an beiden Seeufern im Zick-Zack ab, welche von Guido stets mit dem Ausdruck "gediegen" betitelt wurden. Es war wahrhaftig eine Gegend der Reichen und Schönen, dementsprechend verbaut waren auch die Seeufer. In Stresa, einem italienischen Kurort verließen wir schließlich das Schiff um den Rest des Sees in unseren eigenen Booten zu bewältigen.
Wir betraten festen Boden und von hier an nahm das Unglück seinen Lauf. An der Seepromenade begannen wir sogleich mit dem Aufbau der Boote. Sorgfältig sortierten wir die Spanten und Senten, bauten Bug- und Heckelement zusammen und führten die Teile in die Häute ein. Da unsere Boote beide noch relativ neu waren, ging diese Prozedur recht mühsam von der Hand. Beim Durchspannen des Kielrohrs löste sich immer wieder einer der Spanten aus seiner Verankerung. Jedes Mal wenn das geschah musste ich die Bootshälften wieder aus der Haut zerren und erneut einsetzen. Mit zunehmender Wut beobachtete ich Guido, der sein Boot schon fast fertig hatte. "Was macht dieser verflixte Kerl bloß anders als ich?" dachte ich in einem Anflug von Verzweiflung und begutachtete sein fast fertiges Boot.
Da sah ich, dass bei ihm der Spant ebenfalls herausgesprungen war. Guido hatte jedoch nichts davon mitbekommen und war einfach mit dem Aufbau fortgefahren. Nun blieb auch ihm nichts anderes übrig als das Boot wieder zu auseinander zu bauen. Unter Fluchen und Murren zerlegten wir die Gefährte erneut, den Atem der schaulustigen Touristen im Nacken, die keinen halben Meter hinter uns Position bezogen hatten. Letztendlich holte ich ein Stück Seil aus meiner Tasche und bändigte den aufmüpfigen Spant, in dem ich ihn kurzer Hand am Kielrohr festband. Als die Boote endlich einsatzbereit waren, hatte sich der Himmel verfinstert. Windböen bliesen uns um die Ohren und eine leichte Brandung klatschte ans Seeufer.

Die Boote sind aufgebaut und bereit zur Wasserung.
Schon das Einsteigen und Auslanden fiel mir alles andere als leicht. Ich hatte noch nie zuvor in einem Faltboot gesessen und nun sollte ich bei Wind und beachtlichen Wellen über einen unberechenbaren See fahren. Als ich es schließlich geschafft hatte hinaus aufs Wasser zu kommen, wäre ich am liebsten gleich wieder umgedreht. Das Boot kippelte hin und her, die Wellen hoben es hoch um es anschließend wieder abzusenken. Steuer hatte ich aus Zeitgründen keines montieren können und so versuchte ich durch Ankanten und heftiges Paddeln, mir das Gefährt in dem ich saß untertan zu machen. Der Himmel wurde immer finsterer und auch Guido war die Sorge ins Gesicht geschrieben. "Lass uns den nächstbesten Landeplatz suchen und dort unser Lager aufbauen!" rief er mir durch den Wind zu.
Ich musste nicht lange überredet werden. Nach nicht einmal zwei Kilometern Fahrt landeten wir an einem wenig einladenden, steinigen Strand an und bauten zwischen Glasscherben und Müll unser Lager auf. Die Wellen waren mittlerweile beachtlich und schlugen mit lautem Klatschen ans Seeufer. Wir redeten nicht mehr viel an diesem Abend. Guido verzog sich gleich ins Zelt und verschwand aus meinem Blickfeld. Ich beschäftigte mich noch einige Zeit mit der Steueranlage des Bootes und schaffte es letztendlich sie funktionstüchtig zu bekommen. "Damit sollte es morgen ein wenig einfacher werden." dachte ich zufrieden und verkroch mich in meinem Zelt.

Notbiwak am Lago Maggiore
In der Nacht tobte ein heftiger Sturm und die Brecher donnerten unentwegt über den Strand. Als wir am nächsten Tag aus unseren Zelten krochen, war der Lago Maggiore glatt wie Öl und die Sonne tauchte ihn in ein freundliches, warmes Licht. Bei perfekten Bedingungen querten wir den See, dessen Ufer leider sehr verbaut und daher zum Wildzelten völlig ungeeignet sind. Je näher wir dem Ausfluss kamen ums mehr traten die Berge in den Hintergrund. Die Landschaft wurde flacher, der See verlor allerdings nichts von seiner Schönheit. Wir quartierten uns kurz vor dem Ausfluss des Ticino in Arona auf einem netten Campingplatz ein.

Morgenstimmung am Lago Maggiore
Guido fühlte sich dort gleich wie zu Hause und sprach sich für einen Pausentag aus, um seinen immer noch schmerzenden Rücken schonen zu können. Mir war zwar gar nicht dannach einen weiteren Tag auf dem Campingplatz herumzusitzen, aber ich respektierte Guidos Wunsch und legte kein Veto ein. Wir verbrachten den Tag mit Einkäufen, lagen faul im Zelt herum und brachten Guidos Boot wieder auf Vordermann bei dem sich erneut der verflixte Spant gelöst hatte. Am Abend vor dem Aufbruch las ich noch ein wenig über den Ticino Inferiore den wir morgen erreichen würden. Mittlerweile erschien es mir wie ein Wahnsinn den schnellen Alpenfluss mit 5,20 Meter langen Seekajaks befahren zu wollen.

Pausentag am Campingplatz
Das Nortik Argo liegt sehr schwerfällig im Wasser und bei dem Gedanken damit Kurvenschwälle zu fahren, Prallwände zu meistern und umgestürzten Bäumen auszuweichen, zog sich mein Magen zusammen. Vor dem Schlafengehen rannte ich auf dem Campingplatz umher wie aufgezogen. Ich las Guido noch den Bericht eines Kanadierfahrers vor, der auf dem Ticino bei Hochwasser zwei Mal havariert hatte. Einmal wurde er unter einem provisorischen Damm durchgespült und beim zweiten Mal fand er sich plötzlich in einer Wasserwalze wieder, der er jedoch nach einigen Umdrehungen lebend entkommen konnte. Ich schloss meine Lesung mit den Worten: "So, nun bist du informiert was dich morgen erwartet. Brauchst dich dann nicht beschweren du hättest nichts gewusst wenn du in der Walze rotierst."
Im Tal des Ticino Inferiore
Am nächsten Tag brachen wir in aller Frühe vom Campingplatz auf und absolvierten den Rest des Sees. Der Lago Maggiore verengte sich nun trichterartig und verwandelte sich in einen Fluss, den unteren Tessin - Ticino Inferiore genannt. Die Menge des aus dem See abfließenden Wassers wird durch ein Wehr geregelt. Ist der Pegel des Lago Maggiore dementsprechend hoch, sind dessen Schotten heruntergeklappt und man kann einfach darüber hinweg fahren.

Das Wehr Miorina regelt den Ausfluss aus dem See.
Das war bei unserer Fahrt jedoch nicht der Fall und so mussten wir einen Weg um das Hindernis herum suchen. Wer versucht rechts anzulanden wie es der DKV Führer empfiehlt, wird an seinem Leben bald nicht mehr viel Freude haben. Dort ist das Aussteigen wegen betonierter Steilufer fast unmöglich und der Sog des Wassers zieht gefährlich in Richtung der Wehrkrone. Wir näherten uns daher von der anderen Seite und landeten sicher vor dem Wehr an. Guido maulte zwar weil er schon wieder aus dem Boot steigen musste, aber ich konnte es nicht ändern. Auf der linken Seite gab es eine Schleuse, die wir jedoch nicht benutzen konnten. Aus den Hand- und Fußzeichen der Kraftwerksmitarbeiter schloss ich, dass diese nur für Boote des Personals zugänglich ist.
Wir schleppten also unseren ganzen Krempel um das Hindernis herum und kletterten über steile Treppen wieder hinunter zum Unterwasser. Der Ticino war auf den nächsten Kilometern ein schnurgerades grünes Band, das ohne Schwierigkeiten, aber mit hoher Strömung, zwischen dicht bewachsenen Ufern dahinschoss. Es dauerte jedoch nicht lange bis die Strömung vor einem weiteren Kraftwerk vollständig zum Erliegen kam. Die nun folgende Umtragung sollte es in sich haben. Über anderthalb Kilometer mussten wir die Boote karren. Zuerst über eine viel befahrene Straße, dann über einen Schotterweg mit faustgroßen Steinen. Das Geniale an der Sache war dass wir den Weg zweimal gehen mussten.

Die Umtragung von Porto Torre.
Guidos selbstgebauter Bootswagen taugte überhaupt nichts und so legten wir mit meinem Eckla Foldy an diesem Tag fast 5 Kilometer auf italienischen Straßen und Schotterwegen zurück. Hinter dem Wehr fanden wir keine brauchbare Einstiegsstelle. Wir mussten die Boote über einen brusthohen Holzzaun hieven während ein Bernhardiner am gegenüberliegenden Gartentor Amok lief. Während wir die Boote beluden, gesellte sich plötzlich ein Italiener zu uns. Er grinste uns breit an, deutete dann auf unsere langen Seekajaks und schüttelte den Kopf. Dann imitierte er mit den Händen eine Kenterbewegung. "Rapido! Rapido!" Guido hatte davon nichts mitbekommen und ich hielt es auch für besser wenn das so bliebe. Der Bursche war auch so schon genug demoralisiert.

Blick auf den Ticino hinter dem Wehr.
Der Ticino war von nun an recht seicht und schoss mit beeindruckender Geschwindigkeit dahin. Ich bot mich an vorrauszufahren um zu scouten, da ich von uns beiden noch über die meiste Wildwassererfahrung verfüge. Bereits nach wenigen Metern erwartete mich ein heftiger Kurvenschwall den ich links durch die höchsten Wellen fahren musste. Zwar sah die rechte Seite verlockend einfach und friedlich aus, doch verbargen sich dort knapp überspülte Felsbrocken deren man sich erst bewusst wurde wenn sie einem den Kiel aufgeschlitzt hatten. Ich jagte mein Boot durch die Wellen und gab anschließend Guido wilde Handzeichen um ihn durch die Passage zu lotsen. Doch meine Sorgen stellten sich als unbegründet herraus. Guido lenkte sein Boot so souverän durch die Wellen, dass ich mir bald wieder mehr Sorgen um mein eigenes Wohlergehen machte.

Endlose Schotterbänke säumen die Ufer des Flusses.
Wenig später versperrte ein Steindamm den Fluss welchen wir mühsam treideln mussten. Zwar gab es auf der rechten Seite einen vermeintlich fahrbaren Durchlass, aber keiner von uns hatte Lust sich darauf einzulassen. Bis zu den Knien standen wir im Wasser und wateten mit den Booten an der Leine durch das atemberaubend schöne Tal. Vor uns breitete sich eine Schotteraue bis zum Horizont aus. Grinsend drehte ich mich zu Guido um der hinter mir über die Steine stolperte. "Aber verdammt schön ist es hier schon!" Er grinste zurück. "Ja das ist es."
Wenig später landeten wir auf einer Schotterbank an um den Tag zu beenden. Wir waren beide müde vom Treideln und Schleppen, keiner wollte mehr weiterfahren. Ich kletterte die Uferböschung hinauf und suchte im dahinter wuchernden Urwald nach einem Lagerplatz. Wir fanden eine kleine Lichtung auf der wir unser Lager mitten im Busch aufschlugen. Die Boote brachten wir auf der Schotterbank unter ein paar Bäumen in Sicherheit. "Zurr die Boote bloß gut fest. Das fehlt uns gerade noch dass die dort oben das verflixte Wehr aufmachen und unseren ganzen Krempel wegspülen." wies mich Guido an. Das Wasser des Ticino war klar wie Kristall und ich ließ es mir nicht nehmen ein wenig davon zu trinken. "Du trinkst aus dem Ticino?", fragte mich Guido ungläubig. "Das nenne ich Mut." Ich erwiderte: "Das ist kein Mut. Aus dem Po zu trinken, das ist Mut."

Unser erstes Camp in der Wildnis.
Wildwasser im Seekajak
Am nächsten Tag zogen wir gleich unsere Badehosen an, war es doch nur eine Frage der Zeit, bis der Fluss einen von uns umwerfen würde. Der Ticino gebärdete sich herrlich spritzig, wir preschten durch hohe Wellen und lenkten unsere Seekajaks durch die Kiesbankschwälle als hätten wir noch nie etwas anderes gemacht. Ich war begeistert wie gut sich der Argo beherschen ließ, obwohl er auf Flüssen dieser Art gewöhnlich nicht zuhause ist. Das Wasser des Ticino schimmerte im schönsten Smaragdgrün und die Schotterbänke leuchteten in einem so strahlenden Weiß, dass es in den Augen wehtat. Wir mussten sämtliche unserer Techniken aufbieten um dem Fluss Paroli bieten zu können. An einer Stelle wurde das Wasser mit voller Wucht durch einen engen Durchgang gepresst. Wir mussten ein paar Runden im Kehrwasser davor drehen um den Durchlass genau zu treffen. Wer die Einfahrt verpasste wurde gegen die Felsen gedrückt oder unter eine der im Wasser liegenden Baumleichen gezogen.
Doch leider hielt der Ticino auch einige unerfreuliche Hindernisse für uns bereit. Gegen Mittag landeten wir vor einem Steindamm, der die Hälfte des Flusses blockierte. Auf der linken Seite schoss das Wasser mit voller Wucht an ihm vorbei, rechts zweigte ein unfahrbarer Kanal ab. Wir schleppten unsere Boote um den Damm herum und ein italienischer Bauarbeiter schenkte uns zur Aufmunterung ein paar Fishermans Friends. Der besagte Damm wird bei Hochwasser regelmäßig weggespühlt und muss dann mit losem Schotter wieder neu aufgeschüttet werden. Ein jährliches Schauspiel dem wir nun beiwohnen durften.

Der Stichdamm wird gerade ausgebessert.
Am Nachmittag des selben Tages erreichten wir eine Autobahnbrücke. Wir wussten dass dort aktuell gebaut wird und rechneten bereits mit Schwierigkeiten. Doch was uns dort erwartete, stellte alles bisher da gewesene in den Schatten. Während Guido noch damit beschäftigt war aus seinem Boot zu klettern, schlenderte ich bereits am Ufer entlang in Richtung der Brücke. Die Italiener hatten zwischen den beiden Brücken einen Damm über die gesamte Flussbreite errichtet. Dieser bestand aus riesigen Metallröhren, Bauschutt und anderem Gerümpel, unter dem das Wasser einfach hindurchfloss. "Wenn Guido das sieht dreht mir der durch.", dachte ich noch. Es blieb uns nichts anderes übrig als die Boote zu entladen und weitläufig um die Baustelle herum zu schleppen. Als wir damit fertig waren wurde es bereits Abend und so bauten wir direkt hinter den Brücken unser Camp auf.

Baustelle nach italienischer Art.
Tags darauf, wir waren noch keine halbe Stunde gefahren, tauchte schon das nächste Hindernis auf. Ein Steinwurfwehr, dicht gefolgt von einem unfahrbaren Brückenwehr. Ich stieg aus um mir die Sache anzusehen und kämpfte mich dabei durch einen undurchdringlichen Urwald. Bis zum zweiten Wehr konnte ich jedoch gar nicht vordringen, da mir der Weg durch einen Nebenbach abgeschnitten wurde. Doch auch das erste Wehr schien unmöglich zu umtragen, da das Einsetzen über die Steilböschung dahinter mit unseren Faltbooten schlicht unmöglich gewesen wäre. Deprimiert schlenderte ich zu Guido zurück um ihn über den Stand der Dinge zu informieren. Dieser erwartete mich bereits mit Neuigkeiten. "Während du weggewesen bist kam plötzlich ein kleines Motorboot unter der Brücke durch! Ich habe mit denen gesprochen und anscheinend können wir die zwei Wehre durch den Kanal der im rechten Brückenbogen abzweigt umfahren!", verkündete er strahlend. "Bist du sicher?", erwiderte ich skeptisch. "Laut DKV Führer wird das Wasser dieses Kanals unterschächtig in eine Raffinerie abgeleitet und ich habe wenig Lust in einem finsteren Wasserschacht zu sterben. Aber was solls. In dem Führer ist bis jetzt auch nur Dreck gestanden und umtragen können wir das Ding sowieso nicht."
Dennoch war ich etwas misstrauisch und ließ Guido zur Sicherheit vorfahren. Wenn wir schon in der Raffinerie landen würden, sollte er wenigstens der erste sein. Der Nebenarm war sehr schmal und in zwei Gerinne unterteilt. Wir hielten uns ganz links, der Fluss war hier vielleicht noch zwei Meter breit und außerdem von überhängenden Ästen überspannt. Guido ließ sich davon nicht beeindrucken und trieb darunter hindurch, wobei er allerdings seinen Hut vom Kopf gefegt bekam. Mir war die Durchfahrt zu heikel und so treidelte ich mein Boot vom Ufer aus. Die Strömung war allerdings stärker als ich und riss mein Boot quer direkt auf die Äste zu. Zu allem übel handelte es sich bei diesen auch noch um ein Gestrüpp mit nadelspitzen Dornen. Ich sah bereits vor meinem inneren Auge wie sich selbige in die Luftschläuche meines Bootes bohrten. In einem Anflug von Verzweiflung sprang ich meinem Boot hinterher und bekam es am Heck zu fassen.

Das Steinwurfwehr lässt sich durch den Kanal im rechten Brückenbogen umfahren.
Mit aller Kraft drehte ich das Gefährt wieder gerade und beförderte es mit einem heftigen Stoß den Bug voran unter den Ästen hindurch. Hustend und spuckend tauchte ich anschließend selbst wieder auf und schaffte es mein Boot wieder an Land zu bekommen. Zitternd fischte ich mein Paddel aus dem Wasser und stieg wieder ins Cockpit wo das Wasser mehrere Zentimeter hoch stand. Wenige Zeit später tauchte am rechten Ufer ein Überlaufwehr auf, über welches Wasser in die besagte Raffinierie floss. Ich brauchte mich jedoch bloß weit genug davon fernzuhalten und kam ohne weitere Schwierigkeiten zurück in den Hauptarm. Guido hatte den Kanal schon lange verlassen und von meinem Kampf gar nichts mitbekommen. "Hast du meinen Hut gerettet?", war daher seine erste Frage als ich wieder zu ihm aufgeschlossen hatte. "Verdammt, ich habe dahinten fast mein Boot versenkt und hatte andere Probleme als deinen Klamotten hinterher zu tauchen.", knurrte ich wütend, während ich auf einer Sandbank mein Boot ausleerte.
Am späteren Nachmittag erreichten wir die Ponte di Vigevano in deren Nähe Hannibal und Scipio im Jahre 218 v. Christus die Schlacht am Ticinus ausgetragen hatten. Heute lauert auch unter dieser Brücke ein Wehr, welches wir jedoch erneut durch einen Nebenarm auf der rechten Seite umfahren konnten. Guido legte sich hinter der Brücke in die Sonne und ich marschierte zu Fuß ins zwei Kilometer entfernt liegende Vigevano um unsere Vorräte auzustocken. Zahlreiche Motorboote schossen den Ticino auf und ab, welche sich auch von den Stromschnellen nicht beeindrucken ließen. Es passierte gegen Abend. Guido und ich fuhren dicht hintereinander, möglicherweise zu dicht. Vor uns lag ein Kurvenschwall dessen Abfluss jedoch von einem Felsriegel beinflusst wurde und so entstand ein starkes Kehrwasser. Ganz links war eine freie Durchfahrt, die wir jedoch nicht erreichten. Das Kehrwasser packte uns mit eisernen Griff. Ich versuchte mit aller Kraft den Griff des Flusses abzuschütteln und wurde ans linke Ufer gespült, wo ich mich aus dem Sog befreien konnte.

Die Ponte di Vigevano, im Vordergrund kann man die freie Durchfahrt erkennen.
Guido jedoch war viel zu weit nach rechts gekommen und wurde nun von der Strömung gegen die Felsen gedrückt. Er versuchte noch das drohende Unheil abzuwenden und sich mit einer Seilfähre auf der Stelle zu halten. Doch dabei lehnte er sich zu Seite und tauchte das Paddel in seinem Stress mit der Kante voran ins Wasser. Statt wie gewohnt Halt und Stabilität zu bieten, schoss die Paddelkante durch die Wasseroberfläche wie Butter. Guido kippte zur Seite und landete in den Fluten des Flusses. Irgendwie schaffte er es sein Boot wieder umzudrehen und dem Kehrwasser zu entkommen. Ich hatte mich währendessen weiter unten in Position begeben und wartete was nun passierte.
Guido stand mitten im Fluss an einer etwas seichteren Stelle und klammerte sich verzweifelt an sein Boot, während der Fluss versuchte es ihm zu entreißen. "Auf was wartet der Kerl bloß?", schoss es mir durch den Kopf, während ich gegen die Strömung zu ihm zurück paddelte. "Ich komme hier nicht weg! Kannst du mich abschleppen?", brüllte Guido und versuchte schon sein Boot an meinem festzubinden. "Bist du wahnsinnig Mann? Hör auf damit, du wirfst mich am Ende auch noch um!" "Dann schleppst du mich eben hier raus! Auf gehts!" Sprachs und klammerte sich am Heck meines Bootes fest, wobei er mit der anderen Hand sein Boot im Schlepptau hielt. Es muss wohl ziemlich komisch ausgesehen haben wie ich hektisch paddelnd, Guido und sein Gefährt an Land zog.
"Mann ist das bitter. Jetzt bin ich über 8.000 Kilometer ohne Kenterung gefahren und dann das. Aber das Genialste an der Sache war die Tussi die auf dem Felsriegel gesessen hat und nicht einmal von ihrem Buch aufgesehen hat, als ich an mein Boot geklammert, direkt vor ihrer Nase vorbeigetrieben bin. Hat wohl gerade Shades of Grey gelesen das Mädchen." Guido breitete sein ganzes Zeug auf einem alten Baum zum Trockenen aus. Es sah aus als hätte er im Schotterbett des Ticino einen Laden aufgemacht. Sein Garmin und einen Schwamm hatte der Fluss davongetragen. Außerdem wusste er nun welche seiner "waserdichten" Packsäcke auch tatsächlich dicht waren und welche nicht.

Guidos Kaufmannsladen nach seiner Kenterung.
Wir befanden uns nun bereits kurz vor der Po-Mündung und langsam machte sich Unruhe breit. Wir hatten uns so an den Ticino, die schöne Landschaft und das saubere Wasser gewöhnt, dass wir am liebsten ewig auf ihm weitergefahren währen. Wir passierten Pavia mit seiner mittelalterlichen, holzgedeckten Brücke. Rechts und links säumten kleine bunte Häuser den Flusslauf die schon fast kitschig wirkten. "Was meinst du, können wir auf dem Po überhaupt in einem Faltboot fahren ohne dass uns der Dreck im Wasser die Bootshaut durchfrisst?", fragte ich Guido als wir kurz vor der Mündung standen. "Das wäre zumindest wünschenswert. Aber hat nicht Michael Rytz geschrieben dass es am Po Biber geben soll? Ich dachte die weisen auf eine gute Flussökologie hin.", gab Guido zurück. "Da würde ich mich nicht drauf verlassen. Wahrscheinlich handelt es sich bei den Viechern um eine mutierte Unterart mit doppelt so dickem Fell und vier Nieren, um mit dem ganzen Gift fertig werden zu können. Aber wie auch immer. In ein paar Minuten werden wir wissen wie schlimm es tatsächlich ist."
To be continued...
Über Lago Maggiore, Ticino & Po bis nach Venedig
Schuld an allem war der Schweizer Michael Rytz. Es war an einem kalten Winterabend 2012. Ich saß daheim vor dem Computer und starrte auf den Bildschirm. Meine Gedanken jedoch waren frei und flogen draußen durch den Schneeregen. Schlagartig erwachte ich aus meiner Trance als ich auf das Video: "Im Kajak von Locarno nach Venedig" stieß. Die Idee, diese Tour selbst einmal zu fahren, hatte sich von diesem Moment an fest in meine Hirnwindungen eingegraben.
Guido mein Paddelpartner reagierte auf meinen Vorschlag wenig motiviert: "Diese Italien Tour wäre nix für mich. Der Film ist zwar nett gemacht, aber Italien steht bei mir nicht auf der Favoritenliste." ließ er mich in einer kurzen Mail wissen. "Das werden wir ja noch sehen." dachte ich mir, aber für den Moment ließ ich das Thema unter den Tisch fallen und wir traten gemeinsam die Reise an den Allier an.
Der Gedanke an Italien war jedoch keinesfalls gestorben. Immer und immer wieder spukte die Tour durch meinen Kopf, bis ich schließlich begann sie konkret zu planen. Als ich das fertige Konzept auf dem Tisch liegen hatte, rieb ich es Guido erneut unter die Nase. Nach einiger Zeit des Nachsinnens willigte dieser schließlich ein. "Na gut, dann lass uns den Po halt machen."
Der Lago Maggiore und das Tessin
Es war ein warmer Samstag Abend als wir gemeinsam in Locarno ankamen. Da Unterkünfte hier für Ausländer kaum zu bezahlen sind, griffen wir auf die Möglichkeit des Couchsurfens zurück. Wir wurden von Sandra, einer netten Falknerin in ihrer Wohnung aufgenommen. Den Weg dorthin legten wir mit dem Taxi zurück. Guido der alte Knacker hatte sich beim Transport seiner Ausrüstung den Rücken beleidigt. Als uns der Taxifahrer vor Sandras Wohnung hinausgeschmissen hatte, zählte Guido stirnrunzelnd die Scheine in seiner Hand. "Ich kenne mich ja mit den hiesigen Zahlungsritualen nicht aus, aber da habe ich dem einen Fünfziger gegeben und der gibt mir glatt 85 Franken zurück." Bevor wir den Taxifahrer jedoch auf seinen Fehler aufmerksam machen konnten, war dieser bereits aus unserem Sichtfeld verschwunden. "Das fängt ja gut an." grinste Guido. "Gleich am ersten Tag bekommen wir Geld geschenkt und das in der Schweiz. Das wird uns zuhause keiner glauben."

Blick ins Tessin von Sandras Balkon
Die Nacht verbrachte ich draußen auf Sandras Balkon. Ich würde noch genug Zeit mit Guido auf dieser Tour verbringen, da musste ich nicht gleich am ersten Tag mit ihm in einem Bett schlafen. Am nächsten Morgen karrte uns die nette Gastgeberin noch mit all unserem Gepäck zum Hafen von Locarno, wo wir ein kleines Passagierschiff bestiegen. Aus Zeitgründen hatten wir uns entschieden nicht den ganzen Lago Maggiore abzupaddeln, der über 60 Kilometer lang ist, sondern ein Stück mit dem Schiff zu fahren und erst in Italien einzusetzen. Das Tessin ist eine atemberaubend schöne Gegend und ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus während das Boot mit uns an Bord über den See jagte.

Unser Passagierschiff, im Hintergrund die Berge.
An beiden Ufern ragten hohe bewaldete Berge in den Himmel, auf deren Gipfel eisige Gletscher schimmerten. An den Ufern gediehen mediterane Pflanzen wie Palmen und Kakteen, die zwischen den hohen Bergen fast fehl am Platz wirkten. Das Wasser des Sees leuchtete in einem tiefen Blau und ich erschauderte bei der Vorstellung auf dem bis zu 370 Meter tiefen Gewässer Schiffbruch zu erleiden. Unser Boot klapperte Orte an beiden Seeufern im Zick-Zack ab, welche von Guido stets mit dem Ausdruck "gediegen" betitelt wurden. Es war wahrhaftig eine Gegend der Reichen und Schönen, dementsprechend verbaut waren auch die Seeufer. In Stresa, einem italienischen Kurort verließen wir schließlich das Schiff um den Rest des Sees in unseren eigenen Booten zu bewältigen.
Wir betraten festen Boden und von hier an nahm das Unglück seinen Lauf. An der Seepromenade begannen wir sogleich mit dem Aufbau der Boote. Sorgfältig sortierten wir die Spanten und Senten, bauten Bug- und Heckelement zusammen und führten die Teile in die Häute ein. Da unsere Boote beide noch relativ neu waren, ging diese Prozedur recht mühsam von der Hand. Beim Durchspannen des Kielrohrs löste sich immer wieder einer der Spanten aus seiner Verankerung. Jedes Mal wenn das geschah musste ich die Bootshälften wieder aus der Haut zerren und erneut einsetzen. Mit zunehmender Wut beobachtete ich Guido, der sein Boot schon fast fertig hatte. "Was macht dieser verflixte Kerl bloß anders als ich?" dachte ich in einem Anflug von Verzweiflung und begutachtete sein fast fertiges Boot.
Da sah ich, dass bei ihm der Spant ebenfalls herausgesprungen war. Guido hatte jedoch nichts davon mitbekommen und war einfach mit dem Aufbau fortgefahren. Nun blieb auch ihm nichts anderes übrig als das Boot wieder zu auseinander zu bauen. Unter Fluchen und Murren zerlegten wir die Gefährte erneut, den Atem der schaulustigen Touristen im Nacken, die keinen halben Meter hinter uns Position bezogen hatten. Letztendlich holte ich ein Stück Seil aus meiner Tasche und bändigte den aufmüpfigen Spant, in dem ich ihn kurzer Hand am Kielrohr festband. Als die Boote endlich einsatzbereit waren, hatte sich der Himmel verfinstert. Windböen bliesen uns um die Ohren und eine leichte Brandung klatschte ans Seeufer.

Die Boote sind aufgebaut und bereit zur Wasserung.
Schon das Einsteigen und Auslanden fiel mir alles andere als leicht. Ich hatte noch nie zuvor in einem Faltboot gesessen und nun sollte ich bei Wind und beachtlichen Wellen über einen unberechenbaren See fahren. Als ich es schließlich geschafft hatte hinaus aufs Wasser zu kommen, wäre ich am liebsten gleich wieder umgedreht. Das Boot kippelte hin und her, die Wellen hoben es hoch um es anschließend wieder abzusenken. Steuer hatte ich aus Zeitgründen keines montieren können und so versuchte ich durch Ankanten und heftiges Paddeln, mir das Gefährt in dem ich saß untertan zu machen. Der Himmel wurde immer finsterer und auch Guido war die Sorge ins Gesicht geschrieben. "Lass uns den nächstbesten Landeplatz suchen und dort unser Lager aufbauen!" rief er mir durch den Wind zu.
Ich musste nicht lange überredet werden. Nach nicht einmal zwei Kilometern Fahrt landeten wir an einem wenig einladenden, steinigen Strand an und bauten zwischen Glasscherben und Müll unser Lager auf. Die Wellen waren mittlerweile beachtlich und schlugen mit lautem Klatschen ans Seeufer. Wir redeten nicht mehr viel an diesem Abend. Guido verzog sich gleich ins Zelt und verschwand aus meinem Blickfeld. Ich beschäftigte mich noch einige Zeit mit der Steueranlage des Bootes und schaffte es letztendlich sie funktionstüchtig zu bekommen. "Damit sollte es morgen ein wenig einfacher werden." dachte ich zufrieden und verkroch mich in meinem Zelt.

Notbiwak am Lago Maggiore
In der Nacht tobte ein heftiger Sturm und die Brecher donnerten unentwegt über den Strand. Als wir am nächsten Tag aus unseren Zelten krochen, war der Lago Maggiore glatt wie Öl und die Sonne tauchte ihn in ein freundliches, warmes Licht. Bei perfekten Bedingungen querten wir den See, dessen Ufer leider sehr verbaut und daher zum Wildzelten völlig ungeeignet sind. Je näher wir dem Ausfluss kamen ums mehr traten die Berge in den Hintergrund. Die Landschaft wurde flacher, der See verlor allerdings nichts von seiner Schönheit. Wir quartierten uns kurz vor dem Ausfluss des Ticino in Arona auf einem netten Campingplatz ein.

Morgenstimmung am Lago Maggiore
Guido fühlte sich dort gleich wie zu Hause und sprach sich für einen Pausentag aus, um seinen immer noch schmerzenden Rücken schonen zu können. Mir war zwar gar nicht dannach einen weiteren Tag auf dem Campingplatz herumzusitzen, aber ich respektierte Guidos Wunsch und legte kein Veto ein. Wir verbrachten den Tag mit Einkäufen, lagen faul im Zelt herum und brachten Guidos Boot wieder auf Vordermann bei dem sich erneut der verflixte Spant gelöst hatte. Am Abend vor dem Aufbruch las ich noch ein wenig über den Ticino Inferiore den wir morgen erreichen würden. Mittlerweile erschien es mir wie ein Wahnsinn den schnellen Alpenfluss mit 5,20 Meter langen Seekajaks befahren zu wollen.

Pausentag am Campingplatz
Das Nortik Argo liegt sehr schwerfällig im Wasser und bei dem Gedanken damit Kurvenschwälle zu fahren, Prallwände zu meistern und umgestürzten Bäumen auszuweichen, zog sich mein Magen zusammen. Vor dem Schlafengehen rannte ich auf dem Campingplatz umher wie aufgezogen. Ich las Guido noch den Bericht eines Kanadierfahrers vor, der auf dem Ticino bei Hochwasser zwei Mal havariert hatte. Einmal wurde er unter einem provisorischen Damm durchgespült und beim zweiten Mal fand er sich plötzlich in einer Wasserwalze wieder, der er jedoch nach einigen Umdrehungen lebend entkommen konnte. Ich schloss meine Lesung mit den Worten: "So, nun bist du informiert was dich morgen erwartet. Brauchst dich dann nicht beschweren du hättest nichts gewusst wenn du in der Walze rotierst."
Im Tal des Ticino Inferiore
Am nächsten Tag brachen wir in aller Frühe vom Campingplatz auf und absolvierten den Rest des Sees. Der Lago Maggiore verengte sich nun trichterartig und verwandelte sich in einen Fluss, den unteren Tessin - Ticino Inferiore genannt. Die Menge des aus dem See abfließenden Wassers wird durch ein Wehr geregelt. Ist der Pegel des Lago Maggiore dementsprechend hoch, sind dessen Schotten heruntergeklappt und man kann einfach darüber hinweg fahren.

Das Wehr Miorina regelt den Ausfluss aus dem See.
Das war bei unserer Fahrt jedoch nicht der Fall und so mussten wir einen Weg um das Hindernis herum suchen. Wer versucht rechts anzulanden wie es der DKV Führer empfiehlt, wird an seinem Leben bald nicht mehr viel Freude haben. Dort ist das Aussteigen wegen betonierter Steilufer fast unmöglich und der Sog des Wassers zieht gefährlich in Richtung der Wehrkrone. Wir näherten uns daher von der anderen Seite und landeten sicher vor dem Wehr an. Guido maulte zwar weil er schon wieder aus dem Boot steigen musste, aber ich konnte es nicht ändern. Auf der linken Seite gab es eine Schleuse, die wir jedoch nicht benutzen konnten. Aus den Hand- und Fußzeichen der Kraftwerksmitarbeiter schloss ich, dass diese nur für Boote des Personals zugänglich ist.
Wir schleppten also unseren ganzen Krempel um das Hindernis herum und kletterten über steile Treppen wieder hinunter zum Unterwasser. Der Ticino war auf den nächsten Kilometern ein schnurgerades grünes Band, das ohne Schwierigkeiten, aber mit hoher Strömung, zwischen dicht bewachsenen Ufern dahinschoss. Es dauerte jedoch nicht lange bis die Strömung vor einem weiteren Kraftwerk vollständig zum Erliegen kam. Die nun folgende Umtragung sollte es in sich haben. Über anderthalb Kilometer mussten wir die Boote karren. Zuerst über eine viel befahrene Straße, dann über einen Schotterweg mit faustgroßen Steinen. Das Geniale an der Sache war dass wir den Weg zweimal gehen mussten.

Die Umtragung von Porto Torre.
Guidos selbstgebauter Bootswagen taugte überhaupt nichts und so legten wir mit meinem Eckla Foldy an diesem Tag fast 5 Kilometer auf italienischen Straßen und Schotterwegen zurück. Hinter dem Wehr fanden wir keine brauchbare Einstiegsstelle. Wir mussten die Boote über einen brusthohen Holzzaun hieven während ein Bernhardiner am gegenüberliegenden Gartentor Amok lief. Während wir die Boote beluden, gesellte sich plötzlich ein Italiener zu uns. Er grinste uns breit an, deutete dann auf unsere langen Seekajaks und schüttelte den Kopf. Dann imitierte er mit den Händen eine Kenterbewegung. "Rapido! Rapido!" Guido hatte davon nichts mitbekommen und ich hielt es auch für besser wenn das so bliebe. Der Bursche war auch so schon genug demoralisiert.

Blick auf den Ticino hinter dem Wehr.
Der Ticino war von nun an recht seicht und schoss mit beeindruckender Geschwindigkeit dahin. Ich bot mich an vorrauszufahren um zu scouten, da ich von uns beiden noch über die meiste Wildwassererfahrung verfüge. Bereits nach wenigen Metern erwartete mich ein heftiger Kurvenschwall den ich links durch die höchsten Wellen fahren musste. Zwar sah die rechte Seite verlockend einfach und friedlich aus, doch verbargen sich dort knapp überspülte Felsbrocken deren man sich erst bewusst wurde wenn sie einem den Kiel aufgeschlitzt hatten. Ich jagte mein Boot durch die Wellen und gab anschließend Guido wilde Handzeichen um ihn durch die Passage zu lotsen. Doch meine Sorgen stellten sich als unbegründet herraus. Guido lenkte sein Boot so souverän durch die Wellen, dass ich mir bald wieder mehr Sorgen um mein eigenes Wohlergehen machte.

Endlose Schotterbänke säumen die Ufer des Flusses.
Wenig später versperrte ein Steindamm den Fluss welchen wir mühsam treideln mussten. Zwar gab es auf der rechten Seite einen vermeintlich fahrbaren Durchlass, aber keiner von uns hatte Lust sich darauf einzulassen. Bis zu den Knien standen wir im Wasser und wateten mit den Booten an der Leine durch das atemberaubend schöne Tal. Vor uns breitete sich eine Schotteraue bis zum Horizont aus. Grinsend drehte ich mich zu Guido um der hinter mir über die Steine stolperte. "Aber verdammt schön ist es hier schon!" Er grinste zurück. "Ja das ist es."
Wenig später landeten wir auf einer Schotterbank an um den Tag zu beenden. Wir waren beide müde vom Treideln und Schleppen, keiner wollte mehr weiterfahren. Ich kletterte die Uferböschung hinauf und suchte im dahinter wuchernden Urwald nach einem Lagerplatz. Wir fanden eine kleine Lichtung auf der wir unser Lager mitten im Busch aufschlugen. Die Boote brachten wir auf der Schotterbank unter ein paar Bäumen in Sicherheit. "Zurr die Boote bloß gut fest. Das fehlt uns gerade noch dass die dort oben das verflixte Wehr aufmachen und unseren ganzen Krempel wegspülen." wies mich Guido an. Das Wasser des Ticino war klar wie Kristall und ich ließ es mir nicht nehmen ein wenig davon zu trinken. "Du trinkst aus dem Ticino?", fragte mich Guido ungläubig. "Das nenne ich Mut." Ich erwiderte: "Das ist kein Mut. Aus dem Po zu trinken, das ist Mut."

Unser erstes Camp in der Wildnis.
Wildwasser im Seekajak
Am nächsten Tag zogen wir gleich unsere Badehosen an, war es doch nur eine Frage der Zeit, bis der Fluss einen von uns umwerfen würde. Der Ticino gebärdete sich herrlich spritzig, wir preschten durch hohe Wellen und lenkten unsere Seekajaks durch die Kiesbankschwälle als hätten wir noch nie etwas anderes gemacht. Ich war begeistert wie gut sich der Argo beherschen ließ, obwohl er auf Flüssen dieser Art gewöhnlich nicht zuhause ist. Das Wasser des Ticino schimmerte im schönsten Smaragdgrün und die Schotterbänke leuchteten in einem so strahlenden Weiß, dass es in den Augen wehtat. Wir mussten sämtliche unserer Techniken aufbieten um dem Fluss Paroli bieten zu können. An einer Stelle wurde das Wasser mit voller Wucht durch einen engen Durchgang gepresst. Wir mussten ein paar Runden im Kehrwasser davor drehen um den Durchlass genau zu treffen. Wer die Einfahrt verpasste wurde gegen die Felsen gedrückt oder unter eine der im Wasser liegenden Baumleichen gezogen.
Doch leider hielt der Ticino auch einige unerfreuliche Hindernisse für uns bereit. Gegen Mittag landeten wir vor einem Steindamm, der die Hälfte des Flusses blockierte. Auf der linken Seite schoss das Wasser mit voller Wucht an ihm vorbei, rechts zweigte ein unfahrbarer Kanal ab. Wir schleppten unsere Boote um den Damm herum und ein italienischer Bauarbeiter schenkte uns zur Aufmunterung ein paar Fishermans Friends. Der besagte Damm wird bei Hochwasser regelmäßig weggespühlt und muss dann mit losem Schotter wieder neu aufgeschüttet werden. Ein jährliches Schauspiel dem wir nun beiwohnen durften.

Der Stichdamm wird gerade ausgebessert.
Am Nachmittag des selben Tages erreichten wir eine Autobahnbrücke. Wir wussten dass dort aktuell gebaut wird und rechneten bereits mit Schwierigkeiten. Doch was uns dort erwartete, stellte alles bisher da gewesene in den Schatten. Während Guido noch damit beschäftigt war aus seinem Boot zu klettern, schlenderte ich bereits am Ufer entlang in Richtung der Brücke. Die Italiener hatten zwischen den beiden Brücken einen Damm über die gesamte Flussbreite errichtet. Dieser bestand aus riesigen Metallröhren, Bauschutt und anderem Gerümpel, unter dem das Wasser einfach hindurchfloss. "Wenn Guido das sieht dreht mir der durch.", dachte ich noch. Es blieb uns nichts anderes übrig als die Boote zu entladen und weitläufig um die Baustelle herum zu schleppen. Als wir damit fertig waren wurde es bereits Abend und so bauten wir direkt hinter den Brücken unser Camp auf.

Baustelle nach italienischer Art.
Tags darauf, wir waren noch keine halbe Stunde gefahren, tauchte schon das nächste Hindernis auf. Ein Steinwurfwehr, dicht gefolgt von einem unfahrbaren Brückenwehr. Ich stieg aus um mir die Sache anzusehen und kämpfte mich dabei durch einen undurchdringlichen Urwald. Bis zum zweiten Wehr konnte ich jedoch gar nicht vordringen, da mir der Weg durch einen Nebenbach abgeschnitten wurde. Doch auch das erste Wehr schien unmöglich zu umtragen, da das Einsetzen über die Steilböschung dahinter mit unseren Faltbooten schlicht unmöglich gewesen wäre. Deprimiert schlenderte ich zu Guido zurück um ihn über den Stand der Dinge zu informieren. Dieser erwartete mich bereits mit Neuigkeiten. "Während du weggewesen bist kam plötzlich ein kleines Motorboot unter der Brücke durch! Ich habe mit denen gesprochen und anscheinend können wir die zwei Wehre durch den Kanal der im rechten Brückenbogen abzweigt umfahren!", verkündete er strahlend. "Bist du sicher?", erwiderte ich skeptisch. "Laut DKV Führer wird das Wasser dieses Kanals unterschächtig in eine Raffinerie abgeleitet und ich habe wenig Lust in einem finsteren Wasserschacht zu sterben. Aber was solls. In dem Führer ist bis jetzt auch nur Dreck gestanden und umtragen können wir das Ding sowieso nicht."
Dennoch war ich etwas misstrauisch und ließ Guido zur Sicherheit vorfahren. Wenn wir schon in der Raffinerie landen würden, sollte er wenigstens der erste sein. Der Nebenarm war sehr schmal und in zwei Gerinne unterteilt. Wir hielten uns ganz links, der Fluss war hier vielleicht noch zwei Meter breit und außerdem von überhängenden Ästen überspannt. Guido ließ sich davon nicht beeindrucken und trieb darunter hindurch, wobei er allerdings seinen Hut vom Kopf gefegt bekam. Mir war die Durchfahrt zu heikel und so treidelte ich mein Boot vom Ufer aus. Die Strömung war allerdings stärker als ich und riss mein Boot quer direkt auf die Äste zu. Zu allem übel handelte es sich bei diesen auch noch um ein Gestrüpp mit nadelspitzen Dornen. Ich sah bereits vor meinem inneren Auge wie sich selbige in die Luftschläuche meines Bootes bohrten. In einem Anflug von Verzweiflung sprang ich meinem Boot hinterher und bekam es am Heck zu fassen.

Das Steinwurfwehr lässt sich durch den Kanal im rechten Brückenbogen umfahren.
Mit aller Kraft drehte ich das Gefährt wieder gerade und beförderte es mit einem heftigen Stoß den Bug voran unter den Ästen hindurch. Hustend und spuckend tauchte ich anschließend selbst wieder auf und schaffte es mein Boot wieder an Land zu bekommen. Zitternd fischte ich mein Paddel aus dem Wasser und stieg wieder ins Cockpit wo das Wasser mehrere Zentimeter hoch stand. Wenige Zeit später tauchte am rechten Ufer ein Überlaufwehr auf, über welches Wasser in die besagte Raffinierie floss. Ich brauchte mich jedoch bloß weit genug davon fernzuhalten und kam ohne weitere Schwierigkeiten zurück in den Hauptarm. Guido hatte den Kanal schon lange verlassen und von meinem Kampf gar nichts mitbekommen. "Hast du meinen Hut gerettet?", war daher seine erste Frage als ich wieder zu ihm aufgeschlossen hatte. "Verdammt, ich habe dahinten fast mein Boot versenkt und hatte andere Probleme als deinen Klamotten hinterher zu tauchen.", knurrte ich wütend, während ich auf einer Sandbank mein Boot ausleerte.
Am späteren Nachmittag erreichten wir die Ponte di Vigevano in deren Nähe Hannibal und Scipio im Jahre 218 v. Christus die Schlacht am Ticinus ausgetragen hatten. Heute lauert auch unter dieser Brücke ein Wehr, welches wir jedoch erneut durch einen Nebenarm auf der rechten Seite umfahren konnten. Guido legte sich hinter der Brücke in die Sonne und ich marschierte zu Fuß ins zwei Kilometer entfernt liegende Vigevano um unsere Vorräte auzustocken. Zahlreiche Motorboote schossen den Ticino auf und ab, welche sich auch von den Stromschnellen nicht beeindrucken ließen. Es passierte gegen Abend. Guido und ich fuhren dicht hintereinander, möglicherweise zu dicht. Vor uns lag ein Kurvenschwall dessen Abfluss jedoch von einem Felsriegel beinflusst wurde und so entstand ein starkes Kehrwasser. Ganz links war eine freie Durchfahrt, die wir jedoch nicht erreichten. Das Kehrwasser packte uns mit eisernen Griff. Ich versuchte mit aller Kraft den Griff des Flusses abzuschütteln und wurde ans linke Ufer gespült, wo ich mich aus dem Sog befreien konnte.

Die Ponte di Vigevano, im Vordergrund kann man die freie Durchfahrt erkennen.
Guido jedoch war viel zu weit nach rechts gekommen und wurde nun von der Strömung gegen die Felsen gedrückt. Er versuchte noch das drohende Unheil abzuwenden und sich mit einer Seilfähre auf der Stelle zu halten. Doch dabei lehnte er sich zu Seite und tauchte das Paddel in seinem Stress mit der Kante voran ins Wasser. Statt wie gewohnt Halt und Stabilität zu bieten, schoss die Paddelkante durch die Wasseroberfläche wie Butter. Guido kippte zur Seite und landete in den Fluten des Flusses. Irgendwie schaffte er es sein Boot wieder umzudrehen und dem Kehrwasser zu entkommen. Ich hatte mich währendessen weiter unten in Position begeben und wartete was nun passierte.
Guido stand mitten im Fluss an einer etwas seichteren Stelle und klammerte sich verzweifelt an sein Boot, während der Fluss versuchte es ihm zu entreißen. "Auf was wartet der Kerl bloß?", schoss es mir durch den Kopf, während ich gegen die Strömung zu ihm zurück paddelte. "Ich komme hier nicht weg! Kannst du mich abschleppen?", brüllte Guido und versuchte schon sein Boot an meinem festzubinden. "Bist du wahnsinnig Mann? Hör auf damit, du wirfst mich am Ende auch noch um!" "Dann schleppst du mich eben hier raus! Auf gehts!" Sprachs und klammerte sich am Heck meines Bootes fest, wobei er mit der anderen Hand sein Boot im Schlepptau hielt. Es muss wohl ziemlich komisch ausgesehen haben wie ich hektisch paddelnd, Guido und sein Gefährt an Land zog.
"Mann ist das bitter. Jetzt bin ich über 8.000 Kilometer ohne Kenterung gefahren und dann das. Aber das Genialste an der Sache war die Tussi die auf dem Felsriegel gesessen hat und nicht einmal von ihrem Buch aufgesehen hat, als ich an mein Boot geklammert, direkt vor ihrer Nase vorbeigetrieben bin. Hat wohl gerade Shades of Grey gelesen das Mädchen." Guido breitete sein ganzes Zeug auf einem alten Baum zum Trockenen aus. Es sah aus als hätte er im Schotterbett des Ticino einen Laden aufgemacht. Sein Garmin und einen Schwamm hatte der Fluss davongetragen. Außerdem wusste er nun welche seiner "waserdichten" Packsäcke auch tatsächlich dicht waren und welche nicht.

Guidos Kaufmannsladen nach seiner Kenterung.
Wir befanden uns nun bereits kurz vor der Po-Mündung und langsam machte sich Unruhe breit. Wir hatten uns so an den Ticino, die schöne Landschaft und das saubere Wasser gewöhnt, dass wir am liebsten ewig auf ihm weitergefahren währen. Wir passierten Pavia mit seiner mittelalterlichen, holzgedeckten Brücke. Rechts und links säumten kleine bunte Häuser den Flusslauf die schon fast kitschig wirkten. "Was meinst du, können wir auf dem Po überhaupt in einem Faltboot fahren ohne dass uns der Dreck im Wasser die Bootshaut durchfrisst?", fragte ich Guido als wir kurz vor der Mündung standen. "Das wäre zumindest wünschenswert. Aber hat nicht Michael Rytz geschrieben dass es am Po Biber geben soll? Ich dachte die weisen auf eine gute Flussökologie hin.", gab Guido zurück. "Da würde ich mich nicht drauf verlassen. Wahrscheinlich handelt es sich bei den Viechern um eine mutierte Unterart mit doppelt so dickem Fell und vier Nieren, um mit dem ganzen Gift fertig werden zu können. Aber wie auch immer. In ein paar Minuten werden wir wissen wie schlimm es tatsächlich ist."
To be continued...
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