[IN] Himalaya: Abenteuer Srinagar - Leh - Manali

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    [IN] Himalaya: Abenteuer Srinagar - Leh - Manali

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    Mitreisende
    Einleitung

    Für 2017 plante ich eine dreimonatige Fahrrad-Reise über Highways im Himalaya, Karakorum und Pamir.

    Der Plan für eine solche Reise kann immer nur eine Richtschnur für Abweichungen sein.

    Die Abweichungen sorgten für ein Ende meiner Reise in Tijuana (Mexiko).

    Wie das kam, schildert der folgende Bericht. Und dann der nächste.





    Mittwoch, 24. Mai 2017: Letzter Arbeitstag, Lauftraining und Packen

    Ich plane meinen letzten Arbeitstag bis 12 Uhr, arbeite dann bis gegen drei Uhr nachmittags. Stress. Ich kaufe noch die letzten Dinge ein, fahre nach Hause und fange an zu packen. Um sechs gebe ich das letzte Lauftraining, packen muss ich dann bis Mitternacht. Und bin immer noch nicht fertig. Dann stehe ich morgen Früh halt noch mal um sieben auf.


    Donnerstag, 25. Mai 2017: Pack-Stress, Bahnfahrt und Abflug

    Um sieben klingelt der Wecker, ich stehe auf, wasche mich und fange gleich an zu packen, keine Zeit für ein Frühstück. Ich überlege, was ich noch alles machen muss und beschließe, das GPS System komplett zu Hause zu lassen. Ich schaffe es nicht, die Karte von Zentralasien und die geplanten Strecken auf den Garmin zu laden.

    Bis um viertel nach elf packe ich und schneide den Fahrradkarton zu, um zwölf fährt dann der Zug. Keine Zeit mehr für Wohnung aufräumen.

    Um kurz vor zwölf bin ich dann am Hauptbahnhof, Chris, mein Reisepartner bis Indien, wartet auch schon am Gleis, wir steigen ein und atmen erst mal durch. Kurz hinter Göttingen hole ich dann meine Toastbrote heraus, die ich mir noch zwischendurch toastete, esse drei Eier und die Brote und beschließe, damit gefrühstückt zu haben.

    Am Flughafen Frankfurt ist dann alles total einfach und chillig. Wir bauen die Kartons auf, schieben die Räder rein und geben Sie am Sperrgepäck-Schalter ab. Ein Dreamliner von Boeing der Air India bringt uns dann nach Delhi.


    Freitag, 26. Mai 2017: Abenteuerbeginn Indien

    Über dem afghanischen Hindukusch geht die Sonne in einem feuerroten Ball auf. Die insgesamt eher unfreundliche Crew von Air India serviert ein Labberbrötchen mit Plastikbesteck und einen Kaffee. Danach dann die Landung in Delhi. Das Flimmern der Landebahnen und der Gebäude lässt erahnen, wie heißt es hier ist.

    Wir werden aufgefordert, unser Gepäck vom Band abzuholen und einen komplett neuen Check-In vorzunehmen. Das riecht nach großen Problemen.

    Unsere Fahrräder kommen erst an, nachdem das komplette Band schon durchgelaufen ist und alles Gepäck abgeholt wurde. Die Kartons sind ziemlich stark beschädigt und wir müssen nun sehen, wie wir an den Schalter nach Srinagar gelangen. Keiner vom Flughafenpersonal hat eine Ahnung, wo wir hin müssen. Irgendwann kommt ein junger Mann, der uns hektisch mitnimmt. Ein Manager kommt ebenfalls dazu und sagt, dass die Fahrräder viel zu groß seien, um mitfliegen zu können.

    In einer Stunde geht der Flieger nach Srinagar und wir sind schon eingecheckt. Nur unser Gepäck und unsere Fahrräder noch nicht. Wir werden zum Sperrgepäcksschalter geschickt und erkennen dort, dass der Scanner, durch den die Räder geschickt werden sollen, viel zu klein ist. Die Fahrräder werden ohne Scan durchgewunken und verschwinden durch die Tür in Richtung Rollfeld.

    In allerletzter Sekunde erreichen wir das Gate und werden persönlich in den Flieger begleitet, wo die anderen Fluggäste alle schon warten.

    Den Flug nach Srinagar verschlafe ich komplett.

    Auf unserem Zielflughafen finden wir an jeder Ecke Polizei oder Militär. Am Gepäcksschalter nehmen wir unsere Sachen entgegen, die Räder sind heile, die Kartons kaputt.

    Es ist heiß.

    Vom Flughafen zu unserem Gastgeber Ahmet (Name geändert), den Chris aus dem Internet kennt, müssen wir vom Süden in den Norden von Srinagar. Rund 30 Kilometer durch Hitze, Staub und Tausende von hupenden, linksverkehrenden Autos. Der Gestank von Müll und brennendem Abfall nimmt den letzten Atem, den mir die Hitze noch lässt.

    Das Haus von Ahmet, unserem Gastgeber, erreichen wir nach rund zweieinhalb Stunden. Er lebt mit seiner Mutter und seinen drei Schwestern in einem Haus mit zwei Zimmern. Er selbst hat eins davon, die vier Frauen teilen sich das zweite Zimmer, in dem dann auch gekocht wird.

    Chris und ich dürfen in dem großen Bett in Ahmets Zimmer schlafen, er selbst schläft auf einer dicken Decke auf dem Boden.

    Chris und ich werden von einem ganz herzlichen Willkommen begrüßt, sind aber dann völlig platt und schlafen relativ früh ein.


    Samstag, 27. Mai 2017: Unruhen und Ungewissheit

    Nach dem Frühstück informieren wir uns erst mal alle gegenseitig über unsere Familien. Ahmet selbst ist 26, seine drei Schwestern sind alle etwas älter als er. Seine Mutter ist Mitte fünfzig. Eine der Schwestern arbeitet als Lehrerin, die anderen Frauen kümmern sich um einander und um den Haushalt.

    Ahmets Freundin Sama und er wollen heiraten, dürfen aber nicht, weil er ein anderer Moslem ist wie sie. Außerdem muss er erst seine Schwestern verheiraten, was ungefähr fünf bis zehn tausend Euro pro Frau kostet, die Ahmet auch in vielen Jahren harter Arbeit nicht aufbringen können wird. Sollte Samas Vater von der Beziehung zwischen Ahmet und ihr erfahren, so würde er sie umbringen. Ich glaube das nicht, werde aber von allen Diskutanten davon überzeugt, dass das blutiger Ernst sein kann.

    Romeo und Julia at its best!

    Gegen Mittag hören wir, dass wir heute nicht losfahren können, da in ganz Kashmir Unruhen ausgebrochen sind und insbesondere in Srinagar junge Männer mit Steinen auf indische Polizisten und Militär werfen. Es soll sogar Tote gegeben haben.

    Von insgesamt acht Polizeibezirken sind sechs in einer so genannten "besonderen Situation". Dort sind alle Straßen abgesperrt und wer sich tagsüber einer solchen Straßensperre nähert, muss damit rechnen, beschossen zu werden.

    Das Internet, Telefon und sämtliche digitalen sozialen Netzwerke funktionieren nicht mehr. Selbst Strom und Wasser werden phasenweise abgestellt. Öffentliche Busse und Laster fahren ebenfalls nicht mehr, es ist gespenstisch ruhig auf den Straßen in Ahmets Vorort.

    Aus dem Fernsehen erfahren wir, dass zwei Terroristen, die in Pakistan ausgebildet wurden und nun in Srinagar bewaffnete Milizen anführen, vom indischen Militär erschossen wurden. Ein anderer geistlicher Anführer hat alle Menschen in Kashmir dazu aufgerufen, sich am Dienstag mit Steinen zu bewaffnen und zu den Geburtsorten der beiden erschossenen Terroristen zu pilgern.

    Ahmet und seine Familie empfehlen uns, zunächst im Haus zu bleiben. Die ersten vier Tage einer solchen besonderen Situation sind in der Regel die schlimmsten. Danach kann sich die Situation wieder beruhigen.

    Chris und ich wissen nicht, wie wir reagieren sollen. Naiverweise überlegen wir, auf eigene Faust einfach mit den Fahrrädern los zu fahren. Chris meint, dass, wenn wir an einem Militärposten angelangen, die Soldaten uns doch vielleicht sogar aus den kritischen Gebet begleiten könnten.

    Ahmets Schwestern verdeutlichen uns, dass wir ebenfalls an einen Posten der örtlichen Polizei gelangen könnten und dass diese Polizisten äußerst korrupt seien. Die würden nicht lange fragen, wo wir her kämen und uns vielleicht sogar mitnehmen und einsperren.

    Immer noch schauen Chris und ich uns ungläubig an. Der Flughafen ist noch geöffnet, also fragen wir, ob wir nicht irgendwie durch die Stadt zum Flughafen gelangen können. Dort würden wir die nächst beste Maschine nach Delhi zurück nehmen. Aber das, so versichert uns Ahmet, sei noch gefährlicher, als in Richtung Leh nach Ladakh zu fahren.

    Heute beginnt der Ramadan, alle gläubigen Moslems müssen nun tagsüber fasten, dürfen nichts essen, nichts trinken, keine Musik hören, sich draußen nicht berühren und drinnen keinen Sex haben. Es ist spannend zu beobachten, wie dann viele Dinge heimlich passieren.

    Es ist wie in einem Überwachungsstaat – jeder hat auch Angst davor, denunziert zu werden. So entstehen Freundschaftsnetze und Familien– beziehungsweise Clan-Strukturen, wo nur Mitglieder sich gegenseitig vertrauen.

    Mittags lernen wir Ahmets Freundin Sama persönlich kennen - eine hübsche und intelligente junge Frau. Wir treffen uns in einem Restaurant, wo wir zu Mittag essen. Zwischendurch erhält Sama einen Anruf von ihrem Vater und ihrem Bruder, die ihr befehlen, sofort nach Hause zu kommen. Die Lage auf den Straßen ist wohl extrem gefährlich und spitzt sich weiter zu.

    Abends nimmt uns Ahmet mit zu einem Platz, von dem aus wir den Sonnenuntergang beobachten können. Ahmet sagt, dass er regelmäßig abends hier herkommt, um den Tag Revue passieren zu lassen und zu entspannen. Er raucht heimlich, manchmal auch mit etwas "Gras" im Tabak, welches hier frei und ungezwungen wachsen kann.

    Ahmet hat jetzt nicht nur Probleme mit seinen Schwestern, seiner kränklichen Mutter und seiner falschen Religion, um Sama heiraten zu können, sondern auch noch mit dem Ausfall des Internets, weil er seine Geschäfte über dieses Medium tätigt. Somit ist er nach Beginn der Unruhen und auch so lange sie dauern, arbeitslos und kann wichtige Projektschritte nicht unternehmen. Seine Geschäftspartner kann er nicht anrufen und auch Sie können ihn nicht erreichen.

    Ich versetze mich mehr und mehr in seine Lage und würde an seiner Stelle einen Joint nach dem anderen inhalieren. Scheiß drauf, dass das Dope die Probleme nicht löst sondern nur noch vergrößert.


    Sonntag, 28. Mai 2017: Abwarten

    Chris und ich schlafen bis um zehn. Das Jetlag ist jetzt einigermaßen überwunden, wir unternehmen einen Spaziergang zu Baba, einem LKW-Fahrer, der gestern aus Leh kam. Wir wollen erfahren, wie die Situation ist und ob wir irgendwen finden können, der uns nach Leh bringen könnte.

    Baba hat nur noch einen Schneidezahn. Ahmet erzählt uns später, dass er wohl einen oder zwei andere in einem Streit mit seiner Frau verloren hat. Babas Haus hat ebenfalls zwei Zimmer, er wohnt dort mit seiner Frau und seinen drei Kindern. Möbel gibt es nicht in dem Zimmer, in dem wir gemeinsam auf dem Boden um ein paar Tassen Tee zusammensitzen, uns zuhören und die Stimmung erspüren.

    Wir sitzen insgesamt zirka drei Stunden zusammen. In den Gesprächspausen herrscht immer wieder freundliche Ruhe, eine fast kontemplative Stimmung. Ich genieße das sehr.

    Baba kann uns keine große Hoffnung machen, die Situation von heute ist komplett anders als die von gestern. Er deutet allerdings an, dass die Straße von Leh nach Manali wohl immer noch gesperrt sei. Über diese Straße wollen wir in rund ein bis zwei Wochen fahren, laut Baba müsste sie allerdings dann wieder geöffnet sein.

    Ich gebe Babas Kinder etwas Geld für Schokolade und wir machen uns auf den Rückweg durch eine Apfelplantage, über Trampelpfade und viel Müll. Immer wieder passieren wir Zelte von Nomaden und Hirten, die den Sommer über hier aufgestellt sind. Diese Menschen lassen ihr Vieh weiden und verdingen sich mit einfachsten Arbeiten sowie mit dem Betteln auf der Straße.

    Am Abend diskutieren Chris und ich im Familienkreis noch mal alle unsere Optionen. Wir entscheiden uns, einen Versuch zu starten, uns irgendwie zum Flughafen durchzuschlagen. Dazu bräuchten wir allerdings eine Genehmigung durch die nächstliegende Polizeidienststelle. Dieses Dekret würden wir allerdings nur bekommen, wenn wir die Polizisten bestechen. Das widerstrebt uns zutiefst, zumal wir gar nicht wissen, ob die Bestechungen dann auch wirksam sind.

    Resigniert stellen wir fest, dass wir morgen wohl immer noch nicht hier weg kommen. Ahmet will versuchen, einen Freund zu besuchen, der Polizist ist, um mit ihm die Lage zu besprechen.


    Montag, 29. Mai 2017: Weiterhin abwarten

    Wir alle schlafen bis zehn Uhr. Ahmets Verzweiflung ist ihm anzumerken. Es gibt für uns kein Fortkommen, er und seine Familie fühlen sich für uns verantwortlich.

    Ich lese das "Book of Joy", in dem eine Woche eines gemeinsamen Treffens des Erzbischofs Desmond Tutu aus Südafrika und dem Dalai Lama dokumentiert werden. In diesem Buch geht es immer wieder um Mitgefühl, Freundlichkeit, Großzügigkeit und eine Orientierung zum Kern des Menschseins. Immer wieder versuche ich, die Gedanken dieser beiden Friedensnobelpreisträger auf mein eigenes Leben und meine eigene Person zu übertragen. Vieles von dem, was die beiden miteinander besprechen, praktiziere ich. Und dennoch entdecke ich immer wieder wunderbare Erkenntnisse dieser beiden weisen Männer, die ich so noch nicht gewonnen habe, die mir aber als sehr wertvoll erscheinen.

    Ahmet und ich machen uns auf, um in einer Apotheke Medizin für seine Mutter zu besorgen. Die Straßen sind normal, keine Anzeichen von Unruhen. Die Menschen auf der Straße sind neutral bis freundlich. Die Unsicherheit ist allerdings groß und zu spüren.

    Nach der Rückkehr geht Ahmet dann allein zu seinem Polizei-Freund. Der empfiehlt uns, nicht nur Srinagar sondern ganz Kashmir mit einem Taxi zu verlassen. Das bedeutet: wir müssen ein Taxi finden, das Chris und mich mit unseren Fahrrädern bis nach Leh in Ladakh bringt. Durch Srinagar zum Flughafen zu fahren scheint zu gefährlich zu sein. Heute Morgen wurden wohl zwei Steinewerfer auf der Straße zum Flughafen von der indischen Armee erschossen.

    Ahmet geht noch mal zu Baba, um ihn zu fragen, ob er ein Taxi besorgen und uns nach Leh fahren könnte. Doch Baba ist nicht zu Hause. Da die Telefonnetze immer noch runter gefahren sind, müssen wir uns mit der Kommunikation per pedes begnügen. Und die ist langwierig.

    Plötzlich ruft Sama bei Ahmet an, sie hat auf ihrem Telefon wohl einen lokalen Anbieter gefunden, dessen Netz noch oder wieder funktioniert.

    Sie kann jetzt versuchen, über irgendwelche Verbindungen einen Taxifahrer zu organisieren.

    Ahmet, Chris und ich verlassen das Haus, um an einem Geldautomaten ausreichend Geld für das Taxi abzuheben. Der erste Automat ist schon leer geräumt. Unserer Hoffnungen darauf, genügend Geld zu bekommen, schwinden. Wir erfahren nun am eigenen Leibe, dass Ausnahmesituationen durchaus Mangel und Handlungsunfähigkeit nach sich ziehen können. Zum Glück hat der Geldautomat der Staatsbank noch genügend Geld im Speicher. Wir benötigen rund 450 bis 500 Euro, um das Taxi finanzieren zu können.

    Die Fahrt nach Leh dauert rund 25 Stunden, verteilt auf zwei Fahrtage mit einer Übernachtung in Kargil.

    Die Schwestern, Chris und ich singen abends. Indische Volksweisen wechseln sich mit deutschen Kunstliedern, südamerikanischem Jazz und Frank Sinatra ab. Lustig. Endlich herrscht mal gelöste und freudige Stimmung in diesem Haus. Selbst Ahmets Mutter kommt dazu und lächelt.

    Danach reden wir über Liebe und Religion. Im Islam dürfen Frauen nur dann arbeiten, wenn der Mann es erlaubt. Es gibt Ärztinnen, Professorinnen und Lehrerinnen in Kashmir, hier an der Universität in Srinagar arbeiten viele Frauen als anerkannte Wissenschaftlerinnen. Allerdings sind sie immer abhängig von der Erlaubnis ihrer Männer. Ich habe den Eindruck, dass die drei Schwestern das durchaus kritisch sehen.

    Die Muezzin singen bereits den ganzen Tag. Heute Morgen um drei Uhr in der Früh lief ein Mann mit einer riesengroßen Pauke durch die Straßen der Stadt und weckte die Gläubigen zum Frühstück, dem letzten Essen und Trinken in den nächsten 17 Stunden. Auch die Schwestern standen auf, kochten sich Essen und Tee, nahmen die Mahlzeit zu sich und meditierten. Um vier Uhr in der Früh betete dann der Rufer rund eine halbe Stunde vom Minarett, wie groß Allah sei und dass er der Schöpfer von allem sei. Wenn ich mir anschaue, wie die Menschen hier mit ihrer Umwelt und auch sich selbst (alles Allahs Schöpfung) umgehen, dann frage ich mich allerdings, ob sie die Gebete richtig interpretieren. Ich frage das die Schwestern auch, sie zucken mit den Schultern.

    Am Abend sitzen Ahmet, Chris und ich auf dem Dach des Hauses, rauchen einen Joint, hören Reggae und futtern Erdnüsse. Respekt zeigend unterbrechen wir die Musik immer wieder, wenn die Muezzin rufen.

    Baba ist nicht zu erreichen, Ahmet will mit uns nach Leh, Sama darf nicht mit - ihre Familie verbietet es. Sie ist 26. Ich frage mich, was ich dazu sagen soll. Wenn ich in den letzten Tagen eins gelernt habe, dann, dass die Antwort auf diese Frage lautet: Nichts.

    <Fortsetzung folgt, mehr Bilder gibt es unter www.gondermann.net>
    Zuletzt geändert von joeyyy; 16.11.2017, 23:01.
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    #2
    AW: [IN] Himalaya: Abenteuer Srinagar - Leh - Manali

    mal endlich wieder ein Reisebericht von dir. Und frage mich unwillkürlich, ob alles gut ausgehen wird. aber dann werde ich zuversichtlich: geht nicht fast immer alles letztlich gut aus. Ich neige dazu, den Menschen zu vertrauen und warte somit hoffnungsfroh auf weiteres!
    bitte bald weiter machen!
    Two roads diverged in a wood, and I—
    I took the one less traveled by,
    And that has made all the difference (Robert Frost)

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      #3
      AW: [IN] Himalaya: Abenteuer Srinagar - Leh - Manali

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      • joeyyy
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        #4
        Dienstag, 30. Mai 2017: Bewegung

        So langsam kommt Bewegung in die Sache: Ahmet versucht, einen Taxifahrer zu organisieren. Sama ebenfalls, sie hat wenigstens ein Telefon von einem lokalen Anbieter, das funktioniert.

        Ahmets Mutter und seine drei Schwestern kümmern sich ganz liebevoll um Chris und mich, sagen, wir gehörten jetzt zur Familie. Ich höre das nicht nur sondern ich fühle das auch. Und ich habe den Eindruck, dass das eine ganz große Ehrerbietung ist. Ich kann nur sagen, dass ich mich trotz der angespannten Situation außerhalb hier im Haus sehr geborgen gefühlt habe und immer noch fühle.

        Die vier Frauen leben auf engstem Raum in einem einzigen Zimmer, ihre Betten sind dicke Decken, Möbel gibt es nicht. Die Wände sind nackter Beton, keine Tapete, keine Farbe. Ein provisorischer Elektrokocher steht auf dem Boden, die Töpfe und das Geschirr daneben. Auch die Frauen können das Haus im Moment nicht verlassen. Dennoch gab es bisher nicht ein einziges böses Wort, auch nicht die leisesten Anzeichen irgend eines Streits. Dazu kommt, dass sie sich den Regeln des Ramadan unterwerfen, morgens ganz früh aufstehen und tagsüber weder trinken noch essen dürfen.

        Chris und ich beschließen, dass wir dieser Familie irgendwie Geld zukommen lassen, damit sie einen neuen Wasserhahn am Wassertank anbringen sowie den Tank aufs Dach tragen und installieren lassen können. Die kontinuierliche Wasserversorgung ist hier immer wieder ein Problem, daher haben viele Häuser solche Wassertanks auf dem Dach, um in Zeiten abgestellten Wassers ohne Not weiter leben zu können.

        Ahmet hat ebenfalls einen Wassertank im Garten, dessen Ablassventil ist allerdings defekt und somit ist er nicht nutzbar. Geld für die Reparatur fehlt. Im Garten ist er weniger nutzbar, da das Wasser von dort nicht für die Toilettenspülung benutzt werden kann und die Frauen zum Waschen von Wäsche und Geschirr immer wieder raus in den Garten müssen.

        Eine Spende lehnen allerdings sowohl Ahmet als auch seine Mutter rigoros ab. Chris und ich müssen uns etwas einfallen lassen. Eine Gegeneinladung nach Deutschland ist unrealistisch, da die Frauen wahrscheinlich aus Kashmir gar nicht ausreisen dürfen und sie auch gar nicht das Geld haben, um das zu finanzieren. Ahmet und die Frauen müssten jeweils eine ganz hohe Kaution bei einer Bank hinterlegen, damit sie überhaupt ein Ausreisevisum beantragen dürfen.

        Für eine eigene Installation des Wassertanks auf dem Dach fehlen Chris und ich einfach die statischen Berechnungsmöglichkeiten, Werkzeuge und auch die Zeit. Also bleibt uns nur, irgendwie mit unseren finanziellen Möglichkeiten zu helfen. Das werden wir auch tun. Wir haben ja noch etwas Zeit, darüber nachzudenken.

        Sama ruft an. Ich telefoniere mit ihr und frage, ob sie mitkommen kann, ob sie uns auf unserer Quasi-Flucht nach Ladakh begleiten kann. Sie antwortet gleich: „No!“. Ich frage, ob ich mit ihrem Bruder oder mit ihrem Vater sprechen soll. Sie antwortet nur: „They would kill me!“ Entweder bin ich nicht empathisch genug, oder ich raffe es einfach nicht. Sie meint es todernst. Das verdeutlicht mir Ahmet im Nachhinein auch noch mal eindringlich. Samas Familie würde Gift benutzen, um sie zu töten.

        Am Mittag gehen Ahmet und ich zu einem Dealer und zur Polizeistation. Für den Dealer gebe ich Ahmet 1000 Rupies, für den Polizeipass für drei Personen 1500 Rupies. Die Polizei will die Pässe dann zu Ahmet nach hause bringen.

        Aufgrund der gesamten Situation und seiner Verantwortung raucht Ahmet mehr Joints pro Tag als normal. Er wird von Tag zu Tag fahriger. Ich mache mir langsam Sorgen um ihn, aber auch um seine Familie. Über Logik kommen wir allerdings nicht weiter, er weiß selbst, dass Drogen seine Probleme nicht lösen, sie höchstens zeitlich eng begrenzt lindern und dann am Ende aber größer werden lassen.

        Am Ende des Tages hat die Polizei die Pässe noch nicht vorbeigebracht. Die Situation draußen ist weiterhin angespannt, morgen ist der vierte Tag der Unruhen und damit der vermutlich aggressivste und unruhigste Tag. Die Berichte im Fernsehen zeigen weiterhin Steinewerfer, Soldaten und Bilder von Männern, die die Inder als Terroristen ansehen.



        <Fortsetzung folgt>
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          #5
          Mittwoch, 31. Mai 2017: Fragen nach dem großen „Warum?“ und die Fahrt nach Leh

          Am Morgen kommt der Anruf von Sama: Wir haben ein Taxi. Für 600 Euro von Srinagar nach Leh. Um 10 Uhr steht es an der Straße vor der Tür. Chris und ich beratschlagen kurz und sagen zu. Natürlich ist das teuer. Aber in Zeiten der Unruhe und des Aufruhrs ist alles knapp und somit alles teuer. Und wir wissen auch nicht, wer an dem Deal beteiligt ist und wer für wen wieviel Provision abzweigt. Wir wollen einfach nur hier raus.

          Wir haben noch genügend Zeit, uns von Ahmets Mutter und seinen Schwestern zu verabschieden.

          Ich bin gerührt von der Gastfreudschaft, die Chris und ich durch diese muslimische Familie erfahren haben. Wir versprechen uns, alles Mögliche zu versuchen, uns wieder zu sehen. Auch wenn es nahezu aussichtslos ist.

          Am Ende kann ich meine Tränen nicht unterdrücken und die Frauen auch nicht.



          Wir reden noch darüber, was wir alle gemeinsam ändern wollen, damit die Situation für die Menschen hier in Kaschmir ruhiger und besser und vernünftiger würde. Aber wir sehen gemeinsam auch, dass wir nicht ankommen gegen das Dogma der Tradition, der gelebten Religion, des Patriarchats.

          Aufklärung und die Regeln der Vernunft sind in radikal muslimischen Ländern und Regionen seit rund 700 Jahren eingefroren.

          Ein Dialog mit Menschen, hier in der Regel Männern, die die sogenannte Tradition dermaßen hart und fest im Denken und Fühlen verankert haben, ist schlicht nicht möglich.

          Was soll ich denken, wenn ein Vater seine Tochter beziehungsweise die Brüder ihre Schwester vergiften werden, wenn sie mit ihrem geliebten Freund zusammen ist? Ich versuche, mich in ein solches Gedankenkonstrukt zu versetzen. Es gelingt mir nicht, mir wird übel, wenn ich daran denke, meine Tochter töten zu „müssen“, wenn sie mir nicht gehorcht. Ich kann diese Menschen nicht verstehen. Um das für mich nochmal klar zu haben: Ich habe nicht nur kein Verständnis für eine solche sklavische Unterwerfung unter traditionelle Riten. Nein, ich verstehe es auch nicht. Wie kriegen die muslimischen Prediger ihre anvertrauten Gläubigen bloß so programmiert? Und warum?

          Meine Fragen nach dem „Warum?“ werden mit Schulterzucken oder „Weil es so ist!“ beziehungsweise „Weil der Prophet es so will!“ oder „Weil es im heiligen Buch steht!“ beantwortet.

          Dabei kennen die wenigsten Muslime das was der Prophet wollte. Oder was im heiligen Buch steht. Die Sprache des Koran ist arabisch, teilweise vor- und früh-arabisch, und arabisch sprechen hier nur die Prediger – und auch von denen nicht alle. Das was Luther für die Christen tat, nämlich die Bibel ins Deutsche zu übersetzen, halten die Muslime beim Koran für unmöglich. Manche Prediger empfehlen, eher die arabischen Buchstaben anzuschauen als eine Übersetzung zu lesen. Das scheint eine mögliche Begründung dafür zu sein, dass es für Moslems möglich ist, jedes Denken, Fühlen und Handeln auf den Koran zurück zu führen. Und sich damit – egal, was sie tun – von Schuld und Verantwortung frei zu sprechen.

          Wenn ich abstrahiere, dann habe ich den Eindruck, dass diese Religion weder willens noch in der Lage ist, sich mit Andersartigkeit auseinander zu setzen. Im Gegenteil: Wir Ungläubigen sind dogmatisch aufgefordert, die Unnachahmlichkeit des Korans einzugestehen. Und implizit, uns den Texten und damit Regeln des Buches zu unterwerfen. Dazu muss man wissen, dass der Koran als wortwörtliche Offenbarung Allahs an den Propheten Mohammed gesehen wird.

          Nach muslimischer Logik will Gott also, dass wir uns dem Koran unterwerfen.

          Und das müssten wir Christen doch auch, da es doch auch unser Gott ist, der sich dem Propheten offenbarte.

          Alles Verhalten hier, alles Denken, alles Fühlen wird von den Menschen auf den Koran zurückgeführt. Und ist somit dogmatisch abgesichert. Von Skepsis, von Reflektion, von Toleranz empfange ich auch nicht die leisesten Anzeichen. Wenn es unlogisch wird, zucken die Menschen, die ich befrage, mit den Schultern. Das wars. Selbst bei den Frauen, die mir noch unfreier zu sein scheinen wie die Männer, erkenne ich keine Ansätze zum Aufbegehren, zum Nachdenken, zum Umdenken.

          Eine Aufweichung dieses Dogmas scheint nur dadurch möglich zu sein, dass die zwingende und erzwungene Verbindung zwischen den Menschen und dem Koran in Frage gestellt wird. Es müsste einen islamischen Luther geben, eine entsprechende protestierende Bewegung, flankiert von Auseinandersetzungen mit einem religiös unabhängigen Ethos. Auch Menschen, die nicht nach den Worten des Koran leben können und wollen, müssten die Möglichkeit zugesprochen bekommen, sich ethisch und moralisch richtig verhalten zu können.

          Allein, niemand sieht eine solche Bewegung, eine solche Tendenz.

          Wir tragen die Räder an die Straße, das Taxi wartet bereits.

          Hussein, der Taxifahrer, ist ein kleiner, freundlich aussehender, lächelnder Mann, der uns hilft, die Räder aufs Dach des Autos zu bekommen und sie ausreichend fest zu zurren. Der Rest des Gepäcks wandert in den Kofferraum. Das Taxi ist ein kleiner Bus mit ausreichend Platz für sechs Leute.

          Also haben wir zu viert eine komfortable Reise zu erwarten.



          Wir fahren los, Richtung Kargil – unsere geplante abendliche Zwischenstation, die bereits hinter den ersten hohen Pässen liegt.

          An uns vorbei ziehen Reisfelder, die von einzelnen Bauern in mühesamer Manier mit einzelnen Harken bestellt werden. Vorbei ziehen auch Müll, glimmende Kabel und Reifen, rauchende Zeugen des Aufruhrs. Dennoch empfinde ich eine erstaunliche Normalität, bedenkend, was in den letzten Tagen in Srinagar und Umgebung los war.

          Kurz hinter Srinagar müssen wir an einer Straßensperre halten.

          Jetzt kommt uns zugute, dass Ahmet das Kennzeichen des Taxis auf der Polizeistation angab und dafür einen Passierschein „kaufte“. Offensichtlich funktioniert das. Die Polizisten sind ernst, zählen die Passagiere des Taxis durch, prüfen das gegen ihre Listen und winken uns nach einem gefühlt viel zu langen bangen Moment weiter.

          Langsam geht es bergauf.

          Die Straße ist anfangs noch geteert, wird aber schnell zur Piste. Auf dieser Piste ruckelt und wackelt es, so dass ich fürchte, irgendwann autokrank zu werden.

          Chris, Ahmet, Hussein und ich sind ein gutes Team hier im Taxi, in der Situation. Hussein ist ein sehr guter Fahrer, der sein Auto, die Strecke und auch die LKW-Fahrer gut kennt und defensiv fährt. Ich sage ihm das, er freut sich sichtlich übers Lob.

          Die Piste wird abenteuerlicher, wir müssen häufig anhalten, um entgegenkommende Autos durchzulassen.

          Immer wieder hängen wir auch hinter langsam fahrenden Lastern fest, deren Fahrer allerdings in der Regel sehr zuvorkommend sind und – sobald es ihnen möglich ist – Platz machen, damit wir überholen können.

          Ich lehne mich während der Fahrt oft aus dem Fenster, um zu fotografieren. Wenn ich dann nach unten schaue, dort, wo das Vorderrad rollt, staune ich über die Passgenauigkeit, mit der Hussein auf der Straße fährt, den Abgrund keinen halben Meter neben sich.

          Die Landschaft hier ist göttlich.

          Zwischendurch machen wir immer mal Pause, essen, trinken, pinkeln.

          Ich erkenne, dass der Srinagar-Leh-Highway erst vor kurzem geöffnet werden konnte – überall am Straßenrand klopfen dunkelhäutige Arbeiter, die aus dem Süden Indiens kommen, Steine klein, um mit ihnen dann die schlimmsten Schlaglöcher zu stopfen.

          Ebenfalls ist das Militär hier allgegenwärtig. Soldaten gehen am Straßenrand Streife und viele Militärfahrzeuge begegnen uns auf dem Highway. Die indische Armee hat aus strategischen Gründen das größte Interesse daran, dass der Highway im Sommerhalbjahr befahrbar ist.



          Am Abend kommen wir dann nach rund zehn Stunden Fahrt in Kargil an, dem heutigen Etappenziel unserer Fahrt. Dort steigen wir in einem recht einfachen Hotel ab und sind müde, so dass wir gar nicht mehr groß essen gehen. Wir beziehen unsere Zimmer, erzählen uns noch was, Ahmet telefoniert mit Sama – in Srinagar ist zum Glück alles einigermaßen ruhig geblieben.

          Chris und ich atmen auf. Wir haben nicht mehr den Eindruck, auf der Flucht zu sein. Obwohl es eine ist. Normalerweise wären wir hier mit den Fahrrädern lang gefahren.

          Ich bin mir unsicher ob ich das jetzt bedauern oder einfach abhaken soll. Ach, ich konnte die Fahrt hier hoch staunend genießen, morgen wird es nochmal spektakulär und ich bin in guter Gesellschaft.

          Alles gut.

          <Fortsetzung folgt, mehr Bilder gibt es unter www.gondermann.net>
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          • EbsEls
            Erfahren
            • 23.07.2011
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            #6
            AW: [IN] Himalaya: Abenteuer Srinagar - Leh - Manali

            Was für ein toller Bericht. Vielen Dank!
            Eine klasse Bestätigung des Spruchs vom alten Humboldt: "Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben." Und das in mehrfacher Hinsicht. Ich beneide Euch um solche Erfahrungen.
            Zuletzt geändert von EbsEls; 17.09.2017, 09:10.
            Viele Grüße aus Thüringen (oder von Sonstwo)
            Eberhard Elsner

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            • blauloke

              Lebt im Forum
              • 22.08.2008
              • 8302
              • Privat

              • Meine Reisen

              #7
              AW: [IN] Himalaya: Abenteuer Srinagar - Leh - Manali

              Danke für diesen eindringlichen Bericht.
              Man hört in den Nachrichten nur eine kurze Meldung über Unruhen irgend wo, was dies aber für die betroffenen Menschen bedeutet erfährt man selten.
              Du kannst reisen so weit du willst, dich selber nimmst du immer mit.

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              • joeyyy
                Erfahren
                • 10.01.2010
                • 198
                • Privat

                • Meine Reisen

                #8
                AW: [IN] Himalaya: Abenteuer Srinagar - Leh - Manali

                Ja, das war schon ziemlich heftig. Die Unsicherheit ist es, die zermürbt. Letztes Jahr hielten die Unruhen sechs Monate an, über 100 Menschen wurden allein in Srinagar getötet. Internet und Telefon gibt es nicht. Du weißt nix, erfährst nix, kannst nix planen.

                Am Ende bist du froh, einfach nur raus zu sein.

                Hier die News aus der Zeit und dem Ort von Aljazeera: News 27-May-2017
                www.gondermann.net
                Reisen - Denken - Leben

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                • Biki
                  Erfahren
                  • 10.12.2010
                  • 328
                  • Privat

                  • Meine Reisen

                  #9
                  AW: [IN] Himalaya: Abenteuer Srinagar - Leh - Manali

                  Vielen Dank für den beeindruckenden Bericht!

                  2015 war ich mit dem Motorrad in Srinagar und erlebte einen Anschlag an der Moschee beim Freitagsgebet mit. Prinzipiell war damals die Stimmung angespannt aber ruhig. Danach saß ich lange im Kreis einiger junger Studentinnen im Frauenabteil eines Kaffees, bevor wir wieder auf die Straße durften. Sie beschrieben die permanente Unsicherheit als sehr stressig, ihre Lebenslust und Energie blitzte aber in allen Gesprächen durch.
                  http://bikibike.wordpress.com/

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                  • blackteah
                    Dauerbesucher
                    • 22.05.2010
                    • 777
                    • Privat

                    • Meine Reisen

                    #10
                    AW: [IN] Himalaya: Abenteuer Srinagar - Leh - Manali

                    Ein toller und eindringlicher Bericht. Danke auch fürs Teilen deiner Gedanken, finde ich sehr spannend. Bin gespannt, wie es bei euch weiter ging und wie ihr ans andere Ender der Welt gekommen seid...

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                    • chri1
                      Dauerbesucher
                      • 08.11.2005
                      • 532

                      • Meine Reisen

                      #11
                      AW: [IN] Himalaya: Abenteuer Srinagar - Leh - Manali

                      Bin gespannt, wie es weiter geht. Wir waren letztes Jahr in der selben Ecke und hatten ursprünglich auch einen Flug nach Srinagar, 10 Tage vor Flug sind die Unruhen nach dem Tod von Burhan Wani ausgebrochen und wir haben noch rechtzeitig den Flug gecancelled und umgeplant (sind dann mit dem Zug nach Shimla) .
                      Unterwegs haben wir einige Reisende (Radfahrer) getroffen, denen es ähnlich ergangen ist, wie Euch, sei es weil sie wirklich Pech hatten und gerade in den Start der Unruhen gefolgen sind, sei es dass sie sich nicht informiert hatten und dann vor Ort überrascht wurden. Es gab aber auch Reisende, die in vollem Bewusstsein 6 Wochen nach Ausbruch der Unruhen nach Srinagar geradelt sind um heimzufliegen.
                      Jene die in Srinagar gelandet sind haben auch mehrere Tage gewartet und das Taxi nach Kargil genommen.

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                      • joeyyy
                        Erfahren
                        • 10.01.2010
                        • 198
                        • Privat

                        • Meine Reisen

                        #12
                        AW: [IN] Himalaya: Abenteuer Srinagar - Leh - Manali

                        1. bis 3. Juni 2017: Zweite Etappe nach Leh, Chicken Tandoori und Gedanken zum Miteinander

                        Wir stehen recht zeitig auf, weil wir früh los müssen, wenn wir nachmittags in Leh sein wollen. Um sieben stehen wir am Taxi, Hussein ist nicht da. Ahmet geht zum Hotelmanager, der Hotelmanager geht ins Fahrerzimmer, fünf Minuten später fahren wir los. Richtung Leh.

                        Kargil liegt in einem der vielen Indus-Täler. Wir queren eine Brücke und fahren auf der linken Seite des Indus wieder bergauf.

                        Nach 20 Minuten stellt Ahmet fest, dass er sein Dope im Hotelzimmer vergessen hat. Wir diskutieren kurz und sind alle der Meinung, dass es das Dope nicht wert ist, dass wir jetzt wieder zurück fahren. Allerdings versichert Ahmet, dass er Probleme bekommen würde, wenn jemand das Dope finden würde, weil der Hotelmanager weiß, wer in diesem Zimmer übernachtet hat. Na ja, was sollen wir tun?



                        Eine Stunde länger unterwegs, dafür keine Probleme für Ali – klare Entscheidung: Wir drehen nochmal um. Also: Zurück zum Hotel. Ahmet ruft den Hotelmanager an (das Telefonnetz hier oben funktioniert wieder), der sammelt das Dope ein bevor die Putzkolonne kommt, wir kommen an, sammeln das Dope ein und fahren erneut los Richtung Leh. Zum dritten Mal über den Indus.

                        An der ersten Buddha-Statue halten wir, machen Mittagspause. Ich sehe die ersten Gebetsfahnen, die erste Gebetsmühle, fühle eine gewisse Erleichterung, nun in den eher friedlichen Teilen Indiens unterwegs zu sein.

                        Die Menschen und die Stimmung sind schon in diesem kleinen Ort hier komplett anders als in Srinagar oder Kargil. Es ist ruhiger, die Menschen sind ruhiger.

                        Die Landschaft wird Himalaya typisch mit den hohen Bergen rechts und links. Wir fahren über die ersten 4.000-Meter-Pässe, die Eindrücke sind gewaltig, die Straßen sind gut befestigt, so dass wir erstaunlich zügig voran kommen.

                        Wir passieren immer wieder Kasernen und Militärstützpunkte, auf die die Inder stolz sind. Das zeigen sie mit martialischen und patriotischen Sprüchen auf den Mauern und Schildern an den Kasernen. Wir dürfen nicht vergessen, dass diese Straße hier im Wesentlichen deshalb geöffnet ist, da sie von strategischem Nutzen für Indien ist. Hier oben liegt das höchstgelegene Schlachtfeld der Welt, wenn ich den Schildern glauben kann. Sie erinnern daran, dass diese karge Gegend Streitfall für drei Atommächte ist: Pakistan, China und Indien. Der Srinagar-Leh-Highway hat im letzten Krieg zwischen Indien und Pakistan 1999 dafür gesorgt, dass Indien Nachschub in das Kriegsgebiet liefern konnte und so die pakistanischen Soldaten besiegen und in die Flucht drängen konnte.

                        Nach rund acht Stunden Fahrt kommen wir dann am Nachmittag, gegen 15 Uhr in Leh an.

                        Leh ist eingangs durch viele Kasernen und Baracken geprägt, blickdichte Zäune verhindern meine Sicht in die Landschaft.

                        Chris und ich schlagen vor, in ein sogenanntes Guesthouse, eine einfache Pension, zu ziehen. Wir haben die Adresse in einem Internetportal empfohlen bekommen, die Bewertungen von anderen Reisenden sind gut. Allerdings will Ahmet das nicht, er telefoniert mit Sama in Srinagar und Sama organisiert dann von Srinagar aus ein Hotel für uns. Die Sucherei nach diesem Hotel gestaltet aufwändig, Chris und ich haben den Eindruck, dass es hier nicht um die beste Lösung für uns alle geht sondern um Provisionen und Konditionen für Ahmet, Sama und Hussein. Wir Westler sind nunmal der Quell des Einkommens für viele Händler, Vermittler und Gastgeber. Am Ende finden wir das Hotel – es ist sauber und bietet einen für den ausgehandelten Preis angemessenen Service. Chris und mir kann es egal sein: Wir hätten ohne Ahmet garantiert einen höheren Preis gezahlt, so zahlen wir weniger, Ahmet und der Hotelbesitzer verdienen dennoch ein wenig an uns und alle sind zufrieden.

                        Dennoch muss ich mich mit den Gedanken, dass hier irgendwie alles auf Kommissions- und Provisionsbasis gefordert und bezahlt wird, gewöhnen. Preisschilder und -forderungen sind erstmal nur Angebote, um ins Gespräch zu kommen. Solche Gespräche sind zum Teil langwierig und ermüdend, gehören aber zum Leben hier dazu. Und ich merke, dass meine Bereitschaft, zu zahlen, mehr und mehr von Sympathie-Werten abhängt als von Preisschild-Werten. Es gibt Händler und Verkäuferinnen, denen gebe ich schon nach ein bis zwei Verhandlungsrunden deren geforderte Summen und es gibt Händler, da gehe ich bis unter die Hälfte des zuerst geforderten Preises und verlasse dann sogar noch ohne Kauf den Laden, wenn keine Sympathie da ist. Um dann im Nachbarladen die gleiche Ware für einen höheren Preis zu kaufen. Wenn eines unberechenbar ist, dann sind wir Menschen es.

                        Ahmet will noch zwei Nächte hier in Leh bleiben, bei uns wohnen und mit Geschäftspartnern reden.

                        Abends gehen wir essen, freuen uns auf einen Restaurantbesuch und darauf, auf die Ankunft in Leh und damit auf das Ende der Unruhen für uns anstoßen zu können. Wir wählen ein tibetisches Restaurant, ich bestelle ein Chicken Tandoori, Chris eine Nudelsuppe, Ahmet geht in die Küche, schaut sich um und bestellt sich nur einen Tee.

                        Das Tandoori ist furchtbar, verglichen mit einem Tandoori, das wir in Srinagar bei einem Freund Ahmets serviert bekamen. Hier zeigt sich dann wohl doch, was ein einheimischer Reiseführer wert sein kann. Mein Essen jetzt scheint aufgewärmt zu sein, ist zäh und pampig und ölig. Aber der Hunger treibt’s rein. Das leckerste am Essen ist das Brot.

                        Irgendwie sind wir alle ziemlich fertig und gehen zeitig zurück ins Hotel, wo wir dann auch bald einschlafen.

                        Es ist zwei Uhr zwanzig in der Nacht. Ich muss ungefähr eine halbe Stunde lang dem Gebet des benachbarten Muezzin zuhören – egal ob ich es will, verstehe, toleriere oder nicht. Leh ist zu achtzig Prozent buddhistisch und im Winter wohl zu hundert Prozent. Die restlichen zwanzig Sommerprozente teilen sich Hindus und Moslems.

                        Ich frage mich: Wie kann es sein, dass eine so kleine Minderheit von um die zehn Prozent eine so große Mehrheit nachts akustisch so dominieren darf? Es ist ja nicht nur so, dass mir ein religiöser Brauch aufgezwungen wird – nein, das regelmäßige Stören des Schlafs macht krank! Also muss die Frage lauten: Warum dürfen wenige Menschen vielen Menschen etwas aufzwingen, was krank macht? Hier geht es nicht um abstrakte und globale religiöse oder politische Konzepte sondern um den Lebensalltag der Menschen in dieser Stadt.

                        Mir kommt sofort der Gedanke an mein eigenes Land in den Sinn. Es gibt Regionen und Stadtteile in Deutschland, zum Beispiel in Berlin, in Köln, dem Ruhrgebiet – ja sogar in Hannover, wo die Moslems in der Mehrheit sind. Und glücklicherweise haben wir Gesetze und Regeln, die eine solche nächtliche Ruhestörung bei uns nicht zulassen würden. Nun können die Moslems bei uns natürlich geltend machen, dass sie an der freien Ausübung ihrer Religion gehindert werden, wenn sie nachts nicht aus den Moschee-Lautsprechern rufen dürfen.

                        Und somit bin mit diesen Gedanken mitten drin im Konflikt, den das Konzept der Toleranz mit sich bringt: Wie weit kann, muss, darf Toleranz gegenüber den „Anderen“ gehen? Was, wenn die „Anderen“ keine Toleranz pflegen? Wann wird Integration zu Invasion? Was ist überhaupt Integration? Kann diese gelingen, wenn die Ansichten, Gebräuche, Kulturen sich gegenseitig ausschließen und angreifbar machen? Können Kompromisse gefunden werden? Was bedeuten Kompromisse für die, die ja schon da sind und seit Generationen in ihrem angestammten Gebiet leben – ohne Kompromisse und in Zufriedenheit? Warum werden die „Anderen“ den Wert solcher Kompromisse nicht erkennen und sich somit immer benachteiligt fühlen?

                        Antworten? Werden wohl irgendwann durch die normativen Kräfte des Faktischen gegeben. Wie in Tibet nach der Invasion der Chinesen, wie in den USA und Kanada nach der Invasion durch den weißen Mann, wie in der Ost-Ukraine nach der Invasion durch die Russen. Irgendwann ist nach so einer Invasion eine kritische Kraft erreicht, die die Kraft- und Machtverhältnisse kippen lässt und die bisher „Einheimischen“ zu den „Anderen“ macht.

                        Toleranz hat immer auch etwas von Arroganz: Toleranz braucht jemanden, der toleriert und jemanden, der toleriert wird. Und die Toleranzhoheit liegt bei dem, der toleriert. Und Hoheit grenzt schnell an Arroganz. Und Hoheit kommt vor dem Fall.

                        Ob irgendwann in Hannover die Muezzin nachts um zwei Uhr zwanzig aus einer Innenstadt-Moschee rufen und alle Menschen in Hannover-Mitte wecken, kann niemand voraussagen. Nur, dass die Geschichte viele solcher Beispiele liefert, bereitet den Menschen in meinem Land Sorge. Und dass diese Sorgen klein geredet werden oder gar nicht diskutiert werden dürfen, sorgt widerum dafür, dass Populisten das Wort erhalten und sich in vielen Bereichen durchsetzen können.

                        Ich nehme mir vor, mal mit einheimischen Buddhisten zu reden.

                        Ich kann nicht einschlafen, die Chicken und die fettigen Pommes liegen mir schwer im Magen. Dazu kommt die zu geringe Adaptionszeit an die Höhe hier – Leh liegt in rund 3.500 Metern Höhe.

                        Bis zum Morgen kann ich nicht einschlafen. Der Magen grummelt, der Kopf tut weh.

                        Ahmet und Chris gehen am Morgen ohne mich in die Stadt, für mich ist das – trotz meines Zustandes – eine ganz willkommene Möglichkeit, nach fünf Tagen Übersozialisierung mal wieder für mich und mit mir allein zu sein. Endlich mal wieder nicht Planer sein, mal nicht Organisator und Entscheider sein, endlich mal nicht mehr einbringen müssen und Fragen beantworten müssen.

                        So liege ich die nächsten zwei Tage im Bett, döse vor mich hin, habe ein wenig Durchfall und weiterhin Kopfschmerzen. Nichts, worüber ich mir allerdings Sorgen machen müsste.

                        Das Book of Joy habe ich zuende gelesen. Am Anfang war es sehr inspirierend, ab der Hälfte wird es zur Wiederholung von bisher Gesagtem. Was nicht schlimm ist. So vertiefen sich die Kernbotschaften des Dalai Lama und des Erzbischofs von Südafrika immer mehr bei mir.

                        Wobei ich die Ansichten des buddhistischen Dalai Lama eher nachvollziehen kann als die des christlichen Bischofs. Ersterer fragt dieselbe Frage wie Kant: Wie können wir wissen, was im Zusammenleben von Menschen richtig ist, ohne die Religion zuhilfe nehmen zu müssen?

                        Es muss doch möglich sein, eine gemeinsame menschliche Basis zu finden, auf der ein friedvolles Zusammenleben aller Menschen dieser Erde statt finden kann, mit dem Ziel, Freude am Leben zu empfinden, zu empfangen und auch weiter zu geben. Und da nahezu jede Religion dieser Welt einen eigenen Absolutheits- und Wahrheitsanspruch erhebt, scheint eine religiöse Basis nicht vorhanden zu sein, sollte diese Basis eher humanistisch und religionsunabhängig sein.

                        Ach, es ist schon schwer, ein gutes Leben zu denken und zu führen. Eben noch über Ausgrenzung nachgedacht, jetzt schon wieder über eine gemeinsame Welt.

                        <Fortsetzung folgt, mehr Bilder gibt es unter www.gondermann.net>
                        www.gondermann.net
                        Reisen - Denken - Leben

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                        • joeyyy
                          Erfahren
                          • 10.01.2010
                          • 198
                          • Privat

                          • Meine Reisen

                          #13
                          AW: [IN] Himalaya: Abenteuer Srinagar - Leh - Manali

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                          4. bis 7. Juni 2017: Retrospektive und allein unterwegs

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                          Ich will wieder allein reisen. Ich merke, dass mich die Situationen der letzten Tage extrem genervt haben.

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                          Bisher war alles halbwegs in Ordnung, hat sich den Zwängen der Extremsituationen untergeordnet. Aber jetzt, wo Chris und ich unterwegs sind und unsere Alltagsgewohnheiten und -erwartungen aufeinander abstimmen müssen, nicht mehr. Das ist dann wohl so und das hatten Chris und ich ja auch im Vorfeld schon besprochen: Es kann sein, dass wir uns schon nach einer Stunde gemeinsamer Fahrt trennen. Ohne Fragen, ohne Vorwürfe, ohne Gründe. Diese Option ziehe ich nun. Nach zwei Wochen gemeinsamer Reise mit vielen gemeinsamen bangen und spannenden Stunden und nach zwei Tagen gemeinsamer Radfahrt.

                          Ich fühle mich irgendwie verantwortlich für die Situation, zumal Chris lieber in Gesellschaft reist als allein. Aber ich kann nicht mehr, meine Art zu reisen ist dann doch so anders. Feststellen, dass man gemeinsam hat, gerne mit dem Fahrrad zu reisen, reicht eben nicht. Und ich kenne diese Situation aus früheren gemeinsamen Urlauben mit Freunden oder Freundinnen: Ich fange irgendwann an, rückwärts zu zählen – wann ist der Urlaub endlich vorbei? Noch zehn Tage, noch neun, und so weiter. Das will ich nicht mehr, das breche ich sofort ab. Dafür bin ich zu alt und jetzt nicht hier, das macht mich dünnhäutig und blind für die spannend-schönen Momente, für die ich hier bin.

                          Ich erkläre Chris das am Morgen des dritten Tages unserer gemeinsamen Fahrt mit den Rädern. Natürlich stellen sich die Fragen nach dem „Warum?“. Ich kann nicht anders. Und frage, was Chris noch braucht und ob er sich zutraut, alleine weiter zu fahren und kehre dann um. Wir sind im Moment im Industal Richtung Osten unterwegs, haben gestern 30 Kilometer übelste Schotterpiste befahren. Mir tun die Handgelenke bereits weh, ich will wieder zurück und auf der Teerstraße zum Tanglangla, dem höchsten Pass dieser Reise. Ohne Umwege über Schotterpisten zu irgendwelchen Seen, die irgendwelche Forumsmitglieder als „wundervoll“ beschreiben.

                          Natürlich kann und will Chris allein weiter, es hat ja keinen Zweck, irgendwas zu erzwingen, was nicht funktioniert. Es tut mir auch aufrichtig leid, ich hatte mir sehr gewünscht und auch gehofft, dass wir uns im Laufe der Reise eingrooven und gute Freunde werden.

                          Aber: Ist nicht. Schade.

                          In Leh hatte ich noch einen Tag für mich, als es mir wieder besser ging. Ich ging ohne Ahmet und Chris raus zum Fotografieren. Chris war unterwegs zum Khardungla, dem höchsten befahrbaren Pass der Welt, Ahmet traf Hussein, unseren Taxifahrer wieder und fuhr mit ihm zurück nach Srinagar. Nicht ohne klar zu stellen, dass wir zwar Freunde wären und dass es ihm sehr schwer fallen würde, Chris und mich nochmal um Geld für seine Familie zu fragen. Obwohl wir schon in Srinagar „spendeten“, ihm die Fahrt und das Hotel sowie Essen und Trinken hier finanzierten und ich ihm sogar umgerechnet zwanzig Euro für sein Dope gab, reichte das nicht. Chris und ich schauten uns achselzuckend an und gaben ihm noch eine angemessene Summe, damit seine Familie das Wasserreservoir reparieren und aufs Dach ihres Hauses in Srinagar stellen lassen konnten.

                          An meinem ersten wirklich freien und gesunden Tag lernte ich Leh kennen, ging zum Stok Gompa, dem Palast, der dem Potala-Palast im tibetischen Lhasa nachgebaut ist. Ich lernte, dass Ladakh bis vor wenigen Jahren noch einen König hatte, der hier residierte. In der Foto-Ausstellung des Palast-Museums lernte ich auch etwas über das harte Leben der Ladakhis hier im Himalaya, als es noch keine Straßen und Wege zwischen den Tälern gab. Die Gegend um Leh gehört mit zu den kältesten bewohnten Regionen der Erde. Im Winter konnten die Menschen hier ohne Strom und Gas und mit nur wenig Holz ausschließlich über die Art und Weise überleben, wie und womit sie ihre Häuser bauten.

                          Das Industal bei Leh ist klimatisch gesehen recht trocken, es gibt im ganzen Jahr nur wenige Wolken und wenig Niederschlag. Die Steine der Häuser, die allesamt eine unverstellte Südseite haben, sind verschmiert und befestigt mit einem besonderen Lehm, nehmen die Sonnenstrahlen des Tages auf, erwärmen sich und geben die Wärme dann in den kalten Nachtstunden ins Hausinnere ab.

                          Leh selbst war vom zehnten Jahrhundert bis zur Gründung Indiens und Pakistans die Hauptstadt des unabhängigen Königreichs Ladakh, das mit dem Ende des zweiten Weltkriegs aufhörte zu existieren.

                          Die Aufteilung des ehemaligen Reiches ist immer wieder Streitpunkt zwischen China, Indien und Pakistan.

                          Weil hier in Ladakh, das politisch zu Kashmir und Jammu gehört, immer wieder auch Provokationen von allen Seiten statt finden, haben die Inder hier eben auch viel Militär stationiert und das Militär hält die Straßen von Srinagar und von Manali hier her frei. Die Arbeiter, die die Straßen nach den strengen Wintern wieder in Stand setzen, sind dunkelhäutige Inder, die aus dem Süden kommen und hier den Sommer über in Zelten direkt an den Straßen wohnen. Für mich als Deutschen ist das sehr ungewohnt: Menschen zerkleinern große Steine mit Hämmern, um so Schotter für die Schlaglöcher zu produzieren. Bei uns machen das Maschinen. Aber hier in Indien ist menschliche Arbeitskraft billiger als die Abschreibungen auf Maschinen.

                          Ich frage mich, was besser ist: Arbeitslose Menschen und Maschinen, die schwere Arbeiten verrichten oder Menschen in Arbeit, die Steine zertrümmern wie in Straflagern. Menschen haben schon immer Arbeiten erledigt, die aus meiner Sicht inhuman sind. Dazu gehören für mich der Bergbau unter Tage, Drahtziehfabriken (ich habe mal eine besichtigt) und Arbeiten im Akkord am Fließband (ich arbeitete mal in einer Brotfabrik und musste Brote im Akkord vom Band in Körbe stapeln). Es gibt aber eben Menschen, die kämpfen für und um solche Arbeitsplätze. Und ihnen geht es nicht nur um den Lohn, den sie dafür bekommen. Also muss auch ein Sinn in solchen Arbeiten stecken. Nur ich sehe ihn nicht. Das heißt aber nicht, dass er nicht da wäre.

                          In diesem Sinne würde ich es auch gut heißen, wenn die Maschinen hier an den Straßen weg blieben und dafür Menschen beschäftigt werden, denen Lohn und Sinn gegeben wird.

                          Jetzt bin ich allein unterwegs und kann mich genau mit solchen Fragen beschäftigen. Ich merke, wie die Reise so langsam meine Reise wird. Nachdem ich die Schotterpiste wieder zurück gefahren bin, bog ich in Upshi ab in Richtung Tanglangla. Und auf der Passstraße fahre ich jetzt.

                          Ich öffne meine Lenkertasche, lege das Smartphone oben drauf und höre das blaue Album der Beatles. Ich genieße jetzt die Fahrt, winke den Menschen unterwegs zu und bin zufrieden.

                          Irgendwann am späten Nachmittag finde ich eine passende Lagerstelle an einem Gletscherfluss, in dem ich mich wasche und an dem ich mein Zelt aufstelle. Der erste Abend allein, ich fühle mich irgendwie erleichtert, frei.

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                          Mehr Bilder gibt es hier (klick)

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                          Fortsetzung folgt.

                          Gruß

                          Jörg.
                          www.gondermann.net
                          Reisen - Denken - Leben

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                          • Gast180628
                            GELÖSCHT
                            Dauerbesucher
                            • 08.10.2012
                            • 510
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                            • Meine Reisen

                            #14
                            AW: [IN] Himalaya: Abenteuer Srinagar - Leh - Manali

                            ähm...
                            "Ob irgendwann in Hannover die Muezzin nachts um zwei Uhr zwanzig aus einer Innenstadt-Moschee rufen und alle Menschen in Hannover-Mitte wecken, kann niemand voraussagen. Nur, dass die Geschichte viele solcher Beispiele liefert, bereitet den Menschen in meinem Land Sorge."

                            als mensch aus deinem land möchte ich anmerken, dass ich die sorge nicht teile und die geschichte irgendwie anders verstehe.
                            so weit ist es schon mit den frei schweifenden gedanken von reisenden? weia, ich möchte daraus lieber keine rückschlüsse auf den zustand deines landes ziehen. iü ziemlich d'accord, klasse bericht, "arabischen frühling" und rojava nich vergessen, egal wie.
                            - schönes zelt! cuben? werd mal gespannt weiter lesen...hoffe ein bißchen auf chiapas zum ende hin.

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                            • joeyyy
                              Erfahren
                              • 10.01.2010
                              • 198
                              • Privat

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                              #15
                              AW: [IN] Himalaya: Abenteuer Srinagar - Leh - Manali

                              ---

                              9. Juni 2017 – Unterwegs zum höchsten Ort meines Lebens

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                              ---

                              Von der Freude des Dalai Lama, gelebter und erfahrener Großzügigkeit und von singenden Frauen, die auf Lastern nach Hause gefahren werden (klick)

                              ---

                              Fortsetzung folgt.

                              Gruß

                              Jörg.
                              www.gondermann.net
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