[IS] Island 10 km/h

Einklappen

Ankündigung

Einklappen
Keine Ankündigung bisher.
X
 
  • Filter
  • Zeit
  • Anzeigen
Alles löschen
neue Beiträge

  • dirkpausk
    Anfänger im Forum
    • 04.02.2016
    • 44
    • Privat

    • Meine Reisen

    [IS] Island 10 km/h

    Tourentyp
    Lat
    Lon
    Mitreisende
    Dank Chouchens freundlicher Unterstützung im Vorfeld der Tour und ihrer Dokumentation, was einen erwarten könnte, konnte ja eigentlich gar nichts mehr schief gehen, 2016, zwischen Anfang Mai und Ende Juli, mit dem Liegedreirad, auf dem Weg von Köln nach Formentera ...



    Ich habe noch keinen festen Boden unter den Füßen, da bin ich bereits begeistert. Nicht, dass die drei Tage an Bord der Norröna mich mitgenommen hätten. Nicht im Geringsten, von dem Zubettgehen am zweiten Abend vielleicht abgesehen, als mich mit dem Gang zum Buffet ohne ersichtlichen Grund ein flaues Gefühl beschlich. Doch auch dieses Detail beeinträchtigte das große Ganze nicht. Die Überfahrt war äußerst angenehm. Ruhige See, nette Bekanntschaften, anregende Unterhaltungen, ein fesselndes DFB Pokalfinale, der Genuss, an den Shetlands vorbei zu ziehen, im Liegestuhl sitzend, die Beine ausgestreckt, die Sonne im Gesicht, über uns die Basstölpel kreisend.



    Dann der Sonnenaufgang in Tórshavn, die Fahrt durch die Inselwelt der Farör – Gänsehaut!



    Doch jetzt hier, in den Fjord einlaufend, da ist der Schauer, der mir über den Rücken läuft, nicht minder. Ob sich weniger Härchen sträuben würden, wäre der Fahrtwind nicht gar so frisch oder läge die Temperatur höher als gefühlt nur knapp über dem Gefrierpunkt? Schwer zu sagen. Wahrscheinlich nicht. An sich ist alles stimmig. Ein Teil fügt sich an das andere, wie es anders gar nicht sein kann. Es ist wie ein Puzzle, das langsam zusammen wächst und am Ende ein wundervolles Ganzes ergibt. Allerdings beschränkt es sich hier nicht nur auf das langsam fortschreitende Komplettieren eines Bildes. Es folgt zudem einer perfekten Dramaturgie.
    Bis vor wenigen Minuten war von all dem, was nicht nur mir jetzt die Sprache verschlägt, nichts zu erahnen. Da bahnte sich die Fähre ihren Weg nur durch dichten Nebel und ich fürchtete bereits, das Zelt für die erste Nacht irgendwo in der Nähe des Hafens aufschlagen zu müssen, wollte ich nicht riskieren, bei Sichtweiten von unter fünfzig Metern meine Reise unbeabsichtigt und vorschnell im Straßengraben zu beenden. Ein Blick auf die Uhr zeigte zwar bereits, lange sollte es nicht mehr dauern, nur, wer wusste schon, wo wir aktuell herum schippern? Abgesehen von der Besatzung. Und den Neugierigen mit eingeschalteten GPS-Empfängern.
    Doch dann mehrten sich die Stimmen derer, dessen Mobilfunkgeräte Signale empfingen. Und plötzlich riss er auf, der Schleier. Wie ein Vorhang, der fällt. Die Bühne: über uns ein strahlend blauer Himmel, links und rechts Felswände, die einige hundert Meter empor ragen, vor uns der Fjord, der sich auf gut 15 Kilometern Länge immer enger zuzieht.



    Ich komme mir vor, als sei ich in eine Modellbaulandschaft versetzt. Höfe finden sich fast liebevoll lose am Fuße Schnee bedeckter Hänge verteilt, hier und da ein Fischkutter in Ufernähe auf das Wasser gesetzt, der die über Nacht ausgelegten Netze wieder einholt, und mitten drin der mächtige Pott, auf dessen Außendeck die Passagiere das Eintauchen in diese Szenerie nahezu andächtig verfolgen.



    Eine gute Stunde später liegt der Stahlriese fest vertäut am Anleger. Die tiefe Ergriffenheit des ersten Eindrucks ist einer Aufbruchstimmung gewichen. Der Dampfer ist zu verlassen. Hände werden geschüttelt, man schließt sich in die Arme, tauscht Adressen, noch ein gemeinsames Foto, dann sind Kabinen zu räumen, zieht es die Menschen zu ihren Fahrzeugen. Wege, die sich erst vor kurzem kreuzten, trennen sich wieder. Auch wenn die ersten Kilometer an Land noch für alle gleich sind, sie verlaufen für jeden anders.
    Meine Idee, quasi als letzter Seyðisfjörður, den Ort im Osten Islands, an dem mich die Fähre ausspuckt, zu verlassen, erweist sich als hinfällig. Ich hatte nicht bedacht, dass der Zoll ein wachsames Auge wirft auf die mehr oder weniger voll beladenen Fahrzeuge, die der Schiffsrumpf hier wieder hergibt. Mich winkt man freundlich vorbei an den Schlangen vor den Abfertigungsschaltern. Zwar ist auch mein fahrbarer Untersatz gut bepackt, doch dass Unmengen an Alkohol oder sonstigen nur limitiert einführbaren Lebens- wie Genussmitteln die Taschen meines Liegedreirades füllen, hält man für unrealistisch. Der nächste Pluspunkt, den sich das Land bei mir verdient. Hier sind keine Menschen am Werke, die stur Dienst nach Vorschrift leisten, hier wird mitgedacht, was mich in eine unbeabsichtigte Startposition versetzt.
    Auch der Versuch, mich an das Ende des Fahrerfeldes fallen zu lassen, scheitert. Das Wiederherstellen der ursprünglichen Ordnung im Gepäck sowie das Schlürfen einer Tasse Cappuccino und das Weglöffeln eines Bechers Müsli in der Morgensonne nehmen weniger Zeit in Anspruch als die Kontrollen der mit mir Angelandeten. Entsprechend rollen die Räder wieder, noch lange bevor das letzte motorisierte Vehikel inspiziert ist. Meine Bedenken jedoch, Anführer eines Staus zu werden, erweisen sich als gegenstandslos. Nicht, dass mich die kalte, klare Polarluft beflügelte, Rekord verdächtige Geschwindigkeiten zu erreichen. Ganz im Gegenteil. Die gut 600 Meter Höhenunterschied, die sich auf zehn Kilometer verteilen, lassen mich eher Gefahr laufen, von Fußgängern überholt zu werden als das ich mit Tour-de-France Protagonisten konkurrieren könnte. Nichts desto trotz fühle ich mich bei der Kurbelei prächtig. Den ersten Pass bewältige ich ohne schieben. Dass die Steigungen zwischenzeitlich zehn Prozent erreichen? Macht nichts. Bin dennoch begeistert. Es ist ein Festival für die Sinne. Die Luft, der knatscheblaue Himmel, die Sonne, der erste kleine Wasserfall am Straßenrand nach nur vier Kilometern, die Wasser gefluteten Wiesen, die geschlossene Schneedecke ab 400 Meter Höhe, der Blick auf die umliegenden Gipfel auf dem Pass, die Ruhe – überholt mich nicht gerade ein Auto oder kommt mir eines entgegen, ich höre nur meinen Atem. Bestenfalls noch irgendwo Wasser rauschen. Sonst nichts. Nichts als Stille. Es ist herrlich. Selbst in meinen kühnsten Vorstellungen hatte ich es mir schöner nicht erträumt.



    --- Fortsetzung folgt, bei Interesse ---
    Zuletzt geändert von dirkpausk; 24.12.2017, 14:13.

  • TanteElfriede
    Moderator
    Lebt im Forum
    • 15.11.2010
    • 6442
    • Privat

    • Meine Reisen

    #2
    AW: [IS] Island 10 km/h

    ...soweit schon mal toll....

    Kommentar


    • codenascher

      Alter Hase
      • 30.06.2009
      • 4960
      • Privat

      • Meine Reisen

      #3
      AW: [IS] Island 10 km/h

      Ich melde ganz klar Interesse an!

      Bin im Wald, kann sein das ich mich verspäte

      meine Weltkarte

      Kommentar


      • rolfing
        Anfänger im Forum
        • 27.12.2016
        • 37
        • Privat

        • Meine Reisen

        #4
        AW: [IS] Island 10 km/h

        ich auch! Sieht absolut abenteuerlich aus - ich war noch nie aus Island, hatte bisher aber immer die Vorstellung, dass man dort mit einem Rad nicht weit kommt. Aber ich lasse mich gerne vom Gegenteil überzeugen!

        Kommentar


        • Merina
          Anfänger im Forum
          • 12.06.2013
          • 40
          • Privat

          • Meine Reisen

          #5
          AW: [IS] Island 10 km/h

          Großes Interesse!

          Kommentar


          • smeagolvomloh
            Fuchs
            • 07.06.2008
            • 1929
            • Privat

            • Meine Reisen

            #6
            AW: [IS] Island 10 km/h

            Ich bitte auch um eine Fortsetzung! Das hört sich sehr interessant an.
            "Das Leben leicht tragen und tief genießen ist ja doch die Summe aller Weisheit."
            Wilhelm von Humboldt, 1767-1835

            Kommentar


            • Meer Berge
              Fuchs
              • 10.07.2008
              • 2381
              • Privat

              • Meine Reisen

              #7
              AW: [IS] Island 10 km/h

              Ich bin auch neugierig, wie es weitergeht!
              Sehr schön geschrieben bisher!

              Kommentar


              • rockhopper
                Fuchs
                • 22.04.2009
                • 1238
                • Privat

                • Meine Reisen

                #8
                AW: [IS] Island 10 km/h

                Ich bin auch sehr neugierig und gespannt wie es weiter geht!

                Kommentar


                • Mika Hautamaeki
                  Alter Hase
                  • 30.05.2007
                  • 3979
                  • Privat

                  • Meine Reisen

                  #9
                  AW: [IS] Island 10 km/h

                  schließe mich an, bitte schnell weiter schreiben
                  So möchtig ist die krankhafte Neigung des Menschen, unbekümmert um das widersprechende Zeugnis wohlbegründeter Thatsachen oder allgemein anerkannter Naturgesetze, ungesehene Räume mit Wundergestalten zu füllen.
                  A. v. Humboldt.

                  Kommentar


                  • grenzenlos
                    Dauerbesucher
                    • 25.06.2013
                    • 566
                    • Privat

                    • Meine Reisen

                    #10
                    AW: [IS] Island 10 km/h

                    10 km/ h reichen ja auch aus Freue mich schon auf die Fortsetzung
                    Unsere Webseite: http://www.grenzenlosabenteuer.de

                    Gruß, Wi grenzenlos

                    Kommentar


                    • dirkpausk
                      Anfänger im Forum
                      • 04.02.2016
                      • 44
                      • Privat

                      • Meine Reisen

                      #11
                      AW: [IS] Island 10 km/h

                      Zitat von Mika Hautamaeki Beitrag anzeigen
                      schließe mich an, bitte schnell weiter schreiben
                      genau das ist mein Problem. Bin mit dem Schreiben kaum schneller als mit dem Radeln, und wie es darum bestellt ist, steht bereits in der Überschrift

                      @alle anderen: freue mich über Euer Interesse bzw. bis hierhin Euren Geschmack getroffen zu haben. Da macht das Revue-passieren-lassen gleich noch viel mehr Spaß!

                      --- Fortsetzung ---

                      Die anschließende Abfahrt sieht bereits ganz anders aus. Hinsichtlich des Gefälles unterscheidet sie sich zwar vom Anstieg nicht, passierte ich steile, enge Kehren bergauf jedoch gefahrlos, so ist es in umgekehrter Richtung deutlich ungemütlicher. Mühelos erreiche ich Geschwindigkeiten von 60 km/h, eine gefühlte Schallmauer, ab der ich mir einbilde, das Fahrzeug sei jenseits davon nicht mehr kontrollierbar. Zudem ein Tempo, das meine volle Konzentration erfordert. Einmal nicht aufgepasst und ich fürchte, mein Abenteuer Island unterscheidet sich gänzlich von dem, was mir ursprünglich vorschwebte. Die Folge ist, ich nehme die beeindruckende Kulisse nur noch beiläufig wahr.
                      Als weiteres Manko erweist sich meine Bekleidung. Bei dem Fahrtwind hält sie nicht mehr ganz, was sie verspricht, nämlich mir den Luftzug vom Körper zu halten. Verschwitzt wie ich vom Anstieg noch bin, beginne ich zu frösteln.
                      Die logische Konsequenz dieser Umstände: ich bremse. Das Problem dabei nur: auch zehn Kilometer bergab können sich ziehen. Schnell quietschen die Beläge auf den Scheiben und ich weiß nicht, was effektiver ist. Stotterbremsen? Intervallbremsen? Fahren mit angezogener Bremse?
                      Egal, was ich probiere, das Resultat scheint das gleiche – eine Geräuschentwicklung, als habe jemand die Notbremse im Zug gezogen. Ohrenbetäubender Lärm. Metall auf Metall. Stille? Keine Spur! Zudem glühen, zumindest vor meinem geistigen Auge, neben meinen Knie- die Bremsscheiben; dass keine Funken sprühen gleicht einem Wunder.
                      Dennoch, als vor mir ein Auto leicht die Geschwindigkeit reduziert und kurz eine Staubwolke aufwirbelt ist mir klar: Glück gehabt, alles richtig gemacht! Für ein kurzes Stück ist der Asphalt unterbrochen. Kleiner Absatz, Schotter. Möchte mir abermals nicht ausmalen wie es aussieht, in solch eine Schikane ungebremst zu rasen.
                      Nach einer Viertelstunde ist der Spuk überstanden. Glücklich. Vor mir liegt Egilsstaðir, die größte Stadt im Osten Islands. Bevor ich mich aber auf die Suche begebe nach Geldautomat, Supermarkt und Campingplatz, brauche ich zunächst einmal einen Moment für mich allein. Durchatmen. Inne halten. Sortieren im Kopf. Da kam innerhalb kürzester Zeit doch einiges zusammen an intensiven Eindrücken. Und außerdem – ich könnte mich mal wieder bei Ute, meiner Frau melden. Sie sitzt Zuhause, hat seit vier Tagen nichts mehr von mir gehört. Als per Smartphone die Verbindung aufgebaut ist stelle ich fest: ich bekomme kaum ein Wort hervor. Kloß im Hals. Mehrmals muss ich schlucken. Nachdem das Wesentlichste raus ist und ich auflege, gibt es kein Halten mehr. Der Druck auf der Tränendrüse ist zu groß. Bin einfach überwältigt.

                      Die Frage, Ringstraße rechts herum oder vielleicht doch besser links herum, stellt sich für mich ebenso wenig wie für die Nordlandfahrer, mit denen ich auf der Fähre ins Gespräch kam. Sie waren mit acht Bussen in Deutschland gestartet. Ihr Ziel: Island in zwei Tagen erkunden. Gut, Teile davon. Der eine Tag ausgefüllt mit einer Fahrt Richtung Norden, zum Mückensee, der zweite ab der Kreuzung, an der ich stehe, gen Süden, zur Gletscherlagune. Die Nacht über wieder zurück auf das Schiff. Irgendwo muss man schließlich kostengünstig übernachten, bevor es mit der gleichen Fähre zurück geht, mit der man gekommen war. Auch Schnäppchenjäger zahlen ihren Preis.
                      Die meisten anderen der auf dem Seeweg Angereisten macht in Egilsstaðir das Abbiegen vom Wetterbericht abhängig. Dort, wo es schöner ist, geht es hin. Schlägt das Wetter um, wird erneut geschaut. Die andere Seite der Insel ist zumeist nicht weiter als eine Tagesfahrt entfernt. Für mich, der sich aus eigener Kraft fortbewegt, sieht es diesbezüglich geringfügig anders aus. Die Strecke, die Motorrad- und Autofahrer in einer Stunde hinter sich lassen, kostet mich einen Tag.
                      In der Überzeugung, Regenwolken nicht davon fahren zu können, bleibe ich meinem Plan treu. Links herum weiter, im Uhrzeigersinn, gen Gletscherlagune, ab in den Süden.
                      Eine Frage, auch wenn es nicht die nach der Richtung ist, beschäftigt mich trotzdem: noch eine Stunde warten oder durchstarten? Bei meinem Einkauf am Vortag hatte ich nicht bedacht, dass ich am Morgen das letzte Päckchen Sojamilch in mein Müsli schütte. Hätte ich natürlich drauf kommen können, war ich aber nicht. Und jetzt, wo der letzte Schluck getrunken ist, meine Sachen gepackt sind und ich vor dem Supermarkt stehe, stelle ich fest, dass dieser nicht um zehn Uhr seine Pforten öffnet, sondern erst um elf. Dumm aber auch. Ich entscheide mich gegen das Abwarten. Ein Entschluss, der mich teuer zu stehen kommen soll, doch einerseits weiß ich das in dem Moment nicht, und andererseits – selbst acht Wochen sind keine endlos lange Zeit. Irgendwann muss man auch einmal in die Pedale treten.



                      Teuer zu stehen kommt mich auch der Wind. Im Gegensatz zur gewichenen Sonne, dem Wolken bedeckten Himmel sowie der deutlich weniger klaren und trockenen Luft ist er geblieben. Unangenehm dabei: er weht mir ins Gesicht. Beschleunigt das Vorankommen nicht gerade. Nach ersten Kilometern auf der 1, der Ringstraße, biege ich ab auf eine parallel dazu verlaufende Piste, die 937. Auch nicht gerade der geschickteste Schachzug. Zuhause, auf der Karte, da machte das Ganze noch Sinn. Runter von der Hauptverkehrsader, rauf auf den Bypass. Idyllische Nebenstrecke statt Rennbahn. Die Realität belehrt mich eines Besseren. Die 1 verläuft ebener, ist im späten Mai noch nicht so stark frequentiert und – sie ist auf diesem Abschnitt noch asphaltiert. Statt dessen eiere ich gute zwanzig Kilometer über eine staubige Holperpiste, erklimme ein Hügelchen nach dem anderen, bange letzten Endes noch darum, dass der Weg auch tatsächlich auf die 1 zurück führt, um dort wertvoller Kräfte beraubt mit stolzgeschwellter Brust behaupten zu können: dafür haben mich dort aber nur drei Autos überholt. Dass es auf der 1 auch nicht Zehnerpotenzen mehr gewesen wären – geschenkt. Es gibt wesentlichere Dinge, über die man sich ärgern kann.


                      die waren es nicht, die mich überholten

                      Zurück auf der 1 dann eine weitere Erkenntnis: der Asphalt ist deutlich rauer geworden, ein kurzes Stück später endet er ganz. Auch hier geht es auf Schotter weiter. Doch damit nicht genug. Ebenso ändert sich das Gelände. Ein Berg steht im Wege. Es geht also wieder aufwärts. Zwar nur von 150 Meter Höhe auf 500 Meter, aber erneut auf kurzer Distanz. Fünf Kilometer. Erneut Steigungen zwischen acht und zehn Prozent. Zwangen mich diese Anstiege am Vortag auf Asphalt noch nicht aus dem Sitz, so verhält es sich auf dem Schotter anders. Dreht das angetriebene Hinterrad durch, macht das Kurbeln keinen Spaß mehr. Und Sinn ebenso wenig. Entsprechend schiebe ich etwa einen Kilometer mein Rad vor mir her. Soll auch nicht das letzte Mal sein.
                      Kurz vor dem Pass dann die nächste Entscheidung. Öxi oder nicht?
                      Öxi, dass ist die 939. Eine Straße, die die Strecke um 80 Kilometer abkürzt, es aber in sich hat. Gesperrt ist sie nicht, wie ich den Autos entnehmen kann, die sie befahren. Laut Karte schlängelt sich die Piste entlang eines Flusses und der Gipfel, die ich andernfalls Richtung Küste umfahre. Was mich jedoch hadern lässt sind die Schilder, die zu erwartende Steigungen beziehungsweise Gefälle verkünden: 17 Prozent. Noch auf dem Campingplatz hatte ich die Betreiber darauf angesprochen. Ihre Auskunft half mir nicht so richtig weiter. Ich bräuchte gute Bremsen. Man selbst könne da nicht viel zu sagen. Wenn man dort her fahre, säße man im Auto.
                      Einmal mehr entscheide ich mich für die Vernunft. Auch wenn die Strecke ihre landschaftlichen Reize sowie technischen Herausforderungen haben mag, ich muss nicht gleich am zweiten Tag versuchen, mir das Genick zu brechen. Wie sich nur kurze Zeit später zeigt, auch hier wahrscheinlich die richtige Wahl. Die höchste Stelle ist überwunden, ich sitze wieder auf dem Rad, unter mir noch immer Schotter, da passiere ich ein weiteres Verkehrsschild. Erneut eines, das vor stärkerem Gefälle warnt. 12 Prozent. Fünf Prozent weniger als auf der Öxi. Einmal mehr versuche ich, mit angezogenen Bremsen die Geschwindigkeit zu zügeln. Diesmal quietscht nichts. Die Räder stehen. Das Blöde nur: das Fahrzeug nicht. Es bewegt sich weiter.
                      Zum Glück gelingt es mir, das Vehikel per Stotterbremsung durch die engen Kurven der Serpentinen zu navigieren, doch ich bekomme sehr anschaulich verdeutlicht, was ich von den kräftigsten Bremsen habe, wenn die Räder blockieren: nichts.


                      --- Fortsetzung folgt, es sei denn, Ihr fordert kollektiv Einhalt ---

                      Kommentar


                      • dirkpausk
                        Anfänger im Forum
                        • 04.02.2016
                        • 44
                        • Privat

                        • Meine Reisen

                        #12
                        AW: [IS] Island 10 km/h

                        Am fünften Tag auf Island beschäftigen mich Zahlen. Entsprechend eines Reiseführers auch so ein Thema, dass die Bevölkerung fesselt. Statistiken, Rekorde, Vergleiche – Zahlen zählen. Sie liefern Stoff für Gespräche und Debatten. An ihnen kann man sich berauschen, sie können aber ebenso am Selbstbewusstsein nagen, wenn sie kleiner sind als die, mit denen man Zuhause kalkuliert hatte. Da war ich von 70 Kilometern ausgegangen, die pro Tag zu schaffen sein sollten. 500 die Woche, weil es so schön einfach zu rechnen ist. Und weil es auf den Reisen zuvor bequem hinkam. Auf Island lief es bislang auf 60 hinaus und die 33, die es an diesem Tag werden, tun auch alles andere als dem Ziel näher zu kommen. Hat man davon, wenn man die Rechnung ohne den Wind macht, der einem entgegen weht. Und die Steigung der Anstiege außer Acht lässt. Sowie die Beschaffenheit der Fahrbahn. Oder habe ich meine Kräfte einfach nur überschätzt?
                        Doch was soll's. Es sind nur Zahlen. Bei blauem Himmel und unveränderter Landschaft schmälern sie das Vergnügen nicht. Dass der Wind einmal mehr die Kilometer in die Länge zieht? Ist halt so. Bleibt mehr Zeit, die Strecke zu genießen! Die zahlreichen Flüsse, in denen mal klares Quellwasser gen Meer strömt, mal graues Gletscherwasser, meist umgeben von weitläufigen Geröllfeldern.



                        Nach einer dreiviertel Stunde hingegen ein ungewohnter Anblick. Auf der anderen Straßenseite kommt mir ein Radler entgegen. Der erste auf der Straße. Auch für ihn scheint die Situation nicht alltäglich zu sein. An exponierter Stelle bleibt er stehen, wartet ab, bis ich ihn erreiche, dann wird gequatscht. Eine gute viertel Stunde. Der junge Mann kommt aus Belgien, ist vor sechs Tagen in Reykjavík aufgebrochen, an diesem Morgen in Höfn gestartet und will am Abend Djúpivogur erreichen. Gute hundert Kilometer. Schafft er es, benötigt er für die Strecke die Hälfte meiner Zeit. Fahren tut er dabei nicht länger als ich. Nur schneller. Der Wind? Wohl auch - kann man mal sehen was es ausmacht, wenn er einem in den Rücken bläst. Die letzten beiden Tage hat der Mann jeweils 140 Kilometer zurück gelegt, berichtet aber auch von einigen Kilometern mit Gegenwind der so stark war, dass er sein Rad schieben musste. Werde fast ein wenig neidisch, als ich von der Tagesleistung höre. Die Schiebepassagen nehme ich nur beiläufig wahr. Mutmaßlich solche Stellen, an denen ich froh war, mich auf drei Rädern flacher über dem Boden fortzubewegen. Nachdem auch Preise auf den Campingplätzen, in den Supermärkten und deren Abständen ausgetauscht sind, trennen sich unsere Wege wieder. Auch wenn meine jüngste Reisebekanntschaft noch drei Wochen hat bis zu seinem Abflug und während dieser Zeit die Insel umrunden will, wir werden uns nicht noch einmal begegnen, obwohl wir das in dem Moment, in dem wir uns Lebewohl wünschen, nicht ausschließen.

                        Der nächste, der mich stoppt, ist Skútafoss. Ein Wasserfall am Wegesrand. Über eine Schotterpiste erreichbar. Da das eher lose Gestein für mich nicht befahrbar ist, lege ich die paar hundert Meter zu Fuß zurück. Ein paarmal auf den Auslöser drücken, noch einmal am Sucher vorbei bestaunen, wie da klares Wasser vor dem Hintergrund Schnee bedeckter Bergrücken einige Meter hinunter stürzt, die Trinkflaschen füllen, dann geht es weiter. Den nächsten Anstieg empor. Noch vor dessen Scheitel öffnet sich ein Loch im Fels. Ein Tunnel. 1,3 Kilometer lang, für mich bergab. Es geht also auch mal einfacher. Der Belgier berichtete bereits davon.


                        Skútafoss


                        kurz vor dem Tunnel

                        Am anderen Ende der Röhre ist dann hingegen Schluss mit blauem Himmel. Es ist bewölkt. Der Wind ist geblieben.
                        Kurz vor Höfn ist dann für mich klar: genug geradelt. Ich will mich ausgiebiger mit Proviant eindecken und in dem Ort gibt es einen größeren Supermarkt – mit vernünftigen Preisen. Die nächste Gelegenheit dazu bietet sich erst wieder in knapp 300 Kilometern. In Vík. Den Einkauf gilt es einigermaßen ausbalanciert zu verstauen, außerdem will ich Jacke und Hose einer Waschmaschine zukommen lassen. Mein Waschbeutel ist eher für die kleineren Teile geeignet. Vier Wochen, auch wenn die Jacke nur die Hälfte der Zeit zum Einsatz kam, reichen. Schweiß verklebt trocknen die Sachen sonst überhaupt nicht mehr, saugen sofort jegliche Feuchtigkeit auf und so ganz olfaktorisch unauffällig sind sie auch nicht mehr.
                        Zudem gibt es auch in Höfn ein Schwimmbad. Wie an sich in so gut jedem Ort. Und wie es sich gehört, hat es einen Hot-Pot. Da das Schwimmbad mehr oder minder direkt neben dem Campingplatz liegt, lasse ich es nicht ungenutzt und gönne mir bei der Gelegenheit diesmal das volle Programm. Bei 11° Lufttemperatur ist es herrlich, bis zu den Schultern im etwa 40° warmen Wasser zu sitzen. Gelegentlich mal untertauchen, ein wenig die Augen schließen. Als Ungeübter sollte man es am Anfang jedoch nicht übertreiben. Das ist die Erkenntnis die ich gewinne, als ich nach wahrscheinlich einer halben Stunde dem wohligen Nass entsteige. Die Knie sind weich, die Beine wackelig, ich muss mir erst mal Halt suchen, um nicht zusammen zu sacken. In Zukunft also besser nicht zu lange im Becken dösen.
                        Zurück auf dem Campingplatz wird weiter der Ruhe gefrönt. Tut gut. Stöpsel in die Ohren, ein wenig Musik hören, mit Ute telefonieren und hoffen, am nächsten Tag vielleicht einmal leichter voran zu kommen. 80 Kilometer sind es, die mich von der ersten spektakulären Sehenswürdigkeit trennen, der Gletscherlagune Jökulsárlón, dem Ort, an dem es für die Nordlandfahrer der Fähre hieß, umzukehren, nach gut 350 Kilometern, womit ich wieder bei den Zahlen bin. Fakten, die für mich immer bedeutungsloser werden.

                        Kommentar


                        • dirkpausk
                          Anfänger im Forum
                          • 04.02.2016
                          • 44
                          • Privat

                          • Meine Reisen

                          #13
                          AW: [IS] Island 10 km/h

                          Am nächsten Morgen kann ich mich um 07:30 Uhr noch zu den Frühaufstehern zählen. Die Toiletten sind noch nicht umlagert, ich muss nicht um einen Platz an einem der Tische im Warmen kämpfen, ich kann noch einen Wasserkocher benutzen, ohne zunächst Nudeln oder Tee des Vorgängers heraus fischen zu müssen. Statt dessen leistet mir beim Frühstück ein junges Pärchen aus Deutschland angenehme Gesellschaft. Ich lernte die beiden bereits am Vorabend kennen, erfuhr, dass sie, auch wenn es nur Sprühregen war, nach anderthalb stündiger Wanderung nass waren bis auf die Knochen und ziemlich bibberten, die Gletscherlagune in der Tat eine kleine Attraktion sei, das unmittelbare Drum-Herum sich aber nicht zum Zelten eigne. Kein Campingplatz, keine Wiese, kein ebener Untergrund, nur jede Menge loses Gestein, umher streunende Touristen und frostige Temperaturen. Wo Eisberge abtauen, wird wenig Wärme frei. Besser sollte ich es in einem Dorf 25 Kilometer vorher haben. Dort verspricht ihr Reiseführer eine Gelegenheit, ein Zelt aufschlagen zu können sowie fließend warmes Wasser vorzufinden.

                          Entsprechend vorbereitet setze ich meine Fahrt fort. Dass der Nieselregen meine frisch gewaschenen Klamotten nicht direkt durchnässt mag am Fahrtwind liegen, der die Fasern wahrscheinlich ebenso schnell trocknet wie die Feuchtigkeit sie benetzt. Zudem macht es sich positiv bemerkbar, dass dem Gegenwind ein wenig die Luft ausgeht und sich mit dem Durchfahren des Tunnels am Vortag das Bild der Landschaft ein bisschen gewandelt hat. Ich bin im Süden Islands angelangt. Die Hügel werden flacher. Zumindest in direkter Linie entlang der Küste. Anstatt bis an das Meer ragende Berge laufen diese nun sanfter dahin aus. Dass die Gipfel im Landesinneren dafür um so so höher gelegen sind, lässt sich hingegen nur erahnen. Reißt die Wolkendecke zwischendurch mal leicht auf, zeichnet sich schemenhaft ab, was zur Rechten vor mir liegt. Die Ausläufer des Vatnajökull, Europas größtem Gletscher. Auch wenn das Meiste im Dunst verborgen bleibt, spektakulär wirkt es alle Male.



                          Bezüglich des Hintergrunds kann ich nur orakeln, ob es sich bei dem, was ich sehe, um Wolken handelt oder um den Eispanzer, unter dem der Berg begraben liegt. Auf den näher gelegenen Hängen hingegen zeichnen sich faszinierende Grüntöne ab, die ich leider mit der Kamera nicht eingefangen bekomme. Die Linse beschlägt unversehens von der Luftfeuchtigkeit, sobald ich den Objektivschutzdeckel entferne. Im Rückspiegel wiederum sind Lichtbrechungen auszumachen, die die Strahlen der Sonne, welche die Wolken durchdringenden, über dem Asphalt in ihre Spektralfarben zerlegen. Nahezu wie ein Regenbogen, nur dass die Krümmung fehlt.



                          Um 15:00 Uhr erreiche ich das Dorf, in dem ich gemäß meiner Unterhaltung beim Frühstück die nächste Zeltwiese finden sollte. Als ich vor einer zweigeschossigen Blechbaracke stehe bilde ich mir auch ein, am rechten Fleck zu sein, doch das Gebäude scheint leer zu stehen. Einige der Fenster, durch die ich in Zimmer mit Etagenbetten blicke, sind eingeschlagen, sämtliche Türen sind verschlossen und es ist niemand zu entdecken, der mir weiterhelfen könnte. Erst als ich zurück auf die Ringstraße kehre stoße ich auf einen Isländer, der in seinem schweren Geländewagen unterwegs ist. Auf die Unterkunft beziehungsweise eine Möglichkeit zum Zelten angesprochen bekomme ich von dem Mann zu hören, ich solle noch etwa 10 Kilometer weiterfahren. Dort betreibe der Eigentümer, für den sich der hiesige Beherbergungsbetrieb wohl nicht mehr lohnt, ein Hotel.
                          Auch wenn es nicht das ist, was ich suche, nach der genannten Entfernung dann tatsächlich die nächsten Häuser und eine kleine Stichstraße die dorthin von der 1 abzweigt. Ich verlasse das Asphaltband und parke nach ersten holprigen Metern mein Vehikel neben einem Superjeep. Ein Kleinbus mit geschätzt einem halben Meter Bodenfreiheit. Die Räder des Fahrzeugs reichen über die Kopfstütze meines Sitzes. Direkt nebeneinander stehend ein eindrucksvoller Vergleich.



                          Was mich jedoch an sich interessiert ist etwas ganz anderes. Entsprechend betrete ich das Gebäude und finde mich im Speisesaal eines Restaurants wieder. Auch hier Platz für Busladungen an Gästen. Da es jedoch erst später Nachmittag ist, sind nur wenige Tische besetzt und schnell finde ich jemanden, der sich meiner annimmt. Die Dame, mit der ich spreche, schickt mich weiter. Diesmal sind es nur ein paar Meter. Rüber zu Gerdi, dem Gästehaus der Urbanisation. Dort vorgefahren stehe ich zunächst vor dem Tresen einer Anmeldung. Die Rezeptionistin mag die Verantwortung, mich unterzubringen, nicht allein tragen, ist aber äußerst bemüht, mir weiterzuhelfen. Nach einer guten Viertelstunde reichlicher Rennerei und Telefonierens bietet sie mir an, ich könne gerne mein Zelt auf der Wiese vor dem Haus aufschlagen, Toilette und Waschbecken im Eingangsbereich des Hauses nutzen sowie in einem der noch nicht bezogenen Gästezimmer duschen. Für letzteres müsse sie mir allerdings fünf Euro abknöpfen. Dass ich das Angebot dankend annehme? Keine Frage! Was will ich mehr? Bin begeistert von dem Entgegenkommen, das ich erlebe. Und das ich tauschen wollte, mit den Gästen, die nach und nach eintrudeln, mit einer heißen Suppe begrüßt werden und sich anschließend bis zum Abendessen in ihre Gemächer zurück ziehen? Mitnichten. So unzufrieden bin ich nicht mit dem, was ich auf meinem kleinen Spiritusbrenner gekocht bekomme, zumal immer wieder Löcher in den Wolken einen Blick auf die Gletscherzunge im Hintergrund freigeben und ich mir einbilde, bereits hören zu können, wie das Eis in der Ferne knarzend abbricht.

                          Einer friedvollen, entspannten Nacht folgt Eile. Ich will die Gletscherlagune erreichen, bevor die Menschenmassen anrücken. Vom Wecker lasse ich mich früher aus den Federn werfen als sonst üblich und – ich werde belohnt. Die Sonne ist noch nicht ganz über den Berg, doch vor blauem Himmel gibt es nun keinen Zweifel mehr. Vor mir strahlt zur Rechten der Eisschild des Gletschers, zur Linken nicht minder beeindruckend das Meer, während im Hotel hinter mir man von all dem noch nichts mitzubekommen scheint. Es herrscht eine friedliche Ruhe.


                          Morgendlicher Blick Richtung Gletscher

                          Zwei Stunden später bin ich zurück auf der Straße, noch eine weitere Stunde, dann sind auch die gut 15 Kilometer bewältigt und ich stehe dort, wo der Vatnajökull in den Jökulsárlón kalbt. Der junge Franzose, den ich auf den ersten Kilometern wandernd traf, braucht kaum länger. Er hatte Glück. Einer der wenigen Autofahrer, die zu der frühen Stunde schon unterwegs war, las ihn auf. Bei dem halben Dutzend Fahrzeuge, die mich überholten beziehungsweise mir entgegen kamen, nicht schlecht. Nicht, dass es sonst auf dem Asphalt keine ruhige Minute gäbe, aber so wenig Verkehr, das war schon bemerkenswert.

                          Ein wenig enttäuscht bin ich zunächst von der Gletscherlagune. In meiner Vorstellung war sie größer, die Abbruchkante klarer erkennbar. Ins Sichtfeld rückt die Attraktion jedoch erst, als ich die Brücke, die sie vom Meer trennt, vor mir habe. Von dort aus wirkt das Gewässer doch recht überschaubar. Angenehm aber auf jeden Fall, dass auf dem großen Parkplatz nur eine handvoll Autos stehen, als ich eintreffe. So bleibt Zeit, die Magie des Ortes einigermaßen ungestört zu genießen, bevor eine Stunde später sich die Lage zusehends ändert. Ein Wagen, ein Bus nach dem anderen fährt vor, immer mehr Menschen rücken an, die Souvenir- und Imbissbuden öffnen, ebenso der Ticketschalter, an dem Karten für eine Fahrt über die Lagune den Besitzer wechseln. Unbeeindruckt von dem Trubel bleibt die Natur. Dank weiterhin blauem Himmel glitzern die Eisberge in den Strahlen der Sonne, schimmern hier kristallklar, da bläulich, während ein paar Meter weiter ein schwarzer Streifen im umgebenden Weiß die Spuren eines Vulkanausbruchs dokumentiert. Mal gerät einer der schmelzenden Riesen, von denen nur ein Bruchteil aus dem Wasser ragt, ins Wanken, schaukelt dann aber meistens doch wieder in seine Ausgangsposition, zurück, während es dort, wo sich eine hervor stehende Kante erhebt, unablässig tropft.



                          Die Gesichter, in die ich blicke, wenn ich mich umschaue, müssen meinem ähneln. Sie zeigen tiefe Ergriffenheit, man ist schwer beeindruckt, es herrscht eine fast schon andächtige, respektvolle Stille. Nach ein paar Schritten entlang des Wassers merke ich schnell, dass der erste Eindruck trügerisch war. Bis dorthin, wo das Eis absinkt, mal abbricht, läuft man nicht mal eben schnell, da ist man schon eine ganze Weile unterwegs, sofern man überhaupt Willens und in der Lage ist, über grobes Geröll zu kraxeln. Ich zumindest gebe mich nach einigen Metern geschlagen und ziehe es statt dessen vor, mich etwas ganz anderem zu widmen. Meinem Frühstück. Vor diesem Panorama ein absolutes Erlebnis, auch wenn sich das Müsli nicht von dem der Vortage unterscheidet.

                          Frisch gestärkt tappe ich anschließend in eine Falle. Eine Touristenfalle. Ich leiste mir ein Ticket für eine Fahrt mit einem der Amphibienfahrzeuge über die Lagune. Die halbe Stunde kostet mich 5.000 isländische Kronen, umgerechnet etwa 35 Euro. Gerne hätte ich die 3.000 Kronen mehr für eine Fahrt mit dem Schlauchboot investiert, die länger dauern, näher an die Abbruchkante führen und individuellen Wünschen gerechter hätte sein sollen. Eine nicht ganz unwesentliche Kleinigkeit hält mich jedoch davon ab: die erste Tour mit dem Zodiac wird erst ab dem ersten Juni angeboten und am 30. Mai denkt man nicht daran, vom Plan abzuweichen. Der Preis der Vorsaison. Also geht es in eines der drei Wasser-Land-Fahrzeuge. Respektabel sehen sie zwar aus, die Zweiachser mit Schiffsschraube, die im Zehn-Minuten-Takt die Mitfahrer wechseln, doch das Vergnügen bleibt für mich ein Fragwürdiges. Ein Drittel der knappen Zeit werden wir an Land durcheinander gerüttelt, dann gleitet der Rumpf in die kühlen Fluten, umfährt ein paar der Eisberge, ohne diesen deutlich näher zu kommen, als es entlang des Ufers möglich war. In der Mitte der Lagune dann ein kurzer Halt, belehrende Worte, wie sie auch der dünnste Reiseführer parat halten dürfte, ein Stück Eis wird herum gereicht, jeder kann sich eine Ecke des tausend Jahre lang gefrorenen Wassers auf der Zunge zergehen lassen, und das war's. Einzig die Scholle, auf der sich ein halbes Dutzend Robben herum treiben lässt, hatte ich zuvor nicht bemerkt. Ansonsten Verrenkungen wenn es darum geht, einen Schnappschuss hin zu bekommen, ohne das die Schwimmweste oder Körperteile Mitfahrender sich ins Bild schieben, keine spektakuläre Perspektive knapp über der Wasseroberfläche, kein näherer Blick auf die Abbruchkante. Was bleibt ist die Feststellung, dass es schon reichlicher Fantasie bedarf, dem Gletschereis einen Geschmack abzugewinnen, den wenige Tage altes Eis anderer Herkunft nicht hätte sowie das beruhigende Gefühl, das Vehikel wieder trockenen Fußes zu verlassen. Hätte die Schwimmweste uns im Fall eines vorzeitigen Ausstiegs im Wasser vor dem Ertrinken gerettet, vor dem Erfrieren hätte sie uns nicht bewahrt. Drei Minuten wäre die Zeit gewesen, innerhalb der uns laut Tourguide jemand aus dem kühlen Nass hätte angeln müssen, das auch im Winter nicht zufriert. Was ich mit diesem Wissen anfange? Ich weiß es nicht. Merke es mir erst einmal. Vielleicht kann ich ja eines Tages ein Buch damit füllen.






                          Kommentar


                          • dirkpausk
                            Anfänger im Forum
                            • 04.02.2016
                            • 44
                            • Privat

                            • Meine Reisen

                            #14
                            AW: [IS] Island 10 km/h

                            In einem Mix aus Tagträumerei, Faszination und meditativem Pedalieren rollen die Räder Kilometer für Kilometer dem nächsten Ort entgegen. Einem Ort, der für mich unaussprechlich ist. Kirkjubæjarklaustur. Beim Versuch, den Namen über die Lippen zu bringen, ist es dabei gar nicht so sehr die Angst, dass ich mir die Zunge brechen könnte. Ich bilde mir eher ein, ab der Mitte des Buchstabensalates bleiben die Bestandteile am Gaumen kleben, ich bekomme eine trockene Kehle und müsse einen Schluck trinken. Entsprechend beschränke ich mich, wenn ich den Ort nenne, auf die ersten beiden Silben. Kirkju-irgendwas beziehungsweise, da die meisten Gespräche in englisch geführt werden, Kirkju-something. Was mich beruhigt: jeder versteht mich, jeder weiß, was ich meine. Was mich noch viel mehr beruhigt: meist ergeht es meinen Gegenübern genauso. Häufig genug bedienen sie sich lediglich einer anderen Variante: Kirkju-hm-hm-hm. Ob sich mein Vorschlag durchsetzt, in Schriftform Kirkju… zu verwenden, wage ich zu bezweifeln als ich später erfahre, dass selbst die Einheimischen den Ortsnamen abkürzen. Sie jedoch reduzieren Kirkjubæjarklaustur auf die letzten zwei Silben. Klaustur. Da hätte man es den Besuchern des Landes natürlich auch gleich einfacher machen können.


                            Schöne Gegend

                            20 Kilometer vor Kirkjubæjarklaustur, Kirkju… oder halt Klaustur taucht ein weiterer Gleichgesinnter am Horizont auf, ein Radler. Als wir auf gleicher Höhe sind, bleiben wir stehen. Ein Franzose. Viertelstunde Smalltalk. Natürlich ist Kirkju…/Klaustur ein Thema, der Campingplatz dort sei ganz passabel, verzaubert ist er aber von etwas anderem. Es liegt noch nicht lange hinter ihm. Ein reißendes Flüsschen, direkt neben der Straße. Wie ein kleiner Wasserfall.
                            Nur wenig später ist für mich nachvollziehbar, was den jungen Mann aus dem Nachbarland begeisterte. Einige wenige Meter Höhenunterschied verwandeln einen Fluss aus den Bergen in einen Wildwasserparcours. Über ein paar Felskanten sowie um einige Felsbrocken herum sprudelt das Nass, strömt es reißend vorbei, bevor es seichtere Bahnen erreicht, aus denen es dann wieder friedlicher davon fließt. Dass auch das ansonsten massive Gestein drum herum zerfurcht und durchzogen ist von schmalen aber tiefen Rissen zeigt einmal mehr: Island rockt, hier herrscht Bewegung – nicht nur auf der Straße.


                            Wildwasserparcours neben der 1, einige Kilometer vor (im Uhrzeigersinn) Kirkju…/Klaustur

                            Als ich Kirkjubæjarklaustur (bzw. Kirkju…/Klaustur) erreiche stelle ich fest, dass der Ort mich weniger beeindruckt als sein Name. Das mag dem Umstand geschuldet sein, dass die Wolken tief hängen, als ich morgens dort eintreffe, ist aber wahrscheinlich doch wetterunabhängig. Die große Tankstelle hätte man wegen meiner nicht dort errichten müssen. Meinen Treibstoff finde ich in dem kleinen Laden ein Stück weiter, in dem ich mich mit dem Nötigsten versorge. Alles Weitere lasse ich mir für den Abend. Dann sollte ich Vík erreichen. Ein Ort mit größerem Supermarkt. Geeigneter, um nicht gar so kostenintensiv verbrauchte Vorräte wieder aufzustocken.
                            Darüber hinaus wartet Kirkjubæjarklaustur mit einer modernen, 1974 neu errichteten Kirche auf. Sie ist mit Jón Steingrímsson dem Pfarrer gewidmet, der 200 Jahre zuvor an diesem Ort einen Lavastrom aufgehalten haben soll. Seinen Feuerpredigten sei es zu verdanken, dass der Gesteinsbrei einen Bogen um die Siedlung machte und sich statt dessen seinen Weg durch das nächstbeste Flussbett bahnte. Ist zwar interessant zu wissen, wird für die Menschen seinerzeit auch sehr bewegend gewesen sein, beeindruckt meine Sinne jedoch weniger. Ebenso verhält es sich mit den kultivierten Weiden, auf denen die Schafe grasen und das Grün üppig sprießt, den Wäldern, will man denn die überschaubaren Baumgruppen so bezeichnen, oder den Lupinienfeldern, die weite Flächen blau bedecken. Alles schön und nett, doch das Karge, Raue, Schroffe und bisweilen auch Eintönige zuvor sprach mich mehr an.


                            Kirche in Kirkju…/Klaustur

                            Beflügelt werden meine Gedanken schließlich 30 Kilometer weiter durch einen Wegweiser. 208. Drei Ziffern, auf denen Islands Straßennetz basiert. Die 1 an erster Stelle ist reserviert für die Straße, auf der ich mich befinde, der Ringstraße. Alles weitere verteilt sich vom Süden aus im Uhrzeigersinn. Ist der zwei- oder dreistelligen Nummer dann noch ein „F“ voran gestellt, so weist es diese angeblich als Hochlandpiste aus. Mag zwar sprachlich stimmig sein, die isländische Übersetzung dieser Wege lautet Fjallavegur, macht aber am Beispiel der 35, der Kjölur, der zweitlängsten Passage durch die inländische Hochebene, in meinen Augen keinen Sinn. Bis 2001 trug die Kjölur noch die Bezeichnung F35, anschließend wurde ihr das „F“ aberkannt, ohne dass sich am Verlauf oder Profil der Strecke etwas geändert hätte. Ob hingegen Flussläufe beziehungsweise Furten zu diesem Zeitpunkt überbrückt wurden, darüber ist zumindest mir nichts bekannt. Fakt ist aber, dass auf der 35 mittlerweile keine Furten mehr zu queren sind, was gemäß meiner Kartenstudien bei F-Straßen nicht der Fall ist. So wird die 208, an dessen Kreuzung mit der 1 ich mich befinde, nach einigen Kilometern zur F208, die im weiteren Verlauf nicht nur Wanderern nasse Füße beschert.
                            Abgesehen davon hat die Straße für mich allerdings noch einen anderen Reiz. Sie führt in das unter Naturschutz stehende Gebiet Landmannalaugar, einer Gegend mit zahlreichen aktiven Vulkanen, welche nicht zuletzt unter dem Aspekt der farbigen Berge zu den schönsten der Insel zählt. An diesem ersten Juni aber brauche ich mich mit dem Gedanken, ob und wie ich die auf dem Weg liegenden Furten mit meinem Dreirad queren könnte, nicht weiter zu beschäftigen. Mit auf dem Wegweiser findet sich der Zusatz, dass nach einigen Kilometern die Straße noch gesperrt sei. Unpassierbar. Die Spuren des Winters. Ob und aus welcher Richtung dann kommend sich die Frage noch einmal stellt? Bleibt abzuwarten. Auch wenn Flussquerungen, Schotterpisten und knackige Steigungen den Abstecher zu einem herausforderndem Abenteuer werden lassen würden – die Bilder, die ich vor meinem geistigen Auge sehe, wären es mir wert.

                            Ähnliche Gedanken muss auch ein Pärchen gehabt haben, das ich bei nächster Gelegenheit kennen lerne. Bereits aus der Ferne ist ein gut zwei Kilometer langer und knapp zweihundert Meter hoher Felsen nicht zu übersehen. Hjörleifshöfði. Islands südlichster Punkt. Seine Flanken steigen steil empor, rings herum ist alles flach und eben. Links von der Straße, Richtung Meer, sieht der Fels aus, als habe ihn jemand am Strand vergessen. Lupinien überwuchern ganze Hänge, zahlreiche Vogelkolonien bevölkern ihn, auf einem steilen Wanderpfad ist er zu erklimmen und über einen holprigen Weg halb zu umfahren. Folgt man der Piste, gelangt man zu einer riesigen Höhle. Genau das müssen die beiden gemacht haben, denen ich begegne. Anstatt aber den gleichen Weg zurück zu nehmen, den sie hin nahmen, muss sie der Hang zum Abenteuer übermannt haben. Wie es denn sei, der parallel verlaufenden Spur zu folgen. Die, die unter Wasser steht. Das Problem der beiden: sie waren nicht zu Fuß oder mit einem Fahrrad unterwegs, sondern mit einem gemieteten Kleinwagen. Und der steht jetzt in der Mitte des an dieser Stelle gut fünf Meter breiten Rinnsals. Gerade eben noch ragen Radkästen und Reifen heraus aus dem Nass. Die Heckklappe ist geöffnet, ohne dass Wasser darüber eindringt, ob der Fußraum aber bereits geflutet ist – großes Fragezeichen, letztendlich aber auch zweitrangig. Es ist, wie es ist. Fahrer wie Beifahrer haben sich ihrer Beinkleider entledigt, aus dem Wagen befreit und versuchen zu retten, was zu retten ist. Ein Pickup mit aufgesetztem Wohncontainer steht bereit und leistet Hilfe. Ein Stahlseil verbindet die beiden Fahrzeuge. Der Pickup gibt Gas, das Seil spannt sich – und reißt. Nächster Versuch: schieben. Acht Hände ruhen auf der Motorhaube, acht blanke Beine stehen fast knietief im Wasser, auf Kommando werden die Kräfte vereint. Die Überlegung, guten Willen zu zeigen und mich dazu zu gesellen, lasse ich schnell wieder fallen. Der Wagen bewegt sich keinen Millimeter. Statt dessen versuche ich, mich auf andere Weise nützlich zu machen. Verabschiede mich mit den besten Wünschen, fahre zurück zur Straße, stoppe dort den erstbesten Wagen mit Allradantrieb, schildere die Situation und bekomme zu hören, dass man sein Bestes tun werde, um zu helfen. Wie die Sache ausgeht? Wie so häufig dieser Tage – keine Ahnung. Auf jeden Fall dürfte das Pärchen, das sich in die Situation „geritten“ hatte, bekommen haben, wonach sie suchten. Wahrscheinlich sogar mehr, als sie erwartet hatten. Viel mehr. Als ich mich von ihnen verabschiedete hatten die beiden noch die Hoffnung, dass sie in ein paar Tagen über die Angelegenheit lachen können, wenn sie sich Bilder oder Videos ihres versenkten Wagens anschauen. Kann aber natürlich auch sein, dass ihnen das Lachen im Halse stecken bleibt, wenn ihr Blick auf etwas ganz anderes fällt: Rechnungen!


                            Höhle von Hjörleifshöfði


                            Abenteurer

                            Kommentar


                            • bourne
                              Dauerbesucher
                              • 30.01.2016
                              • 582
                              • Privat

                              • Meine Reisen

                              #15
                              AW: [IS] Island 10 km/h

                              Oh weh....aber bitte, wer fährt mit einem Kleinwagen sehenden Auges in so einen "See" hinein?
                              Trekkingblog: lustwandler.at

                              Kommentar


                              • dirkpausk
                                Anfänger im Forum
                                • 04.02.2016
                                • 44
                                • Privat

                                • Meine Reisen

                                #16
                                AW: [IS] Island 10 km/h

                                Am Nachmittag des nächsten Tages erreiche ich Skógafoss, den Waldwasserfall. Sechzig Meter ist er hoch, 25 Meter breit und schon von Weitem ist er nicht zu übersehen. Je mehr ich mich ihm nähere, desto weniger ist er zu überhören. Als ich vor ihm stehe, bin ich beeindruckt. Der blaue Himmel, die weißen Schleierwolken, die flankierenden, grünen Hänge, die sich zwischen zwei Kuppen ergießenden Wassermassen, der Regenbogen in der Gischt – ein faszinierendes Bild.
                                Weiter zu fahren kommt für mich nicht in Frage. Nicht zu diesem Zeitpunkt. Ich bin zwar noch keine fünfzig Kilometer geradelt, seit ich den Campingplatz in Vík hinter mir gelassen habe, in gerade mal dreißig Kilometer Entfernung läge der nächste Wasserfall, doch den Anblick will ich noch eine Weile genießen. Hinzu kommt, dass vor dem Skógafoss das Campieren gestattet ist. Auf dem Parkplatz dürfen Wohnmobile über Nacht stehen bleiben, auf der nebenan gelegenen Wiese Zelte aufgeschlagen werden, zudem stehen in einer Holzhütte Toiletten und Duschen zur Verfügung. Um letzte Zweifel zu zerstreuen rede ich mir darüber hinaus ein, ich hätte mir dieses Vergnügen verdient. Obwohl das aufgezeichnete Streckenprofil nur sanftes Auf und Ab anzeigt, am Straßenrand standen Schilder, die Steigungen mit zwölf Prozent bezifferten. Und in der Tat waren etliche Kilometer ein weiterer Kampf gegen einstellige Zahlen in der Geschwindigkeitsanzeige. Dass zudem auf den Strecken mit Gefälle selbst die 2 nur selten genug an die erste Stelle rutschte, dafür sorgte der Wind. Er war es auch, der mich nach zwanzig Minuten Pause wieder zurück in den Aktionsmodus trieb, wollte ich nicht Gefahr laufen, auszukühlen. Ergo, eine Übernachtung an diesem Flecken steht für mich außer Frage.


                                Skógafoss

                                Der Nutzung der Sanitäranlagen folgt ein Spaziergang hinauf auf den Hang, zu der Aussichtsplattform, die dort über den Fels ragt, wo das Wasser in die Tiefe stürzt. Wie viele Stufen es sind, die mich empor führen? Egal, das Treppensteigen beschert mir eine weitere Perspektive und verlängert mir die Zeit, in der ich noch wärmende Sonnenstrahlen genießen darf. Als dann auch trotz erhöhtem Standpunkt die gleißende Kugel hinter dem nächsten Gipfel versunken ist, wird es frisch. Der Wind weht weiterhin.


                                letzte Sonnenstrahlen

                                Ähnlich verhält es sich mit dem Wasserfall. Auch ihn stellt in der Nacht niemand ab. Das Getöse stört mich jedoch nicht. Ich schlafe hervorragend. Erst der Wecker ist es, der mich um 07:30 Uhr daran erinnert, dass ich zu dieser Stunde aus den Federn steigen wollte. Zwar kostet das Öffnen des Zeltes zunächst einmal Überwindung, doch es macht sich bezahlt: über mir strahlt erneut blauer Himmel, vor mir stürzen weiterhin Wassermassen in die Tiefe und um mich herum gedeiht saftiges Grün. Nur die Sonne braucht noch ein wenig Zeit, um die Hügel zu überwinden, danach ist es allerdings um so angenehmer. Kann ein Tag besser beginnen?
                                Kaum. Das Vergnügen lässt sich allerdings steigern, wenn man sich unter diesen Gegebenheiten die Zeit nimmt, es sich im Sitz seines Liegedreirades bequem zu machen, den Kocher anschmeißt und in Ruhe frühstückt.
                                Genau diese Zeit nehme ich mir. Es ist herrlich. Auch wenn sich Müsli, Kakao und Cappuccinopulver nicht von dem der anderen Tage unterscheiden, der Verzehr vor dieser Kulisse ist unvergleichlich. Ein Genuss, einen Löffel nach dem anderen weg zu schlabbern oder an der heißen Tasse zu nippen, während der Blick auf dem unermüdlich stürzenden Gewässer ruht und die Sonne wärmt – unbeschreiblich.


                                perfekter Start in den Tag

                                Ein älterer Herr, ebenfalls Deutscher, muss mir meine Begeisterung ansehen, kann es sich aber trotzdem nicht verkneifen, mich anzusprechen. Wie es denn sei, mit einem solchen Gefährt das Land zu bereisen? Ich lasse meine Gefühle aus mir heraus sprudeln, will den Mann aber nicht mit einem Monolog erschlagen. Entsprechend hake ich nach, wie er unterwegs ist. In einer Reisegruppe, erfahre ich. Mit dem Bus klappere man die Sehenswürdigkeiten ab, steige hier und da aus, wie im Moment, vertrete sich ein wenig die Beine, dann gehe es weiter. Zum nächsten Ort, wo sich die Prozedur wiederholt. Für die Übernachtung kehre man jeden Tag woanders ein, seien aber alles sehr gepflegte Unterkünfte, die Verpflegung einwandfrei. Das ist der Moment, in dem ich wieder das Wort ergreife, mit dem sich die Klammer für mich schließt. Im Augenblick möchte ich mit nichts und niemandem tauschen. Ich kann mir kein Hotel vorstellen, das mir das Lebensgefühl bietet, das ich gerade empfinde.
                                Wie es nach drei Tagen Sturm, Dauerregen und Temperaturen um den Gefrierpunkt aussehen würde? Wahrscheinlich anders, doch was soll ich mir darüber den Kopf zerbrechen. Es lacht ja nun mal die Sonne über mir.


                                kein Grund zu Beanstandungen

                                Kommentar


                                • dirkpausk
                                  Anfänger im Forum
                                  • 04.02.2016
                                  • 44
                                  • Privat

                                  • Meine Reisen

                                  #17
                                  AW: [IS] Island 10 km/h

                                  Nicht ganz glücklich bin ich mit meiner Entscheidung, weiter der Ringstraße, der 1, nach Reykjavík zu folgen. Die an der Straße liegenden Wasserfälle wie der Seljalandfoss und Urriðafoss sind zwar nett anzusehen und beeindruckend, der zunehmende Verkehr hingegen nicht. Er nervt. Ein Fahrzeug nach dem anderen rauscht an mir vorbei. Kommt mir niemand entgegen, naht jemand von hinten. Problematisch wird es, wenn beides gleichzeitig der Fall ist. Kommt leider auch nicht selten vor. Für manch einen Fahrzeugführer scheint Sicherheitsabstand sich darauf zu beschränken das der Lenker bestenfalls weiß, wie das Wort geschrieben wird. Die Bedeutung ist offensichtlich unklar. Um so mehr bin ich darauf bedacht, mir selbst ein wenig Platz für all zu brenzlige Situationen zu bewahren. Meine Strategie, mir einen Meter zum rechten Fahrbahnrand hin frei zu halten und diesen erst dann aufzugeben, wenn der Fahrer im Rückspiegel ansatzweise meine Geschwindigkeit erreicht hat, stößt jedoch immer weniger auf Verständnis noch schließt sie gewagtere Überholmanöver aus. Und ob jede Hupe die ich höre freundlich zum Gruß ertönt, wage ich mehr und mehr zu bezweifeln.



                                  Zwölf Kilometer hinter Selfoss liegt der Ort Hveragerði. An sich nichts Großartiges, wären da nicht die Gewächshäuser, die Island mit frischen Blumen, Obst und Gemüse versorgen, sowie die Tatsache, dass seit 2008 infolge eines Erdbeben ein Spalt in der Ortsbibliothek klafft. Außerdem entdecke ich dort die erste heißen Quellen, aus denen es dampft. Ich bin also in einer vulkanisch aktiven Gegend angelangt. Eine Premiere für mich. Ein leichter Schauer läuft mir über den Rücken. Dummerweise erblicke ich den Rauch jedoch erst, als Hveragerði schon wieder hinter mir liegt. In einer weit geschwungene Kurve, die ich empor strampele. Die halbe Höhe des Hügels, der die hinter mir liegende Ebene von Reykjavík, der Rauchbucht, trennt, ist bereits bezwungen. Vielleicht hätte ich doch vorher noch mal einen Blick in den Reiseführer werfen sollen. Ich überlege kurz. Noch einmal umkehren und herunterfahren um dem Pfad zu folgen, über den zahlreiche Menschen pilgern?
                                  Kommt nicht in Frage.
                                  a) so einfach opfere ich keine 150 Höhenmeter, die ich anschließend erneut zu erklimmen hätte,
                                  b) es sollten noch weitere Geothermalgebiete auf meiner Route liegen und
                                  c) die beiden zweispurigen Richtungsfahrbahnen sind den Berg hinauf durch Stahlseile voneinander getrennt. Ich mag zwar ohnehin in den Augen manch Anderer ein Wahnsinniger sein, aber in der Situation zum Geisterfahrer zu mutieren – soweit bin ich noch nicht.
                                  Entsprechend quäle ich mich in kleinen Gängen weiter dem Gipfel entgegen. Glücklicherweise an dieser Stelle auf einem Seitenstreifen, doch auch der hat seine Tücken. Hält er mich einerseits zum zügiger vorbeifließenden Verkehr auf Distanz, so lassen mich anderseits allerlei Kleinteile um meine Reifen bangen lässt. Da ich mal wieder von Joggern überholt werden könnte, habe ich alle Zeit der Welt mir anzuschauen, womit der Boden gesät ist. Schrauben, Nieten, Kiesel, Scherben – das volle Programm, und davon reichlich. Dass meine Bedenken nicht ganz unbegründet sind beweist ein Wagen in Gegenrichtung. Auch er ist auf dem Seitenstreifen unterwegs. Wie ich. Und ebenfalls wie ich, fährt er auf drei Luft bereiften Rädern. Langsam. Anders als ich und wie es sich für zeitgemäße Autos gehört, hat sein Fahrzeug jedoch vier Räder. Das einem davon die Luft ausgegangen ist dürfte an einem der Gegenstände gelegen haben, der an einem anderen Fahrzeug fehlt. Das Resultat: ein Rad schlurft auf der Felge. Unüberhörbar.



                                  Als es für mich bergab geht ist die Spur, auf der ich mich hoch mühte, nicht mehr breit genug für meinen Dreispurer. Irgendjemand fand es sinnig, in den Asphalt etwa Hand große Vertiefungen zu fräsen. In ebenso großen Abständen. Das Ergebnis dieser Bemühungen: jeder Fahrer, der diesen Streifen überfährt, wird infolge entsprechender Vibrationen des Reifens wach gerüttelt.
                                  Zunächst ziehe ich es vor, mit einem Rad auf der regulären Fahrspur zu bleiben. Als ich jedoch im Rückspiegel sehe, wie ich mehr und mehr zum Verkehrshindernis werde, übermannt mich das Erbarmen und ich lasse den linken Reifen über den Hallo-wach-Streifen rollen. Das Ergebnis ist frappierend. Der Verkehr gleitet an mir vorüber, ich jedoch komme mir vor wie an einem Marterpfahl. Rüttelfolter. Ich bin keine Minute mit über 40 km/h unterwegs, da wird mir die Überlegung abgenommen, wie lange das gut gehen könnte. Es scheppert. Ein Blick in den rechten Rückspiegel und ich gewinne die Erkenntnis – ich habe keinen solchen mehr. Spiegel samt Halterung haben sich verabschiedet. Als das Teil wieder eingesammelt ist weiß ich zudem: ich brauche gar nicht erst zu versuchen, den Spiegel wieder anzuschrauben. Eine Schraube in ausreichender Länge gibt es nicht mehr. Sauber abgerissen. Zwar kein Schaden, der das Vorankommen in Frage stellt, aber irgendwie habe ich mich daran gewöhnt, das Geschehen hinter mir sowohl mit einem Blick nach links wie nach rechts im Auge behalten zu können. Verschwindet der Spiegel halt einstweilen zunächst dorthin, wo er mir nichts mehr nützt - in eine der Taschen.

                                  Ohne einen Blick nach hinten schieben sich nach weiteren Metern Talfahrt die nächsten dampfenden Erdlöcher ins Blickfeld. Zunächst noch links der Straße, nur unweit einiger Altschneefelder, dann auch rechts. An einer Abzweigung biege ich ab, folge der Piste ein kurzes Stück, dann stehe ich vor einem Restaurant. Im Haus scheint nichts los zu sein, vor der Tür dafür um so mehr. In einer Pfütze blubbert es, aus einem Erdloch zischt es, ein nicht weit entfernter Wiesenbach führt handwarmes Wasser. Verliefe nicht die Ringstraße einen Steinwurf weit entfernt, es wäre ein idealer Ort zum Wildzelten. Option auf wohl temperierte Campingdusche inklusive – unglaublich. Wieder ein paar Meter weiter dicke, kilometerlange Rohre. Islands Adern, die die Hauptstadt mit Erdwärme versorgen.



                                  Kaum kehre ich von meinem Abstecher von der 1 auf diese zurück, jagt eine Gruppe Rennradler an mir vorbei. Wildes Gejohle. Auf der Strecke mit Gefälle gelingt es mir den im Überraschungsmoment erzielten Abstand beizubehalten, als es wieder leicht aufwärts geht, hängt mich die Horde ab. Schade, ich wäre ihnen gerne auf den Fersen geblieben in der Hoffnung, eine weniger verkehrsreicher Piste in die Stadt zu finden. Zum Glück stelle ich jedoch fest, dass sich die Abende lange Vorbereitung für den Weg in die Insel- wie Landesmetropole gelohnt hat. Über Radwege gelange ich schön durchs Grüne immer weiter gen Zentrum.



                                  Auch meine Bemühungen, ein Fahrradgeschäft zu finden, werden belohnt. Der unterwegs angesprochene Radler erklärt mir den Weg: nächste Unterführung links, ein paar Meter die Schnellstraße entlang, Überführung rechts, dann ist es schon fast geschafft. Von dort aus müsste das Gebäude mit roter Fassade bereits zu sehen sein. Was der Mann mir nicht garantieren kann ist, wie lange Örninn Samstags geöffnet hat.
                                  Das Glück bleibt mir aber treu. Gegen 14:30 Uhr betrete ich den Laden, in dem ich an die Werkstatt verwiesen werde. Einmal die Ecke herum. Auch dort zeigt man sich kooperativ. Einer der Schrauber nimmt sich des Spiegels an, gibt sein Bestes, muss jedoch feststellen – ganz so einfach ist es nicht. Auch ein Kunststoffteil ist abgebrochen. Während der Spezialist fummelt, nutze ich die Zwangspause, um den Sitz weiterer Schrauben sowie den Luftdruck zu überprüfen. Kleine Inspektion. Dabei stelle ich fest, dass der Reifen, den ich in Dänemark flicken musste, Luft verloren hat. Ein genauerer Blick auf den Mantel ergibt: da steckt erneut ein Fremdkörper in der Lauffläche. Wieder ein Stein. Also Luft raus, Mantel abziehen, Eindringling entfernen und den Schlauch unter die Lupe nehmen. Dumm nur, dass bei dem nichts zu finden ist. Bin bereits gespannt, wie häufig ich das Prozedere in den nächsten Tagen wiederholen kann.
                                  Zwischenzeitlich meldet der Zweiradmechaniker Erfolg. Erklärt mir, er habe improvisiert, ein wenig geklebt, solle aber halten. Die Frage, ob nur auf Asphalt oder auch auf Holperpisten, behalte ich für mich. Immerhin hat der Mann sich Mühe gegeben, das Rad, an dem er gearbeitet hatte, stehen gelassen und sich meiner angenommen. Ob die 20 Euro, die er mir in Rechnung stellt, die Sache wert sind oder ob es eine Anerkennungsprämie für die schnelle und unkomplizierte Hilfe bleibt? Die Zukunft wird es zeigen.

                                  Rechtzeitig zum Geschäftsschluss um vier rolle ich vom Hof, um nur wenige Meter weiter erneut stehen zu bleiben. Vor einem Supermarkt, der länger geöffnet hat. Auch wenn der volle Parkplatz mir nicht so richtig behagt, ich lasse Hab und Gut unbewacht zurück, besorge, was zu besorgen ist, und darf feststellen – wieder einmal waren meine Bedenken unbegründet. Auch in der Hauptstadt, zumindest jetzt und hier, vergreift sich niemand an meinen Siebensachen.
                                  Der anschließende Blick auf das Navi zeigt zu meiner Freude noch etwas ganz anderes: ich befinde mich nicht weit von meiner Ziellinie entfernt und selbst der Campingplatz ist nicht mehr fern. Meinen Plan, die Einfahrt in die Stadt mit einer Besichtigungstour zu verbinden, werfe ich in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit über den Haufen. Statt dessen lenke ich mein Gefährt über kleine Straßen durch eine ruhige Wohngegend. Keine Viertelstunde später ist der Ort in der Stadt erreicht, an dem ich meine betuchte Behausung umgeben von Gleichgesinnten aufschlagen kann.
                                  Bevor es aber soweit ist, statte ich der Anmeldung meinen Besuch ab. Man heißt mich dort auch freundlich willkommen, macht mich darauf aufmerksam, dass ich als Radler einen Preisnachlass in Höhe von zehn Prozent erhalte, schreckt jedoch nicht davor zurück, mir immer noch zwanzig Prozent mehr abzuverlangen als das, was ich bislang für eine vergleichbare Leistung zahlte. Dennoch, die 1800 ISK liegen weit unter den von einer Berlinerin aufgeschnappten 3000 ISK und der Preis scheint niemanden zu vergraulen – Zeltwiese wie Stellplätze für Fahrzeuge sind gut gefüllt.
                                  Darüber hinaus erweckt der Campingplatz den Eindruck, als sei er zentrale Anlaufstelle derer, die die erste oder letzte Nacht auf der Insel verbringen. Suchen die einen Mitfahrgelegenheiten in die verschiedensten Ecken des Landes, holen die anderen Erkundigungen nach Abfahrtzeiten der Busse zum Flughafen ein und sehen zu, dass übrig gebliebene Verbrauchsmaterialien das Gepäck nicht länger belasten. Entsprechend muss der Neuankömmling nicht direkt loslaufen, um sich eine Gaskartusche zu besorgen, sondern kann erst einmal auf der Flamme des Vorgängers kochen, abgesehen davon, dass die Küche des Campingplatzes ohnehin mit allen erforderlichen Gerätschaften zur Essenszubereitung ausgestattet ist.
                                  Darüber hinaus sind es Reiseerlebnisse, die ausgetauscht werden. Was hat einen begeistert, worauf sollte man achten, worauf besser verzichten, wo kann man gut und preiswert übernachten, wie oft war man schon hier – für manch einen steht sogar schon fest, wann man das nächste Mal wieder kommt.
                                  Ganz so weit ist es bei den drei jungen deutschen Männern nicht, die mir auf der Suche nach ihren Fahrradkartons über den Weg laufen. Nach ihrem Abstecher in ein Geothermalgebiet stehen sie noch ganz unter dem Einfluss der Eindrücke, die sie beim Umrunden der noch vor mir liegenden Halbinsel Snæfellsnes gesammelt haben. Island in klein. Von Allem etwas. Da sich das Trio mit einem zweiwöchigen Aufenthalt begnügen musste, hatte es zwischendurch schon mal größere Distanzen mit dem Bus zurück gelegt – so kann man es auch machen.
                                  Kaum verabschiede ich mich von den Einen, stoße ich auf den Nächsten. Gleichfalls ein Radler. Einer, der genau so lange auf Island unterwegs ist wie ich. Wir reisten mit der gleichen Fähre an. An Bord liefen wir uns zwar gelegentlich über den Weg, irgendwie schafften wir es aber doch, aneinander vorbei zu gehen, obwohl wir die einzigen Pedalisten waren. An einem Tisch unter freiem Himmel am Rande der Zeltwiese erfahre ich nun, dass meine neue Bekanntschaft aus Finnland kommt, nicht viel älter ist als ich und auch er schon einiges von Europa gesehen hat. Deutschland habe er schon mehrfach durchfahren. Zuletzt auf dem Weg in die Alpen. Dort gäbe es mittlerweile keinen Pass mehr über 2000 Meter, den er nicht schon bezwungen habe. Der Tenda Pass im italienisch-französischen Grenzgebiet hingegen, mit dem ich eine Nacht unter freiem Himmel verbinde, ist nicht dabei. Das Navi bezifferte den höchsten Punkt zwar mit 2040 Meter Höhe, laut Internet liegt die Passhöhe jedoch 170 Meter tiefer. Aber was soll's. Sind ja nur Zahlen. Interessanter war für mich die Erfahrung, erstmals in luftiger Höhe bei Sturm das Zelt aufzuschlagen. Dazu meine Befürchtung, dass sich eine der frei umher laufenden Kühe in den Abspannleinen verfängt, erschrickt, stolpert und mich unter sich begräbt. Tja, es war dann doch weniger dramatisch, sonst wäre ich wahrscheinlich nicht erneut auf Tour, aber so hat jeder seine Anekdoten, die er zum Besten gibt, und auch auf Island werden sie nicht weniger.
                                  Von dem Finnen bekomme ich zu hören, dass er sich in Egilsstaðir für eine Fahrt gegen den Uhrzeigersinn entschied und bei der Gelegenheit in Schneeschauer geriet. Kommt mir nicht ganz fremd vor, diese Geschichte, anders als die motorisierte Fraktion aber blieb der Mann der eingeschlagenen Fahrtrichtung treu und steigert mit seinen Beschreibungen meine Vorfreude auf die Landschaft um den Myvatn.

                                  Gegen Abend breche ich noch einmal mit dem Rad auf. Diesmal ohne Gepäck. Das Zentrum Reykjavíks ist mein Ziel. Vom Campingplatz aus ist es nicht weit entfernt. Ein knapper Kilometer, vorbei an mehrgeschossigen Wohnhäusern, und ich bin wieder am Meer. Sanft und nur mit wenigen Metern Höhenunterschied breitet es sich in der Bucht aus, die im Norden wie im Süden durch jeweils eine Halbinsel begrenzt wird. Zweieinhalb weitere Kilometer folgen. Zweieinhalb Kilometer, zur Rechten das Wasser, zur Linken die vierspurige Schnellstraße, dahinter, auf der anderen Straßenseite, höhere Bürogebäude. Viel Glas, viel Stahl, viele Firmennamen, teils bekannte. Auf gut halber Strecke, zum Meer hin, Sòlfar, das Sonnenschiff, was immer man darunter verstehen soll. Ich schließe mich den meisten Besuchern an und halte es für ein stilisiertes Wikingerboot. Unbestritten jedenfalls: eine Skulptur aus Metall auf spiegelglatt poliertem Mamor, die gerne fotografiert wird. Natürlich fehlt auf meinen Bildern eines mit einem Liegedreirad im Vordergrund nicht.



                                  Ein Stück weiter schließlich Harpa. Harpa ist keine Skulptur, wahrscheinlich aber nicht minder häufig abgelichtet. Harpa, übersetzt die Harfe, ist ein Gebäude. Ein Gebäude, mit auffälliger Architektur. Harpa hat eine wabenartige Glasfassade, liegt am alten Hafen, ist Konferenzhaus und Konzerthalle, wurde 2011 eröffnet und hat sich schnell zum jüngsten Wahrzeichen der Stadt entwickelt.



                                  An der Harpa die Schnellstraße ein weiteres Mal überquert und ich bin dort, wo es mich hinzieht. In der Altstadt. Ohnehin im touristischen Zentrum angelangt trägt der Samstag Abend sowie das gute Wetter sein Übriges dazu bei, dass ich nicht alleine bin. Dass ich mir trotzdem ein wenig verloren vorkomme? Für mich der typische Indikator dafür, dass ich mich zurück in der Zivilisation, in einer Großstadt befinde: je mehr Menschen unterwegs sind, desto weniger interessiert sich einer für den anderen. Man läuft grußlos aneinander vorbei – alles Andere wäre bei der Vielzahl an Leuten allerdings auch kaum vorstellbar.
                                  Spätestens, als ich nach einem Restaurant Ausschau halte, bemerke ich, wie fehl am Platz ich mir vorkomme. Nach fünf Wochen Reise und allabendlichem Tütenfutter war mir an sich danach, mich bekochen zu lassen. Jetzt, wo ich eine Speisekarte nach der anderen studiere und einen Blick auf das verkehrende Publikum werfe fällt mir auf, was mich bedrückt: ein Kulturschock. Die letzten Tage auf der Straße und in der Natur sind nicht spurlos an mir vorüber gezogen. Doch was tun? Davon laufen? Nicht mein Ding, zumal ich es ja nicht anders wollte.
                                  In einem Lokal, in dem ich mit zweckmäßiger Kleidung nebst klobigem Schuhwerk nicht auffalle und in dem der Preis für ein Gericht nicht direkt ein Mehrfaches meines Tagesbudgets sprengt, lasse ich mich nieder. Eine amerikanische Bar. Was auf meinem Teller landet?
                                  Unschwer zu erraten – ein Burger und eine Portion Fritten. Sehr originell.
                                  Ebenso leicht frustrierend endet die Suche nach einer Kneipe, in der live musiziert wird. Ob ich vor 23 Uhr einfach nur zu früh unterwegs bin oder ich in den falschen Spelunken um die Ecke schaue – es ist zwar schwer was los, auf der Flaniermeile der Stadt, doch überall tönt es nur aus der Konserve.
                                  Als angenehmer empfinde ich es, dass Reykjavík sich abhebt von anderen westlichen Städten. Weniger Mainstream, mehr Avantgarde. Man gibt sich selbstbewusst, kreativ, innovativ. Vieles wirkt der Natur des Landes angepasst: schlichtes Design statt Protz; Glitzer, Glamour und rote Teppiche entdecke ich ohnehin nirgends.

                                  Auch wenn der Gegensatz zum Programm der voran gegangenen Tage krass ist, als ich zurück auf dem Campingplatz bin steht für mich fest, ich werde noch einen Tag länger bleiben. Will an meiner Stadtrundfahrt festhalten und sehen, was Reykjavík sonst noch zu bieten hat und mir dafür Zeit nehmen. Noch einen Tag Zivilisation und dann wieder dorthin zurück, wo ich mich bislang so gut aufgehoben fühlte. Sauberer Schnitt. Bei acht Wochen Island sollte das zu verschmerzen sein, zumal ich nicht ganz hoffnungslos bin, nach dem was mir der Finne sowie die deutschen Radler berichteten, bevor ich mein Kulturprogramm startete.

                                  Der „Ruhetag“ tut gut. Es ist 08:30 Uhr, als ich aus dem Schlafsack krieche. Rund um mich herum werden Zelte abgebaut, sofern sie es nicht schon sind. Ich lasse es gemächlich angehen. Beim Frühstück kopiere ich mir aus den bestehenden Routen für das Navi einen Rundkurs zusammen, bringe ein wenig Ordnung in meine Ausrüstung, dann geht es los. Ohne Zeltabbau, ohne Taschen packen, ohne klamme Wäsche überzuziehen.
                                  Zunächst halte ich mich in der Richtung, aus der ich angereist war, lerne dabei jedoch eine andere Seite der Stadt kennen. Zwischen Sportplätzen, Wohngebieten und Geschäftszentren gibt es Parks und weitläufige Grünanlagen. In diesen zahlreiche Kinderspielplätze, ebenso aber Orte mit Geräten zum Austoben für die Großen sowie Sitzgelegenheiten für die, die Entspannung suchen. Nahezu überall fahre ich auf breiten, asphaltierten, gut ausgebauten Radwegen, auf denen sich Fußgänger und Pedalisten nicht in die Quere kommen. Ebenso verhält es sich mit dem motorisierten Verkehr. Überwiegend verlaufen die Radwege einige Meter versetzt zur Straße, gelegentlich durch einen breiten Grünstreifen voneinander getrennt, und dort, wo eine Schnellstraße kreuzt, findet sich entweder eine Überführung, Unterführung oder eine Ampel; in der Regel aber kann ich ungehindert meine Fahrt fortsetzen. Welche Wege die Berlinerin eingeschlagen hatte, die mich zwei Tage zuvor vor den Straßen Reykjavíks warnte – ich weiß es nicht. Kann mir nur vorstellen, dass sie mit einer Art Tunnelblick oder in einem Anflug von Panik angesichts mehrspuriger, zügig befahrener Hauptverkehrsadern die Radwege nicht wahrgenommen hat. Ebenso wenig weiß ich, ob es natürlich ist, dass dort, wo knapp 300.000 Menschen leben, es Gebäude gibt, die höher in den Himmel ragen. Dass Reykjavík diesbezüglich keine Ausnahme ist, zeichnete sich bereits ab, als die Stadt noch einige Kilometer entfernt lag. Auch aus der Nähe betrachtet wirken die meisten Wohnsilos und Bürotürme nicht attraktiver, betagtere Wellblechhallen nicht einladender, doch auf meiner Route liegen keine Straßenzüge, in denen ich mich sorgen müsste, überfallen oder belästigt zu werden.
                                  Ansehnlicher sind hingegen die Orte, die ich mir zuvor aus Reiseführern heraussuchte und die ich bei wenig fotogenen Lichtverhältnissen abklappere, ohne einen Blick „hinter die Kulissen“ zu werfen. Nauthólsvík, der aufgeschüttete Stadtstrand mit geothermal beheiztem Schwimmbad, ist meine erste namhafte Anlaufstelle, dann folgen weitere wie die Universität, Tjörnin, ein kleiner See in der Stadt mit ausreichend Wegen drum herum zum Lustwandeln, Hallgrímskirkja, die Kirche mit den stilisierten Basaltsäulen, das Rathaus, ein Bau in schlichtem Beton, das Alþingishúsið, das Gebäude aus dem 19'ten Jahrhundert, in dem das Parlament des Landes tagt, sowie ein weiteres Mal mit Laugavegur die Einkaufs- und Flaniermeile in der Altstadt.



                                  Den Abschluss meiner Sightseeingtour bildet ein Bummel durch den alten Hafen, in dem an diesem Sonntag der Tag der Seeleute zelebriert wird – Seamen's Day. Die Rettungsbrigade präsentiert Technik und Einsatzszenarien, musiziert, viele Schiffe sind mit bunten Wimpeln geschmückt, an den Kais herrscht Geschiebe und Gedränge und mitten drin der Typ, den ein wenig leuchtendes Moos an einem Rinnsal in menschenleerer, karger Einsamkeit an sich viel mehr fasziniert. Immerhin aber kann auch er fortan behaupten: „Reykjavík? Doch, gehört auch mit zu Island und sollte man mal gesehen haben.“

                                  Kommentar


                                  • dirkpausk
                                    Anfänger im Forum
                                    • 04.02.2016
                                    • 44
                                    • Privat

                                    • Meine Reisen

                                    #18
                                    [IS] Island 10 km/h - Einstieg in die Westfjorde

                                    Mein nächstes Ziel ist etwas entfernter. Die Westfjorde. Über die Fähre in Stykkishólmur will ich in die Region gelangen, die mich auf der Landkarte an ein Geschwür erinnert, das sich im Nordwesten der Insel in das Meer frisst. Mit dem Richtungswechsel einher geht, dass ich dabei nicht länger beziehungsweise nur noch ein kurzes Stück der Ringstraße, der Eins, folge, wofür es mehrere Gründe gibt:
                                    1. ab Borgarnes bringt die 1 mich nicht dorthin, wo ich hin will,
                                    2. bis Akranes, kann ich sie nicht nehmen, da sie auf dem Weg dorthin unter einem Fjord durch einen Tunnel verläuft, der für Radfahrer gesperrt ist und
                                    3. spätestens nach den Kilometern ab Selfoss schaue ich mich lieber nach kleineren, weniger stark befahrenen Straßen um.

                                    Die ersten Kilometer sind mittlerweile wohl bekannt. Durch die Grünanlagen, entlang eines Flüsschens, bis ich an eine Brücke gelange, die mich auf neue Pfade führt. Was mich dabei überrascht: das, was in der elektronischen Karte noch als unbefestigter Weg verzeichnet ist, ist asphaltiert. Nicht unangenehm. Ein weiterer Pluspunkt, den ich dem Land als verdeckt ermittelnder Kritiker für Radreisen verleihe. Richtig begeistert bin ich, als ich hinter Mosfellsbær, einer Gemeinde im Speckgürtel der Hauptstadt, auf die 36 abbiege, ohne noch einmal auf der Eins gelandet zu sein. Über 25 Kilometer ging es nur über Radwege, mindestens zwei Meter breit, häufig genug weit abseits der Straße, zwischenzeitlich über einen Golfplatz, entlang eines Fjordes, mit Skulpturen am Wegesrand. Anschließend hat die Verkehrsdichte deutlich abgenommen. Schotter und Asphalt wechseln sich ab, ich gelange wieder in höhere Regionen, gelegentlich darf ich absteigen und schieben, die karge Landschaft ist es jedoch wert. Zwei Nächte zelte ich „wild“, das eine Mal auf einem Picknickplatz, das andere Mal auf der Wiese hinter dem Haus Einheimischer, dann liegt die Halbinsel Snæfellsnes vor mir. Ich überquere sie auf kürzestem Wege. Ein Pass zwischen zwei Bergrücken bringt mich auf knapp 250 Meter Höhe, verschafft mir Einblicke in eine wilde Vulkanlandschaft, dann kann ich die Räder rollen lassen. Was ich dabei laut Reiseführer versäume ist, Island im Kleinformat kennen zu lernen. Snæfellsnes biete alles, was Island ausmache, nur halt in komprimierter Form. Andererseits stelle ich mir die Frage, warum ich mich mit einer Miniaturfassung aufhalten soll, wenn ich das Große und Ganze haben kann? Ist natürlich übertrieben und wird den Reizen der Region sicher nicht gerecht, erscheint mir aber in Anbetracht der Randbedingungen meiner Reise und eines ersten Besuches als nicht unvernünftig. Alles kennen zu lernen dürfte ohnehin illusorisch sein.


                                    Skulpturen am Radweg


                                    entlang der 36 Richtung Geysir/Þingvellir


                                    Baustelle auf der 48


                                    Camping im Grünen


                                    Schieben auf Schotter


                                    Snæfellsnes voraus

                                    Stykkishólmur, der Ort, an dem die Fähre rüber in die Westfjorde ablegt, erreiche ich gegen drei am Nachmittag. Vor der Bäckerei auf der linken Straßenseite angelehnt steht das Rad des Reisenden, der mir an der Kreuzung nach dem Pass davon gefahren ist. Da ihm offensichtlich nicht an einem Plausch gelegen war und mich ein Kaffee nicht reizt, mache ich halt vor dem Laden zur Rechten. Ein Supermarkt. Noch für ein paar Tage Tütennudelgerichte, Müsli und Kakao einkaufen. Laut Radlerkarte sollte ich zwar auch in den Ortschaften der Westfjorde Einkaufsmöglichkeiten finden, bis Ísafjörður, der nächsten größeren Stadt, sehen die Orte jedoch kleiner aus und meine bisherige Erfahrung diesbezüglich ist: je kleiner der Ort, desto größer das Loch beim Shopping in der Reisekasse.
                                    Eine Stunde später rolle ich dann auf den Hafen zu. Ich komme gerade um die Ecke, da durchdringt das Tönen eines Schiffshorns die Idylle. Gas geben und noch mit drauf auf die Fähre? Zu spät. Die Leinen sind bereits los, der Dampfer hat abgelegt. Na super. Wenige Minuten später stehe ich am Ticketschalter. Nächste Abfahrt? Morgen. Um neun. Ich bin begeistert. Das Ticket für den nächsten Tag kaufe ich trotzdem. Aus jedoch der Traum, auf Flatey zu übernachten. Flatey ist die Insel, die in der Mitte des Fjordes liegt und an der die Fähre anlegt. Hätte mich wirklich gereizt. Das Zelt auf dem bewohnten Felsen aufzuschlagen, der gerade mal zwei Kilometer lang ist, auf dem ein paar tausend Vögel nisten und laut Reiseführer im Winter nur eine handvoll Menschen leben. Wäre bestimmt ruhig geworden. Statt ärgere ich mich ein wenig über mich selbst. Da trage ich ein Smartphone mit mir herum, schaue an so gut wie jedem Abend im Internet nach, was ich am nächsten Tag anziehen kann – nein, nicht unter den Dress-Empfehlungen für Globetrotter und Biker, sondern im Wetterbericht – doch mal daran zu denken, dass es auch Fährpläne im Netz gibt, soweit denke ich nicht?


                                    Stykkishólmur - zu spät am Hafen eingetroffen

                                    Zu ungewohnt früher Stunde ist am nächsten Morgen die Nacht für mich vorbei. Daran schuld ist der Wecker, den ich mir auf sechs Uhr stellte. Morgens kann es bei mir durchaus mal drei Stunden dauern, bis mein Nachtlager abgebaut sowie verstaut ist und ich in die Pedalen trete. Dass ich bereits um viertel nach acht am Fähranleger stehe zeigt jedoch, manchmal geht es auch schneller. Es gibt jedoch weitere Dinge, die mir das vorzeitige Beenden der Nachtruhe einbringt:
                                    a) ich bin der erste, der am Anleger steht,
                                    b) ich werde Zeuge, wie die Schiffsbesatzung zum Fotoshooting mit einem Fotografen antritt und
                                    c) ich bin der einzige, der eine halbe Stunde darauf wartet an Bord zu kommen.

                                    Dass ich trotzdem um viertel vor neun der Letzte bin, der über die Rampe unter dem hochgeklappte Bug im Schiffsrumpf verschwindet? Eine Entscheidung des Lademeisters – ich kann damit leben. Welche Wahl bleibt mir auch? Ob ich mein Rad festzurren soll?
                                    „Nicht nötig,“ so der Chefplatzeinweiser, „die Mühe kannst du dir sparen. Es wird eine ruhige Überfahrt.“
                                    Der Mann soll recht behalten. Es wird eine ruhige Überfahrt. Bei diesiger Sicht wirken die Felsen im Fjord geradezu mystisch, die Berge um den Fjord herum bei tief hängenden Wolken gespenstisch, Fotos werden Schwarz-Weiß Bilder. Wenig Licht – kaum Farbe.
                                    Auf halber Strecke der fahrplanmäßige Zwischenstopp auf Flatey. Zwanzig Minuten Pause für den Kapitän. Einige Vogelkundler verlassen das Boot, andere steigen hinzu. Über eine Gangway. Fahrzeuge wechseln keine. Wie auch? Eine Rampe ist nirgends zu entdecken, die Bugklappe bleibt geschlossen. Brauche ich also einer verpassten Übernachtung auf der Insel nicht länger hinterer trauern. Dass man mein Rad mit einem Kran von beziehungsweise am nächsten Morgen wieder an Bord gehievt hätte, halte ich für unwahrscheinlich. Und der Weg über die Gangway wäre ebenso ausgeschieden wie die Option, ohne fahrbaren Untersatz die Querung des Fjords zu unterbrechen.


                                    Schären im Fjord


                                    Flatey

                                    Um Zwölf habe ich wieder festen Boden unter den Füßen. Ebenso, wie ich als letzter an Bord rollte, rolle ich als letzter hinunter. Eine Heckluke macht es möglich. Mein erster Eindruck der Westfjorde? Nicht anders als auf der anderen Seite des Fjordes. Schären, nur vereinzelt Häuser, abgezäunte Wiesen, Schafe. Einzig kleiner Unterschied: auf der Straße sind weniger Autos unterwegs. Sehr angenehm.
                                    Noch angenehmer: die ersten dreißig Kilometer entlang der Küste habe ich Rückenwind und kaum Hügel. Dafür steht anschließend einer im Wege. Einer, der dem zuerst auf Island kennen gelernten Berg nicht unähnlich ist, was zur Folge hat, dass mir die Phänomene zur Bewältigung nicht fremd sind. Bergauffahrt in Schrittgeschwindigkeit. Zeit, jeden Stein im Vorbeifahren persönlich kennen zu lernen. Nach einer Stunde und zwanzig Minuten sind die fünf Kilometer Anstieg bezwungen. T-Shirt wie langärmliges Radlertrikot sind Schweiß getränkt. Ich könnte in den nächsten Bach springen oder mich im nächsten Schneefeld wälzen, nur liegt beides auf 400 Meter Passhöhe nicht direkt am Straßenrand.
                                    Zehn Minuten später schreie ich innerlich nach dem nächsten Hot-Pot. 40° warmes Wasser, gerne auch wärmer. Wo der plötzliche Sinneswandel her rührt? Von der Abfahrt. Kaum länger als der Weg bergauf, jedoch ohne körperliche Ertüchtigung. Konzentrationsübung statt Krafttraining. Nach dem Lösen der Bremsen brauche ich quasi nur noch aufpassen, dass ich auf der nur wenig kurvenreichen Talfahrt nicht abhebe. Oder im Fahrtwind nicht erfriere. Die Landschaft? Keine Ahnung, wie sie aussieht. Sie fliegt an mir vorbei.

                                    Die warme Dusche auf dem Campingplatz in Patreksfjörður ist eine Wohltat. Doch es ist nicht nur das Dach über dem Kopf, dass ich in der Nasszelle genieße. Auch im gut mit Küchenutensilien ausgestatteten und angenehm temperierten Aufenthaltsraum lässt es sich aushalten. Dort trudeln nach und nach immer mehr Übernachtungsgäste, darunter auch Radler.
                                    Der erste, mit dem ich ins Gespräch komme, ist Amerikaner. Ein junger Mann. Freunde begeisterten ihn, nach Island zu kommen und zu Radeln. Beides für ihn Premieren. Eine gute Woche sei er unterwegs, nun sei es an der Zeit, das Abenteuer abzubrechen. Seine Reifen hätten den Tag nicht überlebt. Am Vortag sei er nach Látrabjarg aufgebrochen. Sei auch gut und schön, die Steilküste, oben entlang der 400 Meter hohen Klippen herum zu wandern, fast auf Armlänge an die Papageitaucher heran zu kommen, die dort überhaupt nicht scheu sind, nur der Weg dorthin – eine Katastrophe! Steil, holperig, staubig, voller scharfkantiger Steine. Einen Platten nach dem anderen habe er sich eingehandelt und mit zuviel Gepäck reise er wahrscheinlich außerdem. Nun will er mit dem Bus nach Reykjavík und dort noch ein paar Tage bleiben, bevor es wieder zurück nach Hause geht. Während wir uns unterhalten, gesellt sich ein Pärchen zu uns an den Tisch. Er Schotte, die 60 gerade überschritten, sie Engländerin, etwa in meinem Alter. Beide strahlen. Látrabjarg? Ja, tolle Ecke. Auch sie kommen gerade mit dem Rad dorther. Hätten ebenfalls zwei Tage dort verbracht. Der Weg? Sicher, anstrengend, Platten war auch dabei, aber lohnt sich. Von Patreksfjörður aus will man weiter im Uhrzeigersinn die Westfjorde erkunden.
                                    Angelockt von diesen Worten wird ein Pärchen aus Kalifornien. Sie kämen aus der Gegenrichtung, mit dem Leihwagen. Die Westfjorde mit dem Fahrrad, da hätten sich die beiden aus der alten Welt ja was vorgenommen. Mit mehr als einem halben Ohr höre ich zu. Meine nächsten Ziele unterscheiden sich nicht von denen des englisch/schottische Pärchen. Rund um den Dynjandifoss nichts als matschige Straßen. Matschig und steil. Mit tiefen Schlaglöchern. Wären wohl gerade Ausbesserungsarbeiten an der Fahrbahn im Gange. Aber in Ísafjörður lohne eine Kajaktour mit Anja und Heyalur solle man sich nicht entgehen lassen. Schönes Gästehaus, gute Küche.
                                    So interessant und unterschiedlich die Aufzählungen klingen, läge nicht die Radlerkarte vor uns auf dem Tisch, ich fürchte, es drehte sich mir der Kopf. Dennoch, es ist eine muntere Runde. Als sie sich nach und nach auflöst sind es nur noch die Briten und ich, die übrig bleiben. Ein nettes Pärchen. Sandy und Caroline. Auch für sie ist es nicht die erste Radtour, wohl aber der erste Besuch Islands. Wie ich erfreuen sie sich an der kargen Schönheit der Natur und so hocken wir noch eine Weile zusammen, plaudern und spinnen Radlerlatein. Als auch wir einander eine gute Nacht wünschen und ich im Schlafsack liege, sind sie dann wieder da – Ortsnamen, Landschaften und Bilder vor meinem geistigen Auge, was da vor mir liegen könnte.

                                    Am nächsten Morgen steht für mich fest: ich will den Abstecher nach Látrabjarg wagen. Nicht mit dem Rad, anders. Ebenso anders ist an diesem Morgen die Rezeption des Campingplatzes besetzt. Hervorragende Möglichkeit also, das Bezahlen mit einem ersten Einholen von Erkundigungen zu verbinden. Die Isländerin hinter dem Schreibtisch ist hilfsbereit. Sie zeigt mir Fotos, den Weg auf der Karte und begräbt direkt eine Überlegung. Mit dem Bus nach Látrabjarg, dass könne ich vergessen. Nach Látrabjarg fährt kein Linienbus. Es gäbe aber private Veranstalter, die dorthin fahren. Das Telefon wird bemüht. Wenig später bin ich aufgeklärt – und desillusioniert. Was ich zu hören bekomme, lässt mich an meinem Entschluss zweifeln. 20.000 isländische Kronen koste die Tour. 140 Euro. Und mindestens eine zweite Person müsse sich finden, die bereit ist, den gleichen Preis zu zahlen. Dankend gebe ich zu verstehen, dass das Interesse damit erloschen ist. Doch aufs Rad? Auch nicht das, was ich mir vorstelle. Die Radlerkarte verzeichnet einige knackige Steigungen, zudem ist kein Rundkurs möglich. Siebzig Kilometer Stichstraße ist ebenfalls nicht das, was mich vom Hocker reißt, zumal mich der Spaß dann locker zwei Tage kosten würde. Bleibt an sich nur eine Alternative, die nicht ganz aussichtslos klingt: Hitch-Hiking, Trampen.
                                    Entsprechend melde ich mich bei der Rezeptionistin ab. Mit auf den Weg bekomme ich ihre Worte, damit die richtige Wahl getroffen zu haben. Und wenn es sich einrichten lässt, solle ich mir auch Rauðasandur anschauen. Ihr Finger zeigt dabei auf ein Bild an der Wand, das die Landschaft einer Fantasy Geschichte zeigt: die Luftaufnahme eines weitläufigen Sandstrandes, rotgelb bei tiefstehender Sonne glänzend und von Wasserläufen durchzogen.

                                    Wie üblich gekleidet begebe ich mich auf die Straße.
                                    Die gelbe Warnweste mit den reflektierenden Streifen über der schwarzen Windbreakerjacke, die nicht mehr gar so tiefschwarze Windbreakerhose über den Beinen, den gelben Rucksack mit ein wenig Tagesproviant auf den Schultern und, entsprechend des Tipps des englisch/schottischen Pärchens, den Fahrradhelm in den Händen. Übersehen sollte man mich zumindest nicht. Wie es um den Bonus Radlern gegenüber bestellt ist, bleibt abzuwarten. Im Fall blöder Kommentare muss die Kopfbedeckung argumentativ für das herhalten, wofür sie sich zweckentfremden lässt: als Regenschutz. Immerhin überspannt ein entsprechender neongelber Bezug die künstliche Schädeldecke.
                                    Outfit hin oder her, bereits eines der ersten Autos, die vorbei kommen, stoppt. Wo ich denn hin wolle? Látrabjarg. Dann könne man mir nicht helfen, falsche Richtung. Ich laufe ein Stück weiter. Hinter der nächsten Kreuzung hält der nächste Wagen. Am Steuer eine junge Dame. Waliserin. Die Richtung passt, das Fahrtziel nicht. Macht aber nichts, bringt mich immerhin schon mal ein Stück weiter. Das Mädel könnte vom Alter her meine Tochter sein. Ihr mp3-Player versorgt das Autoradio mit Musik aus der Konserve und ich erfahre, dass dies bereits ihr zweiter Island Urlaub ist. Sie übernachte in Hostels, klappere mit dem Leihwagen Sehenswürdigkeiten ab und empfindet die Kosten für Unterkunft und Verpflegung gar nicht so hoch wie ich. Liegt aber vielleicht daran, dass auch aus deutscher Sicht das Leben in England nicht gerade günstig ist. Über Schotter dahin rumpelnd erfahre ich zudem, dass die Piste, auf der es für mich aus eigener Kraft weiter gehen soll, „four times worse“ sei. Viermal schlimmer? Selbst dreimal oder doppelt so schlimm müsste nicht sein, doch was soll's. Werde mich überraschen lassen. Ändern kann ich es nicht. Nicht gerade ermutigend, zumal eine derartige Aussage innerhalb kürzester Zeit aus anderem Munde. Zunächst einmal aber sitze ich in einem Auto, und dann liegen immer noch gute 40 Kilometer Asphalt sowie etwa 900 Höhenmeter vor mir, auf denen ich mir einfallen lassen kann, wie ich die Strecke bis Þingeyri bewältige.
                                    An der nächsten Weggabelung sehe ich mich einstweilen einer anderen Herausforderung gegenüber gestellt – wer nimmt mich weiter mit? Die erste Mitnahme endet nämlich dort. Die junge Frau aus Wales zieht es weiter den Fjord entlang, mich die nächsten Hügel empor, zu den Klippen über dem Atlantik.
                                    Ich brauche jedoch nicht lange zu gehen, da hält jemand, der das gleiche Ziel hat wie ich. Eine Berlinerin in meinem Alter. Petra. Seit einem Tag erst ist sie auf der Insel, zwei Wochen lang soll sie dauern, ihre Island Premiere, und sie will sie auch sehen, die Papageitaucher, die Puffins. Der erste Versuch bei einem Aufenthalt auf der Insel Flatey am Vortag war nicht von Erfolg gekrönt. Sie setzte mit der gleichen Fähre über wie ich, verbrachte dann aber die Zeit bis zur Nachmittagsfähre auf dem Eiland, wo Felsen, auf denen die Vögel nisten, für Besucher gesperrt waren. Sieh an! Brauche ich meiner verpassten Fähre noch weniger hinterher trauern. Was mich jedoch nicht minder interessiert ist, was denn während des Aufenthalts auf Flatey aus ihrem Auto geworden ist. Petra lacht.
                                    „Ja, dass hat mich auch überrascht. Man hat mir einfach den Schlüssel abgenommen und das Auto nach der Passage von Bord gefahren, wo ich es am Abend wieder übernahm.“
                                    Hätte zwar mit dem Fahrrad genauso funktioniert, jedoch für mich ein anderes Problem aufgeworfen. Wie hätte ich meine Ausrüstung auf den Campingplatz bekommen? Doch was soll ich mir darüber den Kopf zerbrechen. Zwar bin ich mir sicher, auch darauf hätte es eine Antwort gegeben, aber es gibt nichts zu bereuen. Statt Flatey gesehen zu haben, sitze ich nun auf dem Beifahrersitz in Petras Leihwagen, gelange einen Hügel nach dem anderen rauf und runter, ohne ins Schwitzen zu geraten, poltere über eine unebene Schotterpiste, ohne mich zu ängstigen, dass der fahrbare Untersatz Schaden nehmen könnte und habe Unterhaltung während der Fahrt. Beneiden tue ich zwar Petra nicht, auf diese Weise Island kennen zu lernen, doch für den Moment ist es mir nicht unangenehm.

                                    Auf dem Parkplatz am Ende der Straße ist nicht viel los. Knapp ein Dutzend Autos stehen herum, an den beiden Gebäuden wird gearbeitet, der Himmel ist weiterhin stark bewölkt. Petras Angebot, mich auch zurück mitzunehmen, nehme ich gerne an. Muss ich Rucksack und Helm nicht die ganze Zeit mit mir herum schleppen, sondern kann die Sachen im Wagen lassen. Beide nur mit der Kamera bewaffnet folgen wir dem Trampelpfad zur Steilküste. Wie eine Seitenauslinie auf dem Fußballplatz ist dort auf der Wiese eine Markierung, die Besucher auf Distanz zu den Vögeln halten sollte. Oder geht es nur darum, übereifrige Fotografen vor einem all zu unbedarften Tritt über die Felskante zu schützen? Fragwürdig, aber egal. Ebenso wenig wie es die Leute daran hindert, den weißen Streifen zu überschreiten, stört es die Tiere. Zu hunderten nisten sie auf Vorsprüngen sowie in Erdlöchern und scheinen die ihnen entgegen gebrachte Aufmerksamkeit zu genießen. Mit geschwellter Brust und schräg gestelltem Kopf posieren sie vor den Linsen. Dass der Blick fragend ist, ob sie gut ins Bild kommen, ist möglicherweise jedoch eine Fehlinterpretation meinerseits. Immerhin, mit einigen Aufnahmen bin ich zufrieden, wenngleich spektakuläre wie ein Abflug oder eine Landung nicht gelingen. In der Stunde, in der ich ein ums andere Mal auf den Auslöser drücken, bekomme ich nicht heraus, was einen Start in die Lüfte verrät. Ist es ein Aufplustern, eine bestimmte Kopfbewegung, ein Geistesblitz? Auch wenn es natürlich ein schöner Schnappschuss wäre, unterm Strich ist es unwichtig. Bin ja nicht nur zum Fotografieren da sondern kann mich auch so daran erfreuen, wie diese eher fluguntüchtig erscheinenden Körper mit weißem Brustgefieder, schwarzem Rückenfederkleid, orangenem Schnabel und traurig dreinblickenden Kulleraugen sich flink durch die Luft bewegen.
                                    Ein paar Meter weiter gehört die Felswand Möwen und Tordalken. In einem günstigen Augenblick erhalte ich einen Blick auf das Gelege, als ein werdender Elternteil sich erhebt und die Flügel streckt. Stundenlanges Brüten scheint also auch kein wahres Zuckerschlecken zu sein. Obwohl die Kilometer langen Klippen zu ausgedehnteren Wanderungen einladen, weiter als nur einige hundert Meter treibt es an diesem trüben Freitag weder Petra noch mich. Gut zwei Stunden nach unserer Ankunft sitzen wir wieder im Auto. Während Petra mir von Fernreisen im sonnigen Süden berichtet, wird es im Wagen langsam wärmer. Zurück geht es auf der gleichen Piste wie hin. Vorbei an den gleichen Wasserfällen, den gleichen Sturzbächen, den gleichen Tälern. Alles sehr eindrucksvoll und archaisch, mit der Windschutzscheibe vor der Nase meines Erachtens jedoch weniger intensiv als per Rad. An einer Abzweigung beschließen wir, neue Wege zu erkunden. Nach einem Kilometer sind wir schlauer. So schön die Straße entlang des Hangs ist, so wenig ist sie für den nicht Allrad angetriebene Kleinwagen geeignet. Bei der nächsten Gabelung haben wir mehr Glück. Rauðasandur steht auf dem Wegweiser. Ich berichte Petra von der Empfehlung der Rezeptionistin des Campingplatzes.


                                    Látrabjarg


                                    Puffin


                                    Steilküste

                                    Eine knappe halbe Stunde später sind die zwölf Kilometer bewältigt und ein breiter, langgezogener Sandstrand liegt vor uns. Dass er von einem sich verästelnden Fluss durchzogen ist, wie auf dem Foto, auf das ich am Morgen blickte? Klar zu erkennen. Dass der Sand rotgelb leuchtet? Fehlanzeige. Bei den trüben Lichtverhältnissen wirkt er eher fahl. Trotzdem lockt uns die Landschaft noch einmal an die frische Luft. Über ausgetretene Wege stiefeln wir über Wiesen, ziehen die Köpfe ein, als wir von Seeschwalben attackiert werden, überqueren auf morschen Planken einen der Wasserläufe, dann stehen wir vor dem Feld zermahlener Muschelschalen, deren Färbung der Ort seinen Namen verdankt – roter Strand.


                                    Rauðasandur

                                    Dass mein Campingplatz in Patreksfjörður nahezu auf dem Weg zu Petras Hostel in Bíldudalur liegt bringt mich in den Genuss, quasi direkt vor der Haustür abgesetzt zu werden. Mit einer Tasse Kaffee bedanke ich mich für das Mitnehmen, die nette Unterhaltung und dafür, wie der Tag verlief. War ich morgens noch ganz ohne konkrete Vorstellungen gestartet, so sehe ich am Abend meine Island Reise bereichert durch eine ganz neue Erfahrung. So kann es gehen ...

                                    Kommentar


                                    • dirkpausk
                                      Anfänger im Forum
                                      • 04.02.2016
                                      • 44
                                      • Privat

                                      • Meine Reisen

                                      #19
                                      AW: [IS] Island 10 km/h

                                      Bíldudalur liegt gerade hinter mir, da hänge ich einmal mehr auf der Straße meinen Gedanken hinterher und genieße das Radeln zwischen Fjord und Berghängen. Die ersten zehn Kilometer sind unbeschwerlich. Unter mir Asphalt, weitestgehend ebene Strecke, kaum Wind, der Himmel aufgeklart. Ab dem Abzweig zu einer kleinen Landebahn für Flugzeuge wandelt sich der Straßenbelag. Es wird holpriger. Wenig später die nächste Abwechselung, wenngleich in ihrer Art und Weise schon nicht mehr ganz unbekannt. Die Schotterpiste führt an einer kleinen Bucht vorbei, die Seeschwalben zu gehören scheint. Mich halten sie für einen Eindringling in ihr Revier, den es zu vertreiben gilt. Sturzflüge mit meinem Kopf als Ziel werden geflogen. Mit dem Helm dort, wo er hin gehört, fühle ich mich auch waghalsigsten Angreifern gegenüber bestens gewappnet, doch die Verwegenheit der Tiere hat ihre Grenzen. Ebenso ist es mit der Treffgenauigkeit dessen, was sie fallen lassen. Von den Klecksereien des Federviehs bleibe ich verschont. Im Gegenzug muss ich jedoch ebenso darauf verzichten, einen sehenswerten Schnappschuss der Attacken einzufangen. Die Vögel sind einfach zu schnell für mich.
                                      Erfolgreicher ist der Druck auf den Auslöser zwei Kurven weiter. Nur unweit der Straße entdecke ich einen natürlichen Hot-Pot. Drei Leute sitzen in Badezeug zwischen den Steinen im Wasser. Platz genug wäre auch noch für eine vierte Person, doch nach einer Stunde Radelei, zumal bis dahin ohne größere Anstrengungen, ist es mir noch zu früh für eine ausgiebigere Pause. Also fragen, ob ich ein Foto machen dürfe, und weiter.


                                      Bíldudalur


                                      aufgeschreckte Seeschwalben


                                      natürlicher Hot-Pot

                                      Wenig später bin ich es, der als Motiv herhalten darf. Der Fahrer eines mir entgegenkommenden Wagens will wissen, ob er mich auf meinem für Island ungewöhnlichen Gefährt ablichten dürfe. Er darf. Revanchieren tut er sich dafür mit dem Hinweis, dass ich mich warm anziehen solle.
                                      „Hinter der nächsten Kurve kannst du dich auf einiges gefasst machen. Da geht es steil den Hang rauf und oben, auf dem Berg, weht ein zugiges Lüftchen.“
                                      Eine halbe Stunde später weiß ich, was der Mann meinte. Die Stellen in der Karte, die nicht gelb markiert sind, sind orange – sprich: dort, wo die Steigungen nicht zwischen sechs und zehn Prozent liegen, übersteigen sie diese. Dass zudem wieder die 500 am Wegesrand steht und ein mehr als frischer Wind weht, macht die Sache nicht leichter. Das Rad schieben? Mehrmals. Bei Schotter unter den Reifen und den steileren Passagen bergauf keine Überraschung mehr. Die Schlaglöcher? Unproblematisch, bei Geschwindigkeiten im Schneckentempo sind sie einfach zu umfahren. Quietschende Bremsen abwärts? Selten. Meist ist es der Wind, der auch auf Strecken mit Gefälle zur Geschwindigkeitsreduzierung beiträgt – er ist es eher, der pfeift. Dort wo eine kürzere Strecke Richtung Fähre einmündet, lege ich eine kurze Pause ein. Kräfte sammeln, Kalorien tanken, aufpassen, nicht zu erfrieren. Der Himmel strahlt zwar weiterhin blau, aber der Wind …


                                      irgendwo dazwischen geht es durch


                                      rauf und runter

                                      Dem ersten Pass folgt ein zweiter. Die Höhe ist die gleiche, der Anstieg enthält jedoch in der Karte keine orangefarbenen Stellen mehr, sondern nur noch gelbe. Zudem geht es dazwischen ausnahmsweise nicht runter bis an den Fjord, sondern lediglich hinab auf 300 Meter über dem Meeresspiegel. Wie ich den Scheitel erreiche? Ich weiß es nicht. Mechanische Bewegungsabläufe, angetrieben durch die grandiose Aussicht über den Meeresarm und Schnee bedeckte Gipfel, so weit das Auge reicht.
                                      Vollends die Sprache verschlägt es mir, als ich auf der abschließenden Talfahrt erneut auf etwa 300 Meter Höhe ankomme. Etwa acht Kilometer trennen mich noch von meinem Tagesziel. Der Boden wird wieder grüner und von überall her fließt Wasser. Aus Schneefeldern, aus Bächen, über Felsen – rings um mich herum sprudelt, rauscht und plätschert es, es bilden sich Pfützen und Seen, es fließt und strömt. Dass es keine Fata Morgana ist belegen die Fotos, die ich mache. Die Dynamik und Geräuschkulisse geben sie leider nicht wieder. In Gedanken ringe ich um Worte, doch was mich umgibt, erscheint mir unbeschreiblich. „Natur ist verschwenderisch“ ist ein Satz, der mir immer wieder durch den Kopf schießt. Von einem anderen ist es nur ein Fragment, das sich in mir fest beißt, ohne dass ich in der Lage wäre, daraus etwas Vollständiges zu formulieren, das ansatzweise ausdrückt, was ich empfinde. „Wenn Wasser Leben ist, dann …“ - tja, was dann - „… dann ist hier der Nabel der Welt?“ Klingt mir zu pathetisch, ist aber immerhin ein Versuch.
                                      Möglicherweise fehlen mir aber auch einfach nur die Worte, weil dieser Ort etwas hat, was meine fünf Sinne überfordert. Wie beschreibt man etwas, das sich nicht sehen, hören, riechen, schmecken oder anfassen lässt? Obwohl esoterisch ansonsten eher weniger angehaucht, ich habe das Gefühl, das, was vor mir liegt, hat eine Ausstrahlung. Energie, Inspiration, Lebenskraft – irgendwie so etwas. Ich bekomme es nur nicht zu fassen. Was ich hingegen spüre ist, dass mit einem Male Hunger, Erschöpfung und Müdigkeit wie weg geblasen sind, dass ich nicht verstehe, wie hier Autos vorüber fahren können ohne anzuhalten und dass etwas mit mir passiert.


                                      Dynjandisá


                                      Wasser ist - ja, was ???

                                      Ohne dass der emotionale Höhenflug endet, folge ich nach einiger Zeit dem Wasser Richtung Fjord. Anstatt über Felsen oder im freien Fall, weiterhin auf der Holperpiste – strömendes Nass stets an meiner Seite. Immer wieder bleibe ich stehen. Das, was mich umgibt, lässt mich nicht los – ich bin tief ergriffen. Verlassen von Raum und Zeit lande ich schließlich irgendwann dort, wo die rote Linie auf dem Navi endet. Ich hätte das Gerät ebenso ausschalten können, das Ziel wäre nicht zu verfehlen gewesen. Dann hätte ich allerdings auch keine Aufzeichnung der zurück gelegten Strecke und ich hätte mich möglicherweise fragen müssen, ob ich nicht alles nur träume. So aber habe ich neben Fotos einen weiteren Beleg, dass ich wirklich vor dem lande, das weder zu übersehen noch zu überhören ist – dem Dynjandifoss, dem tobenden Wasserfall. Aus über hundert Metern ergießt er sich über mehrere Kaskaden, fächert sich immer breiter auf, bis schließlich fünf tiefer gelegene Wasserfälle folgen, das Wasser sich wieder sammelt und in den Fjord abfließt. Dazwischen liegt die Straße, die auf einem staubigen Parkplatz endet, sowie eine Wiese, auf der gezeltet werden darf. Eine Anmeldung oder ein Besucherzentrum existieren nicht, lediglich eine kleine Holzhütte mit drei Toiletten, an deren Wand auf einem Zettel erbeten wird, 200 Kronen, also etwa 1,50 Euro, bei Benutzung zu hinterlassen. Daneben ein Kasten für das Geld, zwei Waschbecken und eine Wasserleitung. Dass sie nur kaltes Wasser führt? Irgendwie logisch. Nach Duschen und Stromanschlüssen braucht man nicht lange Ausschau zu halten – es gibt sie nicht.
                                      Um halb sieben kann ich mir den Platz für mein Zelt nahezu frei aussuchen. Zwei Österreicher, Vater und Sohn, haben eine der Tisch/Bank Kombinationen in der Nähe der Sanitäranlagen eingenommen, erst nach mir treffen noch eine handvoll weiterer Camper ein, die sich auf der Wiese verteilen. Für meine Unterkunft suche ich mir einen halbwegs windgeschützten Flecken vor einem Felsen. Das Plätzchen lauschig zu nennen wäre übertrieben, idyllisch ist es aber alle Male. Hinter mir die tosenden Wassermassen, vor mir der Fjord in der Abendsonne, deren Strahlen es erst um halb elf nicht mehr schaffen, den Bergrücken zu überwinden. Nur zwei Schritte entfernt ein Rinnsal in der Wiese, dem ich bedenkenlos das Wasser zum Kochen und Trinken entnehme.


                                      Dynjandifoss


                                      a place to be

                                      Unendlich glücklich und dankbar, derartiges erleben zu dürfen, schlafe ich ein. Dass der Wasserfall im Rücken seinem Namen alle Ehre macht, stört meine Nachtruhe nicht. Ganz im Gegenteil. Als ich am nächsten Morgen wach werde fühle ich mich entspannt wie selten zuvor. Verspüre eine tiefe innere Ruhe und Gelassenheit, Frieden in mir, habe den Eindruck, nichts könnte mich erschüttern. Zudem ein Gefühl, angekommen zu sein. Angekommen auf Island, auf meiner Reise, in meinem Leben? Ich weiß es nicht und es stört mich nicht. Was ich weiß ist, würde ich den letzten Atemzug machen, alles wäre in Ordnung, es wäre ein Moment, wie man ihn sich nur wünschen kann.
                                      Ein Blick um mich herum zeigt, ich scheine nicht der einzige zu sein, dem es so ergeht. Bei meinen österreichischen Nachbarn werkelt Sohnemann an Stativ und Kamera, während der ältere Herr gedankenverloren dem Wasser zusieht, das unermüdlich in die Tiefe donnert. Andere liegen verträumt auf der Wiese in der Sonne, manch einer alle Viere von sich gestreckt. Das bloße Sein wird genossen.
                                      Die einzige Frage, die sich mir stellt, ist, wie geht es weiter, wenn man angekommen ist? Abermals habe ich keine Ahnung. Was ich nur weiß ist, auch hier wird der Himmel nicht ewig strahlend blau sein, der Fjord nicht jeden Tag die Kulisse im Wasser spiegeln, es nicht immer so menschenleer sein. Entsprechend lasse ich mir zwar viel Zeit bei dem, was ich tue, mache es aber trotzdem. Das Gleiche wie jeden Tag. Frisch machen, frühstücken, Zelt abbauen, Taschen packen. Als alles am Rad verstaut ist, bummle ich noch ein wenig herum, kann mich noch nicht so richtig von dem Ort lösen. Laufe noch einmal ein paar Schritte den Hang hinauf, überlege wie es wäre, mir auch eine Angel zu kaufen und versuche erfolglos, die Gesetze der Physik zu ignorieren – auch bei noch so eindrucksvoll den Abhang hinunter stürzendem Wasser gelingen Fotos nicht, solange ein Planet im Hintergrund kräftig strahlt.

                                      Gemächlich angehen lasse ich es ebenfalls auf der Straße. Ich fahre selbst dort langsam, wo es schneller möglich wäre. Zwischendurch bleibe ich stehen, um ein paar Takte auf der Mundharmonika zu spielen, mit offenen Augen zu träumen oder einfach nur sentimentale Gedanken zu genießen in einer Umgebung, die weiterhin geprägt ist von Wasser, das mal talwärts plätschert, andere Male rauscht oder tost, im Fjord aber nahezu unbewegt scheint. Als ein paar Enten vor mir auf dem Ableger des Meeres Reißaus nehmen und dabei kaum abheben, sind es die kleinen Wellen, die sie mit ihren Flügelschlägen hinterlassen und in denen ich mich verliere. Bei dem untertauchenden Kopf einer Robbe oder eines Seehundes in Ufernähe verhält es sich nicht anders. Mehrfach bin ich so ergriffen, dass Tränen kullern. Schämen tue ich mich ihrer nicht.


                                      Arnarfjöður


                                      Seal

                                      Aus den Gedanken reißt mich einer der wenigen Wagen, die unterwegs sind. Auf mich zu kommend reduziert der Fahrer die Geschwindigkeit, Seitenfenster fahren herunter, Arme werden heraus gestreckt. Fäuste mit nach oben gerichteten Daumen zucken mir entgegen, darüber hinaus wildes Gejohle.
                                      „You're awesome! You're awesome! - Du bist großartig, du bist großartig!“, der Asiat hinter dem Steuer und seine drei Beifahrer sind ganz aus dem Häuschen. Ein wenig kann ich sie ja verstehen, die Verrückten, wenngleich ich weniger mich großartig finde als vielmehr das, was ich erleben darf, wobei das „Wie“ seinen Teil dazu beiträgt. Meine Antwort ist zwar nicht sonderlich geistreich, etwas besseres fällt mir jedoch auf die Schnelle nicht ein.
                                      „That's awesome … - Das ist großartig …“, dazu der Versuch, mit ausgestrecktem Zeigefinger und kreisender Hand auf all das zu deuten, was um mich herum existiert.
                                      Ein paar hundert Meter weiter dann erhalte ich Antworten auf nicht gestellte Fragen, Sätze, die meine Empfindungen erklären, Erleuchtung. Dort, wo die Straße vom Ufer abknickt und sich den Bergrücken empor zieht, steht eine Hinweistafel. Ein Bild zeigt den Ausläufer des Fjordes, links unten eine winkende Familie mit schnabeligen Gesichtern, rechts unten wie der Vorderkörper eines Hummers die Umrisse der Westfjorde, oben drüber mehrspaltiger Text sowie die Überschrift „Arnarfjöður“ – der Name des Meeresarms. Ich halte, lese und staune. Was dort schrieben steht, lässt mich fast laut losprusten. Der Fjord ist einer der größten und spektakulärsten Islands. Er ist umgeben von steilen Bergen und Tälern, welche starke und mystische Gefühle und Eindrücke hinterlassen. Berühmt ist er für die Schönheit der Landschaft, die schon Menschen inspirierte, die als renommierte Persönlichkeiten und Künstler bekannt wurden – ich verstehe und darf also hoffen …


                                      Antworten
                                      Zuletzt geändert von dirkpausk; 31.12.2017, 11:22.

                                      Kommentar


                                      • Sternenstaub
                                        Alter Hase
                                        • 14.03.2012
                                        • 3321
                                        • Privat

                                        • Meine Reisen

                                        #20
                                        AW: [IS] Island 10 km/h

                                        Danke für diesen wirklich guten und mit schönen Worten/Beschreibungen geschriebenen Bericht, ich freue mich, wenn es weiter geht!
                                        Da hat doch BlackT letztens schon in mir die sehr alte persönliche Sehnsucht nach Island nach 5 Jahrzehnten wieder geweckt und nun auch noch du. Vielleicht irgendwann...
                                        OT: vielleicht finde ich ja die alte Islandkarte wieder, die ich mir mit 13 Jahren gekauft habe.
                                        Two roads diverged in a wood, and I—
                                        I took the one less traveled by,
                                        And that has made all the difference (Robert Frost)

                                        Kommentar

                                        Lädt...
                                        X