[PK] Pakistan 2015 (1/2): Wintereinbruch im Hindukusch

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    [PK] Pakistan 2015 (1/2): Wintereinbruch im Hindukusch

    Tourentyp
    Lat
    Lon
    Mitreisende
    Land: Pakistan
    Reisezeit: September - November 2015
    Dauer: 8 Wochen, davon 25 Trekking-Tage

    Dieser Reisebericht schließt direkt an unsere Erzählungen aus Kirgistan an. Pakistan sollte in Sachen Wildnis und Abenteuer eigentlich der Höhepunkt dieser achtmonatigen Reise werden, leider war es dazu einfach schon zu spät; der Sommer neigte sich bereits dem Ende zu.

    Sofia hat sich wieder bereit erklärt, die Schreiberei zu übernehmen. Nur Fotos, Bildunterschriften und entsprechend gekennzeichnete Kommentare sind von mir.



    Naltar Lake, 2. Tag auf Tour


    Mittagspause in der Nähe einiger Berghütten, die im Sommer von Schäfern bewohnt werden. Als wir vorbeikamen, waren sie bereits leer.


    Dieser Mann hat uns Birnen gebracht, als wir in der Nähe seines Dorfes das Zelt aufschlugen.


    Nahe eines unbenannten Passes auf 4.300 m.


    Früher Wintereinbruch im Hindukusch – das Wetter hat uns nicht gerade geschont.


    Der Hausvater einer Hirtenfamilie, bei der wir eingeladen waren.

    Pünktlich um 6:15 piepst Gabriels Uhr schrill um los, ohne zu wissen, dass wir beide schon längst wach sind. Die Anspannung bringt die eiskalte Zeltluft beinahe zum Beben. Langsam drehe ich mich nach links, da ragen Gabriels rote Nase und ein paar Bartstoppeln aus der riesigen Daunenraupe. Noch sagt niemand ein Wort, obwohl die Gedanken in meinem Kopf rasen. Ein paar Mal versuche ich anzusetzen, doch die gefürchtete Ausweglosigkeit raubt mir die Worte. Trotz der Kälte fühlt sich mein Gesicht ganz heiß an. Erst mal tief durchatmen. Dann nochmal von vorn: Wir sind gestern Nachmittag trotz leichtem Schneefall etwa 600 m über großes, loses Geröll aufgestiegen. Weitere 300 Höhenmeter und zwei, vielleicht drei Kilometer trennen uns vom Pass in das nächste Tal. Der Zeltplatz ist sicher und an einem kleinen Bach. Das Problem: Es hat seit 16 Stunden nicht aufgehört zu schneien. Der Bach ist zugefroren. Jacken und Schuhe von gestern klitschnass, steif, gefroren. Weiter Aufsteigen wäre leichtsinnig; wir kennen das Gelände nicht und haben praktisch keine Sicht. Der Neuschnee könnte eventuelle Spalten verbergen; da hoch, obwohl es nicht weit ist, puh, verdammt gefährlich. Aber was ist die Alternative – der Abstieg? Wenn sich auf der Geröllhalde in dem weißen Dickicht auch nur ein Brocken löst, bin ich begraben. Auf den Steinen zwischen 10 und 30 cm Neuschnee; nur einmal in ein Loch treten, und stecken bleiben… Von Absturz bis Steinlawine ist alles möglich. Durchatmen. Langsam. Der einzige klare Gedanke, den ich fassen kann, dreht sich um den Notfall-Messenger. Wie kommen wir hier jemals wieder raus?

    Ich sollte vielleicht doch mal von vorne anfangen…

    19. September – 06. Oktober: An- und Weiterreise, Tourvorbereitung

    [Bishkek – Delhi – Amritsar – Lahore – Rawalpindi, Islamabad – Karimabad – Gilgit – Karimabad, Hunza]

    Die vorangegangene Reise-Etappe (Kirgistan: 27 Tage Trekking im Tien Shan) endet am 19. September 2015 in Bishkek. Von dort fliegen wir nach Delhi; wir waren beide schon mal da und der kurze Aufenthalt in Indien dient diesmal einzig und allein der Weiterreise nach Pakistan. Es ist uns ein großes Anliegen, weitestgehend auf Flüge zu verzichten und über Land zu reisen. Wir haben mit den Optionen gespielt, von Kirgistan bzw. Tadschikistan über China (Kaschgar) nach Nordindien oder Pakistan einzureisen und uns diesmal leider aufgrund visatechnischer, bürokratischer und finanzieller Hindernisse letztendlich für den Flug entschieden.

    Anmerkung Libertist: Wen das genauer interessiert, kann hier noch mal nachfragen. Grundsätzlich ist es jedenfalls möglich, von Kirgistan über China nach Pakistan einzureisen.

    Nun gut, angekommen in Delhi sind wir in ziemlicher Feierlaune. Wir sitzen auf dem Balkon eines kleinen Restaurants, mitten in der 17-Millionen-Menschen-Stadt und können es kaum fassen, dass wir vor zwei Tagen noch in den Bergen des Tien Shan umhergetrekkt sind. Ein bisschen Erholung darf sein, doch es soll auch schnell weitergehen – Gabriel hat große Pläne für das Karakorum und die Zeit läuft: Es ist Ende September, die Trekkingsaison neigt sich eigentlich schon dem Ende zu und der Winter wird nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen. Natürlich passiert nach einem Tag in Indien, was passieren muss: der Delhi-Belly. Da essen wir einmal was anderes als unseren Trekkingfraß… Na gut, dann bleiben wir doch drei Nächte und genießen im Bett liegend und aufs Klo laufend die indische Atmosphäre. Am 22. September schaffen wir es bis zum Bahnhof und mit größten Mühen schließlich auch in den Zug. Noch nie in meinem Leben war es so kompliziert, ein Ticket zu kaufen und zur richtigen Zeit, im richtigen Zug, die richtige Sitzbank zu finden, wie hier in Delhi. Aber auch das sei irgendwie vollbracht und mit nur 7 Stunden Verspätung kommen wir schließlich in Amritsar an.

    Die Sehenswürdigkeit Amritsars schlechthin ist der Goldene Tempel, das Mekka der Sikh. Nachdem sich mein Darm noch nicht dazu aufraffen konnte, Essen wieder normal zu verdauen, müssen wir uns mit einem kurzen Spaziergang zufrieden geben und verschieben die obligatorische Fotografiererei auf die Rückreise (Fotobericht dazu folgt).

    Am Morgen des 23. September verlassen wir Indien schon wieder und reisen über die Landesgrenze ‚Wagah Border‘ in Pakistan ein. Hier wird nicht einfach ein Tor geöffnet und geschlossen; an diesem Grenzüberganz findet jeden Nachmittag ein Spektakel sondergleichen statt. Das indische und pakistanische Militär verabschieden sich tagtäglich mit Posaunen und Trompeten, im Hintergrund dröhnen die Nationalhymnen total übersteuert aus den Lautsprechern. Während auf der indischen Seite über Tausend Menschen klatschen und jubeln, sind es auf der pakistanischen unter 100, darunter wir beide, die natürlich für Aufsehen sorgen. Wir werden nicht bloß vom pakistanischen Militär im Land willkommen geheißen - gleich nach der Grenzzeremonie umzingeln uns viele lachende Gesichter und wollen Selfies mit uns schießen.













    Alles fühlt sich gleich ganz anders an. Hinten auf dem Pick-Up, mit dem wir von der Grenze in der Abenddämmerung in die Stadt Lahore fahren, beobachten wir das rege Treiben auf den Straßen. Umso näher wir nach Lahore kommen, desto mehr knatternde alte Honda-Maschinen drängen sich um uns; die lachenden Gesichter der jungen Männer, die uns entdecken, werden von den Rücklichtern rot erleuchtet. Im Stau steckend komm‘ ich mir ein bisschen wie ein Zootier vor, das von allen Seiten begafft wird, als plötzlich ein riesiger Kopf in meinem Blickfeld auftaucht: Da kreuzen tatsächlich drei Kamele die Straße! Nach etwa fünf Stunden in diesem Land bin ich bereits hin und weg. Wir checken in einem der beiden Backpacker-Hostel der Millionenstadt ein und haben gerade noch genug Kraft, um uns über die zwei geschmückten und bemalten Ziegen auf der Dachterrasse vor unserem Zimmer zu wundern, bevor wir erledigt in die Betten fallen. So, jetzt erstmal richtig krank sein, denkt sich mein Körper. Schon lange nicht mehr habe ich mich so elend gefühlt, wie in den nächsten drei Tagen.






    Weder Gesundheit, noch Psyche fühlen sich besser, als ich eines Morgens die Türe öffne und aufs Klo laufen will: Liegt da vor mir die hübsche Ziege, röchelt noch ein letztes Mal und bildet eine langsam immer größer werdende rote Lacke. Die zweite hängt schon, gleich rechts von mir, beziehungsweise das, was von dem Tier ohne Fell und Innereien übergeblieben ist. Der blutbespritzte Schlachter lacht mich an und der Hostelbesitzer klatscht in die Hände.

    Eid Ul-Adha, das viertägige Opferfest und damit der Höhepunkt des islamischen Jahreskreises wird gefeiert. Wer es sich leisten kann, schlachtet vor oder im eigenen Haus ein Ziege, einen Hammel oder ein Kamel; das erklärt auch den Kamel-Verkehr auf der Autobahn und die leider nicht allzu wohlriechenden Innereien auf der Straße bei 40 Grad Außentemperatur…. Auch als manchmal-Fleisch-Esserin wird mir bei dem Anblick der ausblutenden Kadaver, die vor unserem Schlafzimmer hängen, etwas anders und ich bin sehr dankbar, dass mir die Ärztin gestern eine Joghurt-Bananen-Diät verordnet hat.




    Als wir am 26. September von Lahore nach Rawalpindi (Nachbarstadt von Islamabad) fahren, stellen wir zum ersten Mal fest, dass es in diesem Land Hotels gibt, denen es untersagt ist, Tourist_innen zu beherbergen. Bis wir da was finden, dauert es eine ganze Weile. Wir wollen uns aber gar nicht lange aufhalten und setzen unsere Reise am nächsten Tag fort. Während des Wartens auf den Bus in den hohen Norden machen wir uns auf die Suche nach einem Restaurant und nehmen dabei dankend die Hilfe eines jungen Mannes namens Zeeshan an. In perfektem Englisch begleitet er uns, setzt sich zu uns (ohne selbst zu essen) und besteht darauf, für uns zu zahlen. Gegenwehr ist vergebens und so nehmen wir dankend an, während er von seinem Elternhaus im südlichen Punjab erzählt und uns dorthin einlädt. Wir erklären, dass wir wegen der Berge hier sind und er meint nur, wir sollen per Facebook in Kontakt bleiben und ihn unbedingt später besuchen, wenn es uns im Norden zu kalt wird und wir uns entspannen wollen. Das Angebot klingt sehr verlockend und wir versprechen ein Wiedersehen. Zeeshan besteht darauf, uns zurück zum Bus zu bringen, hilft uns bei der Suche nach einem Copy-Shop für Pässe und Visum und kauft uns scheinbar selbstverständlich noch Wasserflaschen und Snacks. Überwältigt von so viel Zuvorkommenheit (von der wir in den nächsten Wochen noch einiges mehr erleben werden) sitzen wir glücklich im Bus; da geht die 27-stündige Fahrt auch schon los. Schnell freunden wir uns mit unseren Sitznachbarn an, so vergeht die Zeit eigentlich ganz schnell. Obwohl es hinten im Bus rumpelt und bumpelt ohne Ende – die Aussicht vom Karakorum Highway auf Berge und Täler ist unbezahlbar. Am Abend des 28. September kommen wir an, suchen uns ein Zimmer und machen uns mit unseren Buskumpeln auf die Suche nach Essbarem.

    Nachdem alle Restaurants geschlossen scheinen, wird kurzerhand die Küche eines kleinen Standes übernommen und scheinbar selbstverständlich selbst gekocht. Zusätzlich zu Ei-Curry vermitteln uns die Männer einen Freund, der uns wohl bei unserer Planung helfen könnte. Sein Name ist Shakir und er wiederum führt uns zu Tour-Organisationen und Guides, und bemüht sich sehr, uns bestmöglich zu unterstützen.







    Außerdem lädt Shakir uns am folgenden Wochenende kurzerhand zur Hochzeit seiner Cousine ein (In Pakistan werden alle näher oder fernere Verwandten im ungefähr gleichen Alter als Cousinen und Cousins bezeichnet; nachdem diese auch untereinander heiraten, kommt jede_r auf gefühlte 500 Stück. ). Ich war noch nie zuvor auf einer muslimischen Hochzeit und habe alle Bräuche und Rituale sehr interessiert mitverfolgt. Zu all den zwischenmenschlichen Begebenheiten, sowie kulturell-traditionell-religiösen Erfahrungen könnte ich viiiiieeel mehr schreiben, doch da dies ein Outdoorforum ist und der Bericht sonst zu lang werden würde, versuche ich mich diesbezüglich kurz zu fassen. Es wird also gefeiert, getanzt und gelacht und wir genießen das Spektakel.





    Sofia tanzt mit unserem neuen Freund namens Sharif, der das sichtlich genießt...





    Während sich die Eltern für die Braut freuen, hat diese noch kaum eine Vorstellung davon, was sie in den kommenden Tagen und Wochen erwartet. Wie alle Eheschließungen in Pakistan war auch diese von den Eltern arrangiert. Sofia hatte Gelegenheit, mit der jungen Frau zu sprechen: die Braut vertraut ihren Eltern, bedauert aber trotzdem, ab dem nächsten Tag ganz woanders zu leben, weit weg von ihrer Familie.


    Der Hochzeitsvorsteher.

    Zurück in Karimabad verbringen wir die nächste Woche damit, unsere Wunschtour zu planen. Gabriel kam mit zwei Ideen: Der etwa 16-tägige Snow Lake -Trek und die anschließende 14-tägige Gondogoro La – Passquerung über Concordia, vorbei am K2-Basecamp. Schnell kam uns zu Ohren, dass der zuletzt genannte Pass in diesem Jahr vom Militär gesperrt ist und keine einzige Reisegruppe diese Tour durchgeführt habe. Also mussten wir diesen Plan fürs erste aufgeben, na sagen wir lieber, aufschieben. *bg*

    Bleibt der Versuch der Organisation der Snow Lake -Tour (auch Hispar-La genannt), mit der wir uns über eine Woche beschäftigt und bestimmt mit über 20 Guides, Porter und Tour-Agenturen diskutiert haben. Natürlich wollen wir alleine gehen, also zu zweit, brauchen aber ein paar Meinungen zur aktuellen Schneelage da oben. Im Ergebnis sind sich alle einig: Wir sind zu spät dran, es ist zu kalt und es liegt zu viel Schnee. Außerdem scheint unsere Frage sehr unverständlich, da scheinbar niemand im Karakorum Touren ohne entsprechendes Team unternimmt (mindestens 2 Guides und 8 Träger pro Kopf (!) wurden uns durchschnittlich geraten). Dazu kommt, dass ich mir nach den letzten Gletscherabenteuern in Kirgistan und der Erinnerung an die kalten Füße für die 16 Tage am Gletscher im Karakorum nicht ganz sicher bin. Ein paar Tage lang versuchen wir andere trekkingbegeisterte Reisende zu finden, doch die Saison ist vorbei und niemand mehr da. So überlegen wir sogar, ob wir einen Guide bezahlen wollen, doch denen ist es allen zu spät bzw. die wenigen vorgeschlagenen Preise wirken wie zur Abschreckung gedachte Wucher. Eine gute Entscheidung zu fällen, ist alles andere als einfach, doch die Zeit drängt und die Ratio siegt: Mithilfe des 66-jährigen Mannes Shabbir, der seit 28 Jahren als Hirte, Guide und Träger in den Bergen Nordpakistans unterwegs ist, planen wir eine knapp vierwöchige Tour im Hindukusch: Sie soll ca. 400 Kilometer, über 5 Pässe und durch mehrere besiedelte Täler führen, wo wir unsere Nahrungsvorräte immer wieder neu auftanken können. Angeblich beginnt der Winter im Hundukusch etwas später als im Karakorum. Die geplante Route wäre folgende:
    Naltar Tal – Pakhora Pass – Ishkoman Tal – Asumber Pass – Yasin Tal – Thui Pass – Yarkun Tal (Chitral District) – Borochol – Kurumber Lake Pass – Chilinj Pass –– Chapursam Tal (Sost)

    Also wird eingekauft, SPOT aktualisiert, Akkus geladen, zusammengepackt und dann geht’s los.

    07. – 13. Oktober Etappe 1: Vom Naltar-Tal ins Ishkoman-Tal über den Pakhora Pass

    [Hunza – Naltar – Pakhora Pass – Chatorkhand (Ishkoman Valley)]

    Endlich wieder auf Tour! Der erste Tag besteht eigentlich fast nur aus der Anreise von Karimabad über Aliabad und Nomal nach Naltar. Dort schlagen wir am frühen Nachmittag unser Zelt im Garten des „Palace Hotel“ auf. Weil dieses Hotel dem Cousin eines Mannes gehört, den Gabriel auf der Hochzeit kennengelernt hat, dürfen wir auch darin das Badezimmer und die Küche benutzen. Doch am liebsten sind wir im Zelt; voller Vorfreude für die kommende Tour schlafe ich zum Geräusch des prasselnden Regen ein.

    Am nächsten Tag starten wir mit vollen Rucksäcken auf 2.820 m Richtung Pass. Die ersten Kilometer des Anstiegs laufen wir auf gutem Weg durch den herbstlich bunt gefärbten Mischwald. Das Highlight des Tages ist der in den Farben aller Hundert Wasser schillernde Naltar See. Umrahmt von den gefallenen gelben Birkenblättern, zwischen denen kleine schwarz-weiße Ziegen grasen, glitzert er in allen erdenkbaren Grün- und Blautönen in der Sonne.
















    Bei den Begegnungen mit Locals fühle ich mich stets ein bisschen wie ein Alien – die Kommunikation besteht hauptsächlich aus Anstarren und wilden Gesten, die ich beim besten Willen nicht interpretieren kann. In der Annahme, die Menschen sind freundlich gesinnt, nähere ich mich immer mit einem Lächeln und einem „Asalaam Aleikum!“, manchmal auch Nüsse, Schokoriegel und getrocknete Früchte anbietend. Das klappt meist ganz gut, aber die zwei Hirtenjungen, die unser Zelt am zweiten Morgen bei Sonnenaufgang entdecken, verstehen meine Bitte nicht ganz, ihr Glotzen zumindest zu unterbrechen, während ich mich umziehe. Da hilf auch Gabriels Pantomime-Talent nicht weiter.

    Gegen 11 Uhr sollen wir laut Karte an den Fuß des weißen Gletschers kommen. Leider nein! Vor uns liegt nur eine furchtbar fein-geröllige Endmoräne. Anfangs motiviert, habe ich schnell das Gefühl, bei jedem Schritt 100 kcal zu verbrauchen und zwei Schritte zurück zu rutschen. Nicht mal Hunger und Durst können von den Muskelschmerzen ablenken, während sich ein eiskalter Wind mit knallender Sonnenhitze abwechselt. Es hat nur einen Tag gedauert und schon fühle ich mich am Limit, bin der Verzweiflung nahe. Mehr schlecht als recht schaffen wir es irgendwie, die Moräne zu queren und auf einen kleinen Vieh-Pfad an deren Rand zu flüchten. Bis der Untergrund eben genug zum Zelten ist, vergehen noch ein paar Stunden und zum Abendessen wird der Beschluss gefasst, uns für den Aufstieg noch einen weiteren Tag Zeit zu lassen. Außerdem treffen wir eine weitere (wie sich später herausstellt, sehr gute) Entscheidung: Obwohl uns die Sowjetkarte von 1981 den Weg über den Gletscher geradeaus anzeigt, wollen wir in das Nebental biegen und den benachbarten Gletscher wählen, dessen Anstieg zumindest von hier unten machbar aussieht.




























    An Tag 4 haben wir also nur 600 Höhenmeter bis auf das Plateau kurz vor dem Pass vor. Hier finden wir bereits am frühen Nachmittag einen super Zeltplatz, bloß 400 Höhenmeter und einen Kilometer vom Pass entfernt. Rund um uns von fern bis nah: vergletscherte Bergspitzen, gelb gefärbtes Gebüsch, riesig-flauschige Yaks – das Panorama ist unfassbar schön.
















    Tag 5 ist Passtag! Um 8:00 Uhr stapfen wir schon los; nur 1,5 Stunden später stehen wir auf 4.650 m und genießen das Weiß-Blau des Gletscherpanoramas. So ‚einfach‘ und gut der Aufstieg ging, desto mühsamer, schwieriger und gefährlicher gestaltet sich der Abstieg. Den verschneiten Abhang des Passes laufen wir schnell nach unten, doch dann taucht vor uns wie aus dem Nichts ein riesiger Eisbruch auf – wir müssen das gesamte Gletschermassiv und Spalten über Spalten queren. Der brave Libertist darf mal wieder tüchtig vorausstochern. Hin und wieder taucht ein kleines oder größeres Steinmännchen auf, doch ich kann beim besten Willen keine stringente Linie entdecken. Mich beschleicht das Gefühl, die scheinen total willkürlich aufgebaut worden zu sein. Auch die beiden Mittelmoränen sind uns nicht ganz geheuer und so schlagen wir uns letztendlich ganz nach Süden auf den Geröllrand durch. Geschafft? Zu früh gefreut! Hier geht’s hoch und runter - zwischen losen Geröllbrocken, unter Neuschnee begrabenen rutschigen Grasbüscheln und Felshängen kämpfen wir uns im Schneeschneckentempo nach unten. Immer wieder versinke ich bis übers Knie im Pulverschnee und scheine dabei nicht die Einzige zu sein. Die Ohren nach schönen Naturgeräuschen spitzend, vernehme ich ganz nah ein lautes liebliches Fluchen.



















    Bis zum Ende der Schneegrenze sehe ich gelegentlich Tierspuren im Schnee, die wie große Tatzen einer Wildkatze aussehen und sehe mich neugierig um, doch nichts zu sehen. Schneegrenze erreicht, doch es geht steil weiter nach unten – hin und wieder im Flussbett des Gletscherabflusses, links und rechts Eis, dann wieder über die Moräne. Endlich haben wir es an das Ende des Gletschers geschafft, doch das Tal bleibt schluchtig. Während wir schon wieder in den Wald kommen, entfernt sich das Flussrauschen und ohne Wasser wollen wir auch nicht zelten. Also weiterlaufen, bis schließlich die Dämmerung hereinbricht. Erschöpft steigen wir wieder zum Flussbett hinab und schaffen es, um 17:30 das Zelt aufzuschlagen (um 18:00 Uhr ist es stockfinster). Total k.o. lasse ich mich heute bekochen, putze im Halbschlaf Zähne und sinke erledigt, aber glücklich auf meine Luftmatratze.













    An Tag 6 schlafen wir wohlverdient bis halb 9 Uhr (!) aus und machen uns dann weiter an den stets schluchtig-steilen Abstieg. Einige Male ist der Weg, der den Hang entlang führt, durch große Risse unterbrochen, die uns wieder und wieder zum Abstieg und Hochklettern zwingen. Das ist nicht nur für Körper und Konzentration sehr anstrengend, sondern durch die rutschig-losen Erdhänge mehrmals brenzlig. Leider ist das Tal so schluchtig, dass wir im Flussbett nicht gehen können und immer wieder hoch an den Hang müssen, solange er intakt ist. Durch das ganze Hoch und Nieder schaffen wir in fünf Stunden Laufen gerade mal 3-Luftlinien-Kilometer. Dafür erblicken wir am Nachmittag auf der anderen Flussseite auf einem kleinen Wiesenplateau das idyllische kleine Dorfparadies mit dem klingenden Namen Guru. Über eine winzige Brücke staksen wir hinüber und werden von vielen netten Gesichtern begrüßt. Ein älterer Herr zeigt uns, wo wir unser Zelt aufschlagen dürfen und lädt uns in seine kleine Hütte auf – zu Gabriels riesigem Vergnügen – salzigen Chai ein.

    Anmerkung Libertist: Ich hasse Tee mit Salz. Und ich habe kein Verständnis dafür, wie man diese Kombination mögen kann.

    Unsere pakistanische Zeichensprache macht Fortschritte! Erfreut über den ersten kleinen Erfolg der langen Tour genießen wir einen ruhigen Abend.
















    Entlang der anderen Flussseite stehen am nächsten Tag 1.200 Höhenmeter Abstieg mit etwa 5 Stunden Fußmarsch über den steilen, schmalen Pfad am Hang bis in das Dörfchen Pakhora an. Doch zuvor heißt es nach dem delikaten Müslifraß-Frühstück erstmal eine passende Naturtoilette suchen, was gar nicht so einfach ist, mit den neugierigen Blicken der gesamten Dorfgemeinschaft im Rücken…













    Der Tag geht für mich so schlecht weiter, wie er begonnen hat. Nach ‚nur‘ einer Woche Trekking fühlt es sich schon so an, als würde mir die Zeltdecke auf den Kopf fallen, obwohl gerade mal ein Viertel der geplanten Tour geschafft ist… Mit grübelnd-unglücklichen Gesicht stolpere ich den schluchtigen Sandweg nach unten und ärgere mich über mich selbst. Da ist Diskussion vorprogrammiert, wird jedoch erstmal auf das Ankommen abends vertagt.

    Als wir nachmittags in der Siedlung namens Pakhora eintrudeln und die ersten Häuser entdecken, landen wir durch einen weiteren Zufall bei einer großen Familienzusammenkunft und bekommen Tee und Kekse serviert. Eigentlich sind das keine Zufälle - sobald wir in halbwegs besiedelten Gebieten unterwegs sind, können wir uns vor Chai-Einladungen kaum retten und müssen regelmäßig mal ablehnen. Gastfreundschaft hat in dieser Kultur einen unheimlich großen Stellenwert, immerhin gelten Gäste auch als ein Geschenk Allahs. Eine freundliche junge Frau erklärt uns, wie wir von hier in den nächstgrößeren Ort Chatorkhand kommen, wo es Geschäfte und eine Übernachtungsmöglichkeit gibt. Im Guesthouse eingecheckt wird Wäsche gewaschen, Essensnachschub gekauft, Gabriels Bart gestutzt, warm geduscht und beim Abendbrot schließlich über meine (fehlende) Motivation und die Fortsetzung unserer Tour diskutiert.

    Outcome: Wir wollen unsere Route abkürzen und statt dem geplanten Asumber-Pass über den Utter Lake ins Yasin Tal gelangen, von dort über den Darkhot Pass in das Chitral Tal und so etwa 5 Tage früher als geplant zurück in Karimabad sein.













    Zuletzt geändert von Libertist; 07.05.2016, 14:01.
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    #2
    AW: 2015 Pakistan (1/2): Wintereinbruch im Hindukusch

    14. – 21. Oktober Etappe 2: Vom Ishkoman-Tal ins Yasin-Tal

    [Plan: Chatorkhand – Ishkoman Kote – Marok Mushk – Utter Lake – Pass – Yasin-Tal]

    Am nächsten Vormittag brechen wir auf und fahren mit dem öffentlichen Taxi-Van das Ishkoman Tal hoch bis zu dem Ort Ishkoman Kote. Nach anfänglichen Schwierigkeiten auf der Suche nach einem Schlafplatz werden wir schließlich von Bulbul, dem Direktor und Englischlehrer der Grundschule, in sein Gästezimmer eingeladen, umsorgt und bekocht. Wie wir auch in den nächsten zwei Monaten in diesem Land noch erleben, sind die Pakistanis sehr gastfreundliche, hilfsbereite, neugierige und interessierte Menschen. Sie empfinden es als eine Ehre, uns als Gäste zu haben und wir genießen die langen Gespräche über Kultur, Tradition, Religion und Unterschiede europäischen Ländern und Pakistan sehr. Auch Bulbul stellt sehr interessante Fragen und im Zuge einer gemeinsamen Reflexion zum Thema Bildung lädt er uns für den nächsten Morgen ein, die „Government Primary School Chashmadas Ishkoman“ zu besuchen.

    Die Erfahrung am nächsten Tag ist eine besonders außergewöhnliche für mich: So viele neugierige Blicke sind auf uns gebannt, Kinderlachen und Aufregung wohin die Augen schweifen, während Lernmotivation und Tatendrang beinahe greifbar in der Luft liegen. Anders als ich es aus österreichischen Volkschulen kenne, hatte ich den Eindruck, dass die Schüler_innen das Lernen total ernst nehmen, am Heimweg üben, was sie gelernt haben und sich stets verbessern wollen. Es hat mich sehr berührt, diese hochmotivierten Kinder kennenzulernen. Ich drück ihnen die Daumen, die Zukunft und ihr Land zu verändern und versuche, ein wenig von der kribbelnden Euphorie mitzunehmen.










    Um 10 Uhr brechen wir auf und laufen über Ishkoman Kote nach Ghotolti, wo der mit Motorrädern befahrbare Weg endet und es über einen steilen Viehpfad das Tal weiter nach oben geht. Unser Tagesziel ist die kleine, wunderbar idyllische Hirtensiedlung namens Marok-Mushk. Unter herbstlich bunt gefärbten Bäumen tummeln sich einige Kinder und Frauen, als wir unser Zelt aufschlagen wollen. Lachende und freundliche Gesichter nehmen uns unter die Lupe, alsbald folgt eine Chai-Einladung der nächsten. In den Sommermonaten sind maximal 30 Personen da oben, die sich um Schafe, Ziegen und Rinder kümmern; die Tipi-ähnlichen Hütten werden im nahenden Winter verlassen und stehen während der langen Schneemonate leer. Eine weitere spannende Bergdorferfahrung reicher legen wir uns in der Hoffnung schlafen, dass die Ziegen nachts nicht über die Zeltleinen stolpern mögen.































    An Tag 10 geht es weiter hoch, die Viehpfade machen das Gehen durch die Wälder und über die herbstlichen Wiesen angenehm einfach. Einziges Hindernis ist der schwere Rucksack, aber mit ausreichend Schoko-Riegeln ist das aktuell gar nicht so schlimm. Am frühen Abend schlagen wir das Zelt neben ähnlichen Hüttchen wie gestern auf, doch diesmal sind alle schon verlassen und die Siedlung wirkt ausgestorben. Als es abends leicht zu regnen beginnt, beschließen wir in einem der Tipis ein kleines Lagerfeuer anzufachen und dort unser Abendessen zu genießen.



















    Am nächsten Morgen ist das Zelt durch den Schneeregen der Nacht und vom morgendlichen Frost unterstützt steinhart und mit kleinen weißen Kristallen überzogen. Sobald die freundlichen Strahlen der Sonne die Luft erwärmen, schütteln wir die rote Bude kräftig durch und können mit halbwegs trockener Plane losziehen. Jetzt sind die Berghänge ringsum leicht angezuckert und bilden zu dem gelben Tal einen noch schöneren Kontrast. Nachmittags kommen wir am Utter See an und verbringen den Abend mit Langzeitbelichtungen am Wasser.
















    Erste Phase des folgenden Tages ist die Gletscherseetraverse über den Steinhang, hin und wieder begleitet von kleinen Steinmännchen und unterbrochen von Fotopausen, in denen wir das glasklare Wasser unter dem wolkenbedeckten Himmel festhalten. Es ist kühl und ein leichter Wind weht. Der Weg ist kniffliger als gedacht; das Geröll rutschig und lose und es dauert länger als erwartet, bis wir auf der anderen Seite landen.

    Pünktlich zu Beginn von Phase Zwei, als wir uns um die Mittagszeit an den Aufstieg Richtung Utter-See-Pass machen, wird der Wind stärker, der Himmel zieht zu und es beginnt leicht zu schneien. Synchrones Seufzen. Gehen oder bleiben? Nach einer kurzen Überlegung wird beschlossen, den Steilhang noch hochzuklettern, sodass wir morgen nur eine kurze Etappe über den Pass haben. Von hier sieht der vor uns liegende Hang schon recht schwierig aus, aber was kann uns das bisschen Schnee schon anhaben?










    Schnell stellt sich jedoch heraus, dass das Flussbett nicht wie angedacht begehbar ist; außerdem sind links und rechts davon ein paar extrem steile Passagen, welche die ohnehin schon anspruchsvolle Kletterei verkomplizieren. Als ich meine, endlich die Kuppe zu sehen und denke, wir haben es schon fast geschafft, offenbart sich erst die größte Schwierigkeit: Vielleicht fünfhundert Meter Luftlinie bis zum Hochplateau besteht der restliche Hang bloß aus Medizinballgroßen Felsbrocken, die kugelrund und lose aufeinander liegen. Der zwischenzeitlich mal schwächer gewordene Wind und die zarten Flocken werden im richtigen Moment wieder kräftiger. Höchste Konzentration ist gefordert und bei jedem Schritt denke ich nur: Da will ich unter keinen Umständen zurück. Ungefähr zwei Stunden dauert es, bis wir die fünfhundert Meter am Hang hochgekrabbelt sind. Dann kämpfen wir uns noch eine ganze Weile durch das rege Schneetreiben um ein paar Hügelkammkurven und bauen schließlich ziemlich spät das Zelt an einem windgeschützten Stück schneebedeckter Steinchen auf, gleich nebenan ein kleines Rinnsal, das schon Anzeichen macht, einzufrieren.

    Schwer zu sagen, wie spät es eigentlich ist, denn alles ist weiß. Beim Abendessen besprechen wir, wie es weitergehen soll und überlegen, im Fall des Anhaltens von Schnee und Schlechtwetter, einen Pausentag hier einzulegen. Für die Passquerung brauchen wir ausreichend gute Sicht, um eventuelle Gletscherspalten ausfindig zu machen. Klingt nach einem guten Plan! Nicht ganz klar ist, was passiert, wenn es auch nach einem Pausentag nicht aufhören sollte, zu schneien…







    Back to the beginning: Pünktlich um 6:15 piepst Gabriels Uhr schrill um los, ohne zu wissen, dass wir beide schon längst wach sind (... den Rest der Einleitung kennt ihr ja schon…). Einmal zur Sprache gekommen, scheint die Entscheidung für Gabriel auf der Hand zu liegen. Wir können nicht hoch. Wir sollten nicht abwarten, sonst schneidet uns der unaufhörliche Schnee den einzigen Ausweg ab. Ergo: Abstieg. Jetzt. So schnell wie möglich.

    Mein Magen knotet sich zusammen. Nochmal den verdammten Hang hinunter? Im Schneetreiben? Bei schlechter Sicht? Mit 20-30 cm rutschigem Neuschnee auf den Medizinballfelsbrocken? Hilft alles nichts, Zähne zusammenbeißen, Sofia. Wir schaffen das. Einatmen, ausatmen. Erstmal zurück zum Steilhang. Gabriel stapft voraus und wird vom Weiß verschluckt. Ich verstehe jetzt, was mit ‚Deckweiß‘ im Wasserfarbenkasten gemeint ist. Ich versinke darin; drei Mal stecke ich bis zur Hüfte im Schnee. Tränen steigen auf – wie sollen wir das schaffen? In Gabriels Augen sehe ich, dass meine Angst nicht unbegründet ist, er teilt sie.

    Anmerkung Libertist: Ja, das war eine schwierige Sache und die Entscheidung fiel nicht so leicht. Aber was waren unsere Optionen?
    a) Aufstieg und Pass – unmöglich bei dem Schneefall, vielleicht sogar überhaupt unmöglich. Schließlich gab es da oben keinen eigentlichen „Pass“; auf unserer Karte war nichts eingezeichnet und der Berghang war steil. Zumindest hätten wir dafür gute Sicht gebraucht und die gab’s nicht.
    b) Auf besseres Wetter warten – doch was, wenn es weiter schneit und somit Auf- und Abstieg immer gefährlicher werden? Die Lawinengefahr war jetzt schon hoch genug; bei noch 30 cm mehr Schnee hätten wir uns vielleicht gar nicht mehr bewegen können.
    c) Abstieg – frustrierend und definitiv nicht ungefährlich, aber wahrscheinlich die sicherste Alternative.


    Am Abhang angekommen, muss ich schlucken. Eine zarte, aber doch dichte Schneedecke versteckt die Steine. Es geht steil nach unten, der Nebel hat das herbeigesehnte Ende des Hangs eingesaugt. Mir wird die Gefahr so richtig bewusst, ich stelle mir vor, was hier alles passieren kann – angefangen von ausrutschen, umknicken, steckenbleiben bis abstürzen oder einen Steinrutsch auslösen und darunter begraben werden. Gabriel merkt, dass ich angehalten habe und dreht sich um. Er sieht mich an und formuliert vorsichtig: „Das ist vermutlich kein guter Zeitpunkt, aber wir sollten nochmal durchbesprechen, wie das mit dem SPOT und dem SAT-Phone funktioniert.“ In meinem Kopf beginnt es zu rauschen. „Das SAT-Phone ist in dem orangenen Drybag…“, vernehme ich dumpf. Wortfetzen wie GEOS-Versicherung und Notfallknopf ziehen an mir vorbei. Eine neue Dimension der Angst tut sich auf: Was, wenn Gabriel fällt? Bewusstlos ist und ich alleine für Rettung sorgen muss? Oder er sich ein Bein bricht und wir mitten am Hang stecken? Gabriel, bitte stürze nicht. Ich weiß nicht, welcher Unfall das geringste Übel wäre. Ich sehe nach unten ins dicke Weiß und mir wird schwindelig. Es gibt kein oben und unten, alles Weiß.

    Es geht los. Langsam, unheimlich langsam, mit einer gefühlten Geschwindigkeit von einem Meter pro Minute arbeiten wir uns Stein für Stein den Hang hinab. Ich kann mich nicht erinnern, schon einmal so konzentriert gearbeitet zu haben, bis mein Kopf schmerzt. Gabriel bemüht sich, schräge Flächen und potentiell gefährliche Stellen möglichst gut freizulegen. Trotzdem rutsche ich ab. Immer wieder, bestimmt zwanzig Mal finden meine Füße keinen ordentlichen Halt. Manchmal bleibt es bei unsicherem Schwanken und Wanken, manchmal stürze und falle ich. Jedes Mal fühlt sich an, als würde die Erde unter meinen Füßen brodeln und meinen Körper von sich abschütteln wollen. Jedes Mal wundere ich mich, dass ich wieder aufstehen und weitermachen kann. Mittendrin kommt mir ein altes Kinderlied in den Sinn. Es geht nicht mehr aus meinem Kopf, läuft auf Dauerschleife und verlangt nach Aufmerksamkeit.














    Kurz vor dem unteren Ende des Geröllfelds. Es war viel steiler, als es hier aussieht…

    Ab und an dreht der Wind und bläst nicht von unten nach oben, sondern der Seite, und dann können wir ins Tal sehen. Kommen wir überhaupt voran? Langsam, aber doch. Die vier Stunden bis zum Ende des Hanges kommen mir wie eine Ewigkeit vor, ich hasse dieses Kinderlied inzwischen. Und dann erreichen wir das Plateau. Und dann liegen wir uns in den Armen. Ich zittere und schon kommen mir wieder die Tränen, doch – stop, Sofia! – es ist noch nicht vorbei. Gabriel will auch noch zurück um den See. Schließlich steht auf der anderen Seite ein kleines, leeres, gemauertes Haus und wenn wir Glück haben können wir darin irgendwie das Zelt aufbauen… Es gibt kaum Pausen, dafür ist es zu kalt. Trotz der immensen Anstrengung wird mein Körper irgendwie nicht warm. Ich frage mich, ob sich das wohl jemals wieder ändert, während ich mal wieder versuche, meine Zehen zu bewegen. Mit meinen Eisblöcken von Schuhen könnte inzwischen bestimmt auch Hochsicherheitsglas zerschlagen werden.

    Langsam und behutsam tasten wir uns voran. Würden Schnecken im Schnee leben, hätten sie uns bestimmt überholt. Zu Beginn der Seetraverse versuchen wir unten entlang zu gehen, in der Hoffnung, das sei schneller als der Weg oben am Hang. Bald geben wir diesen Plan auf und stiefeln hoch. Vielleicht habe ich mich schon zu früh in Sicherheit gewogen, vielleicht dachte ich auch, es könne nicht mehr schlimmer werden. Der Winter ist jedenfalls noch lange nicht fertig mit uns. Während wir uns verzweifelt (ich zumindest war verzweifelt) auf der Suche nach dem Weg befinden, holt er aus und verbindet Eiswind mit Schneehagel – Vollgas in die Fresse. Wie tausend Nadeln schmerzt jedes noch so kleine Eiskorn auf der Haut meines Gesichts. Der Wind scheint durch die Kleidung direkt in den ohnehin schon ausgekühlten Körper zu fahren. Mir wird alles zu viel. Das Blickfeld verschwimmt, das sich bläulich färbende Weiß verschluckt mich. Am liebsten würde ich laut losschreien, doch alle Kräfte sind aufgebraucht. Aus der Kampf. Ich fühle gar nichts mehr und lasse meinen Körper vom Schneesturm vereinnahmen, hefte meinen Blick an Gabriels Füße und bewege mich wie ein Roboter hinter ihm her.







    Beinahe unbemerkt schnell wird weiß zu blau zu schwarz und ich erkenne Gabriels Fußabrücke im Schnee kaum mehr, als wir bei der kleinen gemauerten Hütte am See ankommen. Irgendwie basteln wir darin unser Zelt auf, doch von Erleichterung ist bei mir nichts zu spüren. Es stinkt nach Ziegenscheiße. Es ist dreckig und verrußt, scheinbar wurde hier mal Feuer gemacht. Es schneit durch die 5 Fensterhöhlen. Und wir sind sicher. Es ist uns nichts Ernsthaftes passiert. Ein paar blaue Flecken, Schrammen, aufgeschlagene Knie, ein Schock. Ich nehme mein Tagebuch in die Hand, habe aber nicht die geringste Ahnung, was ich hineinschreiben könnte. Nach den letzten überwundenen Schwierigkeiten war ich abends immer in Feierlaue, doch diesmal ist mir nur nach … eigentlich nach gar nichts zu mute. Ich fühle eine unbestimmte Leere und sinke in einen komatös-tiefen, traumlosen Schlaf.




    Auch am nächsten Morgen ist von aufgehellter Stimmung nichts zu spüren – weder bei mir, noch bei dem lieben Schnee. Unaufhörlich schütteln sich die Wolken und bläst der Wind. Nicht gerade einladend, außerdem tut alles weh, aber hier wollen wir auch nicht bleiben. Also heißt es weiter nach unten. Gefrorene Schuhe, Ausrüstung nass, kalt und steif. Laune und Luft unter dem Gefrierpunkt. Ich fühle mich wie eine Maschine, einfach ein Fuß vor den anderen, nicht denken, nicht fühlen.
















    Ein weiterer arschkalter Morgen und Tag vergeht, bis wir es unter die Schneegrenze und über Marok Mushk zurück zu Bulbul nach Ishkoman Kote schaffen. Am gleichen Abend fließen bei unserem erleichterten Freund nach einigen Tassen Chai, einer warmen Kübeldusche und einer Riesenportion Chicken-Biryani auch „Local Vino“ (schmeckt wie verwässerter, abgelaufener Schnaps, aber er wirkt). Ich fange gerade an, mich zu entspannen, da packt Gabriel unser Karten-Puzzle wieder aus und beginnt ein Brainstorming zu den weiteren Optionen. Er schlägt diesen Pass da vor, oder diesen Umweg dort… Sorry, heute will ich damit echt noch nichts zu tun haben, können wir die Entscheidung bitte aufschieben?!




    Zuletzt geändert von Libertist; 30.03.2016, 00:37.
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      #3
      AW: 2015 Pakistan (1/2): Wintereinbruch im Hindukusch

      22. – 28. Oktober: Pause, (Um-) Planen, Aufregung in Gilgit

      [Ishkoman Kote – Immit – Gilgit – Immit]

      Nach einem ordentlichen Frühstück werden die Karten nochmal ausgelegt. Eins ist klar: Keine hohen und schwierigen Pässe mehr, dafür liegt jetzt viel zu viel Schnee. Die einzige realistische Möglichkeit, das Tal zu Fuß zu verlassen, ist über Immit nach Norden zu marschieren und über den Kurumber Lake in das Chitral-Tal. Schon wieder weiterlaufen? Noch weiß ich nicht, ob ich das wirklich will. Erstmal rufen wir Sajjad an, dem wir in der Woche zuvor zufällig in Chatorkhand begegnet sind. Er hat (wie es uns hier in Pakistan schon so oft passiert ist und noch öfter passieren wird) beteuert, dass es eine Ehre für ihn ist, uns als Gäste in seinem Land zu haben und da er mitverantwortlich für unser Befinden sei, einfach so nachgefragt, ob wir Hilfe brauchen. Hilfe beim Finden eines Supermarktes, beim Verständigen (viele Menschen in Gilgit-Baltistan sprechen sehr gutes Englisch), oder eine Übernachtungsmöglichkeit. Zu dem Zeitpunkt waren wir rundum versorgt, haben uns aber seine Nummer aufgeschrieben und so können wir heute anrufen und fragen, ob es okay wäre, bei seiner Familie in Immit eine Nacht unterzukommen. Er freut sich sehr über unseren Anruf und stimmt sofort zu. So fahren wir auf dem Traktor mit Bulbuls Cousin Ali nach Immit, durch kleine Dörfer und an Feldern vorbei; überall stehen Menschen und lachen uns an.

      Gabriel fragt: “Ali, why are all these people smiling and looking so happy?”
      Ali antwortet: “Because they have no job!”
      Gabriel: Lautes Lachen.
      Ali: “If you have no job, there are only two things you can do: cry bitterly or laugh and enjoy your freedom.”

      Na gut, wieder was gelernt. Angekommen in Sajjads Elternhaus in Immit werden wir köstlich versorgt, spazieren durch seine Erdäpfelfelder, besuchen Cousins und Onkel mit obligatorischem Salz-Chai (wieder besonders zu Gabriels Vergnügen), und fahren abends zum Militär-Checkpost am Ortsende von Immit. Dort wird uns erklärt, dass hinter diesem Punkt aufgrund der Nähe zu Afghanistan Tourist_innen ohne Extra-Genehmigung nicht erlaubt seien. Gabriel ist sichtlich frustriert und ich... muss zugeben, dass ich ein bisschen erleichtert bin in dem Denken, mir wurde soeben eine sehr schwere Entscheidung abgenommen. Doch da liege ich falsch, Gabriel hat schnell herausgefunden, dass es uns vielleicht möglich wäre, eine solche Sondergenehmigung zu bekommen. Dafür müssen wir entweder nach Gahkuch, zum Sitz des höchsten Beamten der Region Ghizer oder nach Gilgit, der Hauptstadt der ganzen (nicht staatlich anerkannten) Provinz Gilgit-Baltistan.

      Bevor wir das alles versuchen, steht jedoch meine Entscheidungsfindung an. Will ich Gabriel begleiten und noch einen Versuch wagen? Oder soll er sich nach einer anderen Begleitung umsehen, oder gar alleine gehen? Ich denke an die letzten drei Nächte im Zelt, das Aufwachen in schlechter Laune und mit dem „eigentlich-will-ich-das-nicht-mehr“ – Gefühl. Ich denke an die großen Pläne, die wir hatten. An den Kurumber See, das Chitral Tal und die versteckten Hirtendörfer in Borochol, an der Grenze zu Afghanistan. Ich denke an Wetter, Kälte, meine Füße, die Länge der Tour. Ich denke an den Zeitplan und mein Vorhaben, nach Pakistan eine Zeit lang alleine in Indien zu verbringen. So viele Gedanken in meinem Kopf – heute gelingt es mir noch, sie aufzuschieben und den Abend mit Gabriel, Sajjad und zwei Flaschen unerlaubten Getränks zu genießen.







      Am nächsten Morgen aber ist es soweit; ich ziehe mich mit meinem Notizbuch in den Garten zurück und schreibe meine Überlegungen auf, mache eine Pro und Contra Liste, wäge alle Argumente ab. Als ich mit meinem gefassten Beschluss auf Gabriel zugehe, hat der schon Sajjads Bruder eingeladen und über Ausrüstung diskutiert. Für ihn kommt es unerwartet, doch er freut sich: Ich möchte es noch ein letztes Mal versuchen. Also heißt es, Genehmigung besorgen! Am Nachmittag fahren wir mit Sajjads Eltern zu deren Hauptwohnsitz nach Gilgit, lernen alle Geschwister plus Kinder kennen und verbringen einen familiären-gemütlichen Abend.



      Der nächste Tag, 24. Oktober 2015 oder nach islamischen Kalender der 10. des Monats Muharram, hat für die schiitischen Muslime eine ganz besondere Bedeutung. An diesem Tag begehen sie ihr höchstes Trauerfest (Aschura) und gedenken des Todes von Imam Al-Husain, der als Märtyrer in die Geschichte des Islam einging. Während der Nachbar Iran ein schiitisch-muslimischer Staat ist, zählt die Mehrheit der pakistanischen Bevölkerung zu den Sunniten, für die der 10. Muharram weniger wichtig ist. In Gilgit leben jedoch etwa 50% Schiiten und 50% Sunniten, wodurch diese Stadt als Brennpunkt für Ausschreitungen religiöser Konflikte bekannt ist. Die ganze Stadt ist an diesem Datum jährlich im Ausnahmezustand; einzelne Bezirke sind abgeriegelt und Straßen gesperrt; die Handynetze sind sogar im ganzen Land lahmgelegt, wodurch die Organisation von Aufständen erschwert werden soll. Touristen sollten sich an disem Tag keinesfalls auf die Straßen wagen, das hat uns die Familie, bei der wir zu Gast waren, deutlich zu verstehen zu geben. Weil wir aber so neugierig waren, kontaktierte man für uns eine befreundete schiitische Familie von hohem Rang. Und so hatten wir die außergewöhnliche Gelegenheit, an diesem speziellen Tag ein Stück weit dabei zu sein und teilzuhaben. Im Folgenden versuche ich, Worte für das Unfassbare zu finden, doch möchte mich mit meinen Eindrücken eher knapp halten und auf andere Quellen verweisen.

      Am 10. Muharram gedenken schiitische Muslime nach einer langen Periode des Fastens und 12 Tagen der Trauer an den brutalen Mord ihres Imams Al-Husain in der Schlacht von Kerbala im Jahre 680. Frauen und Männer tun dies auf unterschiedliche Art und Weise. Die Frauen sind zu Hause, kochen für die Männer der Familie und gehen abends in die Moschee, um zu beten und trauern (da weinen wirklich hunderttausende Frauen und es wird live im Fernsehen übertragen). Die Männer sind draußen auf der Straße, sie trauern öffentlich auf ihre eigene Art. Und obwohl der aktuelle Anführer der Community das untersagt, sind viele junge Männer darunter, die sich selbst verletzen, um ihre Trauer auszudrücken. Die meisten laufen wie auf einer Großdemonstration herum, rufen „Ya Hussein“ (quasi „Ich fühle mit dir, Hussein“) und klopfen sich dabei auf die Brust. Aber manche, vor allem junge Männer, scheinbar übermütig, meinen es ernster. Sie stehen mit nackten Oberkörpern auf der Straße und schlagen sich selbst mit Ketten, an deren Enden Messerklingen befestigt sind oder mit Schlagringen, die sie um alle Finger gewickelt haben. Auf den Straßen sind tausende (nur männliche!) Menschen von 4 bis 99 Jahren. Und so viel Blut überall. Wir haben von einer Altersgrenze der blutigen Selbstverletzung erfahren, ich kann mir jedoch nicht ganz vorstellen, wie das kontrolliert wird.

      Ich war vermutlich die einzige Frau in der Stadt, die an diesem Tag kurz auf der Straße war, dunkel und mit Kopftuch bekleidet und selbstverständlich in Begleitschutz dreier Freunde. Alle sind sehr besorgt um mich, sogar ein bewaffneter Soldat wird an meine Seite gestellt – immerhin treffen schon nach wenigen Minuten Beschwerden über meine Anwesenheit ein. Dank dem Einsatz meiner Freunde, habe ich die Gelegenheit etwa 10 Minuten von einem Hausdach aus das Geschehen zu beobachten, dann werde ich regelrecht abgeführt und darf den restlichen Tag mit den Frauen der Familie im Haus verbringen. Gabriel hat als Mann viel mehr Möglichkeiten, durch die Stadt zu ziehen und ergattert mithilfe des schiitischen Freundes sogar einen Presseausweis, mit dem er im Krankenhaus, der Polizeistation und mitten in der Masse fotografiert. Da erfährt er auch, dass die Wunden, die sich die Männer zufügen, aufgrund ihres starken Glaubens angeblich schneller heilen, als gewöhnliche und viele Männer ihr Narben stolz tragen. Ein befreundeter Arzt aus Gilgit hat die angeblich schnellere Heilung nicht bestätigen können.

      Über ein heikles und außergewöhnliches Geschehen wie dieses, ist es schwer, sich ein Urteil zu bilden. Wir haben lange über das Erlebte gesprochen, zu zweit und natürlich mit unseren pakistanischen Freunden. Als Ismailis sehen sie diesen Tag aus einer anderen Perspektive und lehnen jede Form von Selbstverletzung ab. Der Staat Pakistan verbietet ein solches; auch im Iran ist das Blutvergießen nicht erwünscht. Ich finde es sehr schwierig, dieses Thema kurz anzusprechen und das Erlebte in wenige Worte zu fassen, die dem gerecht werden sollen und verweise für Interessierte noch auf andere Quellen, um vorschnelles Urteilen zu vermeiden.

      Anmerkung Libertist: Wie Sofia bereits geschrieben hat, habe ich den ganzen Tag unter den schiitischen Trauernden auf den Straßen Gilgits verbracht und die aufgeheizte Stimmung hautnah miterlebt. Es ist schwer zu beschreiben, wie sich das angefühlt hat – einerseits verstörend, vor allem aufgrund der Selbstgeißelungen und des vielen Bluts, anderseits aber auch, naja, gewissermaßen "berauschend", weil ich bisher in meinem Leben keine Erfahrung gemacht habe, die dem auch nur annähernd gleichkommt.

      Unsere Gastgeber hielten es für leichtsinnig, dass wir uns an diesem Tag in den Straßen Gilgits aufhielten. Nicht mal sie selbst wollten das Risiko eingehen, deshalb haben sie uns zu der schiitischen Familie gebracht. Die extrem brisanten Rahmenbedingungen waren schon Abenteuer genug, aber dann noch mitten in der vor religiöser Gesänge berauschten Menge zu sein und all die unfassbaren Szenen fotografieren zu können, war mehr, als ich zu dem Zeitpunkt verarbeiten könnte. Ich hab mich gefühlt wie in Trance. Erst in den darauffolgenden Tagen hatten Sofia und ich die nötige Distanz gewonnen, in Ruhe über alles zu sprechen.

      Ich bitte euch beim Betrachten der Fotos jedenfalls darum, nicht pauschal zu urteilen. Und vergesst nicht, dass es Selbstgeißelung in den groteskesten Formen schon immer auch im Christentum gab und gibt.














      Anmerkung Libertist: Ja, das ging ziemlich übel zu. Wer mehr Fotos dieser Art sehen will, kann das auf meiner Website tun oder diese externen Links anklicken:

      Bild 1 Bild 2 Bild 3 Bild 4 Bild 5 Bild 6 Bild 7


































      Sofias Outfit an diesem Tag.

      Sonntagvormittag verbringen wir mit Einkäufen für die Tour und einer Stunde im Internetcafé, bevor wir uns an das große Vorhaben des Tages machen, für die gesamte 10-köpfige Familie und uns ein „traditionell österreichisch-deutsches“ Abendessen vorzubereiten. Auch wenn wir diese Menschen noch nicht so lange kennen, fühlt es sich für mich wie ein Zuhause an.







      Nach einem ruhigen Sonntag planen wir Montagmorgen mit Sajjad den Besuch im zuständigen Büro für die Trekking-Sondergenehmigung und anschließende Fahrt zurück nach Immit. Als wäre an diesem Wochenende noch nicht genug Aufregendes passiert, soll es heute noch einmal anders kommen. Erstmal pirschen wir drei von Office zu Office und suchen die zuständigen Beamten für unser Anliegen, werden jedoch bloß mit unklaren Informationen vertröstet und von einem zum nächsten geschickt. Nach zwei Stunden bei diversen Offizieren entscheiden wir schließlich genervt und mit sinkender Hoffnung, unser Glück in Gahkuch, bei dem für die entsprechende Region (Ghizer) zuständigen „Deputy Comissioner“ zu versuchen.

      Nach einem schnellen Mittagessen fahren wir los. Etwa eine Fahrstunde von Gilgit entfernt, als die Straße eng durch eine Schlucht mit Steinhang und Fluss führt, passiert es: Etwa 50 m von dem Auto entfernt, wird Staub aufgewirbelt. Was ist da los? Ich erkenne Felsen. Sie rollen. Sie kommen näher. Sajjad legt eine Vollbremsung ein. BAM, ein Stein landet auf der Motorhaube. Gabriel, am Beifahrersitz, hebt die Hände schützend über den Kopf und richtet ein Bein gegen die Windschutzscheibe. KNALL, ein weiterer fliegt irgendwo gegen das Autoblech. Mit quietschenden Reifen und schwarzem Rauch fährt Sajjad Vollgas im Rückwärtsgang. KLIRR, das Fenster hinter mir bricht in tausend Scherben. Um uns herum rollen Felsbrocken den Hang hinab. Vielleicht zweihundert Meter und ein paar Sekunden später bleibt das Auto stehen – das Erdbeben ist vorüber. Total perplex wanken wir aus dem Auto und liegen uns in den Armen. Steinchen, Steine und Felsbrocken in der Größe von Fuß- bis Gymnastikbällen vor, hinter, um uns.







      Sajjad inspiziert kurz sein Auto, erkundigt sich nach unserer Sicherheit und geht nochmal dahin, wo er vor vielleicht 2 Minuten umkehrte. Die Straße ist hier komplett blockiert. Hätte er nicht so ausgezeichnet reagiert… Noch können wir nicht wirklich fassen, was passiert ist, als Sajjad nervös nach einem Handysignal sucht. Wir sind mitten im Funkloch, neben dem Auto ein umgeknickter Sendemasten. Er ist sichtlich angespannt und erklärt, dass seine Familie sich bestimmt gerade riesige Sorgen macht; er meint, seine Mutter würde bestimmt gleich den Bruder hinterherschicken, wenn sie nicht bald etwas von ihm höre. Also kurz ein paar Steine von der Straße entfernen. Ein Krankenwagen mit Blaulicht ist schon da, kann die verschüttete Straße aber nicht passieren. Doch als ich einen großen Stein von der Straße rollen will, kippt er und fällt auf meinen Vorfuß. Aaaaa, AU! Auch das noch, super. Erstmal rein ins Auto und zurück nach Gilgit; erst am Weg erzähle ich den Männern davon. Noch bevor Sajjad wieder ein Signal empfängt, biegt mit quietschenden Reifen sein Bruder in einem geliehenen Auto um die Ecke, steigt aufgewühlt aus und umarmt Sajjad schluchzend.

      Zuhause angekommen ist die Stimmung tatsächlich genauso emotional, wie unser Freund es beschrieben hat. Als wir ankommen, sind Mutter und Schwestern ganz aus dem Häuschen, weinen und beten vor Erleichterung über unsere sichere Rückkehr. Spät abends fahren wir ins Krankenhaus und lassen meinen Fuß röntgen. Glück im Unglück, bloß geprellt – bisschen blau und bisschen schmerzhaft, wird hoffentlich bis Tourbeginn wieder gut…

      Später finden wir heraus, dass im Epizentrum des Erdbebens in Afghanistan eine Stärke von 7,5 MW gemessen wurde; in den nächsten 3 Tagen gab es 17 Nachbeben. In Pakistan, Afghanistan, Nordindien und Tadschikistan kam es zu großen Sachschäden, etwa 400 Menschen sind umgekommen und über 1500 wurden verletzt (https://de.wikipedia.org/wiki/Erdbeb...indukusch_2015, Download am 30.03.2016).

      Nächster Tag, nächster Versuch, nächster Fehlschlag. Als wir in Gahkuch ankommen, ist der zuständige Comissioner nicht in seinem Büro, da er vom Erdbeben betroffene Gebiete besucht. Schön langsam gebe ich die Hoffnung auf, doch Gabriel ist hartnäckig und Sajjad möchte uns den Wunsch nach der Genehmigung unbedingt erfüllen. Also übernachten wir bei seinem Onkel in Chatorkhand, wo abends mit standesgemäßem Essen, Trinken, traditioneller Musik und Tanz gefeiert wird.











      “Hunza Water“ nennen sie das Getränk ...

      Am 28. Oktober ist es schließlich soweit: Um 9:00 Uhr treffen wir auf den Comissioner in Gahkuch und bekommen nach einigen Diskussionen und Erklärungen schließlich unser heiß ersehntes Dokument. Endlich! Zurück nach Immit, den letzten Abend mit Sajjad, seinem Bruder und Cousin genießen und morgen soll es losgehen.


      29. Oktober – 7. November Etappe 3: Kurumber Lake Tour

      [Plan: Immit – Matramdan – Kurumber Pass – Kurumber Lake – Borochol – Chitral Valley]

      Nachdem der Feldweg bis Matramdan führt, wollten wir die ersten 20 km mit einem Traktor oder Jeep fahren, durch das Erdbeben gab es jedoch einen kleinen Hangrutsch und ebendieser Weg ist blockiert. So laufen wir ein Stück, fahren wieder ein Stück bei zwei Motorrädern mit, laufen wieder ein bisschen und fahren den Rest, sodass wir gegen 17:00 Uhr in dem kleinen Dorf Matramdan ankommen. Nach einer Woche Pause ist es eigentlich ganz schön, unsere Ruhe im Zelt zu genießen. Bis auf die krasse Kälte abends und morgens bin ich hochmotiviert und der nächste Tag verfliegt bei strahlendem Sonnenschein und einfachem Gelände. Langsam und beständig marschieren wir das Tal nach oben, unbeirrbar, wie es scheint, als wir immer wieder Familien begegnen, die mit Hab und Gut wegen des kommenden Winters nach unten ziehen…




























      Am dritten Tag sehen wir vor uns etwas, das nicht auf der russischen Militärkarte eingezeichnet ist: Ein gigantisches Gletschermassiv blockiert das gesamte Tal: von rechts der Gletscher, links die steile Felswand, der Fluss fließt unter dem Eis durch. Ist das schon länger so, oder vielleicht erst durch das Erdbeben entstanden? Nein, dafür ist der Eisbruch zu massiv. Andererseits bröselt und bröckelt es ständig am Hang, kleine Steinchen und große Geröllmuren regnen herab. Vielleicht ist es doch noch jung? Können wir das umgehen? Über den Gletscher zu steigen ist schier unmöglich. Er bildet keine ebene Fläche, es sieht eher aus, als wären Millionen von Eisstücken und –spitzen in einer Kiste durchgeschüttelt und dann hier ausgeschüttet worden. Frustriert über diese unerwartete Bremse ziehen wir uns einen Kilometer zurück und schlagen das Zelt auf, wo mit Sicherheit kein Steinregen hinkommt. Dann versucht Gabriel durch das SAT-Phone herauszufinden, ob es einen Weg über dieses menschenfeindliche Eiskonglomerat gibt. Schnell wird klar: Wenn ja, dann auf der anderen Flussseite… Schon bei dem Gedanken an die bevorstehende Eiswasserquerung werden meine Füße zu Eiszapfen.
















      Hilft nichts, am nächsten Tag losgestiefelt und durchgewatet. Eiskalt ist er, der Nazari-Fluss, aber zum Glück nicht sehr tief. Mit dem Blick ins Ungewisse und gefrorenen Füßen sinkt meine Motivation und Wanderlust einen ganz großen Sprung. Doch was erspähen des Libertisten Adleraugen denn da? Tatsächlich, Menschen! Auf dem Berghang kämpfen sich 5 Gestalten mit großen Rucksäcken langsam nach oben. Mut und Zuversicht machen sich breit. Es gibt einen Weg, und er ist auch jetzt noch begehbar. Sind das Touristen? Hirten? Oder ein Suchtrupp des Militärs? Wir rufen, doch sie hören und sehen uns nicht. Aufgeregt sind wir jetzt beide und so schnell wie Gabriel durch den Wald zieht, denkt er wohl, dass wir die Fünf tatsächlich einholen können. So gut wir können, sputen wir nach oben und begegnen einem Yak-Hirten, der uns erzählt, die fünf Männer seien Pakistanis aus Immit-Umgebung, die die gleiche Route wie wir vorhaben. Nun gut….aber warum? Sein Englisch war eher bruchstückhaft also sind wir noch nicht wirklich schlauer. Auf jeden Fall erfreuen wir uns an den Fußspuren und stapfen den steilen Weg am Hang hoch.

      Die richtige Schwierigkeit des Pfades offenbart sich aber erst auf der Nordseite: immer weiter nach oben, immer steiler, immer schmäler wird er. Dabei geht es über Felsplatten mit kaum sichtbaren Vorsprüngen und Spalten und steil wieder hinunter. Es liegt Schnee. Eins ist klar, die Männer müssen den Weg hier kennen. Und wir haben riesiges Glück, dass wir ihre Fußspuren haben, denn ohne sie wären wir total verloren gewesen. Seit dem Notabstieg vom Utter See fühle ich mich alles andere als sicher und trittfest, mein Trekkingselbstvertrauen leidet immer noch stark und ich bekomme auch in weniger gefährlichen Situationen schneller Angst.

      Dann geht es richtig steil nach unten, in einer schmalen Felsrinne. Rechts und links nichts. Ich weiß nicht, wo ich mich halten, ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll. Ich verliere das Gleichgewicht, die Sicht verschwimmt – Tränen treten ungewollt und beharrlich in meine Augen. Jetzt gehen die Nerven auch noch verloren.
















      Drei Stunden mühsamen Abstieges später machen wir eine Pause in einer kleinen verlassenen Tipi-Hütte, um die Lage zu besprechen. Eines ist klar, sobald es auch nur 10 cm schneit, gibt es kein Zurück mehr – unsere Fußspuren wären verschwunden und das Gelände viel zu steil, um es bei Neuschnee noch einmal zu durchqueren. Also los, weiter pushen! Bis 17:00 Uhr laufen wir noch beinahe 6 Kilometer in den Spuren der Pakistanis; schließlich schlagen wir kurz vor dem Gletscher, von einem kleinen Strauch ein bisschen windgeschützt, unser Zelt auf. Sind die fünf Männer tatsächlich heute noch da drüber? Vor dem Einschlafen wird der Wind stärker, das Schlechtwetter scheint Neuschnee anzukündigen und wir grübeln über ein vernünftiges Vorgehen nach. Die Wahrheit: Keine Ahnung…

      Anmerkung Libertist: Über das Satellitentelefon habe ich von meinem Notfallkontakt Marion erfahren, dass das Wetter erst nach drei Tagen wieder besser werden würde, und weiterer Schneefall inzwischen sehr wahrscheinlich war. Wir befanden uns in einem Tal, das nur zwei Ausgänge hatte: weiter nach oben Richtung Pass, mit einer langen Gletscherpassage zu Beginn und mindestens einer weiteren Woche Fußmarsch. Deutlich länger, wenn weiter Schnee fällt. Oder zurück, aber das musste bald geschehen, da die Hang-Passage bei Neuschnee nicht mehr machbar gewesen wäre.









      Eine schlaflose, anstrengend-windige und gedanklich sehr belastende Nacht später ist es an der Zeit, eine Entscheidung zu fällen. Es hat kaum geschneit, die Spuren sind also noch sichtbar – über den Gletscher, aber auch die zurück über den Hang. Das Wetter hält sich bewölkt, windig und schlecht. Die Wolken hängen tief, weiterer Schneefall ist absehbar. Meine erste Intention: Weiter, weiter, weiter pushen, nichts wie rüber über den Gletscher! Die große Hürde, dann wird’s schon gehen. Andererseits…wer weiß, was danach noch auf uns wartet. Es liegen hinter dem Gletscher noch 80 km durch potentiell tief verschneites Gelände vor uns, dazu ein 4.300 m hoher Pass. Vor allem, was wenn noch deutlich mehr Schnee kommt? Gabriel plagt sich sichtlich mit einer vernünftigen Entscheidungsfindung. So viel haben wir für diese Tour gegeben, so viele Versuche, eine Woche lang der Genehmigung hinterherlaufen… und jetzt? „Sicherheit geht vor, immer.“, spricht Gabriel ruhig. „Es gilt, das Risiko zu minimieren und bei schlechter Sicht, Wind und Schneefall geht man einfach nicht 5 km über einen verspalteten, nicht-aperen Gletscher. Zumal ohne Seil und nur zu zweit.“ Ja, aber… Wir könnten das schlechte Wetter abwarten? Und dann weiter? Dann gibt es kein Zurück mehr, das wissen wir beide. Wenn wir jetzt weiter gehen, müssen wir auch über den Pass.

      Anmerkung Libertist: Es kam wie schon so oft auf dieser Reise: Planänderung aufgrund zu starken Schneefalls. Wenn es weiter schneite, würde der Hang, den wir am Vortag mit Ach und Krach passierten, zu einem Point Of No Return werden. Und das würde bedeuten, dass wir eingeschlossen wären, wenn Gletscher und Pass vor uns zu stark verschneit wären – ein Risiko, das wir nicht eingehen konnten. Eigentlich hatten wir Glück, dass es über Nacht kaum geschneit hatte: jetzt waren noch beide Wege offen, aber wir mussten handeln. Entweder volle Kraft voraus (sehr hohes Risiko) oder volle Kraft zurück (deprimierend). Natürlich entschieden wir uns für den Rückweg.

      Also nie, oder jetzt. Und los. Ja, wirklich, nochmal über diesen furchtbaren schmalen, verschneiten Grat, unter dem die rutschigen Felsen ab und an hervorblitzen und es hundert Meter in die Tiefe geht. Alles in mir sträubt sich. Fieberhaft überlege ich, ob es nicht noch eine andere Option gibt, ich will nicht nochmal den gleichen Weg zurück! Da, wo ich gestern verzweifelt mit Tränen in den Augen hinunter gerutscht bin, soll ich jetzt nochmal hoch? Und wir schaffen das? Alles schaffen wir. Gegen feuchten, kalten Wind und den leicht nieselnden Schnee kämpfen wir uns konzentriert langsam und vorsichtig nach oben; diesmal gehe ich Voraus. Durch die Befürchtung des Schlimmsten ist eigentlich alles nur halb so wild. Die Spuren sind etwas verweht, aber noch zu erkennen. Sicher gelangen wir auf der anderen Seite wieder nach unten. Am Fuße des Berges entdecken wir ein paar (längst leerstehende) Hirtenhütten und finden eine, die groß genug ist, dass wir das Zelt darin aufbauen können. Als alles steht, ausgepackt und abgespannt ist und das Abendessen kocht, fällt eine ganze Gerölllawinenlast von meinen Schultern. Wir sind in Sicherheit; jetzt kann es schneien, wie es will.
















      Und keine 12 Stunden später kommt der Schnee… es schneit und schneit und schneit. Und wir sind sicher in unserem Zelt in der Hütte, und da bleiben wir auch. Nachdem sich die Wetterlage an Tag 7 nicht verändert, verwenden wir auch diesen zum Auffuttern der besten Kekse und Schoko-Riegel und gönnen uns riesige Nudelportionen. Wenige Tage und wir sind zurück im Warmen.

      Anmerkung Libertist: Ihr könnt euch sicher vorstellen, wie froh wir über den starken Schneefall waren. Wäre der ausgeblieben, hätten wir es über den Pass geschafft und die Entscheidung zur Umkehr wäre unnötig gewesen. So wussten wir, dass wir jetzt richtig tief in der Scheiße sitzen würden, wären wir nicht umgekehrt. Keine Ahnung, was dann passiert wäre…

      Am nächsten Morgen ist es dann soweit: klare Sicht, kein Schneefall. Motiviert und voll Vorfreude beginne ich einzupacken und abzubauen, während Gabriel sich nicht so sicher zu sein scheint. Zu spät – jetzt geht’s hinunter. Der Wind bläst ordentlich im Winterwonderland, aber der Schnee bleibt fürs Weitere aus. Dafür wartet noch die Flussquerung über den Nazari… Sollen wir vielleicht doch nochmal umkehren? Nein, jetzt heißt es Zähne zusammenbeißen und Füße abfrieren! Kurz und schmerzlos ist das schnell erledigt und bald schlagen wir das vielleicht letzte Mal (für diese Saison natürlich) unser Zelt im Schnee auf.













      Natürlich kommt nachts noch ein bisschen was herunter; gerade genug, um am Morgen einen Schneemann zu bauen. So kurz vor dem Ziel ist die Laune so gut, dass wir uns sogar auf eine kleine Schneeballschlacht über die Nadelbäume einlassen.

      Anmerkung Libertist: Warum über die Nadelbäume? Weil ich gerade am scheißen war, als der erste Schneeball in meine Richtung geflogen kam!







      Am frühen Nachmittag landen wir bereits in Matramdan und kommen im Elternhaus von einem jungen Mann namens Shagoon unter. Er ist als einziges der neun Kinder zur Schule gegangen und spricht ein wenig englisch. Das Haus ist eigentlich nur ein großer Raum, in dem 15 Menschen kochen, essen, schlafen, wohnen. Die Familie ist sehr arm, doch es ist ihnen eine Ehre internationale Gäste zu bewirten und obwohl wir versuchen zu beteuern, dass wir mit Reis zufrieden sind, wird uns Yakfleisch aufgetischt. So viel Herzlichkeit und dann noch in einem warmen Zimmer schlafen – ich bin rundum glücklich.






      Der nächste Morgen führt uns auf unterschiedlichen Wegen zurück nach Immit: Die ersten fünf Kilometer gehen wir gemeinsam und als dann ein Motorrad vorbeikommt, beschließen wir kurzfristig uns aufzuteilen und bei Sajjads Haus wiederzutreffen. Ich habe Glück, denn mein Fahrer fährt bis nach Immit und keine zwei Stunden später bin ich schon da. Sajjad aber nicht, der kommt heute von Gilgit zurück und verspätet sich, wie erwartet. Na gut, dann warte ich bei der Nachbarin, werde mit Keksen, Tee und Pommes Frites versorgt, während der arme Gabriel immer noch am Weg ist, hat wohl kein Moped gefunden. Gegen Abend sind wir wiedervereint und können auf den diesmal wirklich (!) allerletzten Trekkingtag für das Jahr 2015 anstoßen.







      08. – 13. November: Rückfahrt, ‚Heim‘kommen, Entspannen, Weiterreise

      [Immit – Gilgit – Karimabad, Hunza – Rawalpindi (Islamabad)]

      Guten Morgen, ohne Sorgen. Aufwachen ohne zu frieren, Frühstück machen ohne gefrorenes Wasser, Zähne putzen ohne steife Zahnbürstenborsten, Sachen packen und in aufgetaute Schuhe steigen, ohne Angst vor kalten Füßen. Bin ich schon im Himmel? Nein, nein, Sofia, der Weg ist noch weit. Wir wollen via Autostopp von Immit zu unserer liebsten pakistanischen Familie nach Gilgit fahren, die sich natürlich große Sorgen um uns gemacht hat und uns vor der Weiterreise unbedingt noch einmal sehen will. Wir starten unser Autostopp-Experiment erst um 12:00 Uhr, an einem Sonntag und in einem Dorf, in dem es maximal 5 Autos gibt. Zugegebenermaßen sind die Prognosen schlecht, doch das einzige Sammeltaxi fuhr bereits um 6:00 Uhr morgens los und da haben wir noch tief und fest geschlafen. Also heißt es warten. Nach mehreren Stunden beschließen wir uns aufzuteilen und auch Motorradfahrer anzusprechen. Mit einem Traktor, zwei Motorrädern, zwei Autos und einem Truck schaffen wir es gegen 22:00 Uhr tatsächlich ans Ziel. Beim Wiedersehen fließen ein paar Tränen, alle sind glücklich und ein Festmahl wird zubereitet - „It feels good to be home.“, sagt mein Tagebuch.

      Mit Sajjads Bruder Raja erledigen wir am nächsten Morgen ein paar Einkäufe in der Stadt, bevor wir zurück nach Karimabad aufbrechen. Auch hier erwarten uns schon freudig unsere Freunde, die Angestellten des Hostels, die es nicht fassen können, dass wir tatsächlich so lange unterwegs waren. In dem Tourismusmeile von Hunza haben inzwischen fast alle Restaurants geschlossen, außer uns sind vielleicht noch zwei Reisende da. Die nächsten drei Tage verbringen wir in jeweils drei dicke Decken eingewickelt in unserem Hostel-Zimmer, essen Kekse, trinken Tee, treffen Freunde und schauen nachts Serien auf Gabriels Laptop.













      Am 13. November um 4:00 morgens verlassen wir Hunza, das war’s mal mit Trekken. Kälte und schlechtes Wetter ist temporär auszuhalten, aber die Gefahren, die der Winter mit sich bringt, sind nicht zu unterschätzen. Auch wenn von unseren drei Tour-Versuchen zwei gescheitert sind, wir haben insgesamt 23 aufregende und lehrreiche Trekking-Tage im Hindukusch verbracht. Doch wir haben noch lange nicht genug von Pakistan! Es geht nun Richtung Süden, wo wir das nächste Monat bei einer befreundeten Familie in Rawalpindi und unserem Freund Zeeshan in Layyah, Punjab verbringen wollen; davon wird Gabriel im folgenden Fotobericht ein paar Eindrücke schildern.

      Mein Fazit

      Ich denke, dass mich keine Reiseerfahrung bisher so nachhaltig beeinflusst und verändert hat, wie Pakistan. Bezüglich Trekking geht hier mal ein Riesendank an Gabriel. Ohne seine Geduld, Voraussicht und Problemlösekompetenz wäre ich niemals so weit gekommen: an meine Grenzen und darüber hinaus.

      Lange habe ich überlegt, ob es vielleicht die falsche Entscheidung war, beim dritten Aufbruch mitzukommen. Zu geschwächt waren Physis und Psyche von den vorangegangenen Strapazen. Ich weiß nicht, ob ich die gleiche Entscheidung noch einmal treffen würde; vermutlich nicht, wenn mir das kommende Wetter bekannt gewesen wäre. Ich habe beim Schreiben versucht unser Bemühen herauszuarbeiten, an Entscheidungsfindungen möglichst ruhig, rational und sorgfältig heranzugehen und wir schlussendlich dem Winter klein bei geben mussten. Dieser war es nämlich, der eigentlich gut kalkulierten Situationen in für mich sehr schwierige Szenarios verwandelt hat. Die zweite heikle Situation war aber bloß so richtig schlimm, wegen den vorangegangenen Erfahrungen am Utter Lake Pass, wo ich wirklich Angst hatte und mich lange nicht davon erholt habe. Positiv finde ich, dass durch den dritten von mir entschiedenen Aufbruch zur Kurumber Lake Tour, definitiv wieder einiges an Angst genommen und mir Vertrauen in meine Fähigkeiten zurückgegeben wurde. Alles in Allem: ich habe viel gelernt.

      Abseits des Outdoorbereichs möchte ich noch ein paar Punkte zu Pakistan sagen (und die gelten für meinen gesamten 10-wöchigen Aufenthalt): Noch nie in meinem Leben bin ich so tief eine mir gleichzeitig so sehr fremde Kultur eingetaucht, wie in diesem Land. Ich war begeistert, fasziniert, neugierig und wollte alles wissen. Kultur, Tradition und Religion sind so eng verwoben, dass eine Trennung kaum möglich scheint; trotzdem waren die Menschen, die wir getroffen haben, sehr offen gegenüber unseren Fragen, Diskussionen, Reflexion und auch Kritik. Es ist zu erwähnen, dass wir die meiste Zeit mit ismailitischen Muslim_innen verbracht haben, die als gebildete, liberale, offene und humanistische Gesellschaft gelten. Ich wage jedoch zu behaupten, dass es kaum einen Unterschied macht, welche Muslim_innen europäische Reisende in Pakistan treffen und vermute, alle Begegnungen in der Art, wie wir sie gemacht haben, sind geprägt von Gastfreundschaft und Zuvorkommenheit, Interesse und Neugier, Herzlichkeit und vielleicht sogar Freundschaft. Trotzdem war nicht immer alles super und einfach - speziell mit dem Thema Frauen, Männer und Gleichberechtigung, das sich durch alle Bereiche des Lebens zieht, hatte ich den gesamten Aufenthalt über sehr zu kämpfen. Dass wir uns auch darüber intensiv ausgetauscht haben, hat vermutlich am meisten geholfen. Abseits dessen (und das ist ja hier nicht Thema), halte ich Pakistan für ein wunderbar-aufregendes Land, in dem es noch viel zu entdecken gibt, das in unseren Breitengraden unterschätzt wird und vielleicht gerade deswegen in der jetzigen Zeit ein Spitzen-Reiseziel ist!


      Fazit Libertist

      Ich sehe das wie Sofia. Pakistan ist ein einmaliges, landschaftlich wunderschönes, kulturell spannendes und horizonterweiterndes Reiseziel. Ich war total begeistert und habe mich von Anfang bis Ende wohlgefühlt.

      Natürlich hatten wir ein bisschen Pech: der Winter kam einfach sehr früh. Aber allzu ungewöhnlich war das nun auch nicht – wir wussten, dass unsere Routen ein gewisses Risiko mit sich brachten und dass unsere Pläne vielleicht nicht aufgehen würden. Das ist halt so. Und wenn man das weiß, hält sich auch die Enttäuschung in Grenzen, wenn etwas mal nicht so funktioniert, wie geplant. Das ist einfach der Preis, den wir zahlen.

      Kulturell gesehen ist Pakistan das mit Abstand spannendste Land, das ich je bereist habe. Das bezieht sich nicht nur auf die extreme Gastfreundschaft (die auf Dauer auch ein bisschen anstrengend werden kann, weil man quasi kaum noch Gelegenheit bekommt, einmal etwas selbst zu bezahlen), sondern auch auf das Interesse der Menschen, mit uns in Diskurs zu treten. In sehr vielen Gesprächen, die wir in Pakistan geführt haben, ging es um Politik, kulturelle Unterschiede, Traditionen und vor allem um die Frage der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Mit letzterem hatten wir am meisten zu kämpfen. In dem Bericht sind diesbezüglich bewusst keine Details beschrieben, schließlich ist das ein Outdoor-Forum und keine Plattform für Gesellschaftskritik, aber glaubt mir: wer nach Pakistan reist und sich dort ein bisschen unter die Menschen mischt, wird mit dieser Problematik konfrontiert werden.

      Grundsätzlich hat sich jedoch eines immer wieder bestätigt: die Bevölkerung Pakistans ist sich ihres schlechten Images in der "westlichen Welt" wohlbewusst. Die Menschen, die wir getroffen haben, fühlen sich vom "Westen" missverstanden und ungerecht behandelt und möchten ihr Möglichstes tun, ihre Reputation bei „uns“ zum Guten hinzuändern. Da rennen sie bei Sofia und mir natürlich offene Türen ein.

      Dass wir weder unsere Karakorum-, noch unsere Hindukusch-Route wie geplant umsetzen konnten, war für mich trotz allem ein wenig tragisch. Hat aber auch sein Gutes, denn jetzt habe ich erst so richtig Lust bekommen…


      Hier geht's weiter zum zweiten Teil.
      Zuletzt geändert von Libertist; 27.04.2016, 10:09.
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      • geige284
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        • 11.10.2014
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        • Meine Reisen

        #4
        AW: [PK] Pakistan 2015 (1/2): Wintereinbruch im Hindukusch

        Wow, der Bericht hat mir den Arbeitsmorgen versüßt, ich war richtig versunken.

        Sofia, deine Art zu schreiben, scheint wirklich ehrlich und ist sehr fesselnd.
        Ich, der deutlich, deutlich weniger Trekkingerfahrung hat, habe eine (subjektiv) ähnliche Situation letzten Oktober in den Alpen erlebt, als ich ebenfalls über ein steiles, mit Schnee bedecktes Blockfeld aufgestiegen bin (https://www.outdoorseiten.net/forum/...er-Texelgruppe, #11). Deine Gefühle, abends nicht wirklich was ins Tagebuch schreiben zu können, weil die Erlebnisse einen so übermannt haben, kann ich durchaus teilen. Auch wenn es an Ausgesetztheit und den objektiven Gefahren nicht an euer Erlebnis rankommt, glaube ich, deine Gefühle gut nachvollziehen zu können.

        Gabriel, tolle Bilder - das ist man ja schon gewohnt, aber trotzdem muss ich es immer wieder erwähnen. Wirklich cool, dass dein Stil nun schon durch viele Reiseberichte erkennbar ist - mir gefällt er sehr gut!

        Wirklich: Hut ab vor der Leistung, der Planung, den Entscheidungen unterwegs, das Durchhalten...!!!

        Ich fand es sehr interessant, wie ihr die kulturellen Aspekte angeschnitten habt.
        Sind gerade im Bezug auf das Mann-Frau-Thema wirklich "unschöne" Szenen passiert (die ihr auch erzählen wollt) oder überwiegt dann eher der Respekt und die Gastfreundschaft - egal ob Mann oder Frau?

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        • Gast180628
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          • 08.10.2012
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          #5
          AW: [PK] Pakistan 2015 (1/2): Wintereinbruch im Hindukusch

          schön, dass ihr wieder da seid! dass ihr so gut organisiert seid (marion, entscheidungen, psychisch und sozial). dass man sich besuchen, auch wiederkommen, kann. dass ihr hier und so teilt. danke!!!

          so tritt (für mich) nun das soziale in den vordergrund. die fotos selbstverständlich fantastisch und die personen hingestellt "echt", sie wollen so, die frisch verheiratete wohl nicht, welche möglichkeiten wird sie sich finden?
          die hakelige natur korrespondiert ja irgendwie mit der besuchsweisen begegnung als gast, ist aber nicht bedingung. was ist so ein gast über die jahrhunderte? eine närrin, die man lieb hat? was sind die korrespondierenden bilder in umgekehrter richtung? idomeni und lesbos? was halte ich davon, wenn meine schwägerin grad mal wieder verschleiert und rechtlos unterwegs ist?
          Zuletzt geändert von Gast180628; 31.03.2016, 15:11.

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          • grenzenlos
            Dauerbesucher
            • 25.06.2013
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            #6
            AW: [PK] Pakistan 2015 (1/2): Wintereinbruch im Hindukusch

            Super Bilder! Super Bericht! 5 Dankeschön ihr 2 + die kulturellen Einblicke, wenn auch kurz, finde ich wichtig und interessant, denn aus eigener Erfahrung ist mir bekannt, dass diese wie Feuer und Wasser sein können. Sie bleiben sehr lange im Kopf hängen und sind mit nur wenigen Sätzen sehr, sehr schwierig erklärbar

            LG, Wi grenzenlos
            Zuletzt geändert von grenzenlos; 30.03.2016, 15:37. Grund: Zusatz
            Unsere Webseite: http://www.grenzenlosabenteuer.de

            Gruß, Wi grenzenlos

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            • Waron
              Anfänger im Forum
              • 23.11.2011
              • 43
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              • Meine Reisen

              #7
              AW: [PK] Pakistan 2015 (1/2): Wintereinbruch im Hindukusch

              Faszinierender Bericht, geniale Fotos - riesen Respekt!!
              Fordere viel von dir selbst und erwarte wenig von den anderen. So wird dir Ärger erspart bleiben. (Konfuzius)

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              • tjelrik
                Fuchs
                • 16.08.2009
                • 1244
                • Privat

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                #8
                AW: [PK] Pakistan 2015 (1/2): Wintereinbruch im Hindukusch

                Solch Märchenlandschaft,

                ich meine diese mit den Bäumen

                in karger Umgebung, habe ich noch nie gesehen.

                Unglaublich, schön, eine Phantasiewelt, wenn

                mal das mal verkorkst kitschig ausdrückt!

                Den Bericht lese ich sobald ich mehr Zeit habe.

                Zitat von Waron Beitrag anzeigen
                Faszinierender Bericht, geniale Fotos - riesen Respekt!!
                bear shit - sounds like bells & smells like pepper

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                • Hapi
                  Erfahren
                  • 22.09.2015
                  • 426
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                  • Meine Reisen

                  #9
                  AW: [PK] Pakistan 2015 (1/2): Wintereinbruch im Hindukusch

                  was für eine grandiose Landschaft... okay, Schneestürme und eisige Geröllfelder wären nicht so meins wieder mal ein toller Reisebericht und phantastische Fotos!! deluxe
                  Danke!!
                  Look deep into nature and you will understand everything better (A. Einstein)

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                  • Rattus
                    Lebt im Forum
                    • 15.09.2011
                    • 5177
                    • Privat

                    • Meine Reisen

                    #10
                    AW: [PK] Pakistan 2015 (1/2): Wintereinbruch im Hindukusch

                    Ich bin auch wieder sehr beeindruckt - vom Bericht sowie den Fotos, besonders auch den Portraits. Danke!
                    Das Leben ist schön. Von einfach war nie die Rede.

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                    • peter-hoehle
                      Lebt im Forum
                      • 18.01.2008
                      • 5175
                      • Privat

                      • Meine Reisen

                      #11
                      AW: [PK] Pakistan 2015 (1/2): Wintereinbruch im Hindukusch

                      Danke für diesen wunderschönen Reisebericht.
                      "Hut ab" vor einer solchen Unternehmung.
                      In einem Land wie Pakistan eine Trekkingtour zu unternehmen....
                      das ist nicht jedermanns Sache.

                      Kurzweilige uns sehr informative Texte mit super Bildern.
                      Dafür...

                      Gruß Peter
                      Wir reis(t)en um die Welt, und verleb(t)en unser Geld.
                      Wer sich auf Patagonien einlässt, muss mit Allem rechnen, auch mit dem Schönsten.

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                      • Libertist
                        Fuchs
                        • 11.10.2008
                        • 2064
                        • Privat

                        • Meine Reisen

                        #12
                        AW: [PK] Pakistan 2015 (1/2): Wintereinbruch im Hindukusch

                        Danke an alle!


                        Zitat von geige284 Beitrag anzeigen
                        Sind gerade im Bezug auf das Mann-Frau-Thema wirklich "unschöne" Szenen passiert (die ihr auch erzählen wollt) oder überwiegt dann eher der Respekt und die Gastfreundschaft - egal ob Mann oder Frau?
                        Respekt und Gastfreundschaft wird beiden Geschlechtern gezeigt, und zwar massiv. Nur äußert sich der Respekt gegenüber Frauen anders, als gegenüber Männern. Fremde Frauen zu respektieren heißt beispielsweise, sie nicht anzusprechen, vor allem nicht in der Öffentlichkeit. Dass soll dem Schutz der Frau dienen, die ansonsten ja in der Gesellschaft in Verruf geraten könnte. (Mann und Frau werden nie zusammen gesehen, es sei denn, sie sind Geschwister oder verheiratet. Selbst Cousinen und Cousins verbringen ab der Pupertät keine Zeit mehr allein miteinander.) Wir haben das Gender-Thema immer wieder angesprochen und es hieß mehrmals: In keiner Religion hat der Respekt gegenüber Frauen einen so hohen Stellenwert, wie im Islam. Das mag man glauben oder nicht, Fakt ist, dass sich Respekt gegenüber Frauen dort ganz anders äußert, als man es bei uns erwarten würde, oftmals so gar genau gegenteilig. Wie gesagt, so etwas muss man einfach wissen, wenn man sich in Pakistan aufhält, um das Verhalten der Menschen besser verstehen zu können. Ob man das dann gut findet oder nicht, ist eine ganz andere Frage.

                        Die Sache ist aber wirklich zu komplex, um sie hier in einem Forumsbeitrag darzustellen. Sofia wird vielleicht selbst noch etwas dazu schreiben. Meiner Ansicht nach ist dieses Thema allein jedenfalls kein Grund, Pakistan zu meiden, wenn man a) ein paar grundlegende gesellschaftliche lokale Normen verstanden hat und b) bereit ist, diese weitestgehend zu respektieren. Letzteres kann manchmal frustrierend sein.


                        Zitat von wonderrenter Beitrag anzeigen
                        was ist so ein gast über die jahrhunderte? eine närrin, die man lieb hat?
                        Ein Gast wird im Islam als ein "Geschenk Gottes" verstanden, wurde uns gesagt. Ansonsten waren wir Touristen, wie in jedem anderen Land auch. Nur, dass es in Pakistan nicht viele davon gibt, außerhalb von Hunza eigentlich fast gar keine.


                        Zitat von wonderrenter Beitrag anzeigen
                        was sind die korrespondierenden bilder in umgekehrter richtung? idomeni und lesbos?
                        Okay, worauf willst du hinaus? Und warum kommentierst du meine Beiträge eigentlich immer in grau, so als wären sie nur halb-wichtig? Soll ich sie nur halb-ernst nehmen? Vielleicht bleibt mir sowieso nichts anderes übrig.


                        Zitat von wonderrenter Beitrag anzeigen
                        was halte ich davon, wenn meine schwägerin grad mal wieder verschleiert und rechtlos unterwegs ist?
                        Das ist ein Reisebericht über Pakistan, deine Schwägerin würde ich hier ungern zum Thema machen. Aus meinen Erfahrungen kann ich jedenfalls nicht ableiten, dass Frauen dort "rechtlos" seien. Erst recht ist der Sachverhalt nicht so abgekürzt und einseitig ("verschleiert und rechtlos") zu betrachten, wie du ihn hier hinstellst.
                        Zuletzt geändert von Libertist; 31.03.2016, 12:35.
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                        • Hapi
                          Erfahren
                          • 22.09.2015
                          • 426
                          • Privat

                          • Meine Reisen

                          #13
                          AW: [PK] Pakistan 2015 (1/2): Wintereinbruch im Hindukusch

                          zu #12 ...die Fragen von wonderrenter verstehe ich nicht. Das Rollenverständnis Frau-Mann in Pakistan und anderen Ländern werden wir sicherlich nicht nachvollziehen können. Das Schächten von Tieren muss man ausblenden können. Afrika: Beschneidung Mädchen, Mädchen mit bunten Perlenketten (beliebtes Fotomotiv) - die Perlenketten gibts als Belohnung für Sex. Will ich dort als Reisender mit den Einheimischen eine Diskussion starten? Tauchparadies Malediven: Auch dieses Paradies hat (islamische) Schattenseiten. Indien: Dort gelten Frauen tw. als Freiwild, Kastensystem usw. Dann die weltweiten Umweltprobleme... Augen zu und durch? Gänzlich unbeschwert reisen ist m. E. nicht möglich
                          Look deep into nature and you will understand everything better (A. Einstein)

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                          • Libertist
                            Fuchs
                            • 11.10.2008
                            • 2064
                            • Privat

                            • Meine Reisen

                            #14
                            AW: [PK] Pakistan 2015 (1/2): Wintereinbruch im Hindukusch

                            Naja, ich gebe zu bedenken, dass man das alles vor Ort in Pakistan sehr wohl diskutieren kann. Wir sind dort ständig in Diskussionen zu Themen wie Gleichberechtigung von Mann und Frau, Politik, Sicht des Westens auf Pakistan, Sicht Pakistans auf den Westen, Tourismus, Sexualität, Schächten etc. geraten. Viele unserer Gesprächspartner dort hatten eine sehr kritische Sicht auf das eigene Land und die Gesellschaft. Viele haben auch aktiv nach unserer Meinung gefragt - nirgendwo anders auf dieser 8-monatigen Reise ist uns soviel Lust am Diskurs begegnet, wie in Pakistan. Insofern muss es nicht immer "Augen zu und durch" sein, zumindest nicht in Pakistan. Zumindest nicht unserer Erfahrung nach.
                            Regelmäßige Updates auf Facebook: Outventurous || Galerie und Weltkarte gibt's auf der Outventurous Webseite.

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                            • Hapi
                              Erfahren
                              • 22.09.2015
                              • 426
                              • Privat

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                              #15
                              AW: [PK] Pakistan 2015 (1/2): Wintereinbruch im Hindukusch

                              Zitat von Libertist Beitrag anzeigen
                              Naja, ich gebe zu bedenken, dass man das alles vor Ort in Pakistan sehr wohl diskutieren kann. Wir sind dort ständig in Diskussionen zu Themen wie Gleichberechtigung von Mann und Frau, Politik, Sicht des Westens auf Pakistan, Sicht Pakistans auf den Westen, Tourismus, Sexualität, Schächten etc. geraten. Viele unserer Gesprächspartner dort hatten eine sehr kritische Sicht auf das eigene Land und die Gesellschaft. Viele haben auch aktiv nach unserer Meinung gefragt - nirgendwo anders auf dieser 8-monatigen Reise ist uns soviel Lust am Diskurs begegnet, wie in Pakistan. Insofern muss es nicht immer "Augen zu und durch" sein, zumindest nicht in Pakistan. Zumindest nicht unserer Erfahrung nach.
                              ...war ja nicht nur auf Pakistan bezogen. Vor zwei Jahren habe ich auf Cuba mit den Leuten auch über das politische System usw. diskutiert. Kein Problem. Und natürlich geht das auch in Ländern wie Pakistan. Ihr habt ja nicht die "westliche Keule" ala "Euer Frauenbild ist aus dem Mittelalter, Schächten ist Tierquälerei" etc. hervorgeholt Und die Diskussionen habt Ihr sicherlich nicht mit den Hardlinern geführt. Würde ja auch ausser Phrasendreschereien nix bringen, die "Lust am Diskurs" wäre eher begrenzt
                              Look deep into nature and you will understand everything better (A. Einstein)

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                              • Gast180628
                                GELÖSCHT
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                                • 08.10.2012
                                • 510
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                                #16
                                AW: [PK] Pakistan 2015 (1/2): Wintereinbruch im Hindukusch

                                ja, das ist leise geschrieben und aus der letzten zuschauerreihe gemurmelt :-).
                                grossartiger bericht, ich warte gespannt auf 2/2.

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                                • Tractrice
                                  Anfänger im Forum
                                  • 26.11.2015
                                  • 34
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                                  #17
                                  AW: [PK] Pakistan 2015 (1/2): Wintereinbruch im Hindukusch

                                  Danke an alle für das positive Feedback.

                                  Zitat von geige284 Beitrag anzeigen
                                  Ich fand es sehr interessant, wie ihr die kulturellen Aspekte angeschnitten habt. Sind gerade im Bezug auf das Mann-Frau-Thema wirklich "unschöne" Szenen passiert (die ihr auch erzählen wollt) oder überwiegt dann eher der Respekt und die Gastfreundschaft - egal ob Mann oder Frau?
                                  Danke erstmal für deine netten Worte. Ja, ich/wir haben sehr schöne und auch unschöne Erfahrungen gemacht. Gabriel hat ja schon was zu der Frage gesagt und ich möchte eigentlich gar nicht viel ergänzen, außer es gibt konkrete Fragen. Das Beispiel mit dem Ansprechen auf der Straße hätte negative Konsequenzen für beide, da ich als Gabriels Frau auftrete und wenn ich dann auf einen anderen Mann zugehe, würde ich Gabriel dadurch öffentlich beleidigen. Respekt gegenüber Frauen, und v.a. älteren Menschen hat einen ganz großen Stellenwert (und ist wie bereits gesagt, nicht immer der gleiche Respekt wie in Mitteleuropa). Ich stimme grenzenlos total zu, dass wenige Sätze den brisanten Erfahrungen schwer gerecht werden.

                                  Hier will ich Gabriel widersprechen:

                                  Zitat von Libertist Beitrag anzeigen
                                  Wie gesagt, so etwas muss man einfach wissen, wenn man sich in Pakistan aufhält, um das Verhalten der Menschen besser verstehen zu können. Ob man das dann gut findet oder nicht, ist eine ganz andere Frage.
                                  Nichts muss gewusst werden. Wir hatten beide nicht viel Ahnung von Pakistan, bevor wir in das Land und in seine Kulturen, Traditionen und religiösen Verhaltensweisen getrudelt sind. Wer mit offenen Augen und Ohren respektvoll und differenziert auf alles zugeht, kann sich sein/ihr eigenes Bild verschaffen und generell steht Gastfreundschaft über allem:
                                  Tourist_innen wird auch schnell mal verziehen;
                                  immerhin ist offensichtlich, dass diese nicht alle Regeln, Normen, Verhaltensweisen kennen.

                                  Zitat von Libertist Beitrag anzeigen
                                  Insofern muss es nicht immer "Augen zu und durch" sein, zumindest nicht in Pakistan. Zumindest nicht unserer Erfahrung nach.
                                  Dem stimme ich voll und ganz zu. Für mich hat das darüber sprechen und diskutieren einen großen Unterschied in allen Begegnungen gemacht. Ohne die direkte Auseinandersetzung fällt es nahezu leicht, sich ein Bild zu machen und es als gut oder schlecht abzutun. Durch die vielen Gespräche mit vielen verschiedenen Menschen und Meinungen wurde mir ein Gefühl der Komplexität vermittelt, die gerade den heiklen Themen eher gerecht wird, als ein vorschneller Schluss aufgrund irgendwelcher Interpretation durch meine mitteleuropäische EU-Brille. Genau wie Hapi geschrieben hat.

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                                  • simurgh
                                    Fuchs
                                    • 02.11.2011
                                    • 1846
                                    • Privat

                                    • Meine Reisen

                                    #18
                                    AW: 2015 Pakistan (1/2): Wintereinbruch im Hindukusch

                                    Anmerkung Libertist: ....Wir befanden uns in einem Tal, das nur zwei Ausgänge hatte: weiter nach oben Richtung Pass, mit einer langen Gletscherpassage zu Beginn und mindestens einer weiteren Woche Fußmarsch. Deutlich länger, wenn weiter Schnee fällt. Oder zurück, aber das musste bald geschehen, da die Hang-Passage bei Neuschnee nicht mehr machbar gewesen wäre.
                                    Hallo Ihr Beiden, bis jetzt habe ich Euren Reisebericht nur kurz "quergelesen". Am Wochenende mache ich das noch in Ruhe! Vor paar Jahren war ich selbst mal in der Ecke unterwegs und finde Eure Worte und Bilder einfach nur herzerwärmend.

                                    An diesem Gletscher, der ein ganzes Tal versperrt und ständigen Veränderungen unterliegt, umzukehren, war unter diesen Wetterbedingungen bestimmt eine weise Entscheidung. Von der "Chhateboi Glacier Querung" habe ich bisher nur gelesen und Erzählungen von Einheimischen gelauscht. Mein Reiseziel war damals dieses jährliche Yak Polo Festival in Lashkargaz und der Karumbar Lake:


                                    (INFO: Bitte kein Bildmaterial einfügen, das die Rechte Dritter verletzt. d.h. i.d.R. keine Musikvideos, TV-Serien etc. )

                                    Leider haben es die Chitral Scouts uns damals nicht erlaubt, weiter als bis Chikar bzw. Ishkarwarz im Yarkhun valley vorzudringen.

                                    Die paar Tage um Chikar und am Darkot Glacier Bascamp sind aber in bleibender Erinnerung.

                                    Wenn es Euren Thread nicht stört, suche ich gerne am WE paar Bilder heraus, die Euer Wiederkommen an Orte hinter den Darkot und Karumbar Pässen beflügeln werden...

                                    Pakistan Zindabad
                                    Zuletzt geändert von simurgh; 31.03.2016, 17:23. Grund: Rechtschreibung
                                    >> Ich suchte Berge und fand Menschen <<

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                                    • Libertist
                                      Fuchs
                                      • 11.10.2008
                                      • 2064
                                      • Privat

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                                      #19
                                      AW: [PK] Pakistan 2015 (1/2): Wintereinbruch im Hindukusch

                                      Hey simurgh, das ist ja cool, danke für deinen Beitrag! Von dem Festival habe ich vor kurzem erst gehört, scheint eine sehr kleine Sache zu sein, über die in den pakistanischen Medien aber berichtet wird (ein pakistanischer Freund hat mir letzte Woche davon erzählt). Ich werde im kommenden Sommer wahrscheinlich vom Yarkhun Valley über Thui Pass und Darkot Pass zum See gehen, dann weiter über Chilinji Pass nach Chapursam.

                                      OT: Ich würde die Bilder gerne sehen, aber kannst du sie vielleicht in irgendeinem anderen (Bilder-) Thread posten und dann hier verlinken? Mir wäre es lieber, wenn sie nicht direkt im Reisebericht stünden. Danke.


                                      Zitat von wonderrenter Beitrag anzeigen
                                      ja, das ist leise geschrieben und aus der letzten zuschauerreihe gemurmelt :-).
                                      Das ist auch dein gutes Recht; du sollst ja auch kritisieren, wenn es etwas zu kritisieren gibt. Nur hab ich manchmal Schwierigkeiten, deine Kritik zu verstehen.
                                      Regelmäßige Updates auf Facebook: Outventurous || Galerie und Weltkarte gibt's auf der Outventurous Webseite.

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                                        • 15.09.2012
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                                        #20
                                        AW: [PK] Pakistan 2015 (1/2): Wintereinbruch im Hindukusch

                                        Ausgesprochen inspirierend & großer Respekt!

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