AW: [FI] In Finnland ist alles möglich - Radwandern auf der Via Finlandia
16.09.2015. Helsinki. Ruhetag.
Am Morgen ist es trüb und grau. Und kalt. Ich habe zehn Stunden geschlafen, aber so richtig wach bin ich nicht. Hatte ich gestern noch vorgehabt, mit dem Fahrrad die Inseln zu erkunden, so schleppe ich mich nun zur Metro nach Helsinki. Fassunglos sehe ich die riesigen Baustellen in der Nähe der gestrigen Radstrecke. Ich rolle eine Rolltreppe hoch und sehe, wie sich das Licht in den Blenden spiegelt. Also fahre ich noch einmal runter und wieder hinauf, um ein Foto für die Fotochallenge machen zu können. Die Aufgabe lautet: Spiegelungen.
Im Bahnhof finde ich noch ein besseres Motiv, aber dann fällt mir auf, dass ja dann jeder weiß, wo ich bin. So veröffentliche ich es nicht.
Das Pflaster ist nass, uneben, glitschig. Fast wie im Winter. Ich schleiche durch die Outdoorläden. Aber das habe ich ja alles schon. So kaufe ich nur ein Geschenk und zwei günstige Sitzunterlagen aus gepresstem Schaumstoff. Sie sind leicht und bei diesem Regen kann ich sie verdammt gut brauchen.
Ich irre durch irgendwelche Passagen auf der Suche nach facilities. An einem Werbestand wird Joghurt ausgeschenkt.
Ich habe das Handy angelassen und sehe eine finnische Nummer auf dem Display. Ich rufe zurück. Irgend etwas Finnisches und dann in Englisch: Für einen Service in Englisch drücken sie die X. Diese Ansage kenne ich von dem Hotel in Vaasa, das ich nicht gefunden hatte. Da hatte ich während meiner Suche noch einmal angerufen. Ist das vielleicht der Rückruf? Kurz darauf summt mein Handy wieder, aber ich merke es zu spät. Egal. Ich habe frei. Wenn es wichtig ist, rufen die bestimmt noch einmal zurück. Vielleicht ist es aber auch Spam. Und auf Spam habe ich keine Lust.
Ein Laden für Schrumpfköpfe und anderen Bedarf. Schnapskettchen. Und natürlich Deko in Bayrisch-blau für den Bierzeltbedarf. Ein Besuch bei Stockmanns. Die Lebensmittelabteilung. Hunger habe ich keinen. So kaufe ich nicht viel. Nur dem Lachs kann ich nicht widerstehen.
Mein eigentliches Ziel für heute ist die Akademische Buchhandlung von Stockmanns. Die Auswahl ist in Ordnung, aber ein Buch, das mich vom Hocker reissen würde, sehe ich nicht. Es kommt mir auch so vor, als würden Autoren fehlen. Letholainen, Raitilla, Paasilinna. Dafür gibt es mindestens acht Ausgaben von der Kalevala. Das ist mir zuviel intellektueller Anspruch. Nach langem Grübeln entscheide ich mich für „Die Lachsfischerin/Der Sommer vor meinem Fenster“. Eeva-Kaarina Aaronen. Die erste Geschichte spielt in Weißmeer-Karelien. Ich hoffe, maahinen ist zufrieden. Einen Moment überlege ich, zwei Bücher zu kaufen, aber das ist mir doch zu teuer.
Ich gehe an die Kasse, und die Dame sagt: 2.00 Euro. Ich erschrecke mich und schaue sie entsetzt an. Aber es ist kein Irrtum. Die Frau schaut ernst und nickt. Sowenig Geld für ein gutes Buch? Das geht doch nicht. Lösen sie die deutsche Abteilung auf? Hat Amazon und Co. gesiegt? Hier auch? Ich bin so erschüttert, dass ich kein zweites Buch mehr kaufe. Nachdenklich verlasse ich das Haus.
Lokale werben mit Lunch, doch ich suche nur eine Kleinigkeit. So lande ich in einer Systemgastro. Das Sandwich schmeckt künstlich und farblos. In die Mensacafeteria traute ich mich leider nicht. Ich hätte fragen sollen. Jetzt ist es zu spät. Ich bin nun völlig erschöpft und fahre zurück.
Es nieselt und das Zelt erscheint mir plötzlich zu klein. Ich finde einen TV Raum, hier ist es halbwegs warm, und ich lese mein Buch. Einen Moment überlege ich, bei Finnlines anzurufen und früher zurückzufahren. Aber auch dazu bin ich zu müde. Und vielleicht wird der Tag morgen ja noch ganz gut.
Das Pärchen mit dem Quechua Wurfzelt und dem französischen Auto mit rotem Kennzeichen, das bei mir in der Nähe stand, war heute morgen abgereist. Statt ihrer sind neue Leute mit französischem Kennzeichen angekommen, auch ihr Kennzeichen ist rot. Neben mir bauen sie zwei Wurfzelte auf. Sie sprechen allerdings kein französisch. Merkwürdig. Und rote Kennzeichen kenne ich von Frankreich auch nicht. Aber eigentlich kann mir das auch egal sein. Ich nehme meine Sachen und koche unter dem Küchendach. Der vorgebratene Lachs ist köstlich.
Als ich zurückkomme, sind aus den zwei Zelten vier Zelte geworden. Sie rücken bedrohlich in meine Nähe vor, und ich mache meiner Nationalität alle Ehre und motze auf Englisch herum. 4 Meter Abstand sind die Grundregel in Finnland, und sie sollen sich bitte daran halten. Prompt misst einer der Jungs nach und kommt auf 6 Meter. Ich messe selbst, und es sind wohl wirklich ziemlich genau 4 Meter. Nur: Der ganze Platz ist leer, und an ihrer Ecke ist auch noch Platz. Es sei nun wirklich nicht nötig, sich auf die Pelle zu rücken, wenn der ganze Platz leer sei, und neben mir Party zu machen!
Anscheinend haben die Jungs dann doch keine Lust auf Stress, und so rückt der andere sein Zelt ein Stückchen zum Auto hin. Okay?, fragt er. Okay, sage ich – es ist wirklich okay. Ein guter Kompromiss. Feiern werden sie an der Küche, sagt er mir.
Am anderen Ende des Platzes bauen zwei Wanderer ein Nammatj auf, und gleich fühle ich mich etwas besser. Oulanka und Lemmijoki. Sie sind aus der Schweiz.
Ein Auto rauscht an meinem Zelt vorbei und stellt sich dann vor mein Zelt. Mein Hirn meldet Alarm: Mein Zelt ist in Gefahr. Aber sie fahren dann doch weiter und bauen etwas weiter rechts auf. Wieder ein Auto mit rotem französischen Nummerschild. Diesmal frage ich nach. Die Autos sind Leihwagen. Sie wurden in Frankreich gemietet. Die Ausrüstung von Decathlon ist inklusive. Die Insassen sind Studenten aus Uruguay, die meisten davon Architekturstudenten. Sie reisen um die Welt, um sich überall die Architektur anzuschauen und verkaufen Lose für eine Lotterie, um sich zu finanzieren. Der Mann von der Rezeption wird am nächsten Tag im Gespräch die Augen rollen, als ich von ihnen erzähle. Letztes Jahr kamen auf einen Schlag 150 Mann. Sie machten Party, und niemand konnte schlafen. Das war überhaupt nicht schön. Sie kommen jedes Jahr. Anscheinend habe ich Glück gehabt. Diesmal ist es ruhig, die Gruppe neben mir bleibt an der Küche. Für eine ausgedehnte Party ist es einfach zu regnerisch und zu kalt und Internet gibt es an den Zelten nicht.
In der Ferne bauen weitere Uruguayer ihre Zelte auf. Eine große Gruppe mit drei Quechua Familienzelten. Ein deutsches Auto fährt auf den Platz. Die Familie hat zwei Seekajaks dabei. Als sie auch ein VE 25 aufbauen, bin ich begeistert, und spreche sie an. Vermutlich denken sie, ich hätte einen formidablen Tick. Nun, ganz von der Hand zu weisen ist das nicht. Die glühende Farbe erleuchtet den Platz. Mist. Dieses Zelt habe ich nicht.
Ich wasche ein paar Sachen durch und hänge sie im Trockenraum auf die Leine. Die Studenten aus Uruguay nutzen ebenfalls die Gelegenheit und haben die Waschmaschinen und Trockner in Beschlag genommen. Ein paar deutsche Wohnmobilisten fortgeschrittenen Alters inspizieren den Platz und den Entsorgungsraum für die Chemieklos. Ein verkniffener Blick und ein nörgeliger Zug um dem Mund. Ob "die da wohl....". "Immerhin haben die...". Ich kriege Nerven. "Wir" und "die da". Es ist nicht zu übersehen, dass "die da" niemals genügen können, weil sie ja nicht "wir" sind. Warum fahren solche Leute denn nur weg? Ein schrecklicher Vorgeschmack kommender Diskussionen weht an mir vorbei. Ich tarne mich als Engländer.
Bald beginnt es wieder zu regnen. Mit meinem Buch ziehe ich mich ins Zelt zurück.
16.09.2015. Helsinki. Ruhetag.
Am Morgen ist es trüb und grau. Und kalt. Ich habe zehn Stunden geschlafen, aber so richtig wach bin ich nicht. Hatte ich gestern noch vorgehabt, mit dem Fahrrad die Inseln zu erkunden, so schleppe ich mich nun zur Metro nach Helsinki. Fassunglos sehe ich die riesigen Baustellen in der Nähe der gestrigen Radstrecke. Ich rolle eine Rolltreppe hoch und sehe, wie sich das Licht in den Blenden spiegelt. Also fahre ich noch einmal runter und wieder hinauf, um ein Foto für die Fotochallenge machen zu können. Die Aufgabe lautet: Spiegelungen.
Im Bahnhof finde ich noch ein besseres Motiv, aber dann fällt mir auf, dass ja dann jeder weiß, wo ich bin. So veröffentliche ich es nicht.
Das Pflaster ist nass, uneben, glitschig. Fast wie im Winter. Ich schleiche durch die Outdoorläden. Aber das habe ich ja alles schon. So kaufe ich nur ein Geschenk und zwei günstige Sitzunterlagen aus gepresstem Schaumstoff. Sie sind leicht und bei diesem Regen kann ich sie verdammt gut brauchen.
Ich irre durch irgendwelche Passagen auf der Suche nach facilities. An einem Werbestand wird Joghurt ausgeschenkt.
Ich habe das Handy angelassen und sehe eine finnische Nummer auf dem Display. Ich rufe zurück. Irgend etwas Finnisches und dann in Englisch: Für einen Service in Englisch drücken sie die X. Diese Ansage kenne ich von dem Hotel in Vaasa, das ich nicht gefunden hatte. Da hatte ich während meiner Suche noch einmal angerufen. Ist das vielleicht der Rückruf? Kurz darauf summt mein Handy wieder, aber ich merke es zu spät. Egal. Ich habe frei. Wenn es wichtig ist, rufen die bestimmt noch einmal zurück. Vielleicht ist es aber auch Spam. Und auf Spam habe ich keine Lust.
Ein Laden für Schrumpfköpfe und anderen Bedarf. Schnapskettchen. Und natürlich Deko in Bayrisch-blau für den Bierzeltbedarf. Ein Besuch bei Stockmanns. Die Lebensmittelabteilung. Hunger habe ich keinen. So kaufe ich nicht viel. Nur dem Lachs kann ich nicht widerstehen.
Mein eigentliches Ziel für heute ist die Akademische Buchhandlung von Stockmanns. Die Auswahl ist in Ordnung, aber ein Buch, das mich vom Hocker reissen würde, sehe ich nicht. Es kommt mir auch so vor, als würden Autoren fehlen. Letholainen, Raitilla, Paasilinna. Dafür gibt es mindestens acht Ausgaben von der Kalevala. Das ist mir zuviel intellektueller Anspruch. Nach langem Grübeln entscheide ich mich für „Die Lachsfischerin/Der Sommer vor meinem Fenster“. Eeva-Kaarina Aaronen. Die erste Geschichte spielt in Weißmeer-Karelien. Ich hoffe, maahinen ist zufrieden. Einen Moment überlege ich, zwei Bücher zu kaufen, aber das ist mir doch zu teuer.
Ich gehe an die Kasse, und die Dame sagt: 2.00 Euro. Ich erschrecke mich und schaue sie entsetzt an. Aber es ist kein Irrtum. Die Frau schaut ernst und nickt. Sowenig Geld für ein gutes Buch? Das geht doch nicht. Lösen sie die deutsche Abteilung auf? Hat Amazon und Co. gesiegt? Hier auch? Ich bin so erschüttert, dass ich kein zweites Buch mehr kaufe. Nachdenklich verlasse ich das Haus.
Lokale werben mit Lunch, doch ich suche nur eine Kleinigkeit. So lande ich in einer Systemgastro. Das Sandwich schmeckt künstlich und farblos. In die Mensacafeteria traute ich mich leider nicht. Ich hätte fragen sollen. Jetzt ist es zu spät. Ich bin nun völlig erschöpft und fahre zurück.
Es nieselt und das Zelt erscheint mir plötzlich zu klein. Ich finde einen TV Raum, hier ist es halbwegs warm, und ich lese mein Buch. Einen Moment überlege ich, bei Finnlines anzurufen und früher zurückzufahren. Aber auch dazu bin ich zu müde. Und vielleicht wird der Tag morgen ja noch ganz gut.
Das Pärchen mit dem Quechua Wurfzelt und dem französischen Auto mit rotem Kennzeichen, das bei mir in der Nähe stand, war heute morgen abgereist. Statt ihrer sind neue Leute mit französischem Kennzeichen angekommen, auch ihr Kennzeichen ist rot. Neben mir bauen sie zwei Wurfzelte auf. Sie sprechen allerdings kein französisch. Merkwürdig. Und rote Kennzeichen kenne ich von Frankreich auch nicht. Aber eigentlich kann mir das auch egal sein. Ich nehme meine Sachen und koche unter dem Küchendach. Der vorgebratene Lachs ist köstlich.
Als ich zurückkomme, sind aus den zwei Zelten vier Zelte geworden. Sie rücken bedrohlich in meine Nähe vor, und ich mache meiner Nationalität alle Ehre und motze auf Englisch herum. 4 Meter Abstand sind die Grundregel in Finnland, und sie sollen sich bitte daran halten. Prompt misst einer der Jungs nach und kommt auf 6 Meter. Ich messe selbst, und es sind wohl wirklich ziemlich genau 4 Meter. Nur: Der ganze Platz ist leer, und an ihrer Ecke ist auch noch Platz. Es sei nun wirklich nicht nötig, sich auf die Pelle zu rücken, wenn der ganze Platz leer sei, und neben mir Party zu machen!
Anscheinend haben die Jungs dann doch keine Lust auf Stress, und so rückt der andere sein Zelt ein Stückchen zum Auto hin. Okay?, fragt er. Okay, sage ich – es ist wirklich okay. Ein guter Kompromiss. Feiern werden sie an der Küche, sagt er mir.
Am anderen Ende des Platzes bauen zwei Wanderer ein Nammatj auf, und gleich fühle ich mich etwas besser. Oulanka und Lemmijoki. Sie sind aus der Schweiz.
Ein Auto rauscht an meinem Zelt vorbei und stellt sich dann vor mein Zelt. Mein Hirn meldet Alarm: Mein Zelt ist in Gefahr. Aber sie fahren dann doch weiter und bauen etwas weiter rechts auf. Wieder ein Auto mit rotem französischen Nummerschild. Diesmal frage ich nach. Die Autos sind Leihwagen. Sie wurden in Frankreich gemietet. Die Ausrüstung von Decathlon ist inklusive. Die Insassen sind Studenten aus Uruguay, die meisten davon Architekturstudenten. Sie reisen um die Welt, um sich überall die Architektur anzuschauen und verkaufen Lose für eine Lotterie, um sich zu finanzieren. Der Mann von der Rezeption wird am nächsten Tag im Gespräch die Augen rollen, als ich von ihnen erzähle. Letztes Jahr kamen auf einen Schlag 150 Mann. Sie machten Party, und niemand konnte schlafen. Das war überhaupt nicht schön. Sie kommen jedes Jahr. Anscheinend habe ich Glück gehabt. Diesmal ist es ruhig, die Gruppe neben mir bleibt an der Küche. Für eine ausgedehnte Party ist es einfach zu regnerisch und zu kalt und Internet gibt es an den Zelten nicht.
In der Ferne bauen weitere Uruguayer ihre Zelte auf. Eine große Gruppe mit drei Quechua Familienzelten. Ein deutsches Auto fährt auf den Platz. Die Familie hat zwei Seekajaks dabei. Als sie auch ein VE 25 aufbauen, bin ich begeistert, und spreche sie an. Vermutlich denken sie, ich hätte einen formidablen Tick. Nun, ganz von der Hand zu weisen ist das nicht. Die glühende Farbe erleuchtet den Platz. Mist. Dieses Zelt habe ich nicht.
Ich wasche ein paar Sachen durch und hänge sie im Trockenraum auf die Leine. Die Studenten aus Uruguay nutzen ebenfalls die Gelegenheit und haben die Waschmaschinen und Trockner in Beschlag genommen. Ein paar deutsche Wohnmobilisten fortgeschrittenen Alters inspizieren den Platz und den Entsorgungsraum für die Chemieklos. Ein verkniffener Blick und ein nörgeliger Zug um dem Mund. Ob "die da wohl....". "Immerhin haben die...". Ich kriege Nerven. "Wir" und "die da". Es ist nicht zu übersehen, dass "die da" niemals genügen können, weil sie ja nicht "wir" sind. Warum fahren solche Leute denn nur weg? Ein schrecklicher Vorgeschmack kommender Diskussionen weht an mir vorbei. Ich tarne mich als Engländer.
Bald beginnt es wieder zu regnen. Mit meinem Buch ziehe ich mich ins Zelt zurück.
Kommentar