[NL] [UK] Ups und Downs auf der North Sea Cycle Route

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    • 16.08.2008
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    #41
    AW: [NL] [UK] Ups und Downs auf der North Sea Cycle Route

    Über die Freude, Fahrrad zu fahren: Nebelimpressionen und ein Cliff.

    Do, 11.09.2014
    Hunmanby – Beverley, 94,4 km

    Am Morgen färbt sich der Himmel zartrosa und es verspricht ein schöner Tag zu werden. Ich habe einen Gast in der Apsis, der wohl Unterschlupf vor der Morgenfeuchte gesucht hat. Der Tau tropft von dem Baum über mir auf das Zelt. Ich werde es nie lernen, mich von Bäumen fernzuhalten. Hoffentlich ist es keine Birke oder Linde (nein, ist es nicht).





    Ich habe kaum noch etwas zu essen und frühstücke die Baked Beans. Etwas Warmes braucht der Mensch, es ist kühl draußen. Außerdem habe ich nichts anderes mehr.

    Und dann sehe ich eine Wand auf mich zukommen.





    Seenebel. Noch kämpft die Sonne dagegen an, aber sie wird sich so schnell nicht durchsetzen können.





    Schnell packe ich alles zusammen. Das Innenzelt separat, „weil es einfach ist“. Aber auch aus einem weiteren Grund: Natürlich klebt nun frischgemähter Rasen am Außenzelt. Den muss ich nicht auch noch am Innenzelt haben. Dieser Zustand meines Außenzeltes wird sich die nächsten Tage übrigens nicht mehr ändern, denn Engländer mähen anscheinend ständig den Rasen. Das Geheimnis, warum er so schön ist.








    Kurz nach halb acht bin ich an der Straße. Der Nebel befindet sich noch in Wassernähe, im Ort ist der Himmel klar. Ein Rennradler kommt mir entgegen, wir grüßen uns. Auf der Antenne sitzen Vögel und zwitschern so variantenreich, dass es eine Freude ist.





    Es ist ein Gemurmel, Gepiepse, Gejodel, Geträller und Gesinge, dass ich fast das Gefühl habe, es säße ein Papagei in einem der Fenster, der mal vor sich hinbrabbelt und mal verschiedene Vogelstimmen imitiert. Aber ich sehe keinen. Es klingt, als fände eine äußerst angeregte Unterhaltung statt. Austausch von Klatsch und Tratsch. Ich sollte mich mehr mit Vogelstimmen beschäftigen, ich habe keine Ahnung, welche Vögel das sind.





    Ich überlege, ob ich eine Frau, welche die Straße entlang geht, fragen soll, ob es hier ein Geschäft gibt, aber sie ist ganz in Gedanken, und ich mag noch nicht reden. So biege ich den Schildern folgend links ab.

    Eine kleine, ruhige Landstraße.





    Schön zu fahren.





    Wieder ein gut gelaunter Zwitschervogel. Ein Rotkehlchen?





    Immer noch Nebel über den Feldern.





    Meine gut getarnten, gefiederten Begleiter, die sich gerne vor mir verstecken oder ängstlich die Flucht ergreifen. Sie sitzen auf den Feldern, meist gut geschützt durch die Hecken. Wenn ich lautlos in ihre Nähe komme, sind sie alarmiert, denn Radfahrer kennen sie vermutlich nicht. Vielleicht ist es aber auch die Sicherheitsweste, die sie erschreckt.








    Die Luft ist kalt und ich friere. Aber der Weg ist einfach wunderschön. Autos fahren zu dieser Zeit keine.





    Vor mir befindet sich ein Pferd, und ich fahre langsamer.





    Überholen möchte ich es nicht. Ich halte sowieso öfter an, um zu fotografieren. Man sieht den Atem in der kalten Luft. Ein schöner Anblick.





    Eine Zeitlang fahre ich mit mehr oder weniger großem Abstand hinter ihm her. Ein Auto überholt langsam, die Reiterin und der Fahrer kennen sich und sie rufen sich etwas zu. Das Pferd scheut und die Reiterin bekommt es nicht mehr richtig in Griff. Sie winkt mich vorbei. Das Pferd ist keine Fahrräder gewohnt, und meine Anwesenheit macht es unruhig.





    Wieder die vorbildliche Ausschilderung. Auf einer Nebenstraße geht es weiter.





    Ein weißer Doppeldecker biegt auf die Landstraße ein. Ein schöner Anblick. Ein weiterer Campingplatz.





    Wieder einmal genieße ich die Landschaft.





    Still ist es hier. Wunderbar still. Das Meer lässt sich erahnen.





    Die Steigungen sind jetzt genau richtig. Was für eine schöne Fahrt.





    Der Nebel zaubert magische Landschaften herbei.





    Es ist eine einspurige Straße. Davon gibt es viele hier. Wenn ein Auto kommt, muss man an den Buchten ausweichen.








    Wieder die Vögel.





    Und dann sause ich auf einer Straße ins Tal. Links ein Hügel, vom Nebel verdeckt. Unheimlich ragen die Bäume in den Himmel. Ein magischer Anblick. Verwunschen. Ein Elfenhügel. Foto. Ich sollte ein Foto machen.

    Aber ich kann nicht. Es ist so furchtbar kalt und feucht, dass ich nicht anhalten mag. Den Hügel über mir im Blick, rolle ich talwärts und es ist ein Genuss, den ich nicht durch Anhalten unterbrechen kann. Ich rede mir ein, dass ich ein Weitwinkelobjektiv bräuchte, um den Eindruck wirklich wieder geben zu können und so ist es wohl auch. Dennoch. Es gefällt mir, dass dieser Moment unfotografiert bleibt. Und so existiert von diesem Erleben nur das Bild, dass sich tief in mein Gedächtnis geprägt hat. Nur für mich allein.

    Als die Abfahrt vorbei ist, sehe ich am Straßenrand Spinnweben im Dunst, und ich beschließe, dass Foto, das ich kurz vor Nieuweschans vergessen hatte, nachzuholen.





    Traumhaft ist es hier. Wäre es nicht so kalt, würde ich verweilen.





    Aber ich muss in Bewegung bleiben. Meine Zehenspitzen melden sich und fordern dicke Socken. Der Winter kommt.
    Ein Ort. Das Gasthaus sieht aus, als hätte es bessere Zeiten gesehen.








    Man hört Traktoren, das gute Wetter muss genutzt werden, um die Ernte einzubringen. Im Hintergrund des folgenden Bildes ist der Hügel zu sehen, der unfotografiert geblieben ist.








    Bridlington wäre nun 4 Meilen entfernt, aber der Radweg macht die üblichen Umwege.


    Wieder eine Fahrt in den Nebel.














    Die Wegführung ist excellent, nicht nur was die Beschilderung angeht, sondern auch was die gewählten Strecken angeht. Perfekte Radfahrwege, einsam und nicht so hügelig, dass es stört. Ich genieße jeden einzelnen Moment aus vollem Herzen.





    Ein Lastwagen fährt langsam hinter mir, und ich weiche auf den Grasstreifen aus. Der Fahrer bedankt sich herzlich. Man sieht, wie eng die Straßen für die Fahrzeuge von heute sind.





    Das erste Mal begegnen mir die Bahnübergänge, bei denen die LKW Fahrer mit Anhänger anrufen müssen, bevor sie den Bahnübergang passieren. Die entsprechende Einrichtung ist vorhanden.





    Wieder ein netter kleiner Campingplatz. Ob er auch Zelter aufnimmt, weiß ich nicht.





    Der Ort wirkt nett, aber der Radweg knickt erst einmal ab und führt auf einem einsamen Weg um ein Gehöft herum.








    Der Bonsai fasziniert mich.





    Es geht nun an der Hauptstraße weiter und ein Radfahrer mit einem Klapperfahrrad taucht neben mir auf (es gibt also mehr als 2 Radfahrer in England, Scrat :-) ). Ein Mann in mittlerem Alter sitzt darauf und fragt, wo ich herkomme. Ich antworte: Deutschland und lerne die Lektion, dass diese Frage nicht darauf abzielt, mein Heimatland zu erfahren, sondern, wo ich morgens gestartet bin. „Hunmanby“. Er ist beeindruckt. Wo ich hinwolle. Hull. Er versteht erst nicht, hier sagt man Hall. Er würde auch gerne Fahrrad fahren, aber das wäre ihm zu weit. Ob ich irgendetwas an Hilfe brauchen würde.
    Oh ja, da fällt mir etwas ein. Gibt es hier einen Supermarkt? Nein, aber das Postoffice. Dort gibt es die besten Pies in der ganzen Umgebung. Er ist gerade auf dem Weg dahin. Ich solle ihm folgen. Ob ich die Bempton Cliffs kennen würde. Da müsse ich unbedingt hin. Das seien die schönsten Cliffs hier und man könne von hier aus am besten die Vögel sehen. Da müsse ich unbedingt hin. Es ist nur eine Meile. Ohne die Cliffs gesehen zu haben, sollte man nicht wegfahren.

    Wir halten an dem Post office und nie in meinem Leben wäre ich auf die Idee gekommen, dass man dort Lebensmittel kaufen kann. Nur von hinten sieht man das Schild „Village store“. Fährt man vorbei fährt, denkt man, es sei ein Schreibwarenladen.





    Ich erwerbe sechs Vollkornbrötchen (die knatschigen weichen, aber mir schmecken sie), eine Dose Thunfisch, ein Pie, Cornish Pasty, ein Stück Käse. Ich muss langsam etwas Geld abheben, aber der Geldautomat funktioniert mit meiner Karte nicht. Ich benötige einen internationalen Automaten.

    Die Abzweigung zu den Bempton Cliffs ist an der nächsten Kreuzung. Ich überlege einen kurzen Moment, denn der Weg nach Hull ist weit. Andererseits hat der Mann Recht. Wenn man schon einmal hier ist? So biege ich in Richtung Bempton Cliffs ab. Es geht stetig bergauf, aber es ist eine Steigung, die für mich noch in Ordnung ist. Ein VW Bus überholt mich. Kurz darauf kommt er wieder. Es wird doch hoffentlich nicht geschlossen sein? Trotzdem entschließe ich mich, weiter zu radeln. Langsam aber stetig gewinne ich Meter um Meter.
    Das Infozentrum ist tatsächlich geschlossen, aber die Fußwege zu den Cliffs sind geöffnet. Ich schiebe mein Fahrrad auf dem Public footpath in Richtung Meer. Und habe vor mir die Felsen. Faszinierend, wie die Vögel an den Klippen hängen und elegant starten und landen. Ich mache ein paar Fotos und dann frühstücke ich. Mein Magen knurrt bereits und meine Konzentration ist auf dem Hinweg stetig abgesunken.














    Das Meer ist voller Vögel, das Foto kann den Eindruck nur unvollständig wiedergeben.





    Mein Tele fehlt mir. Und die Kamera ist falsch eingestellt.








    Nachträgliche Vergrößerungen.








    Es ist ein ständiges Kommen und Gehen an den Nist- und Rastplätzen. Ein älteres Ehepaar kommt und grüßt sehr nett. Ich blicke auf die menschenleere Landschaft. Schön ist es hier, ein Platz nach meinem Geschmack. Vögel, Wind und das Meer.














    Auf dem Rückweg geht es nun bergab. Meine Knie sind unvermutet steif geworden und fühlen sich nicht gut an. Ob das an der Pasty liegt? Da war Fleisch drin. Aber ich vermute eher, dass meine Knie ausgekühlt sind. Ich muss sie besser wärmen.

    Strohballen lassen das Feld unwirklich erscheinen. Fast sieht es wie eine Siedlung aus.





    Dann bin ich wieder in der Zivilisation. Ein Blick noch auf die Kirche des Ortes.





    Bridlington ist nun nicht mehr weit.
    Zuletzt geändert von Torres; 08.10.2014, 20:20.
    Oha.
    (Norddeutsche Panikattacke)

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    • ronaldo
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      • 24.01.2011
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      #42
      AW: [NL] [UK] Ups und Downs auf der North Sea Cycle Route

      Moin,

      auf deinem ersten Vogelbild versammeln sich die Stare zum Abflug nach Afrika. Wegen der langen, schwierigen Strecke müssen sie sich natürlich intensiv vorher austauschen und planen, daher das ständige Gekakel...

      Die Seevögel gehören zu einer Brutkolonie Basstölpel, davon gibts nur ein Dutzend oder so rund um die Nordsee. Für bessere Bilder dieser unglaublich eleganten Flieger musst du nur mal rüber nach Helgoland, dann ganz rauf marschieren und links am Felsen sitzen sie dann so nahe, dass du sie fast streicheln kannst (macht man natürlich nicht, tststs).

      Coole Bilder wieder, und endlich mal nicht so flach...

      Gruß, Ronald

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      • Torres
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        • 16.08.2008
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        #43
        AW: [NL] [UK] Ups und Downs auf der North Sea Cycle Route

        Danke für die Aufklärung, ronaldo. In Vogelbestimmung bin ich eine echte Niete. Auf Stare wäre ich nie gekommen!
        Oha.
        (Norddeutsche Panikattacke)

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        • Torres
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          • 16.08.2008
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          #44
          AW: [NL] [UK] Ups und Downs auf der North Sea Cycle Route

          Stop.Look.Listen.


          Bridlington kündigt sich an.





          Meine Beine fühlen sich wieder besser an. Dennoch kann ich mich mit diesem Schild sofort identifizieren. Das Alter ist wirklich nichts für Feiglinge.





          Ich bin nun an Sewerby Hall und Garden angekommen. Im Park hinter dem Eingang strömen Besucher in den Zoo.





          Kurz darauf sehe ich das Meer. Vielversprechend liegt Bridlington in der Ferne.





          Ich setze mich auf eine der Bänke und überlege, was ich nun tun soll. Hier bleiben? Ab jetzt wird der Nordseeküstenradweg nur noch durch das Binnenland führen. Es ist die letzte Möglichkeit, in der Sonne am Strand zu sitzen.





          Ich verschiebe das Problem zunächst und esse ein Brötchen mit Käse.





          In der Ferne leuchtet ein Cliff. Schade, der Radweg hätte hinter Bempton durchaus an der Küste entlang führen können. Aber vielleicht gibt es dort keine Wege.





          Ich bin müde und lege mich auf die Bank. Aber ein Schläfchen wie in Holland glückt mir nicht. Mein innerer Motor läuft auf Hochtouren. Auf der Bank steht: In Memory of Peter Griffin ….... enjoying the view forever.

          Ich beschließe, die Entscheidung später zu fällen. Auf einem Radweg geht es bergab in Richtung Ort. Eine Bimmelbahn fährt hinter mir, und ich gebe Gas, denn sie hat Vorrang. Sie hält an einer Haltestelle. Vermutlich bringt sie Touristen vom Ort zur Sewerby Hall. Je näher ich an Bridlington herankomme, umso mehr Mehschen sind unterwegs. Ein paar Radfahrer. Viele Spaziergänger. Hunde. Ich denke an die Strecke von heute morgen und das ist mir schon zu viel Betrieb. So biege ich unten automatisch in Richtung Nordseeküstenradweg ab, anstatt in den Ort zu fahren. Es geht bergauf, und ich hadere mit den Radwegplanern. Muss das sein? Immerhin ist die Steigung nicht lang.

          Ich bin nun an einer befahrenen Straße und muss mich erst einmal wieder an den Lärm gewöhnen. Eine Kirche. Auch hier wieder Kriegsgräber.








          In der Ferne thront das Kloster Bridlington. Vielleicht ist der Ort ja doch ganz interessant. Eine Hauptverkehrsstraße. Viele Autos, heruntergekommene Geschäfte. Ich entscheide mich, weiter zu fahren. Wenn man ganz genau hinschaut, sieht man am Ende der Straße das blaue Schild, dem ich folge.





          Der Radweg führt nun auf eine Landstraße.





          Links neben mir ist ein großes Spielfeld. Zwei Jungen mit Knatterkisten befinden sich zunächst hinter mir und rasen dann über das eingezäunte Spielfeld. Wussten sie es oder merken sie es erst jetzt, dass der Platz von einem Zaun umschlossen ist? Sie rasen wieder zurück. Einer der beiden ist maskiert.





          Auf einem Hügel steht ein Pferd. Das Grau leuchtet ungewöhnlich. Ein Tele wäre gut.





          Der Radweg biegt nun rechts ab, und ich sehe, dass hinter dem Hügel eine ganze Herde gescheckter Pferde steht. Für ein Foto sind sie zu weit weg. Ein letzter Blick auf die Stadt.





          Links neben mir befindet sich eine Siedlung aus kasernenartig wirkenden Gebäuden und Wohnwagen. Ich vermute eine Flüchtlingsunterkunft. Ich mache Bilder von einem angepflockten Pony, das auf einer Wiese vor dem Häusern steht. Ein kleiner Junge überholt mich halsbrecherisch auf dem Grünstreifen mit einem Kinderfahrrad. Männer beladen einen Wohnwagen. Auf einer Leine hängt Wäsche.
          Vor dem angrenzenden Feld steht noch ein Pferd, und wieder mache ich ein Foto. Und dann macht es in meinem Kopf Klick. Das ist ein Tinker. Ich habe bisher noch nie einen gesehen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es einer its. Auch die anderen waren vermutlich Tinker. In der Siedlung leben Fahrende mit ihren Tieren.





          Die Straße ist sehr ruhig, und ich bin froh, weitergefahren zu sein. Radfahren ist besser als Strandurlaub. Aber meine Hochphase währt nur kurz.





          Der erste Grund ist das hier:





          Ich könnte schwören, dass es in Bridlington einen McDonalds gibt. Alle 20 Zentimeter liegt irgendein Papier oder eine Tüte des Unternehmens herum.

          Und das zweite ist dies hier, auch wenn das Bild diesbezüglich nicht so aussagekräftig ist:





          Die Straße ist hügelig.
          Das ist für sich allein genommen nicht dramatisch. Aber natürlich muss sie erst steil bergab gehen, weil zum Beispiel ein Hof an einem Fluss liegt, um dann wieder in einem Winkel nach oben zu gehen, den ich nicht hochfahren kann. Im Tal muss man zudem bremsen, da ja ein Auto aus der Hofeinfahrt kommen könnte oder Menschen auf die Straße treten könnten. Ich fluche. Es war so schön heute morgen. Diese Steigungen hier sind einfach gemein.

          Am Ende einer langen Schiebestrecke sehe ich einen Transporter an der Straße stehen. Mitten in einem Waldstück. Mitten in der Einsamkeit. Was macht der da? Ich bin beunruhigt. Bisher habe ich mich immer sicher gefühlt, aber das Auto behagt mir irgendwie nicht. Als ich mich ihm (schiebend) nähere, sehe ich, dass auch noch die Tür offen ist. Waldarbeiter können es nicht sein. Ein Verbrechen?
          Kurz bevor ich ihn tapfer passiere, sehe ich die Aufschrift auf dem Auto: Ein Fotograf. Ich atme auf. Zu sehen ist er nicht. Das Waldstück ist schön.





          Der Radweg geht jetzt auf der Höhe weiter, und ich kann wieder radeln. Kurze Zeit später sehe ich einen Jeep quer zu meiner Straße in einem Feldweg stehen. Misstrauisch fahre ich vorbei. Der Fahrer schläft. Ein paar Meter steht ein weißer Mittelklassewagen in einer Einbuchtung quer zur Straße. Das ältere Ehepaar wickelt gerade belegte Brote aus. Etwas später folgt ein Lieferwagen. Der Fahrer raucht eine Zigarette und schaut in die Landschaft. Merkwürdig, diese Engländer. Anscheinend ist dieser Ausblick etwas ganz besonderes. Ich würde eher sagen: "Wie Sie sehen, sehen Sie nix".





          Weiter geht es.





          Das Wetter bleibt trüb.








          Ein Wagen kommt von hinten, und ich weiche wie üblich auf den Grünstreifen aus. Der Fahrer bedankt sich mit Handzeichen. Der Wagen ist neu und für die Straßen hier zu breit. Später sehe ich den Fahrer, einen älteren Herren, an einer Einbuchtung an einem Feld stehen. Er lädt gerade seinen Jagdhund aus. Er sieht mich, und wir grüßen uns. Wo ich herkomme. Hunmanby. Da ist weit. Und wo ich hinwill. Hull. Das ist sehr, sehr weit. Er schaut mich nachdenklich an.
          Ich nutze die Gunst der Stunde und frage ihn, ob es hier in der Gegend Campingplätze gäbe. Er schüttelt den Kopf. Nein. So etwas gibt es hier nicht. Fahren Sie nicht nach Hull, sondern nach Beverley, das ist ein paar Kilometer vor Hull. Das ist jedenfalls ein schöner Ort. Beverley hat eine Jugendherberge. Da vorne an den Bäumen geht es links ab.





          Seine Worte bringen mich zum Nachdenken. Beverley statt Hull. Der Mann klang überzeugend. Vielleicht ist Hull ein zweites Middlesbrough? Beverley. Ich schaue auf der Karte nach. Ja. Das liegt auf dem Weg. Wenn es dort keinen Campingplatz gibt, gehe ich in die Jugendherberge. Ein Bett wäre auch mal wieder schön. Und ich könnte sogar abends etwas essen gehen. Schauen wir mal.





          Die Landschaft verändert sich nun, denn es wird flacher.





          Vor lauter Begeisterung gebe ich Vollgas.





          Ohne zu wissen, wieso, erinnert mich die Landschaft plötzlich an Holland.








          Vielleicht liegt es daran, dass ich das erste Mal seit langem wieder Gemüsefelder sehe. Auch Mais wächst hier.





          Ich fahre ein Rennen mit einem Lastwagen, der Gemüse transportiert. Er ist etwas schneller, und ich lasse ihn vorbei. Er blinkt, um sich zu bedanken. Ein Traktor kommt aus einem Hof und gibt mir ausdrücklich die Vorfahrt. Dabei wollte ich ihn vorlassen.

          Eine Hauptstraße. Wie üblich ist die Querung durch eine Fußgänger und Fahrradfahrerampel geregelt. Es ist eine Bettelampel, d.h. man fordert durch Drücken des Knopfes eine Grünphase an. Grün zeigt sich bei den britischen Ampeln aber nicht unbedingt an einem Ampelmast, sondern oft leuchtet nur die Schaltfläche neben einem grün auf. Zusätzlich ertönt ein Tonsignal. Man muss sich sputen, um die Straße zu überqueren, denn die Phasen sind kurz. Manchmal sind die Ampeln an den beiden Fahrspuren auch nicht koordiniert, und man muss auf der Verkehrsinsel warten und die nächste Grünphase anfordern.





          Der Radweg führt unter einem Gerüst durch, und da hier einige Autos fahren, quetsche ich mich in Millimeterarbeit an den Stangen vorbei.





          Kurz darauf sehe ich eine bunte Wäscheleine an einem Wohnwagen und mache ein Foto. Camper, anscheinend. Wildcamper.
          Genau an dieser Kreuzung biegt der Radweg rechts ab, und ich passiere die Wohnwagen. Schnell wird mir klar, dass hier Sinti oder Roma wohnen (Edit: Oder sind es wieder Fahrende? Die Anmerkung von Alprausch84 unten macht mich unsicher. Die Fahrenden sind mit Sinti und Roma nicht verwandt, sondern irischen Ursprungs). Scharf schaut mich einer der Männer an. Ein zweites Foto wage ich nicht.





          Nun beginnt ein Stück Radweg, das völlig autofrei ist. Begrenzt wird es durch unbeschrankte Bahnübergänge. Um sie zu überwinden, muss man sein Fahrrad in ein Dreieck hineinschieben, dann das Gatter umlegen, um dann auf der anderen Seite das Rad wieder herausschieben zu können. Das Umlegen des Gatters erfordert etwas Geschick, denn mein Fahrrad geht gerade so in das Dreieck hinein. Ich denke an die Busfahrt in Newcastle. Möglicherweise wieder der andere Standard.
          An den Schienen steht ein Schild, das sagt, was man nun zu tun hat: „Stop. Look. Listen. Beware of trains“. Ich lasse mir die ersten drei Worte auf der Zunge zergehen. Die Aufzählung gefällt mir. Sie wird von nun an in kritischen Situationen zu meinem geflügelten Wort: „Stop. Look. Listen“.





          Meine Begeisterung für diese Formel darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich unbeschrankte Bahnübergänge nicht mag. Ich habe zuviel Fantasie und bin der Überzeugung, dass es Bahnen nur darauf abgesehen haben, mich zu überfahren. So sieht meine Überquerung in der Praxis so aus, dass ich anhalte, schaue, höre und dann ganz, ganz schnell über die Schienen hetze, als wäre jemand hinter mir her. Dann husche ich so schnell es geht durch die zweite Schleuse. Uff. In Sicherheit.





          Ich atme tief durch und zücke den Fotoapparat. Gleichzeitig schüttele ich den Kopf. Dass ich auch immer so ein Schisser bin. Wahrscheinlich fährt hier zweimal am Tag ein Zug durch, und ich mache daraus ein Drama.
          Ruhig packe ich den Fotoapparat wieder ein und will gerade anfahren. PFFFFFFFT. WummmWumm. In unglaublicher Geschwindigkeit rast ein Zug durch. Alles klar. Fast komme ich mir vor, wie in einem alten Stummfilm.

          Der Weg, der sich nun anschließt, gefällt mir.





          Er ist leider viel zu kurz und endet am nächsten Bahnübergang. Schnell fädele ich mich durch die erste Schleuse. „Stop. Look. Listen“. Die zweite Schleuse. Als ich das Gatter umlege, kommen gerade vier Rennradler an und warten, bis ich ausgeparkt habe. Sie grüßen mich fröhlich. Wo ich herkomme. Toll. Ich hasse diese Bahnübergänge. Ja, wir auch.

          Ich setze mich wieder in den Sattel. Wieder habe ich das komische Gefühl von eben gehabt, und wieder lache ich über mich selbst. Die Bahn ist eben durch, kaum 3 Minuten sind vergangen, jetzt kommt garantiert kein Zug mehr. PFFFFFFFFT. Schnell drehe ich mich um. Da ist sie, rechts zwischen den Bäumen.





          Eine der Frauen wartet noch auf meiner Seite, die anderen sind schon drüben. WummWumm. Puh.





          Der nächste Ort ist Harpham.





          Hier sehe ich mein erstes graues Eichhörnchen. Leider gelingen die Fotos nicht, weil meine Kamera sich verstellt hat. Aber ich werde später noch welche fotografieren können.





          Die Jungs oder Mädels gefallen mir wegen der Köpfe, die ich noch nie gesehen habe. Aber anscheinend gefalle ich ihnen nicht, denn sie treten sofort den geordneten Rückzug an.





          In den Gärten stehen Apfelbäume. Ein Feld wird abgeflämmt.





          Wieder einmal bildhübsche Hunde.





          Der nächste Ort heißt Nafferton.





          Das Mahnmal ist für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges.





          Ich frage eine Frau nach einer Einkaufsmöglichkeit und sie zeigt die Straße hoch, in die ich eingebogen bin. Dort gibt es ein Post Office und einen Supermarkt. Sie erzählt mir, dass im Ort eine Bikers-Barn aufgemacht hätte. Das Bett kostet um die 20 Pfund. Ich bedanke mich für die Information. Zwar hätte ich Lust, die Sonne zu genießen, die mittlerweile richtig schön warm ist. Andererseits ist es gerade mal 14.00 Uhr, und ich möchte das schöne Wetter nutzen, um voran zu kommen. Ich verspreche ihr, den Tipp weiterzusagen.

          Im Postoffice kaufe ich Mineralwasser mit Kohlensäure und stelle fest, dass auch hier der Geldautomat mit meiner Karte nicht funktioniert. Aber der Supermarkt soll einen internationalen Geldautomaten haben.





          Ich parke das Rad an der Straße und hoffe, dass es hier keine Diebe gibt. Der Geldautomat ist ganz hinten im Laden. Und funktioniert. Ich bin erleichtert. Ich hatte gerade mal noch 10 Pfund in der Tasche.
          Ich decke mich mir zwei weiteren Dosen Thunfisch ein, kaufe Eisbergsalat, ein halbes Pint fettarme Milch und Fruchtjoghurt. Mein Blick fällt auf eine Packung Bratenaufschnitt und zu meinem eigenen Erstaunen kann ich nicht widerstehen. Ich habe das Gefühl, mein Körper braucht diese Nahrungsmittel jetzt.

          Ich habe nicht darauf geachtet, wo meine Schilder sind, und so fahre ich die Straße noch einmal hinunter und schiebe dann wieder hoch. Ich bin richtig. Eine weitere Kirche. Methodisten.





          Ein schöner Ort. Schade, dass es nicht gepasst hat. Der Wind ist wieder aufgefrischt, wie jeden Tag um diese Zeit.

          Am Ortsausgang bin ich ob des Schilderwaldes erst ein wenig irritiert. Ich frage eine alte Frau, aber ihre Antwort ist wirr. Kurz darauf bin ich wieder richtig.
          Driffield. Es riecht nach Gerste. Oder ist es Hopfen und Malz? Das Gebäude der Bradshaw Mill. Ich mag Industriearchitektur. Ein Radfahrer auf einem normalen Dreigangrad überholt mich und grinst. Wo es flach ist, gibt es auch mehr Fahrräder.





          Diese sind allerdings wohl nicht mehr unterwegs. Ist das Kunst?





          Gegen halb vier bin ich in Hutton Cranswick. Die Schule ist gerade aus. Von überall her kommen Autos angefahren, um die Kinder abzuholen. Rush Hour.





          Als ich vorsichtig an der Schule vorbeifahre, merke ich, dass ich langsam müde werde. Ich schaue in meinem Navi nach Campingplätzen, aber die nächsten sind 25 Kilometer entfernt. Also weiter. In Beverley wird sich schon etwas finden. Ein Schild verspricht, dass Beverley etwas mehr als 20 Kilometer entfernt ist. Das sollte ich schaffen.





          Und so gebe ich Gas.





          Und ich muss sagen, das Fahren macht nun richtig Spaß. Es ist hier zwar nicht so flach, wie es aussieht, aber die Strecke passt genau zu mir. Vor allem, wenn die Streckenabschnitte lang sind und man nicht ständig schauen muss, ob man richtig ist. Es geht einfach geradeaus.








          Idyllisch.








          Ich fliege dahin und mein Körper kommt mir vor wie eine geölte Maschine.








          Steigungen und Gefälle ergeben eine perfekte Kombination, und ich taufe sie Belohnungskurven. Vielleicht wäre der Begriff „Belohnungshügel“ passender, aber das Wort klingt nicht so schön. Belohnungskurven sind Hügel, bei denen man mit Anlauf etwas mehr als die Hälfte erklimmen kann, sich dann noch ein paar Meter im kleinen Gang anstrengen muss, um dann als Belohnung wieder ins Tal sausen zu können und den nächsten Hügel halb hochrasen zu können.








          Den Schildern nach zu urteilen, ist Beverley nicht mehr weit, und ich müsste einfach nur geradeaus fahren. Wenn der Radweg nicht wieder die üblichen Umwege nimmt, die ich aus Holland kenne.
          Natürlich. Das musste ja sein! Als die Radwegschilder plötzlich abknicken, bin ich genervt. Wieder einmal der übliche Umweg? Natürlich. Auch diese Strecke ist schön zu fahren, aber ich spüre meine Grenzen. Es ist jetzt 16.30 Uhr. Das Ziel des Umweges ist South Dalton. Ich denke an die Dalton Brüder, aber so richtig froh stimmt mich das nicht. Im Ort steht eine Kirche, vermutlich ist sie der Grund des Umweges.





          An einer Kreuzung hängt ein braunes Schild mit einem Bettensymbol. Es scheint sich dort Gasthof zu befinden. Aber noch einen Umweg möchte ich nicht fahren. Daher frage ich eine Frau, die in ihrem Garten steht, ob sie weiß, was dort ein Bett kostet. Das Essen ist teuer, erzählt sie mir. Aber ich solle einfach hinfahren und fragen, das Gasthaus sei nicht weit. Ich habe dazu eigentlich gar keine Lust, aber ich will mir hinterher nicht vorwerfen müssen, ich hätte eine einmalige Gelegenheit verpasst.

          Das Gebäude sieht hübsch aus und ruhig ist es hier auch. Man könnte hier spazieren gehen. Wenn das Zimmer nicht so teuer ist, würde ich es nehmen.
          Eine geschlossene Gesellschaft löst sich gerade auf. Die Herren tragen Anzug, die Frauen Sommerkleider. Gut gekleidete Kinder laufen herum. Gehobenes Bürgertum, keine Frage. Man sieht mich, aber man ignoriert mich. Die Familien sind mit sich beschäftigt. Familienfeiern sind untergründiger Stress. Und ich bin natürlich völlig underdressed. Eine Dusche könnte auch nicht schaden. Nur ein Mann von Mitte 30 schaut undefinierbar zu mir her. Vielleicht ist er Rennradler und würde gerne fragen, wo ich herkomme.

          Ich schaue mich in dem Restaurant um. Den Gedecken nach zu urteilen ist das hier Haute Cuisine. Das Restaurant ist sehr geschmackvoll eingerichtet und die Gestaltung verrät Geschmack und Stil. Ich merke, dass ich darauf schon irgendwie Lust hätte. Leider gibt es aber niemanden an der Rezeption, den ich fragen kann, ob noch Zimmer frei sind. Ich rufe ein paar Mal, ob jemand da ist und dann wird mir das Ganze zu blöd. Warten will ich nicht, denn wenn es nicht klappt, wird es zeitlich für mich noch später. Ich schwinge mich wieder auf mein Fahrrad.
          Eine gute Entscheidung. Meine nachträgliche Recherche hat ergeben, dass es sich um das einzige Restaurant in East Yorkshire handelt, das mit einem Stern ausgezeichnet ist. Ein Zimmer kostet 170 Pfund. Das sind umgerechnet 220 Euro. Na denn.

          Ich gebe wieder Gas, aber ich merke, dass meine gute Stimmung verflogen ist. Ich bin müde und hätte gerne Gewissheit, wo ich heute nacht bleiben kann. In Etton sehe ich ein schönes Gestüt. Ob die wohl Zimmer vermieten? Ich glaube kaum. Eine Frau geht zu den Pferden und grüßt mich nett. Ich frage sie nicht.





          Sondern schaue noch einmal in mein Navi. Mein Navi teilt mir mit, dass es in Cherry Burton einen Campingplatz gibt. Hoffnung keimt auf. Hoffentlich ein Platz für Zelter. Hoffentlich. Ich gebe Gas. Endspurt. Er liegt fast auf dem Weg.

          Nach Beverley geht es rechts ab, der Campingplatz ist geradeaus. Ich mobilisiere die letzten Kräfte und spurte voran. Ein hübsches Haus. Ein gepflegter Rasen. Ein Wohmobil neben dem Haus. Menschen sitzen an einem Tisch. Ein Wohnmobilplatz. Bitte nicht. Ich mag nicht mehr. Und nun? Versuchen wir es trotzdem.

          Eine sehr nette Dame kommt auf mich zu. In einem sehr kultivierten Englisch sagt sie bedauernd: Sorry, wir sind auf Reisende mit Zelt nicht eingerichtet. Wir haben keine Toilette und keine Dusche. I´m so sorry. Ich frage, ob es hier noch einen Campingplatz gibt. Nein, leider nicht. I´m so sorry.

          Ob sie vielleicht weiß, wo in Beverly die Jugendherberge ist. Ich hätte kein Internet. Einen Moment, sie holt ihr I-Pad. Alleine wie sie das Wort I-Pad ausspricht, ist diese Begegnung wert.
          Kurz darauf kommt sie mir ihrem AAAI-Pääd zurück und versucht mit den langen, gepflegten Fingernägeln booking.com zu öffnen. Ich kann gar nicht richtig zusehen, am liebsten würde ich ihr da Gerät aus der Hand nehmen, denn sie scheint sich nicht sehr oft im Internet zu orientieren. Ich bitte sie, erst einmal „Hostel Beverly“ einzugeben, um die Belegungsstatus abzufragen. Das Hostel informiert, dass es am heutigen Tage ausgebucht ist. Anscheinend findet an diesem Tag eine Veranstaltung statt.

          Die Recherche auf Booking.com weist ein Hotel aus, das auch mein Garmin anzeigt. Das Zimmer kostet 55 Pfund. Da ist sehr viel Geld, sagt die Frau ein erschrocken. Gemeinsam suchen wir nach Bed and Breakfast. Ein Gasthaus bietet ein Zimmer für 35 Pfund an. Auch das ist noch viel Geld, aber günstiger geht es wohl nicht. Einen Moment, sie schreibt mir die Adresse auf. Ich winke ab und programmiere die Adresse in mein Navi ein. Noch einmal entschuldigt sie sich, und ich bedanke mich sehr herzlich. Schade, das wäre ein wirklich schöner Platz gewesen. In der Nähe ist eine Golfanlage.


          Kurz darauf bin ich in Beverley.





          Der Radweg führt durch die Innenstadt. Es ist viel Verkehr und viele Menschen sind auf der Straße, so dass ich nicht anhalten mag, um Fotos zu mache. Kurze Zeit später stehe ich vor dem Beverly Minster. Die Radwegschilder zeigen nun in zwei Richtungen, und ich biege dem Navi folgend links ab. So ganz hat mein Navi nicht den richtigen Plan, denn die Abzweigung stimmt definitiv nicht. Die Autos sind laut, denn es ist Stau und laut Karte entferne ich mich von meinem Ziel anstatt mich ihm zu näheren. Ich vergrößere die Karte und sehe, dass das Gasthaus hinter dem Münster sein muss. Also fahre ich auf eigene Faust los und bin zwei Straßen später da.

          Das Gasthaus ist an einer lauten Straße gelegen und hat schon bessere Zeiten gesehen, aber das ist mir egal. Nachts wird der Verkehr weniger werden. Besser, als nachts am Straßenrand zu zelten.
          Die Hausdame kommt verwundert aus den Nebenräumen. Sie hat wohl nicht mehr mit Gästen gerechnet. Ich erzähle ihr, dass ich das Angebot auf booking.com gesehen habe und nenne ihr den angegebenen Preis. Das bringt sie durcheinander, denn sie wirkt etwas hilflos und telefoniert erst einmal mit der Chefin, um zu fragen, was sie nun tun soll. Die Chefin gibt Anweisungen, und ich bekomme das Zimmer zu dem gewünschten Preis. Da ich nicht weiß, wer morgen früh vor Ort ist, bitte ich sie um eine formlose Quittung. Das entpuppt sich als umständlicher Akt, denn der Quittungsblock ist voll. Endlich findet sie einen unbeschriebenen Streifen und schreibt in druckfähiger Schrift langsam die gewünschten Angaben auf das Papier.

          Wir haben uns nun soweit angenähert, dass sie mich fragt, aus welchem Land ich stamme. Als ich es nenne, strahlt sie. Zwei Zahnlücken lächeln mir entgegen. Ich erfahre, dass sie einmal in Sprötze gewohnt hat. Unwillkürlich muss ich lachen. Wäre ich mathematisch begabt, würde ich jetzt ausrechnen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass jemand, der in Beverley, Yorkshire wohnt (einen Ort, den ich bis gestern noch nicht kannte) ausgerechnet Sprötze kennt. Auch ich kenne den Ort nur deshalb, weil dort in Heidelandschaft wunderschöne Motorradkurven sind. Der Ort liegt in der Nähe von Buchholz in der Nordheide. Sie weiß nur, was „I love you“ auf deutsch heisst und bemüht sich, es korrekt auszusprechen. Sie hatte dort einen deutschen Freund. Das ist aber lange her.

          Mein Fahrrad schiebe ich in den Hinterhof. Es parkt in der Nacht neben dem leeren Swimming-Pool.

          Das Zimmer ist im obersten Stock und da das Haus sehr verwinkelt ist, sind einige Treppen zu steigen. Mühsam kämpfe ich mich nach oben. Ich muss dringend etwas essen, mir fehlt die Kraft, die Beine zu heben. Wir lachen beide, als sie mich nach oben begleitet, und ich über die Treppen fluche. Mal wieder denke ich, wie schön es ist, in einer fremden Sprache kommunizieren zu können.

          Und dann fotografiere ich schnell das Bett, bevor im Zimmer das Chaos ausbricht.





          Es ist viel zu weich, aber ich werde dennoch herrlich schlafen.


          Der Blick aus dem Fenster. Besser als gedacht.






          Schnell dusche ich und wasche ein paar Sachen. Sie werden sicherlich nicht richtig trocknen, aber ich muss jede Gelegenheit nutzen, denn beim Radfahren schwitzt man doch recht viel. Die Dusche ist wunderbar und weckt wieder meine Lebensgeister. Wenn ich wollte, könnte ich sogar baden.

          Nachdem meine Körperpflege beendet ist, laufe ich die Treppen herunter und komme an einem völlig anderen Ausgang heraus. Bis zuletzt werde ich nicht begreifen, wie dieses Haus aufgebaut ist. Ich laufe in Richtung Minster. Die Sonne geht gerade unter.

          Kaum biege ich um die Ecke, sehe ich Beverley Minster vor mir stehen und denke unwillkürlich: „Milano“.





          Natürlich ist das Quatsch, denn der Mailänder Dom sieht völlig anders aus und ist auch viel größer. Aber aus irgendeinem Grunde fühle ich mich plötzlich nach Italien versetzt. In der Kirche findet ein Orgenkonzert statt und man hört die Klänge bis vor die Tür. Ich bleibe stehen und lausche. Wäre ich zehn Minuten eher hier gewesen, wäre ich wohl in das Konzert gegangen.





          Ich folge der Gasse Richtung Innenstadt. Ein Inder führt seinen Hund spazieren. Ein Touristenpaar kommt mir entgegen und rüttelt etwas später an der Minstertür. Sie ist verschlossen. Ansonsten ist die Straße menschenleer. Es ist nun fast dunkel und mit einem Mal fühle ich mich in meine Jugend zurückversetzt, als ich mit 16 Jahren abends furchtsam in einer anderen englischen Stadt durch die Straßen gelaufen bin. Wie war ich froh, als ich am Ziel war. Komisch, dass es mir heute wieder so geht. Vielleicht sind es die Häuser, vielleicht aber auch die Beleuchtung.

          Kurz darauf bin ich im Zentrum und in der Innenstadt steppt förmlich der Bär.





          Es ist 19.00 Uhr und die Läden sind seit einer Stunde geschlossen. Die Hektik und das Gewühle ist verschwunden. Hier ist Totentanz. Ein paar Touristen schauen sich Schaufenster an, ein paar Menschen hasten vorbei. Ein nach Restaurantkette aussehendes Restaurant lockt mit Pizza, aber ich hätte gerne ein gemütliches englisches Restaurant. Ein Pub. An einem Tisch sitzt ein alter Mann. Die Einrichtung besteht aus Holztischen in liebloser Farbe. Ein Studentenrestaurant zwischen den Geschäften. Es ist gut gefüllt, an den Tischen ist kein Platz mehr frei. Ein junger Mann beißt in einen riesigen Burger. Der Marktplatz ist leer.








          Und mit einem Mal denke ich an Italia.

          Italia. Du magst nichts auf die Reihe bekommen, Du magst pleite sein, Du magst korrupt sein. Aber Du weißt, wie man lebt. Jetzt wäre die Zeit, wo sich die Bewohner des Ortes in der Innenstadt versammeln würden, um einzukaufen oder Gespräche zu führen. Man würde ihr Lachen hören. Die Melodie der italienischen Sprache würde klingen wie Gesang. Und die Luft würde nach Sommer riechen, auch im Winter.








          Und mit Tränen in den Augen (Anmerkung: Aus literarischen Gründen übertreibe ich hier, aber tatsächlich bin ich in dem Moment opernreif sentimental gestimmt. Italiener verstehen so etwas.) drehe ich mich um und gehe in das italienische Restaurant. Die Bedienung ist durch und durch britisch und mit einem amerikanischen Dienstleistungslächeln dekoriert. Ich widerstehe der Versuchung, die Bestellung auf italienisch abzugeben. Ich bestelle das, was ich immer bestelle: Salat, Pizza (Quattro stagione), Aqua frizzante. Der Salat ist köstlich. Die Pizza kommt verdächtig schnell, aber über den Teig kann man nicht meckern. Bacon als Schinken. Okay. Wir sind in England. Die Küche ist eine offene Küche, und es sieht so aus, als ständen am Steinofen Italiener. Schrill dringen die Stimmen der Engländerinnen an mein sensibles Ohr.





          Die Bedienung lächelt, als ich das Foto mache. Ich zahle ungefähr 17 Pfund.





          Wieder geht es durch die dunkle Gasse Richtung Dom.





          Das Konzert ist immer noch nicht aus. Leise ertönt die Orgel tief und getragen, und ihre Klänge sind Balsam für meine Ohren.
          Ich inspiziere das Haupthaus meiner Unterkunft. Hier geht es morgen zum Frühstück. Der Erker gehört zum Frühstücksraum.





          Ich habe im Zimmer Internet, und ich beschließe, meinen Vorsätzen untreu zu werden. Ich habe vor, morgen Lincoln zu erreichen und stelle ein paar Recherchen an. Auch die Campingplätze von Boston schreibe ich in meine Karte. Die Recherche wird mir nichts bringen. Ich zeichne mir außerdem die verbleibende Strecke des Nordseeküstenradwegs genauer in die Karte ein. Das wird mir ebenfalls nichts nutzen. Bei ods logge ich mich nicht ein. Enthaltsamkeit ist Enthaltsamkeit.

          Dann schlafe ich wie ein Stein.
          Zuletzt geändert von Torres; 18.10.2014, 00:34.
          Oha.
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            #45
            AW: [NL] [UK] Ups und Downs auf der North Sea Cycle Route

            Sehr schöner Bericht Torres. Eine Korrektur hätte ich evtl. Das fahrende Volk in GB sind meist Traveller (oder auch Pavee genannt). Sinti und Roma sind dort eher selten anzutreffen.

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            • Torres
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              #46
              AW: [NL] [UK] Ups und Downs auf der North Sea Cycle Route

              Es kann natürlich sein, dass die zweite Gruppe auch zu den Fahrenden gehörte. Sie wirkte auf mich allerdings anders, als die Bewohner der Siedlung. Die gehörten auf jeden Fall zu den von Dir genannten Travellers, wie man ja schon an den Pferden sah.
              Oha.
              (Norddeutsche Panikattacke)

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                #47
                AW: [NL] [UK] Ups und Downs auf der North Sea Cycle Route

                Ausführliche Eindrücke einer Ecke Europas, wie man sie so selten zu sehen bekommt. Danke dafür.
                Kleine persönliche Anmerkung: auf einem Bild im Bericht vom 01.10.14 liegt vor dem " The Bay Hotel" ein Boot auf dem Trailer namens "Shanty 2". Wenn ihr etwas von Booten versteht, schaut auf mein Avatar-Bild: da findet ihr den Orkney Longliner 16 wieder, das klassische Fischerboot der britischen Küstengewässer. Die Firma liegt in West Sussex. Vorher habe ich ihn schon vierfach am Strand entdeckt, abgedeckt mit blauem Persenning. In D bin ich damit Exot.
                Ditschi

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                • Torres
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                  #48
                  AW: [NL] [UK] Ups und Downs auf der North Sea Cycle Route

                  Du meinst das Bild hier:





                  Und wohl auch das hier, oder?





                  Dass es der gleiche Bootstyp ist, war mir tatsächlich nicht bewusst.
                  Oha.
                  (Norddeutsche Panikattacke)

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                    #49
                    AW: [NL] [UK] Ups und Downs auf der North Sea Cycle Route

                    OT: Danke, hast recht. Das Boot auf dem Trailer ist der Longliner, die Boote unten nicht, wenn auch ähnlich. Habe jetzt erst beim genauen Hinsehen das abgeschrägte Heck entdeckt. Auch scheinen sie kleiner zu sein, aber eine Fotoperspektive kann täuschen.
                    Ditschi

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                    • Torres
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                      #50
                      AW: [NL] [UK] Ups und Downs auf der North Sea Cycle Route

                      Von Klappbrücken und anderen Grausamkeiten.

                      Fr. 12.09.2014
                      Beverley – Market Rasen, 95,2 km

                      Der Morgen fängt an sich recht vielversprechend an. Ich schlafe eine Stunde länger als gewohnt. Als ich aus dem Fenster schaue, sieht es aus, als würde es regnen. Einen Moment überlege ich, ob ich hier bleibe. Ich hätte nicht übel Lust, einmal einen Tag durchzuschlafen. Tatsächlich ist es aber nur die Morgenfeuchte, welche die Straßen nass wirken lässt. Damit entfällt die Rechtfertigung für einen Ruhetag. Bis Harwich ist es noch weit. Ich möchte unbedingt vermeiden, an einem Freitagabend Fähre zu fahren, wenn die Engländer nach Holland fahren, um Party zu machen. Ein Erlebnis dieser Art hat mir gereicht.

                      Ich packe konzentriert, aber viel schneller als sonst bin ich nicht. Im Haus breitet sich der Duft nach Eiern und Speck aus. Kurz vor halb acht laufe ich über den Hof zum Frühstücksraum. Der Himmel ist wolkenverhangen, aber nach Regen sieht es nicht aus.





                      Die Hausdame von gestern serviert auch das Frühstück, und ich hätte ihr sagen müssen, dass ich keine Eier und keinen Speck esse. Ich habe es vergessen und entschuldige mich. Die Auswahl an Müsli ist hervorragend und frisches Obst gibt es auch. Dann labe ich mich an Tomaten, Pilzen und Toast.
                      Ein Mann im Anzug frühstückt hektisch einen Marmeladentoast und eilt kurz darauf davon. Ein riesiger Plasmabildschirm kündigt das Urteil im Pistoriusfall an und bringt letzte Informationen zur Unabhängigkeitsabstimmung Schottlands. Der Wetterbericht klingt nach Wolken, aber es scheint trocken zu bleiben. In Südengland ist das Wetter hervorragend.
                      Ein älteres Ehepaar kommt und wir unterhalten uns. Sie haben gestern das letzte Zimmer bekommen. Sie waren ganz überrascht. In der ganzen Stadt war nichts mehr zu finden. Sollte ich etwas ein Riesenglück gehabt haben? Sie sagen mir, welche Veranstaltung hier derzeit stattfindet, aber ich habe es wieder vergessen. Als sie hören, dass ich heute nach Lincoln fahren will, nicken sie. Das ist nicht weit. Vielleicht anderthalb Stunden mit dem Auto. Ich glaube, die beiden sind noch nie in ihrem Leben Fahrrad gefahren.

                      Der Raum ist gemütlich warm und nur mühsam reiße ich mich los. Im Nachhinein betrachtet, wäre ich vielleicht besser sitzen geblieben und hätte den Zug genommen, aber das weiß man ja nicht vorher.
                      So verabschiede ich mich sehr persönlich von der Hausdame. Sie ist gerührt. Ich hole das Gepäck aus meinem Zimmer und packe im Hof mein Fahrrad. Ein letzter Blick auf das Fenster, hinter dem ich gestern genächtigt habe.





                      Ich radele zum Minster zurück und finde das Radwegschild. Der Weg biegt in die gleiche Straße ein, die mich gestern das Navi geführt hat. Wieder ist Stau, hier ist ein Bahnübergang. Aber der Blick auf mein Navi zeigt, dass das nicht richtig sein kann. Die Strecke führt nicht nach Hull. Also fahre ich wieder zurück und versuche die Schilder aus einer andere Perspektive zu betrachten. Dann sehe ich endlich den entscheidenden Wegweiser. Ich muss in die ruhige Nebenstraße einbiegen, die sich vor dem Hotel befindet. Von meinem Zimmer aus habe ich direkt darauf geschaut. Das hätte ich einfacher haben können. Ein Eichhörnchen huscht ins Gebüsch.








                      Ein beschrankter Bahnübergang in der Ferne. Stop. Look. Listen. Das war ein schöner Tag, gestern.
                      Die Straße knickt rechts ab. Autos sind keine zu sehen. Ein Park, der Beverley Park, scheint in der Nähe zu sein. Dass auf dem Wegweiser der Radweg 66 ausgeschildert ist, sehe ich erst heute. Er wird noch eine besondere Bedeutung bekommen.





                      In den nächsten Tagen wird im Beverley eine einwöchige Wander- und Outdoorveranstaltung stattfinden. Ein Schild weist darauf hin. Die Straße, der ich folge, ist für den Autoverkehr dauerhaft gesperrt.





                      Es handelt sich um eine Privatstraße. Nur Radfahrer dürfen anscheinend weiterfahren. Der Belag besteht aus grobem Schotter. Kein Problem für meine Reifen, auch wenn ich später ein paar verkantete Steinchen entfernen muss. Schnell komme ich hier allerdings nicht voran. Ich denke an Werner Hohn. Ich erinnere mich, dass er derartige Radwege nicht besonders liebt.





                      Ich fahre mitten durch einen Bauernhof, und es schließt sich ein holperiger Weg an.








                      Vögel sitzen auf den Stromleitungen und sorgen für Morgenmusik. Das macht den Anblick des Elektrizitätswerkes etwas erträglicher. In der Ferne rauschen die Autos.








                      Kurz darauf bin ich in Cottingham und befinde mich an einer gut befahrenen Landstraße. Ein Radwegschild zeigt nach links, es ist die Nummer 66. Eine 1 sehe ich nicht. So fahre ich erst einmal die Hauptstraße hinunter, aber einen Wegweiser der National Route Nummer 1 sehe ich nicht.





                      Ist die 66 nun die 1? Ich weiß es nicht. Ich fahre wieder zurück und überprüfe noch einmal jeden Laternenmast, den ich finden kann. Nichts. Die luxuriöse, fahrradfreundliche Beschilderung der Yorkshire Wolds ist zu Ende.

                      Wieder fahre ich die Straße hinunter. Was soll ich auch anderes tun. Eine alte BMW Gummikuh blubbert an mir vorbei.





                      Es kommt mir vor, als sei der Verkehr stärker geworden. Die Autos dröhnen in meinen Ohren.





                      Als die 66 von der Hauptstraße in eine ruhige Seitenstraße abknickt, folge ich ihr. In der Ferne sieht man Hochhäuser. Ich schaue auf mein Navi und es ist nicht zu erkennen, ob die 66 nun in Richtung Hull führt oder eine lokale Radroute ist, die in Richtung York führt. Ein kleinwüchsiger Radfahrer mit einem Frettchengesicht kommt aus einer Seitenstraße, sieht aber nicht so aus, als könne man ihn fragen. Ich wende wieder.

                      Zurück an die Straße von eben, flüchte ich auf den linken Bürgersteig. Ich überlege, ob es sinnvoll ist, noch einmal komplett zurückzufahren, um die Schilder erneut zu überprüfen, aber das ist mir dann doch zu weit. Am besten, ich frage jemanden.
                      Auf dem Bürgersteig führt vor mir ein Mann seine Hunde aus. Ich rufe ihn von hinten an, und er ist älter, als ich dachte. Ich bezweifele, dass er das weiß. Ich frage ihn dennoch, ob er den Radweg Nr. 1 kennt. Ich wäre auf der Suche nach den Schildern. Ein Leuchten geht über sein Gesicht. Er fährt selber Fahrrad und zu Hause hat er die Karte, die ich brauche. Er wohnt gerade schräg gegenüber an der Straße. Eilig läuft er los und winkt. Ich solle ihm folgen.
                      Ein wenig mulmig ist mir schon zu Mute, als ich ihm folge, aber Hilfe wäre jetzt gut. Er schließt eine eiserne Hofeinfahrt auf, lässt mich ein und schließt sie sofort hinter mir wieder ab. Zusätzlich umwickelt er das Tor wieder mit einer schweren Eisenkette. Ich bin gefangen.

                      Die letzten Nachrichten über Serienverbrechen in England schießen mir durch den Kopf, und ich hoffe, dass die Nummer gut ausgeht. Immerhin ist mein Fahrrad sichtbar, die Nachbarn werden sehen, dass er Besuch hat. Als ich zur Haustür hinter dem Haus gehen, bedeutet er mir, das Fahrrad um die Ecke zur Haustür zu schieben, damit es niemand sehen kann. In der Nähe wohnen Leute, die so etwas nicht sehen sollen. Ich befolge die Bitte, was soll ich anderes tun. Dann hüpft er durch die Haustür in sein Haus. Ich folge kampfbereit, auch wenn ich gegen die Hunde keine Chance haben dürfte.
                      Es ist das Haus eines Junggesellen. Ein wunderschönes, hochwertiges Bahnrad lehnt im Wohnzimmer. Es ist eins von fünf Fahrrädern, die er besitzt, und alle hütet er wie seinen Augapfel. Ein Radfreak.

                      Die Hunde sind sehr unruhig, es liegt an meiner Sicherheitsweste, wie er mir mitteilt. Als ich sie ausziehe, legen sie sich hin. Hektisch startet der Mann seinen Computer, dann findet er die Radkarte, und ich bin baff. Es gibt tatsächlich eine ausführliche, gut beschilderte Radkarte von East Yorkshire. Es ist die Karte der Yorkshire Wolds Strecke, die auch am Weg perfekt ausgeschildert war. Sie deckt die Strecke Hunmanby – Kingston upon Hull ab. Sogar zukünftige Routenverläufe, Piktogramme über die zu erwartende Infrastruktur (Postoffice, Information, Gasthaus u.ä.) sowie den Straßenzustand sind enthalten.

                      Ich fotografiere die Karte, und sie wird mir in Hull tatsächlich helfen. Die 66 ist in der Karte als Radweg 1 ausgewiesen. Umständlich führt sie ostwärts durch die Randbezirke von Hull in die Innenstadt und dann wieder westwärts in Richtung Humber Bridge. Ein riesiger Umweg. Es gibt auch eine direkte Verbindung von Cottingham zur Humber Bridge, die über Felder und den Ort(steil?) Willerby an der Stadt vorbei führt, aber ich will den Nordseeküstenradweg ja korrekt fahren. Wer da etwas flexibler ist, sollte die Abkürzung nehmen. Der Herr mit dem Jagdhund wird Recht behalten. Hull muss man nicht gesehen haben.

                      Erhältlich ist die Karte anscheinend bei den Tourist Informationen der Region. Erst jetzt begreife ich, dass der Radweg von der Organisation Sustrans, organisiert und gepflegt wird. Sie hat das Ziel, Kindern und Erwachsenen zu ermöglichen, sich in der Natur aufzuhalten. Ich hatte gedacht, die Radrouten wären Ländersache.





                      Der Mann lässt mich wieder aus dem vergitterten Hof hinaus, und wir reden vor der Tür noch ein wenig. Er war in jungen Jahren Profiradrennfahrer und ist in internationalen Rennen gestartet. Berühmt ist er allerdings nie geworden, er war wohl vor allem Zuarbeiter, hat aber gut daran verdient. Ich empfehle ihm das Transcontinental Race als Herausforderung. Er lacht. Er hatte vor drei Jahren eine schwere Herzoperation, er ist jetzt Anfang 60. Ich zähle die englischen Finalisten auf und Richard Dunnett sagt ihm sogar etwas. Nachdenklich sucht er in seinem Gedächtnis nach Erinnerungen. Ich überlege, ob er vielleicht den Opa von Richard Dunnett erinnert, vielleicht hat dieser auch den Vornamen Richard getragen. Erst jetzt sehe ich, dass Richard Dunnet aus Norwich, Suffolk ist. So weit ist das also nicht. Und viele Rennen hat er auch bereits absolviert.

                      Ich mache ein Erinnerungsfoto. Das ist natürlich das Foto vor dem Foto.





                      Er warnt mich noch vor der Hochhaussiedlung in der Ferne, denn die ist auch der Grund, warum er sein Haus so stark absichert.





                      Kurz darauf fahre ich mitten durch die Siedlung hindurch. Ich gebe Gas, hier muss man sich nicht lange aufhalten. Erst fahre ich Straße, später wird der Bürgersteig als Radweg ausgewiesen und mir fällt auf, dass hier viele Frauen mit Kinderwagen sind.

                      Der Radweg führt nun durch eine Grünanlage.





                      Mühsam reime ich mir die Wegführung zusammen. Ein Park. Kaum komme ich durch die Absperrung. Eine Frau trägt schwer an ihren Einkaufstaschen.





                      Und dann ist das Schild weg. Ich bin an einer größeren Straße und der Karte in meinem Fotoapparat nach zu urteilen, geht es links. Etwas später stehe ich an einer vielbefahrenen Kreuzung und weiß jetzt nicht mehr weiter. Später werde ich rekonstruieren, dass ich jetzt geradeaus müsste und dann auf Nebenstraßen rechts, aber da ich nicht genau sehen kann, wo ich mich jetzt befinde, verliere ich die Nerven. Die Hauptstraße hat einen Radweg und führt direkt ins Zentrum. Los geht es. Keine Lust, jetzt noch stundenlang irgendwelche Schilder zu suchen.





                      An der nächsten großen Kreuzung treffen sich zwei Hauptstraßen und nun weiß ich wieder, wo ich bin. Ich könnte zurückfahren und meinen Weg korrigieren, aber ich mag nicht. Augen zu und durch. Der Verkehr dröhnt in meinen Ohren. Obwohl ich eine Radspur habe (es ist eine kombinierte Bus- und Radspur), empfinden mich die Autos als lästigen als Fremdkörper. Aber das ist mir ziemlich egal. Weg hier. So schnell es geht.
                      Irgendwo hier parallel muss der Radweg sein. Vermutlich führt er durch Grünanlage.





                      Der Bahnhof kommt in Sicht und kurz darauf finde ich die Schilder wieder. Der Vollständigkeit halber fahre ich in die historische Innenstadt. Auch hier ist viel Verkehr und vor allem sind die Leute äußerst hektisch. Bin ich sonst auch so? Auf dem Land hat es mir besser gefallen. Dass ich nun dringend auf eine Toilette muss, macht die Sache nicht besser. Auf dem Platz gibt es eine, aber mein Fahrrad möchte ich hier nicht unbewacht stehen lassen.





                      Ach. Warum nicht gleich so?





                      Genau an dieser Ecke ist die Tourist Information, aber da Yorkshire am Humber zu Ende ist, brauche ich auch keine Karten von Yorkshire mehr. So radele ich weiter.








                      Es geht nun durch heruntergekommene Stadtteile, die man nicht kennen muss, und ich fahre so schnell es geht. Junge Männer stehen auf der Straße und machen sich wichtig, viele haben MIgrationshintergrund. Anscheinend gibt es in der Gegend nicht genügend Jobs mehr. Ein Brunnen mitten auf der Straße. Der totale Anachronismus. Vielleicht waren das hier ja früher mal wohlhabendere Stadtteile.





                      Ronaldo wird sich beim nächsten Bild daran stören, dass ich das Gesicht unkenntlich gemacht habe. Tatsächlich ist das schade. Die Frau könnte in einem Hitchcockfilm mitspielen. Ich denke an Frenzy. Sie wäre genau der Typ dazu.





                      Eine Kirche kommt in Sicht und wieder ist Vogelkonzert. Ein unglaublicher Kontrast zu der deprimierenden Gegend.





                      Fasziniert schaue ich auf das Kommen und Gehen.











                      In Sunderland bei Seaham hatten wir uns auf dem Campingplatz darüber unterhalten, dass der Zwischenraum zwischen den Häusern in den verschiedenen Regionen Englands mit völlig unterschiedlichen Worten bezeichnet wird – so wie es in Deutschland viele verschiedene Begriffe für Brötchen gibt. Diesen Zwischenraum würde ich Müllhalde nennen.





                      Ein Gebäude in einem ähnlichen Baustil. Wieder die Vögel auf dem Dach. Vielleicht eine Schule.





                      Eine erste Brücke erscheint, aber es ist noch nicht die Humber Bridge. Kurz weiß ich nicht, wie ich fahren soll. Eine Radfahrerin überholt mich und schlängelt sich elegant durch den Straßenverkehr. Wie viele nichtmotorisierte Engländer überquert sie bei Rot die Ampel. Das mache ich nicht, weil ich die Zyklen der Autos nicht kenne und immer noch in die falsche Richtung schaue. Immerhin sehe ich, wo sie fährt und werde sie später einholen. An der rechten Straßenseite befindet sich ein gut besuchter Lidl.








                      Es geht eine recht enge Straße entlang und der Verkehr ist nicht angenehm. Ein Schild berichtet von der Sperrung eines Radweges, und ich weiß nicht, was ich davon zu halten habe und rufe einen Radfahrer auf der Gegenspur an. Er hält und kommt zu mir rüber. Das wäre nicht nötig gewesen, aber er hört schlecht. Ein Autofahrer hupt völlig entnervt. Wir sollen die Straße frei machen. Der sollte mal ein bisschen radfahren, dann wir er ruhiger. Wir grinsen beide.
                      Die Sperrung ist für mich nicht relevant, sie betrifft den Radweg Hull – Hornsea. Für mich geht es weiter geradeaus. Ein Blick zurück an die Kreuzung, an der ich vorhin gestanden habe. Ich ziehe es nun vor, auf dem Bürgersteig zu fahren.





                      Es geht nun an vielen, von außen heruntergekommen wirkenden Geschäften vorbei. International Food. Heron Supermarkt. Fast mache ich ein Bild für Heron. Der Verkehr dröhnt. Ich möchte mir nicht ausmalen, wie es sich hier auf den anderen Straßen Fahrrad fährt. Das hier sind ja die fahrradfreundlichen Wege.

                      Als ich an einen Dorfkern komme, bin ich sehr erleichtert. Ich bin jetzt in Hessle.








                      Durch ruhige Wohngebiet geht es in Richtung Bahnhof. Das rote Zeichen oben ist das Zeichen für die englischen Bahnstationen.





                      Das Bahnhofsgebäude scheint geschlossen zu sein. Die Streben der Humber Bridge sind bereits zu sehen.





                      Würde ich jetzt die Fähre nach Hoek van Holland nehmen, müsste ich links abbiegen. Aber das kommt mir gar nicht in den Sinn. Mein Ziel bleibt Harwich. Erholen kann ich mich im Winter.





                      Ein kleiner Park schließt sich an, und ich nutze die Gelegenheit.





                      Da geht es gleich hinüber.





                      Ich befinde mich nun im Country Park. Es gibt riesige Flächen für Autos und Busse, im Sommer wird hier die Hölle los sein. Zwei Gartenarbeiter queren den Platz. Kurz vor der Auffahrt zur Brücke befindet sich eine Infotafel und eine Bank, und ich beschließe, etwas zu essen. Es wird ein Thunfisch Sandwich.
                      Die Infotafel erklärt, dass hier früher eine Fähre fuhr und wie die Brücke die Fahrzeit verkürzt und die Kosten für den Autofahrer verringert hat. Die Humber Bridge wurde nach 9 jähriger Bauzeit 1981 geöffnet, die ersten Planungen über eine Brückenlösung datieren auf das Jahr 1928. Die Brücke ist insgesamt 2220 m lang (von Anker zu Anker) und ihre Spannweite beträgt 1410 m. Sie 155,5 Meter hoch und 480.000 Tonnen schwer. Inzwischen ist sie nur noch die siebtlängste Brücke der Welt, aber immer noch die längste zu Fuß überquerbare Brücke.

                      Der Ausblick von meiner Bank aus. Die Westauffahrt ist geschlossen.





                      Ich bin gerade fertig mit Essen, als ein Rennradler vorbeikommt. Und anhält. Er fragt mich, wo ich herkomme und wo ich hinwill und erzählt, dass er für Sustrans das Stück Cottingham-Humber Bridge überarbeitet. Ob ich Anregungen für ihn hätte.
                      In der Tat. Ich erzähle von dem Übergang der 1 in die 66 ohne Vorwarnung, von den fehlenden Schildern in der Parkanlage, den fehlenden Schildern an der Kreuzung und von dem riesigen Umweg durch Hull. „People like me are not interested in town, we´re interested in Nature“ fasse ich meine Kritik über das elendlange Gegurke durch diese hässliche Stadt zusammen. Und er soll Sustrans ausrichten, dass Reiseradler Accomodation brauchen. Ich erzähle von meinem Erlebnis mit dem Campingplatz in Sunderland und dem Caravan Park in Beverley. Viele Reiseradler haben ein Zelt dabei und müssen sich zudem vor Ort versorgen. Darauf sollte die Streckenführung mehr Rücksicht nehmen und nicht auf Kirchen in South Dalton. Ich lobe außerdem die Beschilderung der Yorkshire Wolds als vorbindlich, und er versteht erst nicht, was ich mit Wolds meine. Anscheinend ist er die Strecke noch nie gefahren. Hätte ich ihn ein paar Tage später getroffen, hätte ich ihm noch viel, viel mehr gesagt. Aber ich habe den Eindruck, es reichte ihm auch so. :-)


                      Es ist nun zwanzig vor eins, als ich mich an den Aufstieg zur Brücke mache. Im Gegensatz zu dem Rennradler schiebe ich mal wieder. Halb eins. Ich bin seit fast 4 Stunden unterwegs. Für eine Strecke, die Luftlinie ca. 8,5 km beträgt und mit dem Auto ca. 12 km. So komme ich nie nach Lincoln.





                      Fahrradfahrer kommen mir entgegen und sogar einige Fußgänger. Sie haben es eilig.

                      Als ich oben bin, spüre ich meine Höhenangst aufkeimen. Für einen längeren Moment bin ich das, was man am Berg „blockiert“ nennt. Ich kann weder vor noch zurück. Panik.
                      Gott sei Dank kenne ich diesen Zustand schon. Ich verändere meine Wahrnehmung und setze die Brücke auf das Wasser. Flankierend versuche ich es mit Logik: Die statistische Wahrscheinlichkeit, dass die Brücke gerade in dem Moment zusammenbricht, wenn ich darüber radele ist gering und wenn es passieren sollte, wäre es eh schon zu spät. Ich beschließe, einfach nicht zur Seite zu schauen und fahre los. Mühsam arbeite ich mich zu einem Aussichtspunkt vor.

                      Und da ich nun schon mal da bin, mache ich auch ein Foto. Mit zittrigen Händen erst. Dann geht es.





                      In der Ferne liegt die Fähre nach Holland.





                      Nun wird es richtig schlimm mit meiner Höhenangst, denn der Radweg über das Wasser ist schmal. Mit dem Auto wäre die Überfahrt für mich kein Problem, aber mit dem Fahrrad ist man schon ziemlich nahe am Abgrund dran.





                      Nach kurzer Zeit habe ich mich auch daran gewöhnt. Der Radweg lässt sich wirklich gut fahren, und ich riskiere es, zu schauen, was ich fotografiere. Weiß leuchtet die Fähre nach Hoek van Holland in der Sonne.





                      Schön sieht Hull auch von hier oben aus nicht aus.





                      Dann bin ich auch schon in Barton upon Humber, North Lincolnshire. War da nicht etwas mit Lincolnshire? Aber mittlerweile bin ich ja ziemlich fit.
                      Ein Radhändler befindet sich an der Straße. Eine Werkstatt gibt es auch. Unwillkürlich schaue ich zu dem Kurbelblock meines Fahrrades. Alles in Ordnung. Es hat gehalten. Und das Klackern ist auch nicht mehr da.





                      In Barton gäbe es einen Campingplatz. Aber irgendwie gefällt es mir hier nicht, der Ort wirkt abweisend und leer. Es ist jetzt zwanzig nach eins. Ich würde einen halben Tag verlieren, wenn ich hier bleiben würde. Ich werde heute abend bestimmt eine Übernachtungsmöglichkeiten finden. Und sei es ein 5 Sterne Hotel. Ein Wohnmobil fährt mich fast über den Haufen, obwohl die Straße breit genug ist. Ein Zeichen. Hier mag ich nicht bleiben.

                      Eine Kirche.





                      Auf geht es in Richtung Lincoln. Der Tag kann nur besser werden.

                      Denke ich.
                      Zuletzt geändert von Torres; 12.10.2014, 21:34.
                      Oha.
                      (Norddeutsche Panikattacke)

                      Kommentar


                      • Torres
                        Freak

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                        • 16.08.2008
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                        #51
                        AW: [NL] [UK] Ups und Downs auf der North Sea Cycle Route

                        Lincolnshire.


                        Die Schonfrist ist vorbei. Steil geht es aus dem Flusstal des Humber heraus bergan.





                        Einen Moment lang überlege ich, ob ich nicht doch in Barton campieren soll, aber jetzt bin ich ja schon oben, und umdrehen tue ich nie. Mal schauen, vielleicht gibt sich das mit dem Hügeln ja. Auf der Kuppe sehe ich den Verlauf der nächsten Meter. Das gefällt mir nicht, aber ich werde das schon schaffen.





                        Was ich noch nicht sehen kann ist, dass gleich wieder die gleichen gemeinen Hügel kommen, die ich gestern auf der Burgerbräterstrecke hatte. Nur noch viel gemeiner:

                        a) Es geht steil den Hügel hinunter (dagegen ist eigentlich nichts zu sagen, aber man muss langsam fahren, die Straße ist schlecht oder der Belag bremst).
                        b) Dann ist unten eine ziemlich blöde Delle (hier muss man wieder aufpassen wegen Autos, Hunden, Verkehr)
                        c) Nun geht es bergan und man kommt mit dem Schwung halb nach oben und muss dann mühsam im ersten Gang weitertreten.
                        d) Daraufhin gibt es wieder eine kleine Delle, die aber nicht ausreicht, um Schwung zu bekommen.
                        e) Und jetzt erst fängt die eigentliche Steigung an.

                        Wer zur Hölle hat diese Straßen gebaut? Und diese Höhenzüge erfunden? Ich möchte mich beschweren. Hinzu kommt, dass in der Ferne eine Autobahn verläuft. Das Gedröhne hört man meilenweit. Kann mal jemand dieses Geräusch ausstellen? Ich bin genervt.





                        Ich quere die vielbefahrene Landstraße, die kurz darauf in die Autobahn übergeht. Auf der Brücke hoffe ich, dass dieser Abschnitt vielleicht eine Zäsur in der Landschaft ist, und es nun wieder flacher wird. Es ist halb drei. Eine Frau pflückt Brombeeren am Straßenrand.








                        Die Hoffnung erfüllt sich nicht. Es wird schlimmer. Steil geht es hinunter und steil wieder hinauf. Erneut rase ich bergab in eine Senke hinein. Ein Auto kommt rückwärts aus einem Parkplatz heraus, und ich muss bremsen und ausweichen. Ich könnte den Kerl erwürgen. Er lächelt milde, als er kurz darauf vorbei fährt. Seine alte Mutter sitzt neben ihm.
                        Die Autos sind laut und schnell. Der raue Belag und die Geschwindigkeit scheinen den Autolärm zu verstärken. Nach einiger Zeit begreife ich, warum sie so schnell fahren. Anders kommen sie die Hügel nicht hinauf. Einige Kleinwagen keuchen da schon merkbar. Der BMW, der gefühlt auf 120 beschleunigt, ist damit nicht gemeint.

                        Der Straßenbelag bremst mich aus, und der nachmittags üblicherweise stärker werdende Wind frisch unangenehm auf. Immerhin scheinen sich dadurch die Wolken aufzulockern. Und der Grünstreifen ist breit.





                        Ein Rennradler überholt mich. Ha. Ha. Ha. Es ist jetzt 15.00 Uhr.





                        Ich bin natürlich Outdoorer: „Nur wo Du zu Fuß warst, bist Du wirklich gewesen“. Sehr schnell ist er aber auch nicht, auch für ihn ist es steil.
                        Am liebsten würde ich mich jetzt noch einmal mit dem Rennradler an der Humber Bridge unterhalten. Bestimmt haben diese Strecke Rennfahrer ausgewählt. Träfe ich ihn noch einmal, würde ich ihm empfehlen, seine Frau loszuschicken, und sie zu bitten, die Wege mit einem klapprigen Alltagsrad und 30 kg Gepäck abzuradeln. Und dann schauen wir mal weiter.





                        Ein Schild. Lincolnshire. Nein, ich fühle mich nicht willkommen.





                        Vor meinen geistigen Auge taucht der Radfahrer mit dem Retrofahrrad auf, den ich auf der Fähre getroffen habe. Lincolnshire ist hilly. Er hatte Recht.

                        Der Blick ins Navi zeigt, dass es in der Nähe keine Campingplätze gibt. Mag sein, dass es ein paar Farmen gibt, wo man zelten kann, aber das scheint nicht auf dem Weg zu sein. In Grimsby gibt es Hotels und Hotelketten. Laut meiner Karte ist der nächste Campingplatz in Market Rasen. Falls ich Glück habe. Wenn das mit dem Hügeln so weiter geht, werde ich dort niemals ankommen.

                        Ich komme an eine Landstraße und sehe eines der offiziellen Nordseeküstenradwegarme. Also bin ich richtig. Ein Anschlussschild auf der anderen Seite der Straße sehe ich nicht. So halte ich ein paar Meter später bei zwei Männern an, die gerade ein Fahrrad in ein Auto laden. Ob sie wüssten, ob hier der Radweg lang geht. Sie wissen von nichts, zucken mit den Schultern und lächeln etwas blöde. Ich frage sie nach dem Fahrrad. Nein, das verladen sie nur. Ich frage, ob das mit den Hügeln so weiter geht. Nein, dahinten nicht. Aber überzeugend klingt das nicht.
                        Zwei Laternen weiter sehe ich doch einen kleinen Radwegaufkleber. Also sollte das richtig sein.

                        Ich fahre nun die Straße weiter, aber Schilder sehe ich keine mehr. Immerhin geht es auf dem Höhenzug entlang und dann wunderschön bergab. Ich genieße die Fahrt, obwohl mir klar ist, dass ich die Höhenmeter hoch muss, die ich gerade verloren habe. Aber im Moment geht es mir gut. Radfahren kann auch Spaß machen.





                        Als ich an eine T-Kreuzung komme, ist guter Rat teuer. Keine Schilder. Langsam werde ich sauer. Laut Karte führt der Radweg irgendwo bei Great Limber vorbei, das ist aber ganz woanders. Irgendwo muss eine Abzweigung gewesen sein, die ich nicht gesehen habe. Ich entscheide mich für die Straße Richtung Grasby. Eine andere Wahl habe ich nicht. Ich fahre jetzt nicht die ganze Strecke wieder zurück.
                        Es ist eine schmale, viel befahrene Straße und natürlich geht es bergan. Ich muss schieben. Immer wieder drücke ich mich an den Seitenrand, um die Autos vorbeizulassen, die sich am äußersten Rand halten. Wenn sich zwei Autos begegnen, passt ein Blatt Papier dazwischen. Mit Radfahrern rechnen sie nicht.
                        Ein Bus kommt im Schneckentempo von unten angeschnauft, und ich drücke mich ins Gebüsch. Millimetersache. Dankbar grüßt der Busfahrer. Müsste er wegen mir halten, käme er vermutlich nicht mehr den Berg hoch.





                        Und dann werde ich richtig sauer. Unterhalb dieses Hügels ist es flach. Richtig flach. Man müsste nicht über diese fiesen Hügel rüber, man könnte ihnen ausweichen. Ich zwinge mich, das Denken einzustellen. Landschaftlich ist es hier zwar schön, aber für mich ist Wegführung in diesem Moment eine gefühlt große Katastrophe. Dass man die Strecke in der Erinnerung dann als lohnende Herausforderung verbrämt, steht auf einem anderen Blatt. Da weiß man ja auch, wie es weiterging.





                        Kurz vor Grasby zeigt ein Wegweiser die Richtung Great Limber an. Bei Great Limber muss der Radweg weiterführen. Ich biege in eine ruhige Nebenstraße ab. Lieber würde ich zwar der größeren Straße folgen, um schneller voran zu kommen, aber es ist einfach zuviel Verkehr. Die Straße nach Great Limber ist flach, und ich kann endlich mal wieder nach Herzenslust radeln. Sind es zwei Kilometer oder drei? Sie machen auf jeden Fall viel Spaß. Ein Verkehrsschild kündigt die Querstraße an. Und an dem Schild befindet sich? - das errät man nie – ein kleiner Aufkleber. Hach. Wie niedlich.





                        Anscheinend führt die Originalstrecke über einen sehr schlammigen Pfad, nämlich diesen hier.





                        Meine Recherche hat das mittlerweile bestätigt. Der Weg ist in der Radwegkarte mit Warnhinweisen versehen, weil er teilweise unbefahrbar ist. Aber ist das ein Grund, die Beschilderung einfach abbrechen zu lassen? Ich überlege, ob ich Sustrans einen bösen Brief schreibe. Die Wegführung ist übrigens wieder ein riesiger Umweg, es galt den Humberside Airport zu umfahren. Aber Reiseradler haben ja Zeit.

                        Immerhin bin ich jetzt wieder auf dem richtigen Pfad und vor lauter Freude mache ich ein Landschaftsfoto.





                        Wenn man sich wohl fühlt, sieht es hier sogar ganz nett aus.








                        In Limber befindet sich ein Village Shop, aber ich habe keine Lust, jetzt essen zu kaufen. Wer weiß, wie lange ich noch brauche. Es ist kurz nach 16.00 Uhr. Schulkinder in Schuluniformen laufen nach Hause. Ich frage sie, ob es hier nach Swallow geht, und sie nicken. Ich bin richtig.





                        Der Gartenteich des Ortes.





                        Ich bin müde geworden, und die Hügel hören einfach nicht auf. Immerhin werden die Ortsnamen origineller.





                        Eine Weggabelung erscheint und meinem Gefühl nach müsste es geradeaus gehen. Das Radwegschild führt nach links. Also biege ich links ab.





                        Schön ist es hier. Wenn die Schieberei nicht wäre. Aber langsam bin ich zu erschöpft, um mich noch aufzuregen. Es hat ja sowieso keinen Sinn. Die Hügel werden nie wieder aufhören. Das steht fest. Es ist 17.04 Uhr. Stockholm Syndrom.








                        Oben angekommen, sehe ich kein Radwegschild. Dafür einen der weißen Wegweiser. Noch 7 Meilen bis Grimsby. Grimsby liegt an der Küste und ist definitv die falsche Richtung. Zur Erinnerung: Ich will nach Lincoln. Natürlich besteht die Möglichkeit, dass es hier rechts abgeht. Oder dass es ein paar Meter weiter einen Wegweiser gibt. Aber kann ich mir da sicher sein? Mein Navi kann mir keinen Rat geben. Der Weg unten an der Abzweigung sieht am zielführendsten aus. Apathisch oder wie in Trance wende ich mitten auf der Straße und kille beinahe einen Rennradler, der sich lautlos den Hügel hochgeschlichen hat. Er kann ausweichen und fährt lachend weiter.

                        Also den Hügel wieder hinunter. Immerhin geht es ja bergab. Ich biege in den Weg ein, den ich vorhin schon nehmen wollte. Kurz darauf sind auch die Schilder wieder da. Vermutlich hätte ich auf der Kuppe rechts abbiegen müssen. Es ist mir egal.





                        Mechanisch fahre oder schiebe ich weiter. Ein Automatismus setzt ein: Runterfahren, Hochfahren, Schieben. Runter, Hoch, Schieben. Runter, Hoch, Schieben. Es wird Routine. Flüssige Übergänge zwischen den Phasen. Nachzudenken tue ich schon lange nicht mehr.
                        Die Landschaft wird immer schöner, ein wenig erinnert sie mich an das Mandelbachtal im Saarland. Da bin ich auch kein Rad gefahren, ich wusste schon warum. Leider fordert die Fortbewegung alle meine Kraft. So prägen sich nur wenige Höhenzüge in mein Gedächtnis ein.





                        Ob es an dieser Stelle ist, oder es bereits zuvor war, weiß ich nicht mehr genau. Ich komme an einer Farm oder einer Gruppe Häuser vorbei, ein Mann unterhält sich mit zwei Mitarbeitern. Fotos mache ich keine. Aber ich grüße. Das Bild dieser Häuser ist noch in meinem Kopf. Ich habe ja lange darauf zugeschoben. Weiter.





                        Ab und zu kommen Autos. Sie fahren grundsätzlich in der Mitte, und man muss aufpassen, dass sie einen nicht schneiden. Eilig haben sie es auch. Immerhin hört man sie.





                        Hübsch wäre es hier, wenn ich nicht so müde wäre. Ich bin nun in der Linolnshire Wolds Outstanding Area. Das höchstgelegene Gebiet in England zwischen Yorkshire und Kent. Wie schön für mich. http://de.wikipedia.org/wiki/Lincolnshire_Wolds.





                        Das Haus könnte mir gefallen.





                        Die Straße führt nach Thoresway.





                        Die Kirche sieht anders aus, als die bisherigen Kirchen.





                        Der Ort ist menschenleer. Gibt es hier ein Bed and Breakfast? Fast bin ich versucht, an einer Farm zu fragen, ob ich hier zelten darf. Aber es würde zuviel Kraft erfordern. Weiterfahren ist einfacher.





                        Hinter der Farm leuchtet ein Rapsfeld. Raps im September. Was für ein ungewohnter Anblick. Im Gebüsch sitzen meine getarnten Freunde. Ein Huhn fliegt in Panik hoch, als ich das Foto mache und bleibt an den Ästen hängen. Ich höre es flattern. Auch ich erschrecke mich furchtbar. Ich hoffe, es hat sich nicht verletzt.

                        Dass es nun wieder steil bergauf geht, brauche ich wohl nicht zu erwähnen. Es ist 18.15 Uhr.





                        Fahren, schieben, fahren, schieben, fahren, schieben.





                        Auch wenn dieser Hügel besonders steil ist, so ist er landschaftlich wirklich ein Traum.





                        Ich kann froh ein, dass die Sonne scheint. Bei Regen möchte ich hier nicht sein.





                        Noch fünfeinhalb Meilen nach Market Rasen. Es ist zwanzig vor sieben. Hoffentlich ist einer der beiden Campingplätze in Market Rasen ein Zeltplatz. Einer sollte ein reiner Caravan Park sein. Aber in meiner Karte befindet sich ein Zeltsymbol, und es bleibt ein Rest an Hoffnung. Ein offizieller Wegweiser.








                        Das Spiel der Wolken. Bald wird die Sonne untergehen. Langsam wird es kühl.





                        Richtung Walesby muss ich den Radweg an der Hauptstraße nehmen.





                        Bergstrecken sind Kurvenstrecken.





                        Hügelig bleibt es, und ich glaube, es ist auf diesem Abschnitt, wo ich endlich das richtige Wort für die Steigungen hier in der Gegend finde: Klappbrücken.
                        Die gut fahrbaren Hügel sind die Belohnungskurven. Fährt man den ersten Hügel hinunter, wird der nächste Hügel währender Fahrt kleiner und flacher. Mit ein wenig konsequentem Treten hat man ihn überwunden und darf zur Belohnung bergab rollen.
                        Die gemein zu fahrenden Hügel sind die Klappbrücken. Steil türmen sie sich vor einem auf, als wären es Klappbrücken aus Holland. Fährt man den ersten Hügel hinunter, wird der nächste Hügel nicht flacher, sondern immer steiler. Je stärker man in den Talkessel hineinfährt, umso höher ragt er vor einem hoch, als hätte jemand die Brücke hochgeklappt. Angesichts dieser Wortschöpfung geht es mir gleich besser. Ein Foto von den Klappbrücken mache ich aber nicht. Es ist mir wichtiger, voran zu kommen, als mitten in der Abfahrt Fotos zu machen.

                        Was mich zu dem nächsten Bild inspiriert, weiß ich nicht mehr.





                        Und jetzt fällt es mir wieder ein. Wie konnte ich das vergessen. Denn ohne jegliche Vorwarnung passiert das absolut Unerwartete. Schlagartig wird es flach!





                        Ich kann es erst gar nicht fassen. Und dann gebe ich Gas.





                        Und nach der Strecke von eben habe ich nun richtig Kraft. Als wäre das Band gelöst worden, das mich die ganze Zeit festgehalten hat. Und ich bin schnell. Vermutlich ist noch ein wenig kaum wahrnehmbares Gefälle dabei, denn laut Navi knalle ich im 14ten Gang erst mit 30 km/h, dann mit 40 km/h und dann mit 35 km/h die Straße entlang. Ein Waldstück kommt, und es wird lausig kalt.





                        25 km/h, 27 km/h, 26 km/h. Das ist bemme-Geschwindigkeit. Ein Wahnsinns-Gefühl, es macht einfach nur Spaß.

                        Der Caravan Park befindet sich in diesem Waldstück, mein Navi hatte ihn angezeigt. Keine Zelte. Das hatte ich mir schon gedacht.
                        Der Waldweg endet und die Querstraße ist stärker befahren. Ich habe wieder Gegenwind und werde langsamer. Ich pendele mich auf 19 bis 14 km/h ein. Ein Polizeiauto kommt mir entgegen. Die ersten Häuser. Market Rasen.

                        Die Sonne geht unter und das ist mir nun doch ein Foto wert. In Wirklichkeit ist der Sonnenuntergang etwas heller.





                        An der Kreuzung im Ort ist eine Fahrradspur. Der Radschild zeigt geradeaus. Ich passiere einen Tesco. Er ist das Ziel der meisten Autos hier und auch mehrere Fußgänger sind unterwegs. Die Hektik des abendliches Einkaufens.
                        Laut Navi muss ich nun in eine ruhige Seitenstraße abbiegen. Ein braunes Campingschild suche ich vergebens. Gibt es den Platz nicht? Hat er geschlossen? Ich rechne mit dem Schlimmsten.
                        Eine Wohnstraße. Neubaugebiet. Menschenleer. Eine Wohnsiedlung oder Ferienhäuser? Eine merkwürdige Gegend. Statisch. Unpersönlich. Reißbrettarchitektur. In solchen Gegenden gibt es keine Campingplätze. Ich bin falsch. Mein Navi behauptet etwas anderes. Weiter. Ich rase die Straße entlang. Es herrscht Radwegbenutzungspflicht, aber das ist mir egal.

                        Die Häuser enden, und der Weg geht weiter. Vor mir liegt offene Landschaft. Wohnmobile sind nirgends zu sehen. Dafür sehe ich plötzlich auf der linken Seite Zelte. Viele Zelte. Mein Herz hüpft und zarte Hoffnung keimt auf. Da ist der Platz. Ich gebe Gas. Aber die Zelte liegen nicht an diesem Weg, so geheimnisvoll wie sie aufgetaucht sind, verschwinden sie in der Ferne. Habe ich schon Halluzinationen? Waren das gar keine Zelte? Ich muss mehr essen.

                        Eine Wiese. Eine sehr große Wiese. Anscheinend ist hier ein Parkplatz. Drei Wohmobile. Keine Toilette. Gar nichts. Nur eine Wiese. Ist der Campingplatz abgebaut? Die Camper des ersten Wagens beobachten mich.

                        In der Ferne stehen auf der linken Seite ein paar Gebäude. Eine Sportanlage. Leichtathletik vermutlich. Ein Golf Club muss hier auch sein. Ich kontrolliere noch einmal das Navi und sehe, dass ich vor dem Campingplatz stehe. Der Marker steht direkt auf der Wiese neben dem Wohnmobilplatz. Ich habe verloren. Und nun? Zu den Wohnmobilen auf die Wiese stellen? Oder weitersuchen? Vielleicht irrt das Navi ja und dahinten ist noch etwas.

                        Ich gebe mir einen Ruck und fahre langsam weiter. Ein Campingplatz ist nirgends zu sehen. Es ist flach hier, es gibt keine Hügel, welche die Sicht versperren. Es gibt hier keinen Campingplatz. Ich sitze in der Falle. Die Sonne ist untergegangen, nur ein kleiner rosa Streifen zeigt sich noch am Horizont. Gleich wird es dunkel sein. Ich sehe mich schon durch Market Rasen irren und nach B&Bs fragen. Oder nach Lincoln radeln. Ich zwinge mich, nicht darüber nachzudenken. Noch ist nichts entschieden. Mir wird schon etwas einfallen.

                        Ich entscheide mich, noch bis zu den Gebäuden der Sportanlage zu fahren und dann zu wenden. Vielleicht sogar zu dem Waldstück ganz hinten an der rechten Seite. Sollte hier doch noch ein Campingplatz sein, würde ich es mir nie verzeihen, falls ich nicht weit genug gefahren wäre. Ich muss es überprüfen. Das Waldstück ist die Deadline.

                        Die Anlage kommt näher, und ich zweifle erneut. Das hat hier alles keinen Sinn. Wäre hier ein Campingplatz würde man das sehen. Es gäbe Schilder. Das ist hier alles Privatgelände. Ich begreife, dass die weitläufigen, durch Holzzäune begrenzten Wiesen auf der rechten Seite ebenfalls Parkplätze sind. Hier ist eine Rennbahn. Die Wohnmobile von vorhin stehen auf einem dieser Parkplätze. Sie campen wild. Wenn hier die Rennen stattfinden, werden die Wiesen von Autos übersät sein. Ich kann die Stimmung förmlich spüren, ich bin Galopprennfan. Normalerweise würde mich der Anblick einer Rennbahn begeistern. Aber Rennbahnen sind keine Campingplätze. Es gibt höchstens Stellplätze für Besitzer und Personal.

                        Ich will nun drehen, aber ich hatte ja das Waldstück als Deadline gesetzt. Also fahre ich noch einmal weiter. Die ersten Gebäude. Der Vorplatz. Scheint eine hübsche, kleine Bahn zu sein. Das Hauptgebäude, hier sind die Kassen untergebracht. Dahinter beginnen hinter einem weißen Zaun Büsche und Bäume, welche die Bahn von der Straße abschirmen. Auch deses Areal ist Rennbahngelände.
                        Ich gebe mir erneut einen Ruck. Jetzt schau ich noch, was an der Straße hinter dem Gebüsch kommt – ich vermute, es wird der Golf Club sein - und dann fahre ich zu den Wohnmobilen zurück. Eine Einfahrt. Wohnmobile hinter dem weißen Gatter. Die Besitzer, Trainer und Jockeys der Pferde. Ein unauffälliges weißes Schild vor dem Gebüsch. Zufall, dass ich wie so häufig Geschriebenem nicht widerstehen kann, obwohl ich gedanklich schon längst vorbeigefahren bin. In Millisekunden verarbeitet mein Gehirn die Information: „Welcome to Market Rasen Racecourse Caravan Park.“ Der Campingplatz.

                        Ich bremse so hart, dass ich fast vom Fahrrad falle. Meine Beine zittern. Jetzt keinen Unfall, bitte. Das ist erfahrungsgemäß der gefährlichste Moment eines langen Tages. Gerne falle ich in dieser Situation mit dem Motorrad um. Ich halte einen Moment inne und fahre mich herunter.
                        Ist das wirklich wahr? Ich lese das Schild noch einmal genau. Es ist wahr, ich habe mich nicht geirrt. Ein Caravan Park. Der Campingplatz existiert, und er ist offen. Es gibt sogar eine Rezeption. Wird er Zelter nehmen? Neben der Rezeption ist ein weiteres Gebäude, ein Wirtschaftsgebäude der Rennbahn. Vermutlich die Ankleideräume und die Büroräume. Könnte es dort Sanis geben? Ich versuche, mir nicht zuviel Hoffnung zu machen und schiebe mein Fahrrad zur Rezeption. Sie ist geschlossen.

                        Ich stelle das Rad ab und gehe in Richtung Platz, um jemanden zu fragen. In dem Eckwohnwagen steht ein Mann in der Küche. Er nickt mir zu und macht ein Handzeichen. Kurz darauf kommt seine Frau mit einem Schlüssel in der Hand heraus, und ich grüße. Sie läuft in Richtung Rezeption, und ich sage furchtsam: „Bitte sagen Sie mir, dass Sie hier Platz für ein Zelt haben.“ Sie lächelt. „Wir haben hier nur sehr wenig Platz für Zelte. Aber ja, es ist noch Platz frei“. Sie öffnet die Tür der Rezeption. „Aber ich hätte sie hier auch nicht stehen lassen“, sagt sie beiläufig und macht das Licht an. Danke.

                        Meine Hände zittern, als ich den Personalausweis zücke, ich bin völlig fertig. Jetzt nur keinen Fehler machen. Mein Portemonnaie. Wieviel es kostet, weiß ich nicht mehr, auch irgendwie so um die zehn Pfund. Aber ich hätte auch fünfzig bezahlt. Sie nimmt den Schlüssel für die Tür des Nebengebäudes und ich muss ihr folgen. Es beginnt eine persönliche Einweisung, wie die Tür zu öffnen ist. Das ist hier Bedingung. Ohne Einweisung und Lernkontrolle gibt es keinen Schlüssel. Man muss den Schlüssel nämlich ganz nach links bis zum Anschlag drehen und dann am Türknopf ziehen. Anders hätte ich sie wohl auch ohne Anweisung nicht geöffnet, denn solche Schlösser sind mir wohl vertraut. Aber vermutlich hat hier schon der eine oder andere die Tür demoliert. Ich bestehe den Test sofort.

                        Nun darf ich mein Zelt aufbauen. Andere Camper grüßen nett. Ein freundlicher Platz. Es ist halb acht. Ich war schneller, als ich gedacht hatte. Ob ich den Platz auch im Dunkeln gefunden hätte? Ich befürchte, nein.





                        Die Zeltwiese ist ein kleiner schmaler Streifen am Rande des Zauns. Es passen höchstens drei kleine Trekkingzelte hin. Ein Familienzelt mit langer Apsis und der Stellplatz ist voll. Hinter dem Gebüsch sieht man die Wiesen, und ich mache noch ein Foto, um ein wenig von meinen Stresslevel herunterzukommen. Es ist bereits dunkel, nur ein wenig Himmel leuchtet noch. Die Kamera hellt die Szene auf.

                        Ich packe das Zelt aus und lege das Gestänge zurecht. Aber ich sehe nicht genug. Das erste Mal in diesem Sommer muss ich die Stirnlampe aus dem Rucksack holen.
                        Der Rasen klebt immer noch immer am Zelt. Das macht nichts, auch hier ist frisch gemäht. Es findet nur ein Rasenaustausch statt. Ich stecke das Gestänge in die Gestängeschuhe, dann greife ich zu dem Außenzelt, um es aufzuhängen. Hinten zuerst. Der schwarze Nupsi muss an den Halter am Gestänge.

                        Ich will ihn gerade anbringen, da kommt ein Mann aus einem der benachbarten Wohnwagen und fragt, ob er mir eine Tasse Tea anbieten kann. Ich bin laufe auf Reservestrom und bin ausschließlich auf Zeltaufbau programmiert. Es fordert viel Konzentration und Mühe, mich umzudrehen und im ersten Moment weiß ich gar nicht, was ich sagen soll. Ich trinke keinen Schwarztee mehr, schon gar nicht abends, denn dann kann ich nicht mehr einschlafen. Ich trinke ja auch keinen Kaffee.

                        Dann fallen mir die passenden Worte ein und höflich lehne ich den Schwarzen Tee ab. Weil das aber unhöflich ist, frage ich, ob er vielleicht Früchtetee hätte. Ich will ihm damit zeigen, dass ich mich über das Angebot freue. Nein, hat er leider nicht. Versuch misslungen. Höflich und etwas enttäuscht macht er einen Rückzieher. Vermutlich hätten seine Frau und er sich gerne mit mir ein wenig unterhalten. Als ich daran denke, dass ich ja noch Kakaopulver mithabe, ist er bereits verschwunden. Beim nächsten Mal werde ich um heißes Wasser bitten.
                        Andererseits bin ich jetzt auch ganz froh, meine Ruhe zu haben. Das erste Mal verstehe ich, warum Reiseradler auf Zeltplätzen oft so abweisend sind. Es gibt noch soviele Dinge zu tun. Man muss erst einmal das Pflichtenheft abhaken, bevor man sich um anderes kümmern kann.

                        Ich drehe mich wieder zu meinem Zelt um, greife wie üblich nach dem Gestängeverbinder, wo der Nupsi eingehängt wird und drücke ihn nach unten. Und habe den Nupsi in der Hand. Die Schlaufe ist gerissen. Keine Ahnung, wie das passieren konnte, es geschah wie von selbst. Verblüfft schaue ich den Schaden an.
                        Normalerweise würde ich mich über so etwas aufregen, aber die Hügel von Lincolnshire sind die perfekte Therapie, die Nerven zu stärken. In Sekundenschnelle verdrahten sich meine Gehirnströme neu. Ich kann förmlich spüren, wie sich die Lösung des Problems entwickelt und präsentiert. Sherlock lässt grüßen. Ist der Nupsi wichtig? Nein. Ich brauche den Nupsi nicht. Das Zelt steht auch so. Mein Mark II long hat auch keinen Nupsi, sondern an dieser Stelle einen locker eingehängten Haken.
                        Der Nupsi kommt in die Frame Bag, damit er nicht verloren geht. Auf dem Zelt ist noch Garantie. Ich hake den grauen Plastikhaken am Gestänge fest, die Verbindung ist ungeheuer stabil und wird ausreichen. Nun den roten Clip am Gestängeende befestigen. Fertig. Die Wickelschnüre an den Seiten hochziehen. Vorne den Nupsi einhängen, den Haken, den Clip. Die Schnüre wickeln.

                        Als ich das Zelt oben ans Gestänge wickeln will, hängt die Schnur locker herunter. Sie war am Nupsi befestigt. Das heißt, sie muss an den Gestängeverbinder gehängt werden. Ich brauche eine Schnur.
                        In der Framebag ist Zeltschnur. Mit meinem Opinel schneide ich ein Stück ab. Ich fädele sie durch die kleine Öse an der oberen Leine und knote sie zu. Die Konstruktion sitzt perfekt. Das folgende Bild ist vom nächsten Morgen. Am nächsten Abend werde ich auch die seitlichen Schnüre durch die Zeltschnur ziehen. Damit steht das Zelt genauso gut wie vorher. Ich liebe dieses Zelt. Es ist für meine Zwecke perfekt.





                        Die Dusche ist herrlich, nur meinen Akku kann ich hier nicht laden. Die Steckdosen sind abgedeckt worden. Im Übergang zwischen Eingangsbereich und dem Übergang zu den Wirtschaftsräumen der Rennbahnen hängt ein großes Rennpferdefoto. Es sind Galopper. Hier befindet sich eine Hindernisbahn.

                        Ich verzehre zwei Brötchen mit dem letzten Schmelzkäse und esse ein paar Nüsse. Für weitere Aktivitäten bin ich zu müde. Als ich mich in meine Schlafsäcke rolle, bin ich auch ein bisschen stolz. Ein harter Tag, aber ich habe es geschafft.

                        Ein bisschen flacher kann es trotzdem werden.
                        Oha.
                        (Norddeutsche Panikattacke)

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                        • Scrat79
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                          • 11.07.2008
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                          #52
                          AW: [NL] [UK] Ups und Downs auf der North Sea Cycle Route

                          Zitat von Torres Beitrag anzeigen
                          Ein bisschen flacher kann es trotzdem werden.
                          Komm du mir mal nach Dundee.
                          Die Aussicht über den Tee ist dafür grandios. Der Weg nach oben will sich aber auch erkämpft werden.


                          Und nein, die Autofahrer in UK fahren nicht nur so schnell um auch den Berg hoch zu kommen.
                          UK'ler sonst eigentlich freundlich wandeln sich im Auto zu echt miesen Drecks***en...
                          Schlimmer als ich hier in Süddeutschland gewohnt bin. Bedeutend schlimmer.

                          Wenn sie aber mal aus ihrer Blechkiste rauskommen, sind es echt nette Leute.
                          Ich erinner mich an ne Wandertour, zu deren Einstieg wir mit dem Rad gefahren sind.
                          Als wir in nem Dörfchen mit unserern Fahrrädern dastanden und aufs Navi geguggt haben, hielt ein Autofahrer
                          an und erklärte uns, wie wir zu fahren haben. Sah in unsere noch etwas ratlosen Gesichter und meinte nur "folgt mir".

                          Dann ist er für ca. 10 Minuten im Schneckentempo vor uns her gefahren und hat uns zum Einstieg der Tour gebracht. (die vollkommen abseits seines Ziels war)
                          Der Mensch wurde nicht zum Denken geschaffen.
                          Wenn viele Menschen wenige Menschen kontrollieren können, stirbt die Freiheit.

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                          • Torres
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                            • 16.08.2008
                            • 30688
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                            AW: [NL] [UK] Ups und Downs auf der North Sea Cycle Route

                            Komm du mir mal nach Dundee.
                            Du willst damit sagen, dort ist es flach?

                            Ich kenne meine Grenzen. Ich wüsste wirklich gerne, wie es den anderen Radlern in Schottland ergangen sind. Vielleicht sind es ja Bergspezialisten.


                            ..... sind es echt nette Leute.
                            Stimmt. Wobei meiner Wahrnehmung nach ein ziemliches Stadt-Land-Gefälle herrscht. Richtig übel fand ich den Fahrstil eher in den Städten oder zwischen den Städten. Auf dem Land waren auch sehr rücksichtsvolle Autofahrer dabei. Dass der Belag so laut ist, dafür können sie ja nichts, und vermutlich kamen sie mir nur so schnell vor, weil ich so langsam war. Bei uns (im Norden) wird weit mehr gerast....., da sind nur überall Radwege an den Landstraßen.
                            Oha.
                            (Norddeutsche Panikattacke)

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                            • Torres
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                              Liebt das Forum
                              • 16.08.2008
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                              AW: [NL] [UK] Ups und Downs auf der North Sea Cycle Route

                              Erholung.

                              Sa, 13.09.2014
                              Beverley- Boston, 91,5 km

                              Am Morgen lasse ich mir Zeit. Ich frühstücke Brötchen mit Schokoladenkeks, der Keks krümelt und schmecken tut es auch nicht, aber ich möchte das gestern erworbene Stück Käse für den Notfall aufheben. Die ersten Gäste führen ihre Hunde spazieren. Erst jetzt sehe ich das gelbe AA Schild, dass den Campingplatz als 3 Sterne Platz ausweist. Es war gestern Abend nicht zu sehen.





                              Wolken sind am Himmel, aber das hatte schon die letzten Tage nichts zu heißen. Die Luftfeuchtigkeit ist hoch.





                              Ich mache Fotos von meinem Zelt: Der schwarze Nupsi.





                              Rasenoptik.





                              Ich gebe den Schlüssel zurück und bekomme die Erlaubnis, mir noch die Rennbahn anschauen zu dürfen. Bilder mache ich keine. Der nächste Renntag ist noch etwas hin, die Rennen scheinen also höchstens einmal im Monat stattzufinden. Ställe sehe ich nicht, anscheinend gibt es hier also keine Trainingsstätten für Rennpferde. Es ist eine gut gepflegte, kleine Regionalbahn.
                              Ich würde gerne fragen, ob die Bahn rentabel ist. In Deutschland sind viele Bahnen in Schwierigkeiten, weil die Wetten nicht mehr auf der Bahn, sondern international im Internet getätigt werden. Aber so wichtig ist das auch nicht. Ich entscheide mich, weiterzufahren.

                              An der Straße blicke ich noch einmal zurück. Der Eingang für die Besitzer, und Trainer (links) und für das Stallpersonal (rechts).





                              Daneben ist unvermittelt die Einfahrt. Das weiße Schild ganz rechts ist das Willkommen-Schild. Wenn man sich nicht auskennt und das gelbe Campingschild nicht sieht, muss man tatsächlich denken, dass der Stellplatz nur für die Aktiven vorgesehen ist.





                              Ich folge der Straße und komme an einem alten Friedhof vorbei. Gestern ist er mir gar nicht aufgefallen. Auch dieses ist eine Kriegsgräberstätte.








                              An einer Schule packt eine Jugendgruppe ihre Zelte ein. Es war also keine Halluzination. Ich fahre ein kurzes Stück weiter und dann denke ich nach. So nahe bin ich den Zelten aber gestern nicht gekommen. Ich fahre gerade falsch. Die sterile Siedlung. Ich hätte vor dem Friedhof abbiegen müssen. Einen Moment überlege ich, dennoch weiterzufahren, um zu schauen, ob an der Landstraße vor mir Campingschilder sind. Aber ich weiß nicht, wie stark befahren die Hauptstraße dort ist. Ich fahre lieber den Weg von gestern zurück.

                              An der Landstraße sehe ich keine Beschilderung und fahre sicherheitshalber Richtung Kreuzung. Ich war richtig. Also wieder zurück und auf einem Radweg an der Landstraße entlang.





                              Als ich die Straße überqueren muss, sehe ich ein Schild, das ich am liebsten auf meinen Rucksack drucken würde.





                              Noch einmal in ganzer Pracht.





                              Ich stelle fest, dass es viel mehr Rasen in England gibt, als ich dachte.





                              Auf ruhiger Nebenstraße geht es weiter. Der Belag ist grobkörnig und bremst.





                              Vögel treiben mit mir nun ein lustiges Spiel. Wenn sie mich sehen, fliegen sie aufgeregt wie kleine Torpedos davon, um sich ein paar Meter weiter niederzulassen. Kaum komme ich näher, fliegen sie erneut aufgeregt weiter. Das wiederholt sich viele Male. Sie zu fotografieren ist schwer. Wenn man genau hinschaut, sieht man kleine braune Punkte über der Hecke und vor dem Baum. Ich denke an die Graureiher bei Harlingen. Wie lange ist das her? Vor einer Woche bin ich zur Fähre nach Ijmuden gefahren. Ist das wirklich erst eine Woche her?





                              Dann erwische ich sie doch noch.








                              Die Landschaft ist flach und spektakuläre Aussichten fehlen. Dafür kann ich ein wenig trödeln und herumschauen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Die Sonne müht sich, unter den Wolken hervorzukommen.





                              Welch ein Grün. Schön ist es hier.





                              Ein Wald, Teil eines Naturreservates.





                              Und dann stehe ich vor einem Gatter. Hier kommt man nicht durch.





                              Verwundert fahre ich heran und stelle fest, dass es sich um den Bahnübergang Wickenby handelt. Der Stationsvorsteher telefoniert. Ich stelle mir einen älteren Herren mit Uniform und Bauch vor.





                              Die erste Bahn kommt und dann eine zweite. Auf der anderen Seite wartet ein Lieferwagen.





                              Kaum ist der zweite Zug durch, kommt der Vorsteher aus seinem Häuschen und entpuppt sich als durchtrainierter, sportlicher Mann. Seine Aufgabe ist es, das Gatter zu bewegen. Was für ein Job. Wenn er sich einmal in der Zeit vertut, hat er ein Problem.








                              Schlehen.





                              Wickenby ist ein hübscher Ort. Die Kirche.








                              Eine Schautafel steht an der Kreuzung.





                              Weiterhin lasse ich mir Zeit. Es wird jetzt wieder hügeliger, aber gegen gestern ist das ein Witz.





                              Fahrradfahrer gibt es hier auffällig viele. Es ist ja flach. Die meisten fahren Rennrad. Man grüßt sich. Auch Spaziergänger sind unterwegs.





                              Ich passiere eine größere Farm. Am Straßenrand liegt ein Igel.





                              Eine Brücke, die über die Eisenbahn führt. Ich stelle mich in die Kurve, um ein Foto zu machen und ein Rennradfahrer kommt mir auf meiner Spur entgegen. Er klingelt und regt sich auf, als er mich sieht. Vielleicht sollte er einfach mal links fahren, ich glaube, in England herrscht Linksverkehr.








                              Und dann bin ich auch schon in Lincoln. Auf einem separaten, bewaldeten Radweg geht es parallel zur Hauptstraße in Richtung Innenstadt.





                              Der Belag ist diskussionswürdig.





                              Oha.





                              Die Umgebung ist nun nicht schön, denn ich fahre eine Ausfallstraße entlang. KFC und andere Fastfoodanbieter werben um die motorisierte Kundschaft. Auch ein Pizza Hut ist dabei. Pizza? Es ist zwanzig vor zwölf, und viel habe ich heute nicht gegessen. Ich schiebe mein Fahrrad durch die Eingangstür und rechne mit Ablehnung. Aber für das Personal ist das völlig in Ordnung. Es ist der Mitnahmebereich und es stehen hier sogar Stühle. Ich bestelle eine vegetarische Pizza und setze mich.





                              Ich versuche die Bedienung dazu zu bringen, die Pizza zu rollen, da ich ja schlecht den Karton mitnehmen kann. Sie weiß nicht, was ich meine und bringt mir die Pizza dennoch im Karton. Ich solle selbst Hand anlegen. Leider ist die Pizza geschnitten und das Rollen funktioniert daher nicht. Ich klappe die Teile zusammen und lege sie übereinander. Ein Teil werde ich jetzt essen, die anderen später. Die Frau versteht und gibt mir Butterbrotpapier zum Einwickeln und eine Tüte. Sehr gut.

                              Ich esse das Stück Pizza, während ich in die Stadt hineinrolle. Es gibt hier ein Schloss und einen Moment überlege ich, den Schildern zu folgen. Aber mit dem Gepäck auf dem Fahrrad werde ich es nicht besichtigen können. Das ist schade, denn dort befindet sich eines der vier Exemplare der Magna Charta. Es wurde 1068 unter William the Conquerer erbaut. Auch die Kathedrale muss sehenswert sein, ihr Bau wurde vier Jahre später begonnen.





                              Ich finde den Weg aus dem Ort auf Anhieb. Die Beschilderung ist gut. An einer Stelle geht es so steil hinunter, dass ich wieder Höhenangst bekomme. Aber meine Bremsen halten.

                              Es geht über eine Brücke, die über den Fluss Witham führt, und ich erinnere mich. Der Rennfahrer, der mir in seinem Haus die Karte gezeigt hatte, hatte mir erzählt, dass es einen Flussradweg von Lincoln nach Boston gibt. Hier muss das sein. Ich freue mich.





                              Ein paar Bänke stehen am Fluss, und ich beschließe, dort meine Pizza aufzuessen. Die Idee hatten auch andere, Pizzakartons und anderer Müll sind davon Zeugen. Traurig, dass es so viele Menschen gibt, die nicht in der Lage sind, Papierkörbe zu benutzen. Ein paar Ruderer erhalten eine erste Einführung. Ich denke an Waldhexes Spruch: Kanu fahren heißt: Schau mal, da ist eine Gaststätte. Rudern heißt: Schau mal, da wäre eine Gaststätte gewesen. Ich kann kaum fassen, wie es die Ruderer schaffen, auf so einem kleinen Fluss rückwärts zu fahren. Mich würde das wahnsinnig machen, nicht zu wissen, ob jemand hinter einem ist. Schon Rückschwimmen nervt mich kollossal.











                              Und mit diesem Schild geht es los.


                              Zuletzt geändert von Torres; 14.10.2014, 08:21.
                              Oha.
                              (Norddeutsche Panikattacke)

                              Kommentar


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                                • 16.08.2008
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                                #55
                                AW: [NL] [UK] Ups und Downs auf der North Sea Cycle Route

                                Holland.

                                Oder: Am Fluss entlang.


                                Ich befinde mich nun auf dem Water Rail Way, einer ehemaligen Eisenbahnstrecke, die am Fluss Witham entlang führt und weitgehend autofrei ist. Die Eisenbahnstrecke wurde 1848 eröffnet und diente dazu, Maschinenfabriken mit schweren Gütern zu versorgen. Die Strecke von Lincoln nach Boston beträgt 31 Meilen. Hinweistafeln erläutern die Geschichte.








                                Auch in England gibt es Regeln. Und nicht zu knapp.





                                Besonders interessant ist dieses Schild. Es zeigt, wie stark die Eigentumsrechte in England sind. Es gibt kein öffentliches Recht, dieses Weg benutzen zu dürfen und das Wegerecht kann auch wieder entzogen werden.





                                Der Weg ist gut besucht, aber es gibt auch einsame Abschnitte. So spektakulär wie der Cinder Track ist er natürlich nicht. Steilküsten und Cliffs sind etwas völlig anderes, als ein Deich an einem Fluss. Aber man kann hier wieder einmal nach Herzenslust radfahren. Auch wenn mir zweifellos noch der gestrige Tag in den Knochen steckt. Der Wind kommt von der Seite, ist aber stark genug, um bei Flusswindungen lästig zu sein.





                                1916 hatte ein Zeppelin Bomben auf diesen Ort abgeworfen. Die Schaulustigen kamen in Scharen, um sich das Ereignis anzusehen. Die überfüllte Fähre kippte um, und ein 27 jähriger und ein 7 Jähriger ertranken.





                                Sicherheitskleidung.





                                In Abständen finden sich am Wegesrand Kunstinstallationen oder historische Bezüge. Die Scheibe ist ein Hinweis auf das Bronzezeitalter.








                                Flachland.














                                Ein Schild erläutert, dass Lincoln und Umgebung im Zweiten Weltkrieg „Bomber Country“ genannt wurde. Hier war ein Großteil der britischen Flugzeugflotte stationiert. In der Ferne die Kathedrale.








                                Tiere.








                                Verlockung.





                                Verführung.





                                Bardney Lock. Die Schleuse wurde 34 Jahre von Mrs. Wright bedient. Sie bekam kein Gehalt, durfte aber kostenfrei hier wohnen. Als die Eisenbahn in den 40iger Jahren den Warentransport per Schiff zurückdrängte, wurde die Sportschifffahrt wichtiger. Die Wiesen an der Schleuse wurden zwischen 1940 und 60 zum Sommerziel junger Familien aus Süd Yorkshire, die hier in den Werksferien Sheffields zelteten und fischten. Nach dem Sommer bewahrte Mrs. Wright die Zelte und Kocher für das nächste Jahr auf. Man sieht, dass hier Marsch ist, und ein wenig erinnert die Landschaft an Friesland.









                                Das Wetter ist nun richtig schön geworden, aber der Wind macht Mühe. Irgendwann musste ich ja auch mal wieder Wind bekommen. Nur flaches Gelände zu haben, wäre zu einfach.





                                Der Radweg führt nun durch einen Ort, weil er die Seite wechseln wird. Mit Erstaunen sehe ich, dass es eine Sommer- und eine Winterroute gibt. Ich wähle die Sommerroute.





                                Sie führt über einen Schotterweg, der mit kleinen Glasstücken versehen ist. Kein gutes Gefühl, aber meinen Reifen macht das nichts.





                                An einem Feld geht es weiter. Feuchtigkeit hat es überzogen und es glänzt geheimnisvoll in der Sonne, doch auf dem Foto sieht man das nicht.





                                Der Weg ist nun richtig verwunschen. Ein schöner Abschnitt hier.





                                In Southtrey gibt es Gastronomie, aber mir ist es dort zu voll. Dafür sind mir die Rucksackhüllen ein Bild wert, sie sind von Vango und man sieht sie meilenweit.





                                Dieser Kuchen ist allerdings nicht essbar.





                                Ich radele jetzt ein bisschen schneller, denn es ist jetzt bald 14.00 Uhr. Außerdem beginne ich mich zu langweilen. Man sieht nicht viel anderes als den Radweg, den Fluss und die Felder. Erste Anflüge von Müdigkeit setzen ein.





                                Die Müdigkeit wird stärker.








                                Ein wenig habe ich Angst, dass mir mitten der Fahrt die Augen zufallen, und ich vom Fahrrad stürze. Ich versuche es mit einer Pause, aber das nutzt nichts. Schlafen könnte ich nicht.


                                Bald ist die autofreie Strecke erst einmal beendet. An der Woodhall Junction geht es über eine Brücke auf die andere Seite. Einen kurzen Moment überlege ich, ob ich mir im Railway Hotel ein Zimmer nehme, denn mir fallen wirklich fast die Augen zu, als ich die Brücke hochschiebe. Ein Campingplatz wäre gut. Aber ein wenig sollte ich noch fahren, sonst stimmt die Streckenaufteilung nicht mehr.





                                Ich bin nun auf einer Straße am Ufer des Rivers Witham. An der Seite stehen Häuser. Ein Mann mäht den Rasen. Ein Hund läuft mir hinterher.





                                Bisher hatte ich diese Boote nur vertäut am Fluss liegen sehen. Ein Exemplar in schwarz mit gelblichen Gardinen sah aus wie ein schwimmender Leichenwagen. Andererseits ist es eine schöne Form, die bestimmt nicht im Windkanal entwickelt wurde. Als ich das Boot vor mir sehe, fahre ich ein kleines Rennen, um es einzuholen und mich wach zu halten.





                                In diesem Moment taucht natürlich ein Campingplatz auf. Angler sitzen am Fluss und unterhalten sich. Der Ort heißt Tattershall. Einen kurzen Moment überlege ich, wie schön es jetzt wäre, mich vor meinem Zelt in die Sonne zu legen, dem Spiel des Windes zu lauschen und ein wenig zu schlafen. Ich ringe mit mir. Eine gute Idee. Urlaub machen. Und morgen weiterfahren nach Boston. Dann darf es aber keine Verzögerung durch Umwege oder Hügel geben. Hhm. In vier Tagen muss ich bereits an die Rückreise denken, und Harwich ist noch weit.

                                Ich gehe in mich, um herauszufinden, wozu ich wirklich Lust habe. Und mir fällt ein, dass ein bisschen Fahrrad fahren gar nicht schlecht wäre. Es ist Samstag und Bewegung kann nach einer harten Arbeitswoche nicht schaden. Ich gebe Gas, um das Boot wieder einzuholen. Leider hat es gerade hinter der Tattersall Bridge angelegt.





                                Schade.
                                Dennoch bin ich plötzlich wieder wach und gebe Gas. So gefallen mir Flüsse.





                                Dann verlässt der Radweg wieder den Fluss. Es beginnt eine sehr, sehr lange Landstraße, die schnurgerade die Landschaft zerteilt. 6,91 km misst mein Navi. Der äußerst frische Wind kommt natürlich von vorne.





                                Trotzdem macht mir das Radeln wieder Spaß. Der Wind drückt zwar ganz schön, aber ich bin mental stärker geworden und mein Fahrrad ist in Ordnung. Rhythmisch arbeite ich mich im 7. Gang stetig voran.
                                Und bin froh, dass ich weitergefahren bin. In den Morgenstunden, möglicherweise noch im Nebel, würde ich die Strecke nicht fahren mögen. Und wer weiß, ob der Wind morgen nicht noch stärker ist. Im Schnitt fahre ich nun 17 km/h. Rekorde vereitelt der Wind.

                                Während ich vor mich hinradele, ziehe ich Parallelen zu Holland. Erinnerungen an den Anfang meiner Reise tauchen vor meinem Auge auf. Schön war es dort. Vor allem in Groningen und in Friesland.





                                Das mit Holland ist gar nicht falsch. Ich bin wirklich in Holland.








                                Die Gegend heißt nicht nur so, es gibt auch Entwässerungsgräben, Kanäle, Schleusen und Felder wie in Holland. Hier befindet sich die Hälfte der hochwertigsten Agrarflächen Englands. Das Land befindet sich ca. 9 bis 10 Meter über dem Meeresspiegel und wurde durch Entwässerung, Deiche und Windmühlen nutzbar gemacht.





                                Die Straße ist wirklich sehr lang, aber dann geht es wieder auf den Flussradweg zurück. Erneut ein schöner Waldweg.





                                Boston ist zu sehen. Der Kirchturm ist der „Boston Stump“








                                Ich mache eine Pause und blinzele in die Sonne. Schön, sich einfach mal dem Müßiggang hingeben zu können, anstatt über Hügel zu hetzen. Die Fahrradständer gefallen mir.





                                Und dann bin ich belustigt. Was macht denn das Segelboot hier?





                                Die Antwort scheint zu sein: Üben. Denn er fährt immer hin und her.





                                Wenn das nicht Holland ist.








                                Ich bin in Boston. Der Tourismus der Stadt ist durch die Pilgerväter geprägt, die als puritanische Separatisten 1607 nach Holland auswanderten, dort aber nicht ihre Vorstellungen verwirklichen konnten. 1620 stach die Mayflower in See, auf der sich neben einer größeren anderen Separatistengruppe auch Pilgerväter aus Boston oder Pilgerväter, die in Boston inhaftiert waren, befanden. 1630 wurde Boston, USA gegründet.





                                An der Kirche steht wieder ein zentrales Radwegschild, und ich speichere den Punkt ein. Mein Navi, das ich schon im Fenland befragt hatte, zeigt bereits seit längerem den Pilgrim´s Way Campingplatz als geeignete Übernachtungsmöglichkeit an, aber ich weiß nicht, ob das der Platz ist, den ich per Internet herausgesucht und für gut befunden hatte. Ich hatte mir nur die Adresse, aber nicht den Namen in die Karte notiert. So programmiere ich die Adresse ein und gebe Gas. Mein Navi lenkt mich an einer Landstraße entlang. Es gibt Hinweise auf ein Pilgervätermonument, aber es scheint nicht an meinem Weg zu liegen und, und extra hinfahren möchte ich nicht. Ich habe Hunger.
                                Nachdem ich in die richtige Straße abgebogen bin, muss ich zweimal fragen, bis ich den Platz finde. Ich stelle fest, dass die Leute hier anders sprechen als bisher, und ich muss genau hinhören, um sie zu verstehen. Der Platz liegt abgeschirmt hinter meterhohen Bäumen. Es ist der Pilgrims´s Way Campingplatz. Das hätte ich einfacher und vor allem kürzer haben können.

                                Der Platz ist auf Wanderer und Radfahrer eingerichtet, es gibt eine eigene Zeltwiese mit parkähnlicher Bepflanzung und eine Sitzgruppe, die sogar mit Steckdosen ausgestattet ist, damit die Zelter ihre Akkus aufladen können. Noch letzte Woche müssen hier viele Reiseradler gewesen sein, die den Nordseeküstenradweg gefahren sind oder den Pilgrim´s Way gelaufen sind. Sie waren aus Tschechien, Holland oder Deutschland. Inzwischen ist der Zeltplatz leer. Nur wenige Wohnmobile sind auf dem angrenzenden Areal.

                                Das Tor zur Straße steht sperrangelweit offen. Es ist ein Nebeneingang, denn die offizielle Einfahrt ist am Wohnmobilplatz. Ich frage, ob der Platz denn sicher ist, und die Dame in der Rezeption lacht. „Wir haben vier Hunde. Auch das Haus ist immer offen.“. Einen kurzen Moment sehe ich die Schlagzeile vor mir: „Campingplatz überfallen, Bewohner ermordet“, aber vielleicht ist der Platz ja wirklich abgesichert genug. Warum mich das offene Tor stört, weiß ich nicht. Vielleicht, weil mich auf diese Weise von der Straße aus jedes vorbeifahrende Auto sehen kann. Das widerstrebt meinem Sicherheitsbedürfnis.
                                Ich dusche erst einmal, dann esse ich den Eisbergsalat mit Thunfisch. Er nimmt seit zwei Tagen viel Platz in meiner Küchentasche ein. Ich rolle die Blätter zusammen und tunke sie in das Öl. Ein bisschen wie Chips. Lecker.





                                Es ist dunkel geworden. Die Rezeption erstrahlt in hellem Licht. Sie befindet sich direkt am Zeltplatz, während die Wohnmobile auf der andere Seite der Sanis liegen. Jeder Gang zu den Facilities setzt eine Platzbeleuchtung in Betrieb. In der Rezeption schnurrt eine Katze, in einem umzäunten Stück sitzen Hühner. Die Büsche und Pflanzen der Zeltwiese werden von verborgenen Lichtquellen in unterschiedlichen Farben beleuchtet. Das perfekte Schlossparkfeeling. Beleuchtung ist genau das, was Zelter brauchen, um gut schlafen zu können. Auch das offene Tor ist illuminiert.





                                Ein merkwürdiger Platz.
                                Zuletzt geändert von Torres; 15.10.2014, 21:03.
                                Oha.
                                (Norddeutsche Panikattacke)

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                                  #56
                                  AW: [NL] [UK] Ups und Downs auf der North Sea Cycle Route

                                  Marshland.

                                  So, 14.09.2014
                                  Boston – St. John´s Fen End, 88,7 km


                                  Am Morgen bin ich gut erholt und frühstücke. Das Zelt ist trocken, der Wind hat gute Arbeit geleistet. Ich trenne es dennoch, da es sich so besser verpacken lässt. Die Hühner gackern.
                                  Ich setze mich an die Sitzgruppe. Ein ungewohntes Gefühl, morgens am Tisch zu sitzen. Ich breche den Cheddar an und leere das Pestoglas, das ich seit Holland in meiner Packtasche habe. Die Geheimwaffe gegen alte Brötchen ist nun verbraucht. Die Akkus sind alle aufgeladen, auch der Akku vom Handy. Ich hatte letzteren in der Rezeption aufladen können. Vielleicht ist der Eindruck des Platzes völlig anders, wenn hier auch noch andere Zelter sind. Der Platz ist übrigens das ganze Jahr geöffnet.

                                  Um 8 Uhr schiebe ich mein Fahrrad in Richtung Tor. Mir kommt der Gedanke, dass das ganze Gelände nach vermutlich vermint ist. Lichtschranken. Überwachungskameras, die man nicht sieht. Die Engländer sind da meiner Erinnerung nach recht aufgeschlossen. Immerhin ist der Platz doch recht zivilisationsnah gelegen.

                                  Am Tor zeigt sich das übliche Bild: Wolken und ein Hauch von Sonne. Immerhin ist es hier nicht neblig.





                                  Der Campingplatz. Hinter Bäumen verborgen.





                                  Es ist Sonntag und die Straßen sind leer. Ich biege links ab. An der nächsten Kreuzung befindet sich ein geöffneter Supermarkt. Der Campingplatz liegt ziemlich zentral.





                                  Ich fahre auf Sicht nach Boston hinein und beinahe wird eine größere Straße, vermutlich eine Schnellstraße, für mich unüberwindbar, da sie für Fußgänger nur an wenigen Stellen zu überqueren ist. Noch rechtzeitig kann ich zurückfahren und die Ampel nutzen. Vor einer Woche bin ich um diese Zeit aus der Fähre gestiegen. Es kommt mir vor, als wäre es ewig her.

                                  Ich radele durch die Innenstadt. Ein Liebespaar ist unterwegs und ein Radfahrer huscht vorbei. Ein großes Kriegsdenkmal in der Fußgängerzone.





                                  Die Kränze sind für die verschiedenen Einheiten der Streitkräfte, für die alliierten Verbände, für die Krankenschwestern, Techniker und das Bodenpersonal. Und für die Veteranen.

                                  „Eine Nation, die ihre Vergangenheit vergisst und diejenigen, die ihr Leben dafür gaben, kann nicht mit Vertrauen und Geist in die Zukunft schauen.
                                  Unser Kriegsmemorial wurde errichtet, um an die tapferen Männer und Frauen zu erinnern, die Risiken eingingen und alles verloren, so dass wir in Freiheit leben können.
                                  Sie waren unsere Leute und verdienen, mit Stolz erinnert zu werden von ihrer Familie und ihrer Nation.“

                                  Lord Cope of Berkeley,
                                  Verwalter des War Memorials Trust





                                  „Wenn Ihr nach Hause fahrt, erzählt ihnen von uns und sagt: Für Eure Zukunft gaben wir unser Heute.“





                                  Anzio. Und ich weiß sogar genau, wo die Schlacht war.





                                  Ich kann mir nicht helfen, ich bin tief berührt. Und ich überlege, ob es vielleicht eine Frage des zunehmenden Alters ist, sich immer plastischer vorstellen zu können, was es bedeutet, Kinder, Brüder, Schwestern, Väter, Mütter und Freunde in einem Krieg zu verlieren. Früher habe ich solche Mahnmale nur am Rande wahrgenommen. Es hat sich in mir etwas verändert.

                                  Die Kirche.





                                  Ein Mann, der aussieht wie ein Obdachloser, kommt wichtig auf mich zu. Wohin ich wolle. Auf den Radweg nach King´s Lynn. Kennt er nicht. Er wankt weiter. Die Skulptur stellt den Journalist und Politiker Herbert Ingram dar.





                                  Ich finde das Radwegschild und fahre los.





                                  Am Pilgrim House vorbei, aber das Bild verwackelt. Blick auf den Fluss Nene.








                                  Das weißschwarze Haus im Hintergrund ist das Pilgrim House.








                                  Ich fahre zu weit und mit Hilfe des Navis und meiner eingezeichneten Route in der Karte finde ich nach einer kurzen Phase des Irrtums den richtigen Weg: Ich muss den Fluss queren. So wende ich. Schon bald sehe ich, dass das richtig war.








                                  Es ist Herbst geworden. Das erste Mal fällt es mir auf.








                                  Und weil mir der Baum so gut gefällt, fotografiere ich ihn noch einmal von hinten.





                                  Die Strecke ist sehr schön.








                                  Ich finde, die Farbwahl hat Stil.





                                  Der Turm zur Kirche.








                                  Das Wetter ist strahlend schön. Der Wind kommt wie gestern aus Osten, und da ich in Richtung Süden fahre, bremst er nur an wenigen Stellen. Das wird sich später ändern.





                                  Auch hier ist Marschland. Die Gegend hier liegt an „The Wash“, einer Bucht der Nordsee, die in Skagness beginnt und bis Hunstanton geht. Dem Verlauf dieser Bucht folgt der Radweg nun grob. Sehr grob. Einen Küstenradweg gibt es nicht.

















                                  Ich überquere den Fluss Welland und freue mich. Mein Ziel ist Hunstanton, da es dort einige Campingplätze gibt. Außerdem liegt es an der Küste. Anscheinend komme ich heute gut voran. Ich werde mich irren.








                                  Der Radweg führt unterhalb einer vielbefahrenen Landstraße entlang. Ich muss erneut an Holland denken. Aber ich bin ja auch in Holland. Dann geht es links ab.





                                  Der Wind kommt nun von vorne. Ich messe 22 km/h. Das geht noch.





                                  Ich höre hinter mir eine Landmaschine, und da der Fahrer nicht überholt, weiche ich auf den Seitenstreifen aus. Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass er vorne einen überbreiten Aufsatz hat, der die ganze Straßenbreite benötigt. Er bedankt sich überschwänglich und fährt vorbei. Er arbeitet an dem Kürbisfeld.





                                  Flachland.





                                  Wind.





                                  Felder. Die Strecke gefällt mir immer noch ausnehmend gut. Die Farben sind kräftig und es gibt immer etwas zu sehen.





                                  Höfe.





                                  Ich fühle mich wie zu Hause. Die Bäume. Die Wiesen. Das Licht. Schön ist es hier. Ein Haus in der kurve heißt heißt Seaview. Da muss ich dann noch ein wenig lachen. Entweder steht das Haus dort schon seit 500 Jahren dort oder es sind Optimisten. Das Meer ist weit weg.

                                  Ich bin nun in Holbeach Saint Mark. Die Umgebung ist die Holbeck Marsh.





                                  Die Strecke zieht sich und anscheinend gehörten viele kleinere Orte zu Holbeach. Gegen 11.20 Uhr überquere ich eine Hauptstraße und interpretiere das Anschlussschild falsch. So passiere ich eine Hochschule und das Zentrum für Molekularbiologie. Eine großes Gelände, mit Radwegen ausgestattet, wenn auch menschenleer. Es ist ja Sonntag. Es dauert, bis ich merke, dass es dort nicht weiter geht und darf wieder wenden. Die Kirche.








                                  Ein Blick auf mein Navi zeigt mir, dass der Nordseeküstenradweg einen weiten Bogen gemacht hat. Und jetzt geht es auch nicht auf dem direkten Weg nach King´s Lynn, sondern erst einmal in den Süden nach Wisbech. Waren die letzten Tage in dieser Beziehung sehr angenehm, so scheint die Route jetzt wieder sehenswerte Orte abfahren zu wollen. Verständlich, da die Landschaft nicht so variantenreich ist. Dennoch: Ich verspüre Anzeichen von Unmut.


                                  Ein Cottage aus dem Jahr 1882.





                                  Gedney. Ich verfahre mich und drehe vor der Landstraße. Dann finde ich doch das richtige Schild.





                                  Manchmal gar nicht so einfach.








                                  Die Landschaft gefällt mir immer noch, aber ich wäre gerne schon viel weiter.











                                  Ich finde einen kleinen geöffneten Shop in Tydd St.Mary und kaufe ein paar Kleinigkeiten. Streichkäse, Joghurt, Milch, Brötchen. Die Angestellten schauen mich ein wenig merkwürdig an, als würde ich stören. Kaum habe ich den Laden verlassen, schließen sie. Es ist genau 13.00 Uhr. Ich setze mich in die Sonne und esse.





                                  Der Blick in die Karte zeigt, dass ich nicht dort bin, wo ich gerne um diese Zeit wäre. Ich bin jetzt bereits 5 Stunden unterwegs. Ich reduziere mein Minimalziel auf King´s Lynn. Vermutlich gibt es dort keinen Campingplatz, aber vielleicht ein B&B.
                                  Zuletzt geändert von Torres; 15.10.2014, 21:20.
                                  Oha.
                                  (Norddeutsche Panikattacke)

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                                    #57
                                    AW: [NL] [UK] Ups und Downs auf der North Sea Cycle Route

                                    Lost in Wisbech.

                                    Die Pause hat gut getan. Nun muss ich Gas geben. Sonst schaffe ich auch mein neues Ziel nicht.





                                    Wer meint, es gäbe nur in Deutschland Verbotsschilder, der irrt.





                                    Erhabene Ruhe.





                                    An Details der Strecke, die ich nun fahre, kann ich mich nicht mehr erinnern. Sie ist nicht spektakulär. Ich fahre sie, um anzukommen. In einer Seitenstraße steht ein Auto. Es sieht lange so aus, als säße ein Schäferhund am Steuer, aber tatsächlich ist es ein Mann.

                                    Die Kirche von Leverington sieht man schon von weitem.





                                    Zwei Schmuckstücke.





                                    Fahren auf dem Bürgersteig.





                                    Ich nähere mich Wisbech. Wisbech liegt in Cambridgeshire.





                                    Der Cricket Club von Wisbech.





                                    Die Beschilderung wird nun unzuverlässiger. Aber ich finde den Weg. Bis ich zu diesem Kreisverkehr komme. Die Schilder sind weg. Es ist 14.19 Uhr.





                                    Ich kombiniere mir zusammen, dass ich über die Brücke muss. Das ist richtig. Das braune Gebäude im Hintergrund ist die Polizei.





                                    Hier bin ich noch guter Laune und finde die Umgebung hübsch.








                                    Ich finde auch das Radwegschild. 15.27 Uhr. 8 Minuten habe ich gebraucht, um es zu finden. Zuvor hatte ich überlegt, an der Tankstelle an dem Kreisverkehr zu fragen, aber es sind mir viel zu viele Leute dort. Ich möchte das Fahrrad nicht unbewacht herumstehen lassen. Und langsam bezweifle ich, dass Engländer Radwege kennen.








                                    Frohgemut folge ich dem Schild. Nur leider ist das falsch. Ich hätte einfach weiter geradeaus fahren müssen. Steht nur nirgendwo. Kommt man auch nicht drauf, denn die Schnellstraße nach King´s Lynn ist woanders. Sie ist für Fahrräder verboten.

                                    Ich biege nun ein und werde Richtung Innenstadt geführt. Brav warte ich an der Drückampel, welche Fußgänger und Radfahrer über die Schnellstraße nach King´s Lynn führt. Der Wegweiser führt nach rechts und immerhin komme ich der Kirche näher, aber leider nicht zu meinem Ziel. Ich bin im Kreis gefahren, denn kurz darauf stehe ich wieder an der Schnellstraße. Ich entscheide, zurück zu fahren, um die Schilder zu kontrollieren und drücke wieder die Ampel. Ich untersuche jeden Laternenmast und jeden Zaun, aber es gibt nur diese Richtungsangabe. Ich fahre zurück zum Kreisverkehr.





                                    Nichts. Ich entscheide, es noch einmal in der Innenstadt zu versuchen und schiebe eine Abkürzung. Man kennt sich ja jetzt aus. Ich fahre unerlaubterweise durch die Innenstadt. Die Geschäfte sind geöffnet. Ein Radladen ist am Wegesrand, und ich frage. Der Verkäufer weiß es nicht. Nein, er fährt hier kein Fahrrad. Es tut ihm leid. Aha.

                                    Ich suche die Tourist Information, sie ist nützlicherweise geschlossen. Ich finde ein Radwegschild der Nr. 1 und schöpfe Hoffnung. Ein Blick ins Navi zeigt mir, dass ich jetzt wieder auf die Strecke komme, die ich hergekommen bin. Begeisterung.

                                    Zurück. Ich komme an eine Straße, die einen kleinen Platz umfasst. Union Place heißt sie. Ich radele einmal im Kreis herum und dann packt es mich, und ich radele noch einmal im Kreis herum. Einen Moment überlege ich, ob ich jetzt einfach nicht mehr aufhören sollte und so lange im Kreis radeln sollte, bis ich vom Fahrrad falle oder mich jemand in die Psychiatrie einweist, aber das bringt ja auch nichts. Also verlasse ich die Straße wieder und finde eine neue Radwegbeschilderung. Der Radweg hat eine andere Nummer, die 63, und nach einiger Zeit stelle ich fest, dass es auch die falsche Richtung ist. Ein Schild weist auf ein Castle hin. Keine Zeit. Es ist jetzt 14.50 Uhr.

                                    Ich fahre wieder zurück. Den Weg kenne ich ja jetzt. Wieder über die Ampel. An der Hauptstraße fahre ich wieder zum Kreisverkehr. Ich bin fest entschlossen, jetzt zur Polizei zu gehen und zu fragen, wo die Schilder sind. Ich schiebe. Zwei Jungs mit Fahrrädern fahren mich fast über den Haufen. Die Polizei hat geschlossen. Es ist Sonntag. 15.02 Uhr.

                                    Ich bin den Tränen nahe.

                                    Erneut fahre ich Richtung Drückampel, um das letzte Mal die Schilder zu überprüfen. Nein. Ich bin richtig gefahren. Ich nehme das Navi und programmiere King´s Lynch ein. Es reicht. Ich habe alles getan, um der Route zu folgen. Jetzt fahre ich, wie ich will. Es ist jetzt 15.12 Uhr.

                                    Das Navi leitet mich geradeaus. Die Autos sind rücksichtsvoll, obwohl ich auf einer vielbefahrenen Landstraße fahre. Und es ist nicht zu glauben: Nach einiger Zeit finde ich ein Schild. Ein Radwegschild. Anscheinend führt hier der Nordseeküstenradweg entlang. Na so etwas. Polnische Verhältnisse in Wisbech. Anders kann ich das nicht ausdrücken. Es geht nach links.
                                    Fast eine Stunde bin ich hier herumgeirrt. Ich hätte die Zeit besser nutzen sollen, um Wisbech anzuschauen. Wisbech existiert bereits seit der Römerzeit und in der nicht mehr vorhandenen Burg wurde Guy Fawkes festgehalten und über den Fluss zur Hinrichtungsstätte gebracht. Der Nachbarort Spalding war lange das Zentrum des Tulpenanbaus.

                                    Nun gebe ich Gas. Erst geht es noch durch Wohngebiete, dann Landstraße. Ich bin jetzt bereits in der Grafschaft Norfolk. Wie es dort aussieht, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass die Schilder nun sehr spärlich gesät sind. Verwöhnt von der Beschilderung in Yorkshire, muss ich mich daran gewöhnen, dass die Schilder höchstens an Abzweigungen zu finden sind und manchmal auch gar nicht. So muss ich immer wieder auf das Navi schauen, das mir die grobe Richtung anzeigt.

                                    Als weiteres, drückendes, Problem entpuppt sich, dass ich ein ungestörtes Plätzchen suche und keines finde. Entweder man sieht mich meilenweit, es sind Häuser in der Nähe oder es ist Privatgelände. Schließlich lande ich an einer Baumgruppe, die einen Hof umfasst und lehne mein Fahrrad an eine gelbe Warnbake an. Tut mir leid, wenn ich Eigentumsrechte verletzt habe. Aber das ist ein Notfall.





                                    Für einen kurzen Moment habe ich Begleitung.





                                    Ich radele weiter. Eine Brücke. Geradeaus über die Schnellstraße? Oder rechts ab nach Wisbech? Vielleicht wieder ein bisschen in Wisbech im Kreis fahren? Ich merke, ich bekomme ein Tief. Ich will zurück nach Yorkshire. Zu den wunderbaren Yorkshire Wolds Schilder. Noch einmal schaue ich mich um. Und dann sehe ich eine kleine rote 1 auf dem Verkehrsschild. Ein netter Mensch hat sich meiner erbarmt. Danke schön. Vielen lieben Dank.





                                    Es geht nach rechts.





                                    Zu meinem Erstaunen sitzen zwei Personen auf der Leitplanke. Macht man das hier so? Warten sie auf ein Auto?





                                    An die weitere Strecke habe ich keine Erinnerung. Felder. Das eine oder andere Haus. Flachland eben. Keine Kirchen.

                                    Plötzlich taucht auf der rechten Seite ein Campingplatz auf. Virginia Lakes Caravan Park. Es scheint dort einen See zu geben. Ich überlege einen Moment. Noch 20 km bis King´s Lynn. Dann entschließe ich mich, die Gelegenheit zu nutzen. Bis ich in King´s Lynn bin, wird es dauern, und bis ich dort eine Unterkunft gefunden habe, noch länger. Es ist 17.00 Uhr.

                                    Eine Frau in einem SUV parkt vor der Rezeption und winkt den Betreiber herbei, ich schätze, es ist seine Frau. Ich zahle 10 Pfund. Ich erzähle von meiner Irrfahrt durch Wisbech und er nickt: Wisbech ist grauenvoll. Ich bin überrascht und frage, ob es anderen wohl auch schon gegangen ist und er nickt. Ja, Wisbech ist dafür bekannt. Sollte ich etwa kein Einzelfall sein?

                                    Er schickt mich auf eine riesige, frisch gemähte, leere, abschüssige Zeltwiese, die bereits im Schatten liegt. Da sei ich windgeschützter. Da der Wind aus Osten kommt, stimmt das nicht. Sehr viel Wind ist sowieso nicht. Unter einem Baum sind Strahler, die den Zeltplatz beleuchten. Auf Flutlicht habe ich heute keine Lust. Ich überlege und probiere, und dann stelle ich mich zu den Wohnmobilen auf den Hügel. Und damit in die untergehende Sonne.





                                    Die Dusche ist heiß. Aber die Sanis sind gewöhnungsbedürftig. Schlicht und funktionell. Tankstellenniveau. Insekten. Besonders Freude macht die Lichtschaltung in der Toilette. Sobald man sich hinsetzt, geht das Licht aus und es wird stockdunkel. Klatschen nutzt nichts. Man muss aufstehen und aus der Tür treten. Dann geht das Licht wieder an. Einen Moment denke ich an die liebevoll gestalteten Sanis der Plätze in Sunderland, Hinderwell, Hunmanby oder Market Rasen. Vielleicht sind Angler eine besondere Spezies. Ich packe eine Stirnlampe in meine Jacke.
                                    Die Steckdosen sind zugeschraubt und es sind überall Schilder, was man tun sollte und was nicht. Anscheinend kein Platz, der reich macht.





                                    Neben meinem Zelt ist einer der Seen. Wie man dort hinkommt, kann ich leider nicht herausfinden. Ich halte die Kamera über das Gebüsch. Morgen wird das Zelt feucht sein.





                                    Ich packe meinen Kocher aus und koche Nudeln. Die Dose mashed peas, die ich in Hinderwell erworben habe, kommt mir jetzt gerade recht. Ich koche erst die Nudeln, mache dann dann die Erbsen heißt und in der Kombination mit Ketchup schmeckt das Essen zwar nicht sensationell, aber es macht satt. Mal sehen, wie der morgige Tag wird. Ich muss auf jeden Fall Wells-next-the-Sea erreichen, sonst wird die Zeit zu knapp. In vier Tagen sollte ich in Harwich sein. Wenn das so weiter geht, muss ich mit dem Zug fahren. Hoffentlich nicht.


                                    Zuletzt geändert von Torres; 16.10.2014, 21:04.
                                    Oha.
                                    (Norddeutsche Panikattacke)

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                                      #58
                                      AW: [NL] [UK] Ups und Downs auf der North Sea Cycle Route

                                      <-- gespannt auf die Fortsetzung wartet
                                      Ich bin nicht tot, ich tausche nur die Räume, ich bin in Euch und geh’ durch Eure Träume. (Michelangelo)
                                      Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren von Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir weggehen. (Albert Schweitzer)

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                                        #59
                                        AW: [NL] [UK] Ups und Downs auf der North Sea Cycle Route

                                        Die Suche nach dem Meer.

                                        Mo, 15.09.2014
                                        St.John´s Fen – Wells-next-the-Sea, 84,6 km


                                        In der Nacht hat es in Strömen geregnet. Als ich es bemerke, krieche ich aus dem Zelt, um meine Bikepackingtaschen ins Zelt zu holen. Ich weiß nicht, wie weit sie wasserdicht sind. Als ich die festsitzenden Klettbänder endlich abgemacht habe, bin ich völlig durchnässt. Normalerweise bin ich so clever, nur in der Unterhose hinauszugehen. Nun ist alles nass. Ich muss mich umziehen.

                                        Am Morgen zeigt sich ein wenig die Sonne, aber es sieht weiter nach Regen aus.





                                        So packe ich um. Die Regenhose ziehe ich an, die Überziehschuhe ebenfalls.





                                        Kurz hinter dem Platz ist eine Kreuzung. Sorgfältig suche ich sie nach Schildern ab. Ich könnte schwören, dass es rechts abgeht, aber ich sehe nichts. Tatsächlich wäre die Abzweigung richtig gewesen. Das sehe ich aber erst zu Hause.

                                        So fahre ich weiter.





                                        Ein kleiner Schauer, dann wieder die Sonne. Die Luft fühlt sich seifig warm an. Als nach gefühlt einer Ewigkeit an einen Pfosten eine rote 1 genagelt ist, bin ich erleichtert.





                                        Ich bin in der School Road und fahre auf eine Gruppe Schülerinnen und Schüler zu. In ihren weißen Hemden und schwarzer Jacke sehen sie sehr elegant aus. Sie warten auf den Schulbus.

                                        An der nächsten Kreuzung suche ich erneut ein Radwegschild. Nichts. Also fahre ich ein Stück geradeaus, aber das kann nicht richtig sei. Ich fahre zurück zur nächsten Kreuzung und zermartere mir das Hirn, ob ich nach dem 1er Schild eine Abzweigung übersehen habe. Nein. Da war nichts. Also biege ich in die Seitenstraße Richtung ein. Ich fahre einige Zeit geradeaus und dann werde ich unsicher. Laut Navi fahre ich jetzt südlich. Tatsächlich müsste ich mich nordöstlich orientieren. Ich halte. Sollte ich eine Abzweigung übersehen haben, könnten sich die Wege am Fluss treffen. Mein Navi zeigt dort zwar keine Straßen an, aber das muss nichts heißen. Riskieren oder nicht?

                                        Und plötzlich habe ich die Schnauze voll. Die Schnauze voll, ständig auf jeden Mast zu starren, um die Schilder zu finden. Bei jedem blauen Sackgassenschild zu hoffen, dass das blau auf einen Wegweiser hinweist. Ich programmiere King´s Lynn ein und wende. Ich biege rechts in eine ruhige Seitenstraße Richtung Tilney St. Lawrence ein. Zum Dank werde ich fast von einer alten Dame überfahren, die große Schwierigkeiten zu haben schient, ihr Auto auf der linken Seite zu halten. Sie hat kein Gefühl für die Abmessung.


                                        Ich fahre nun nördlich und überquere die Autobahn.





                                        Die Strecke ist zwar ein Umweg, wie ich später sehen werde, aber richtig abwechslungreich. Die Originalstrecke führt landschaftlich reizvoll an einem Kanal entlang. Meine Strecke ist urbaner. Dafür gibt es mehr zu sehen. Ein Gasthaus. Ich versuche mir vorzustellen, wie hier früher die Pferde gewechselt wurden.





                                        Die Sonne kommt immer mal wieder heraus.





                                        Tilney All Saints.











                                        Bald ziehe ich die Regenhose und die Überziehschuhe aus.





                                        Ich quere eine größere Landstraße, die nicht durch Ampel geregelt ist. Nicht leicht. Ich brauche ziemlich lange, bis ich eine Lücke finde. Dann geht es wieder in eine Landstraße hinein. Sie ist recht gut befahren, aber das Radeln ist angenehm. Strecke machen. Frei sein. Kein Zwang durch den Radweg. Was für ein erhebendes Gefühl. Es wird das letzte Mal sein, dass ich auf einer Tour konsequent einem Radweg folge. Da bin ich mir sicher. Ich bin für so etwas nicht gemacht.

                                        Clenchwarton. Der Glaser. Erstaunlich, wie viele Dorfläden es hier gibt. Sie sind natürlich in der Nähe der Straßen.





                                        Der Verkehr wird nun stärker. King´s Lynn ist nicht mehr weit. Der Fluss, die Ouse.





                                        Der Ort.





                                        Und dann sehe ich auf der rechten Seite etwas Blaues blinken.





                                        Der Radweg hat am Fluss entlang geführt. Ein autofreier Weg. Kein Wunder, dass mein Navi ihn nicht ausweisen kann. Einen Moment bedauere ich, falsch gefahren zu sein. Aber nur kurz. Ich habe die Fahrt hierhin sehr genossen.

                                        Ich biege auf den Radweg ein.





                                        Sieh mal einer an. Willkommen in Norfolk.





                                        Ganz alleine bin ich nicht.





                                        Hoffentlich nicht wieder ein Irrgarten.





                                        Eine Skulptur





                                        Idylle.





                                        Der Radweg endet bald. Jugendliche langweilen sich an einer Mauer. Wenn ich mich nicht irre, sprechen sie russisch.

                                        Die Wegweiser lenken brechen wieder ab, aber das liegt daran, dass im Ort eine große Baustelle ist. Ich werde zunächst zur Kirche gefühlt.








                                        Die Kamera ist wieder falsch eingestellt. Aber der Satz gefällt mir: „Lock it or lose it“. Kurz und prägnant.





                                        Die Geschäfte sind geöffnet und die Fußgängerzone ist gut besucht. Ein Outdoorladen. Ich habe zwar bisher nicht viel gekocht, aber ich habe immer ein ungutes Gefühl, ob die Kartusche reicht, wenn das Gas hörbar schwappt. So tätige ich ein Haustürgeschäft. Ich stelle mich samt Fahrrad in den Eingang des Ladens, grüße und frage, ob der junge Verkäufer mir helfen kann. Er kommt an die Tür. Ich frage, ob er Gaskartuschen hat und mache die Handbewegung für Schraubkartuschen. Er lächelt verlegen und ist unsicher, was er tun soll, doch der Chef gibt Anweisungen, er solle im Regal die Kartuschen holen. Er kommt mit zwei Kartuschen zurück. Die eine ist richtig. Sie kostet horrende 7,90 Pfund, das sind mehr als 10 Euro. Egal. Ich nicke und gebe ihm Geld. Er läuft zurück, sein Chef bucht das Geld ein, und er kommt mit dem Wechselgeld und der Kartusche zurück. Ich bedanke mich. Haustürgeschäft, wie ich schon sagte.





                                        In der Fußgängerzone ist ein riesiger Obststand. Wie bei uns sind es Briten mit Migrationshintergrund. Ich kaufe zwei noch recht grüne Bananen. Eine esse ich sofort. Als ich sie schäle und die Schale nicht gleich abbekomme, fragt mich ein Brite nordafrikanischer Herkunft, wieso ich keine reife Banane gekauft habe. Weniger Zucker, ist meine Antwort. Er ist verblüfft. Er arbeitet auch an dem Obststand.





                                        An der Ecke ist ein Schnellimbisswagen. Es stehe einige gut gelaunte Männer herum und essen und trinken etwas. Der Wagen sieht etwas sehr rustikal aus, aber ich bekomme plötzlich unglaublich Hunger und bestelle eine Portion Chips. Gute Qualität, eindeutig. Die Dame hinter dem Tresen scheint die gute Seele der Innenstadt zu sein.


                                        Es geht nun durch Parkanlagen und wieder sehe ich Eichhörnchen. Die grauen, versteht sich.











                                        North Wotton.








                                        Der Radweg ist nun extrem gut ausgeschildert. Perfekt sogar. Als wäre er besonders wichtig. Es geht durch Wald. Das Ziel ist Sandringham. Der Ort sagt mir etwas, aber ich weiß nicht, was.





                                        Wenn nur dieser grauenhafte „Bremsbelag“ nicht wäre.





                                        Es geht links ab.





                                        Wieder etwas hügeligere Landschaft.








                                        Interessante Häuser, wie ich finde.





                                        Auch hier zeigt sich die gute Beschilderung.








                                        Immer schöner wird die Strecke.








                                        Es ist warm und feucht im Wald. Man merkt, wie er die Wärme des Sommers speichert.





                                        Ein Zeltplatz am Weg. Leider nicht die richtige Zeit für mich. Es ist gerade erst Mittag. Schade. Wirklich schade. Es ist ein netter kleiner Platz. Gegenüber sieht man diese Häuser.






                                        Eine alte Mauer








                                        Und an dieser Mauer werde ich sehr sehr lange entlang fahren.








                                        Riesige, weitläufige Seitenstreifen.





                                        An der Kreuzung viele Menschen und anscheinend Gastronomie. Harmonisch eingefügt in die Parklandschaft. Was ist das hier. Eine Ausstellung? Eine Messe?

                                        Und erst jetzt fällt der Groschen. Sandringham. Das Wort kam mir die ganze Zeit so bekannt vor. Sandringham House. Privatbesitz der Queen. Hier verbringt sie mit ihrer Familie Weihnachten und den Januar.

                                        Ein Blick in den Park.





                                        Ich stelle mich an der Kasse an. Neben der Kasse sind Fahrradständer, aber mein Gepäck möchte ich da nicht lassen.








                                        Ich frage den älteren Herren an der Kasse, ob es hier eine Gepäckaufbewahrung gibt. Er verweist auf den Fahrradständer. Ich frage erneut und er ist empört. Für mein Gepäck wäre ich selbst zuständig. Mein Problem. Wer redet eigentlich immer von Dienstleistungswüste Deutschland?

                                        Püh. Dann eben nicht. Ich schnappe mir mein Fahrrad und gebe Gas. Kurz darauf erhasche ich doch einen Blick auf das Gebäude. Ich muss mich etwas verrenken und ganz bis an den Zaun des Parkes gehen, aber immerhin. Ein kleiner Triumph.





                                        Kurz darauf bin ich dann am Tor. Es ist beeindruckend. Leider steht es im Gegenlicht, so dass ich tricksen muss.









                                        Damit ist die Königsfamilie abgehakt.


                                        Das Meer suche ich bisher vergebens.
                                        Zuletzt geändert von Torres; 18.10.2014, 07:32.
                                        Oha.
                                        (Norddeutsche Panikattacke)

                                        Kommentar


                                        • Torres
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                                          Liebt das Forum
                                          • 16.08.2008
                                          • 30688
                                          • Privat

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                                          #60
                                          AW: [NL] [UK] Ups und Downs auf der North Sea Cycle Route

                                          Hoffnungen und Enttäuschungen.

                                          Es geht nun links ab, und es folgt mal wieder eine Schiebestrecke. Bisher waren die Steigungen angenehm, aber das ist mir ein wenig zu viel.





                                          Auch hier hält man sich nicht unbedingt an Geschwindigkeitsbegrenzungen. Eigentlich gar nicht.





                                          Das kostet vor allem Vögel das Leben. Der Boden ist voller totgefahrender, plattgewalzter, teilweise einem Teerfleck vergleichbar mit dem Asphalt verschmolzener Tiere.

                                          Wunderschöne Bäume hier.





                                          Hier links müsste irgendwo das Meer sein. Genauer: The Wash, denn die Küste hier liegt an der Bucht The Wash.





                                          Eines der armen Exemplare, die ihr Leben lassen mussten.





                                          Wo genau es ist, weiß ich nicht, ich vermute es an diesem Abschnitt: Ein Sägewerk des Prinzen of Wales. Aber es geht gerade ein wenig bergab, so dass ich lieber fahre anstatt zu fotografieren.


                                          Dann glaube ich in der Ferne die Bucht zu sehen.





                                          Und ein unglaubliches Glücksgefühl durchströmt mich. Ich bin mir sicher, dass der Nordseeküstenradweg nun an der Küste entlang führt. Darauf habe ich lange gewartet. Ich nasche vor Freude ein paar Brombeeren.





                                          Der Eindruck erhärtet sich.





                                          Die Sonne scheint, es ist warm.








                                          Ingoldisthorpe.








                                          Snettisham. Überraschenderweise wirbt man hier um Fahrradfahrer. Das lässt auf sanften Tourismus schließen.








                                          Dann treffe ich auf ein besonders realistisches, von Autos gemeucheltes Tier. Ich stelle das Fahrrad ab, um Fotos zu machen.





                                          Der Wind frischt auf und hebt den Flügel hoch. Ich erschrecke mich furchtbar. Im Spiel des Windes wirkt es nun, als winke der (tote) Vogel mir zu. Gruselig. Es könnte eine Szene aus einem Film von Hitch sein. Britischer Humor.





                                          Ein B&B. Ich hätte gedacht, dass man mehr dieser Häuser an den Straßen findet. Ich vermute allerdings, das sie eher an den Autostraßen liegen, welche der Nordseeküstenradweg zu vermeiden sucht. Ein Zielkonflikt.





                                          Diese Hügel sehen zwar auf den ersten Blick wie Klappbrücken aus, sind aber harmlos. Bequem radele ich im 5. Gang, das letzte Stück im 3. Gang hinauf. Belohnungskurven sind das. Definitiv.





                                          Was für ein Wetter heute. Wunderbar.





                                          Bald werde ich Hunstanton erreichen und das Meer sehen. Ich freue mich schon.

                                          Die Straße ist wirklich wunderhübsch, und ich bin gut gelaunt. Viel hügeliger sollte es zwar nicht werden, aber schieben muss ich nicht. Ich genieße den Anblick der Felder und Hügel aus vollen Zügen. Ein Wegweiser „Old Hunstanton“ erscheint, er ist in einer Kurve. Der Radweg knickt nach rechts ab. Einen Moment überlege ich, ob ich den Radweg verlasse soll, aber ich vermute, dass nun gleich die Abzweigung nach Hunstanton kommt. Erst der alte Teil, dann der neue. Ich nehme dann lieber die nächste.

                                          Der Weg geht an einer Mauer entlang, und ich fühle mich ein wenig nach Frankreich versetzt. Der Ort heißt Ringstead. Ich stelle die Theorie auf, dass die Engländer gerne dorthin fahren, wo es so aussieht, wie bei ihnen zu Hause. Nur das Wetter muss besser sein.





                                          Der Anblick der Häuser fasziniert mich. Was für eine Arbeit, diese Steine zu verarbeiten.





                                          Der Radweg ist perfekt zu fahren. Es weht zwar ein kräftiger Wind, aber man spürt ihn kaum, weil die Böschung an der Seite Windschutz bietet. So trete ich in die Pedale.
                                          Bis mir auffällt, dass Hunstanton nun eigentlich langsam mal kommen müsste. Und erst jetzt auf der Karte im Navi sehe, dass Hunstanton hinter Old Hunstanton liegt. Ich bin viel zu weit gefahren. Ich hätte Richtung Hunstanton abbiegen müssen. Einen Moment bin ich ratlos und überlege, umzudrehen. Aber der Zeitverlust wäre zu groß. Ich hoffe auf Wells-next-the-Sea.

                                          Hinter diesen Hügeln müsste das Meer liegen.











                                          Auf der anderen Seite sieht es so aus.





                                          Irgendwo zwischen Thornham und Summerfield. Die Brombeeren sind hier reif und süß, und ich fülle meinen Vitaminspeicher auf. Das Leben kann schön sein.








                                          Der nächste Ort ist nun Burnham Market. Der Radweg verläuft parallel zur Nordseeküste im Binnenland. Der Vorteil ist, dass die Strecke windgeschützt ist, der Nachteil ist, dass man das Meer nicht sehen kann. Aber aus Radfahrersicht ist es ein sehr schöner Weg, der sich perfekt fahren lässt. Ob ich von Autos überholt werde, weiß ich nicht mehr. Viele können es nicht gewesen sein. Ein oder zwei Radfahrer übeholen mich, sie fahren Rennrad.








                                          Ich bin nun kurz vor Burnham Market. Das Meer.





                                          Sehnsucht überkommt mich, und ich überlege, ob ich nicht einfach abbiegen soll und es suchen soll. Meiner Information nach führt der Nordseeküstenradweg weiter südlich unterhalb der Küste entlang und knickt dann bei Wighton Richtung Norwich ab. Der Weg über die Küste ist nicht vorgesehen. Campingmöglichkeiten scheinen ebenfalls rar zu sein. Ob Wells einen Campingplatz hat, weiß ich nicht. Aber es soll dort eine Jugendherberge geben.














                                          Eine Querstraße kommt und in der Abzweigung steht ein Campingplatzschild. Ich bin jetzt kurz vor Burnham Market und ringe mit mir, ob ich es wagen kann, den Nordseeküstenradweg zu verlassen. Dann biege ich links ab.
                                          Zwei Männer stehen vor einem hübschen Haus und beratschlagen sich. Ich frage, ob sie hier wohnen und der kleinere der beiden entpuppt sich als der Chef und antwortet in vornehmsten Englisch: „Teilweise“. Also der Zweitwohnsitz. Ich lächele unwillkürlich. Ich frage ihn, ob der Campingplatz an der Küste liegt. Er nickt und erklärt mir höflich den Weg. Geöffnet sollte der Platz auch sein. Ich bedanke mich. Der Mann sieht aus, als wäre er ein Londoner Architekt und würde Jaguar fahren.

                                          Die Straße ist mal wieder zu steil für mich, und ich schiebe das letzte Stück. Sie ist etwas stärker befahren, aber ich kann auf dem Plateau dem Verkehr ausweichen. Was ich nicht weiß und auch nicht wissen kann, ist, dass ich aufgrund des Campingplatzschildes ein paar Meter zu früh abbiege. Es gibt einen Nebenarm des Nordseeküstenradwegs, der mich autofrei über Holkham Hall nach Wells gebracht hätte. Holkham Hall muss eine wunderschöne Anlage sein und ein wenig ärgert es mich nachträglich, dass ich davon nichts wusste.





                                          Dafür habe ich kurz darauf Meerblick.





                                          Die Autos sind nicht besonders begeistert, ein Fahrrad zu sehen, aber kurz darauf bin ich in Burnham Deepdale.





                                          Deepdale Backpacker entpuppt sich als eine schöne Anlage, die mehr einer Gruppenunterkunft ähnelt. Sie ist für Zelte und Campingbusse geöffnet, nicht aber für Caravans und Wohnwagen. Außerdem gibt es Gruppenunterkünfte auf dem Gelände. Dennoch weiß ich, dass ich hier nicht bleiben werde. Es gibt keinen Meerblick, und ich möchte doch heute abend unbedingt ans Meer.
                                          Ich suche die Touristeninformation im vorderen Gebäude auf und sehe, dass hier die Schraubkartuschen 2 Pfund weniger gekostet hätten. Mist. Eine Wanderkarte liegt auf dem Tresen, und ich frage den jungen Mann, ob der Radweg Nr. 1 nach Wells führt. Den gibt es hier nicht, ist die Antwort. Ich schaue auf die Karte und tippe mit dem Finger auf die deutlich sichtbare 1. Ja, sagt er ohne zu Zögern, den gibt es. Monty Python lässt grüßen.

                                          Ich schaue mir nun die Wegführung genauer an, ziehe meine Schlüsse, und er bestätigt mir, dass der Radweg nicht über Wells führt. Sondern vorher abknickt. Schöne Strecke, aber nicht so leicht zu fahren. Ich sehe außerdem auf der Karte, dass hier eine Art Deichvorland ist. Sandstrand hat nur Wells. Und dort ist auch ein Campingplatz am Meer. Genau das, was ich gesucht habe.
                                          Ich will jetzt keine großen Umwege mehr fahren und frage nach dem kürzesten Weg. Das ist die Küstenstraße. Ob man sie fahren kann, frage ich. Nein, busy sei sie nicht. Es gibt einige Leute, die sie mit dem Fahrrad fahren. Aber befahren ist sie schon.
                                          Ich mache noch ein Foto vom Meer und dem Deichvorland.





                                          Wüsste ich das, was ich heute weiß, wäre ich völlig anders gefahren. Im Nachhinein bin ich mir sogar nicht sicher, ob ich die Alternative nicht gesehen, dann aber verworfen habe, weil ich nicht einschätzen konnte, wie groß der Umweg ist und vor allem wie hügelig er ist. Ich weiß es nicht mehr. Der Punkt ist, dass ich zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß, was mich erwartet und so fahre ich einfach los.

                                          Hier die Landstraße.





                                          Eng und hügelig. Es sind nicht übermäßig viele Autos unterwegs, aber die, welche unterwegs sind, fahren schnell. Sie haben auch wenig Skrupel, mich zu überholen, wenn die Kurve nicht einsehbar ist. Obwohl zwei Autos nur knapp aneinander vorbeipassen. Ich schwitze Blut und Wasser. Das ist Millimetersache. Ich sehe mich schon im Straßengraben.

                                          Ich bin froh, als ich die Straße auf einem Teilstück umgehen kann. Der Weg führt nach Burnham Market. D Nordseeküstenradwegschild sehe ich aber nicht, weil die Route etwas weiter südlicher auf einer Parallelstraße entlangführt. Wäre ich auf dieser Straße ungefähr in der Mitte Richtung Holkham Hall abgebogen, wäre ich auf den Nordseeküstenradweg zurückgekommen und hätte über autofreie Straßen Wells erreicht. Hätte.

                                          An der Straße stehen auffällig viele Farmen, die ihre Einfahrt mit Spiegeln ausgestattet haben. Aus einer Einfahrt zu kommen, kann also sehr gefährlich sein.








                                          Dann bin ich wieder auf der A 149. Es sind geschätzt 4 km bis Wells und es wird eine Höllenfahrt. Die Autos rasen hier richtig, und die Straße ist immer noch eng. Ich flüchte mich in jede Einfahrt, die ich finde, um die Autos vorbeizulassen. An den Steigungen gebe ich alles, bin aber ziemlich langsam und bin sehr froh, als ich zweimal ein Auto hinter mir habe, das wartet, bis ich oben bin. Ich bedanke mich per Handzeichen und lasse die Autos vorbei. Teilweise fahre ich nach Gehör, denn die Autos kommen in Wellen. Dann ist wieder eine Zeitlang Ruhe, und ich kann weiterfahren.





                                          Es sind ungefähr 15 Minuten Fahrt und hinterher bin ich völlig fertig. Längst ist mir klar, warum der Radweg nicht an der Küste entlang führt. Der Verkehr ist wahnsinnig. Die Straße ist viel zu eng. Und die Engländer sind – sorry – lausige Autofahrer. Ein unsicherer Fahrer /in oder ein unsicherer Radfahrer/in und es ist geschehen. Auf dieser Straße kann man keine Fernroute entlang führen. Das wäre unverantwortlich.
                                          Als mir kurz vor dem Ortsschild zwei Radfahrer – ein junger Mann und eine junge Frau - mit Einkaufstüten entgegenkommen, die ungerührt den ganzen Verkehr blockieren, mache ich große Augen. Auch eine Methode. Ich kann so etwas nicht. Und dass es ungefährlich aussieht, kann ich auch nicht behaupten. Sie können von Glück reden, wenn sie kein Autospiegel touchiert.

                                          Als das Ortsschild kommt, bin ich erleichtert und bringe mich erst einmal in Sicherheit.





                                          Der Campingplatz ist ausgeschildert. Als ich lese, dass es noch gut 2 km sind, stöhne ich auf. Ich kann nicht mehr.





                                          Mit letzter Kraft biege ich an den Buden der Touristen am Kai in einen langen Weg Richtung Meer ab. Es ist kurz vor fünf. Die Strecke zieht sich. Neben mir sind die Gleise einer Schmalspureisenbahn. Der Wind kommt von vorne und das Fahren macht mir Mühe. Ich bete, dass der Platz auf hat und Zelte nimmt. Das letzte Mal ist das Meer hier noch in erreichbarer Nähe, bevor es wieder in das Binnenland geht.
                                          Der Campingplatz kommt. Ein Holiday Park. Er scheint riesig zu sein. Mobile Homes. Ein Zeltsymbol. Gott sei Dank. Ich will schon die Einfahrt herunterfahren, da überlege ich es mir anders. Erst das Meer sehen, dann das Zelt aufbauen. Ich fahre noch ein Stück vor und schiebe das Fahrrad einen Deich hinauf. Es gibt einen Übergang zum Meer. Und dann bin ich ein wenig enttäuscht. Es herrscht Ebbe. Das Meer hat sich zurückgezogen. Nur die Priele sind zu sehen.





                                          Blick auf Wells.





                                          Das Vorland.





                                          Ebbe und Flut scheinen hier extrem zu sein.





                                          Und als ich wende, sehe ich das hier.





                                          Wo kommt das Schild her? Es entringt mir ein Kopfschütteln. Auf der Wanderkarte war nicht zu sehen, dass der Nordseeküstenradweg nach Wells führt. Auf der Karte der website auch nicht. Weiß hier eigentlich der eine, was der andere tut? Aber immerhin: Ich bin wieder richtig.

                                          Ich rolle hinunter zur Rezeption des Platzes. Ein Supermarkt daneben. Das ist gut. Er schließt gerade, und ich beeile mich denn ich habe kaum noch etwas zu essen. Die Frau hinter dem Tresen lächelt freundlich, und ich grüße freundlich zurück. Ich frage nach einem Platz für mein Zelt und erhalte als Antwort: Wir sind voll. Und schon wendet sie sich den nächsten Gästen zu, die hinter mir die Rezeption betreten. Ich glaube nicht richtig gehört zu haben und frage noch einmal nach. Sie schaut kurz herüber: Wir haben keinen Platz mehr, es ist heute mehr Nachfrage als sonst gewesen. Damit ist die Sache für sie erledigt.
                                          Ich bin fassungslos. Dienstleistungswüste Deutschland? Nein. Dienstleistungswüste England. Motorisiert war mir das auch schon einmal passiert. Es wurde dann ein Parkplatz in einer englischen Kleinstadt inklusive Polizeikontrolle. Aber dass mir das mit dem Fahrrad passiert? Der Platz ist riesig. Es kann mir keiner erzählen, dass da nicht irgendwo ein Fleck für ein Zelt ist.

                                          Das Ehepaar, das nach mir durch die Tür kam, hat vermutlich ein Mobile home reserviert. Es sind einfache Leute. Sie benehmen sich, als wäre es eine große Ehre auf diesem Platz hier Urlaub verbringen zu dürfen. Das erste Mal in der großen weiten Welt. Die Neuankömmlinge müssen erst zum Sicherheitsdienst und sich komplett einmal durchchecken lassen. Aber sicher. Wir freuen uns so. Fehlt noch, dass sie der Frau die Hand küssen.

                                          Ich bin völlig gelähmt und weiß nicht, was ich jetzt tun soll. So bleibe ich einfach stehen. Ich frage ihre Kollegin, wie sie sich das jetzt so vorstellt. Ich wäre erschöpft und bräuchte einen Schlafplatz. Ich solle warten, sie haben eine Liste. Ich warte.

                                          Weitere Leute werden bedient, dann mit dem Personal geredet und nach gefühlt zehn Minuten erhalte ich von der Kollegin die Liste. Es sind Campingplätze von Sandringham bis Cromer und auch ein Hotel in King´s Lynn. Deepsdale ist auch dabei, aber die Landstraße fahre ich garantiert nicht mehr zurück. Ich frage sie, ob sie das Ernst meint. Für diese Plätze brauche ich 5 Stunden mit dem Fahrrad, bis ich da bin, nach King´s Lynn einen Tag. Sie verweist auf eine Farm in Wells. Archies Camping hatte ihn mir ehrlich gesagt schon am Ortseingang auf dem Navi gezeigt, aber er liegt an der Hauptstraße. Und Farmen sind in England so eine Sache. Ist er überhaupt offen? Nach dem Erlebnis hier möchte ich sicher sein.

                                          Ich frage, ob sie mir garantieren können, dass er offen ist und die Kollegin meint, ich solle dort anrufen. Ich lache ein ein wenig höhnisch und sagte, ich hätte kein Handy (Lüge!). Ich sehe nicht ein, ein Höllengeld für diesen Anruf zu bezahlen. Tatsächlich lässt sich die Frau herab, anzurufen, aber es geht niemand ans Telefon. Sie zuckt mit den Schulter. Ich solle einfach losfahren. Die rufen nie zurück. Ein Pluspunkt für die Farm, würde ich auch nicht machen. Ich solle keine Sorge haben, die wären nett.

                                          Als ich die Rezeption verlasse, sind keine Kunden mehr da. Die Frau, die mich abgewiesen hat, schaut mich an, und ich sehe ihr direkt in die Augen und sage ganz langsam und würdevoll (mit bühnenreifer Betonung): „Ich habe nirgends auf der Welt einen Campingplatz getroffen, der "nein" zu einer Person mit einem Fahrrad sagt“ Und das meine ich völlig ernst. Betroffen schaut sie mich an und sie schaut immer noch betroffen, als ich kurz zu ihr hinsehe, bevor ich losfahre. Die Qualität eines Platzes erkennt man an seiner Menschlichkeit. Nicht an den vergebenen Sternen. Ich denke an Market Rasen: „Ich hätte sie nicht stehen lassen.“ Danke.

                                          Ich fahre die Einfahrt mit den letzten Reserven hoch. Ich bin zutiefst deprimiert. Mit Plätzen auf englischen Bauernhöfen habe ich so meine Erfahrung. Man kann von Glück reden, wenn sie zumindest fließend Wasser und ein Klo haben. Teuer sind sie trotzdem. 2 Kilometer Fahrt liegen nun wieder vor mir und ich habe kaum noch Kraft. Einen Spaziergang am Meer werde ich heute Abend nicht mehr machen. Noch einmal 4 Kilometer Fahrt? Das ist zuviel. Mein Körper muss sich regenerieren. Sonst schaffe ich den Rest der Strecke nicht. Passend zu meiner Stimmung verdunkeln Wolken die Sonne.





                                          Ich versuche, das Erlebnis abzuschütteln, aber meine Laune ist verdorben. Ich hatte mich so auf das Meer gefreut. Am Strand sitzen, bis es dunkel wird. Das Meer hören. Den Wind spüren. Nach all den Tagen durch das Binnenland, endlich an diesem Radweg, der doch ein Küstenradweg sein soll, noch einmal eine Begegnung mit dem Meer. Die werden nie begreifen, was sie mir damit angetan haben.

                                          Für den Ort habe ich nun keinen Blick mehr. Die Touristen sind gegangen und die Promenade wirkt verlassen.





                                          Ich folge den Radwegschildern und frage in einer Seitenstraße einen Herren um die 70 nach der Jugendherberge. Ein Bett und etwas Ablenkung wäre jetzt schön. Würde ich in der Nähe des Hafens bleiben, könnte ich das Wasser sehen. Meine Begeisterung für eine Kuhwiese hält sich in Grenzen.

                                          Der Mann weiß es nicht, sie sind auch nur zu Besuch. Dann fragt er mich, ob ich aus Deutschland sei. „Ja.“ „Das habe ich gehört“, sagt er, „meine Frau spricht auch wie Sie“. Er wendet sich seiner Frau zu, die etwas schlechter geht als er. „Tach“, sagt sie. Sie ist aus Schleswig. „Hamburg“, grüße ich. Ach, wie sie sich freut. Sie hat vor gut 50 Jahren nach England geheiratet, aber ihre Heimat liebt sie noch immer und vermisst sie auch.

                                          Unter anderen Umständen hätte ich mich über die Begegnung sehr gefreut, aber ich bin immer noch deprimiert. Ich verabschiede mich schnell. Ich möchte einfach weiter, etwas essen, schlafen, vergessen. Meine Ruhe haben. In der Innenstadt promenieren viele Menschen. Familien sind unterwegs. Sie sehen glücklich aus. Schön für sie. Ein kleiner Supermarkt ist an der Ecke, aber wieder einmal will ich mein Fahrrad nicht unbewacht stehen lassen. Ich hoffe, dort später einkaufen zu können, aber er wird kurz darauf schließen und der Superstore ist recht weit.
                                          Ein Gasthof ist beleuchtet und sieht heimelig aus. Assoziationen von Wärme, Gemütlichkeit und gutem Essen kommen auf. Soll ich ein Hotel suchen und mir ein Zimmer nehmen? Ich kann mich nicht entscheiden. Internet habe ich nicht (und will ich auch nicht). Das würde die Sache erleichtern. Ich kann mir den anderen Platz ja mal anschauen.

                                          Mein Navi lenkt mich auf den richtigen Weg, und zum Glück liegt die Farm recht ruhig, obwohl es die A149 ist, die ich gekommen bin. Die meisten Autos fahren die Parallelstraße auf der anderen Seite der Farm, die direkt in den Ort führt. Einen Moment zweifle ich, dass die Farm existiert, denn wieder einmal sehe ich mein Ziel erst, als ich davor stehe. Es ist tatsächlich eine Wiese an der Straße. Sie gehört zu einem Pferdehof. Ein paar Wohnwagen und Wohnmobile stehen herum und links vor der Scheune steht ein Dixi Klo. Ich will mich anmelden, und man zeigt mir den Weg. Ich muss über den Hof. Der Bauer kassiert über den Zaun 7 Pfund von mir. Ein paar jüngere Leute, vermutlich die Tochter und Freunde von ihr, stehen vor dem Zaun herum und unterhalten sich. Der Hof ist baulich nicht im besten Zustand. Immerhin gibt es in der Hofmitte einen Duschcontainer und die Dusche ist heiß und angenehm. Dass der Duschraum mit Teppich ausgekleidet ist, übersehe ich lieber. Es ist verboten, die Pferde zu streicheln oder zu füttern.














                                          Ich baue mein Zelt auf und habe immerhin einen Blick auf das Deichvorland. Besser als nichts.





                                          Die Sonne ist auch noch einmal herausgekommen.








                                          Nebenan steht ein Kastenwagen mit Zelt. Die Frau ist in meinem Alter und fragt mich, ob ich eine Tasse Tee möchte. Ich frage ach Früchtetee und sie nickt. Sie hat Pfefferminztee. Während ich mich noch einrichte, stellt sie mir Tee hin und es ist wunderbar, etwas Heißes zu trinken. Ob ich Suppe möchte, fragt sie auch, und ich nicke. Ich gehe zu ihr herüber. Sie hat einen Windschutz aufgestellt, wo sie ihre Sachen aufbewahrt, und ich kann mich auf einen Stuhl setzen. Es ist eine Fertigsuppe, aber sie hat ein Gurkengemüse hineingeschnibbelt. Ich bin ihr so dankbar.

                                          Wir unterhalten uns ein wenig. Gut geht es ihr nicht. Sie ist selbständig und die Aufträge scheinen auszubleiben. Es ist ihr erster Urlaub seit Jahren. Das Zelt ist der Mülleimer. Sie hat es dabei, weil die Campingplätze dann günstiger sind. Ein Auto alleine würde als Caravan eingestuft. Ein Auto mit Zelt zahlt dagegen den Zelttarif. Auf einem Platz hat sie Ärger bekommen, weil sie im Auto geschlafen hat. Der Campingplatzbetreiber wollte von ihr eine Nachzahlung. So ist sie weitergefahren. Einen kleinen Hund hat sie auch.

                                          Ein Wanderer kommt, und er bekommt ebenfalls einen Tee. Er läuft den Norfolk Coast Path und hat ein Helium 100 dabei.





                                          Ein weiteres Wohnmobil fährt auf den Platz. Die Besitzer beeilen sich, das Vorzelt aufzubauen. Ob sie wohl alle vom Holiday Park abgewiesen wurden? Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall ist es hier erheblich günstiger. Die Frau war schon öfter hier. Es ist der Platz für die Insider.





                                          Die Frau will noch duschen, und so heben wir unsere Runde auf. Es ist sehr kalt geworden, und ich lasse wie gestern meine Innenfutterjacke an, damit mir warm wird. Außerdem ist sie noch feucht vom Regen in der Nacht.
                                          Mit diesen Erlebnissen hat der Tag doch noch ein versöhnliches Ende gefunden. Aber es ist nur ein kleiner Trost. Ich war dem Meer so nahe. Und dann bin ich doch wieder nur auf einer Wiese im Binnenland gelandet. Im Geheimen war ich seit Bridlington all die Tage nur in Richtung dieses Ziels gefahren. Zum Meer. Wells-next-the-Sea hätte ein Höhepunkt meiner Reise werden können.

                                          Es lässt sich nicht ändern. Aber es tut weh.
                                          Oha.
                                          (Norddeutsche Panikattacke)

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