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    [PL] Nicht verloren in Polen

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    Mitreisende
    Land: Polen
    Reisezeit: April 2010
    Region/Kontinent: Mitteleuropa

    „Wussten Sie schon, dass manche Juristen sagen, wir hätten schon seit 1918 keine gültigen Friedensverträge mehr abgeschlossen?“, flüsterte mir der Rentner schräg gegenüber zu. Ja, ich wusste, dass sich für jede noch so abwegige Ansicht ein Jurist findet, der sie begründen kann. Ein geschwätziger Verschwörungstheoretiker – das hatte mir gerade noch gefehlt im Zug von Berlin zur deutsch-polnischen Grenzstadt Küstrin. Mit ein paar patzigen Bemerkungen schüttelte ich ihn ab.

    In Müncheberg am Rande der Märkischen Schweiz stiegen mein Fahrrad und ich aus. Mein Vorhaben war so simpel wie ehrgeizig: Binnen fünf Tagen entlang der ehemaligen „Reichstraße 1“ Aachen-Königsberg und der preußischen „Ostbahn“ bis zur Weichsel und ab dort nach Norden nach Danzig. Nachdem ich nun schon über ein halbes Jahrzehnt in Berlin wohne, wollte ich zum ersten Mal weit nach Polen hineinfahren und schauen, wo es dort reizvolle Gegenden gibt.

    Den Start verlegte ich deshalb nach Müncheberg, weil ich herausfinden wollte, ob die Ausstattung mit seitlichen Radwegen an der Bundesstraße 1 schon weiter fortgeschritten war als 2007. Das war sie leider nicht – nur von Diedersdorf bis kurz unterhalb von Seelow und von Manschnow bis zur Grenze ist der Radfahrer nicht Freiwild für Schnaps- und andere Tanktouristen auf dem Weg nach Polen.

    Auf dem Wege drehte ich eine Runde durch die Gedenkstätte für die Schlacht um die Seelower Höhen. Im Frühjahr 1945 hatte hier eine der letzten großen Schlachten zwischen Roter Armee und Wehrmacht stattgefunden. An ihrem blutigen Ende bekamen die Sowjets freie Bahn für den direkten Marsch auf Berlin. Trotz dick aufgetragenen sozialistischen Pathos ist die Atmosphäre beklemmend.


    Die Spuren des Krieges sind ein reichliches Dutzend Kilometer weiter noch unübersehbar: Die Altstadt von Küstrin, heute auf polnischer Seite der Grenze, war 1945 komplett zu Bruch gegangen und nach dem Krieg nicht wieder aufgebaut worden. Noch bei meinem letzten Besuch 2008 war das Areal der auf einer Festungsinsel liegenden Stadt zugewuchert und für Besucher gesperrt. Inzwischen sind die Hauptstraßen geräumt und die Trümmerberge der Seitenstraßen durch Brandrodung sichtbar gemacht worden. Der südliche Festungsspitze am Oderufer ist saniert worden, und in den Kasematten verbirgt sich eine Ausstellung.

    • Die Scharrnstraße (Schlachthof-Straße) in Küstrin-Altstadt
    • Die südwestliche Bastion in neuem Glanz


    Das „neue“ Küstrin macht einen freundlichen Eindruck, sobald man die Einkaufszone unmittelbar hinter der Grenze verlassen hat. Deren Kundschaft hat es allerdings in sich: Praktizierende Kevinisten und Mandynistinnen mit Schrapnellen im Gesicht prägen das Bild. Dazu noch kommt der eine oder andere geistig unterprivilegierte Frührentner, der sich über teure Falschparkerknöllchen für umgerechnet 30 Euro aufregt. Bloß schnell weg hier!

    Anhand polnischer Topokarten im Maßstab 1:100.000 hatte ich mir für den Weg nach Landsberg/Warthe (Gorzow Wielkopolski) einen Weg durch den Nationalpark Warthemündung ausgeguckt, von dem ich allerdings nicht sicher war, ob er tatsächlich befahrbar war. Doch die Mühe hätte ich mir sparen können: Bei meiner Runde durch die Stadt stieß ich auf eine Informationstafel mit einer Karte, die markierte Radwegetrassen auswies. Prima: Es gab sogar einen Weg direkt am Ufer entlang, den meine Militärkarte überhaupt nicht zeigte. Schnell zur Sicherheit ein Foto von der Karte gemacht und los ging es. Die Methode mit den öffentlichen Infotafeln wendete ich in den Folgetagen häufiger an. Zum einen endeten meine Topokarten auf halber Strecke, zum anderen zeigten meine „Heimwehkarten“ mit polnischen und deutschen Ortsnamen im Maßstab 1:200.000 nur das öffentliche Straßennetz, nicht aber zum Beispiel Forstwege.

    Der Radweg am nördlichen Ufer der Wartheniederung bot großes Kino: Das Frühjahrshochwasser war noch nicht abgelaufen, und so machte die Landschaft einen unglaublich wilden Eindruck. In Wirklichkeit wurde sie natürlich jahrhundertelang bewirtschaftet, überwiegend als Weideland. Heute hocken am Ufer zahlreiche Angler. Für Paddeltouren ist das Gebiet ein Paradies, lediglich die Suche nach geeigneten Biwakplätzen könnte schwierig werden. Von den angeblich 260 dort vorkommenden Vogelarten konnte ich nur einen Bruchteil ausmachen, darunter Kranich, Storch, Kormoran, Reiher und verschiedene Wildgänse.

    Allerdings verschaffte mir der Weg am Deich auch schon einen Vorgeschmack davon, was mich in den kommenden Tagen erwarten worden: Rumpelige Schotterpiste, mit sandigen Abschnitten durchsetzt. Kein dankbares Gelände für die typisch deutschen Reise- und Trekkingräder, die den Oder-Neiße-Radweg unsicher machen. Mein unkaputtbares und ungefedertes Diamant-Mountainbike – ein gebraucht gekauftes ehemaliges Mietrad - war hier in seinem Element.

    An sich hatte ich geplant, mit einer Fähre bei Klopotowo über die Warthe nach Süden überzusetzen und so der Hauptstraße nach Gorzow/Landsberg noch ein Stück länger aus dem Weg zu gehen. Das Hochwasser schwappte jedoch schon unmittelbar hinter dem Deich über die Straße, die zur Fähre führen sollte. So musste ich bei Witnica auf die Hauptstraße fahren, konnte dort aber erleichtert feststellen, dass es einen Radweg gab.


    Zugang zum Fähranleger nur für Selbstschwimmer!


    Unterwegs sah ich einer „Berliner Kebap“-Imbiss. Ob der wirklich originale Berliner Döner verkaufte, mit Fertigspießen aus den Gammelfleisch- Antiquariaten am Westhafen? Vorsichtshalber unterließ ich den Selbstversuch.



    Wenig später erreichte ich den Stadtrand von Landsberg, der zugleich das Ende des Radwegs und den Beginn einer gefühlt unendlichen Kopfsteinpflasterpiste mit sich brachte. „Das Geld liegt auf der Straße“, warb ein großes Plakat für eine EU-Fördermittelmesse in Landsberg. Nur die Stadtverwaltung selbst scheint diesen Rat nicht zu beherzigen. Landsberg zeichnet sich durch offen zur Schau getragene Vernachlässigung aus. Aber dafür kommen die Liebhaber alter Düwag-Straßenbahnen aus (West-) Deutschland hier auf ihre Kosten.




    Inzwischen war es schon fast 19 Uhr. Mein erster Weg führte mich zum Bahnhof, weil ich hoffte, dort die noch fehlenden Topo-Karten für den Rest der Strecke kaufen zu können. Fehlanzeige. Also musste ich bis zum Montagmorgen warten und dann mein Glück in einer der Buchhandlungen versuchen. Praktischerweise fand ich direkt neben dem Bahnhof ein kleines Hotelchen für gerade einmal 80 Zloty (gut 20 Euro). Weniger erfolgreich gestaltete sich meine Suche nach einer Einkehrmöglichkeit, wo ich idealerweise draußen mit Blick auf mein Fahrrad sitzen konnte... jaja, die alten Vorurteile. Ich sah mich vor die Wahl zwischen reinen Getränkebars, Pizzeria und Dönerrestaurant gestellt. Polnische Küche: Fehlanzeige. Mit Blick auf den zu befürchtenden Loftverlust in den kommenden Tagen entschied ich mich für das beste Preis-Kalorienverhältnis – und kehrte bei McDonalds ein.


    26. April 2010

    Am Montagmorgen startete ich mit einem Frühstück im Stadtpark. Dort sprachen mich zwei Bettler mit Alkoholfahne an, ob ich ihnen nicht zwei Zloty für „was zum Trinken“ geben könnte. Herzlos wie ich bin lehnte ich ab. Der eine wollte noch argumentativ nachsetzen, sein Kumpan hielt ihn aber zurück und erklärte ihm auf deutsch: „Wenn er sagt 'Nein' ist es 'Nein'. Das ist Kultur.“ Na bitte: Polen sind kein „nekulturnyj narod“.

    Ab 10 Uhr klapperte ich drei Buchhandlungen wegen der Landkarten ab. Alle ohne Erfolg. Zwei Etappen würde ich noch mit den in Berlin gekauften Topos schaffen. Im schlimmsten Fall hatte ich ja auch noch die Heimwehkarten.

    Die Landkartensitution in Polen ist generell schwierig. Es gibt mit Ausnahme der auf Militärkarten basierenden Topokarten-Serie 1:100.000 (Mapa topograficzna Polski) keine landesweite Serie für Wanderer oder auch nur Radfahrer - nicht einmal in „Kompass“-Qualität. Bei der Topokarten-Serie muss man hinzufügen, dass sie seit Mitte der neunziger Jahre entstanden ist und die ersten Blätter dieser Serie keine markierten Wander- und Radwege enthalten. Für einzelne Landschafts- und Naturschutzgebiete gibt es Regionalkarten in sehr unterschiedlicher Qualität. Openstreetmap ist abseits der Städte noch keine Alternative, es fehlen dort teilweise sogar noch Landstraßen zweiten Ordnung.

    Mit Freude stellte ich am Ortsausgang von Gorzow in Richtung Wartheufer fest, dass dort wieder eine Radroutenmarkierung begann. Mal schauen, wie lang sie mir Halt geben würde. Heute wollte ich weiter durch Warthe- und Netzeniederung nach Osten fahren, um dann zum Bahnknoten Schneidemühl/Pila nach Nord abzubiegen. Eine erste Kalkulation hatte rund 120 km ergeben. Auf den ersten Blick kein großer Akt, aber mit Blick auf die nicht absehbare Wegequalität doch mit Risiko behaftet. Und die erste Hürde in Sachen Wegequalität tauchte schon kurz hinter Landsberg auf. Die Radroute führte über eine Schotterpiste, die einige Siedlungen in der Niederung verband und daher von Autos mit reichlich Schlaglöchern und rubbeligen Wellen versehen worden war. Nach rund sechs Kilometern war ich ordentlich durchgeschüttelt und froh, wieder auf Asphalt zu stoßen.

    Bald kam ich wieder an die Ostbahn zurück und fand gleich neben der Straße auf die Ruinen eines Bunker. Die Schießscharten wiesen in Richtung Bahnlinie. Da dieses Gebiet in der Zeit zwischen den Weltkriegen zu Deutschland gehörte, musste es sich um deutsche Vorkehrungen gegen einen polnischen Einmarsch gehandelt haben. Wenig später fuhr ich an einer ähnlichen Bunkerruine vorbei, die die Straße selbst im Blick hatte.

    • Bunker an der Ostbahn
    • „Heldenhafte polnische Agrarflieger stehen in Alarmbereitschaft, um jederzeit den Kampf mit US-imperialistischen Kartoffelkäferschwärmen aufzunehmen“
    • Hier hat sich ein Biber wohl etwas übernommen


    Krzyz Wielkopolski/Kreuz, ebenfalls ein wichtiger Knoten der Ostbahn, entpuppte sich als nettes Städtchen. Nicht hektisch, nicht verschlafen und mit all jener Infrastruktur versehen, die eine Stadt lebenswert macht. Am Bahnhof legte ich eine Futterpause ein, frischte meine Vorräte auf und genoss den Schatten unter dem Bahnsteigdach.

    Bis zum späten Nachmittag schaffte ich es entlang der Netzeniederung bis Jedrzejewo. Die landschaftliche Ereignisdichte war deutlich gesunken. Eine intensiv landwirtschaftlich genutzte Flussniederung bietet nicht allzu viele Highlights. Inzwischen waren von Westen die klassischen Wolkenformationen einer herannahenden Regenfront herangezogen. Zugleich ergab eine überschlägige Kalkulation, dass ich bis Schneidemühl noch eher 60 als 40 km vor mir hatte. Bei einer „touristischen Reisedurchschnittsgeschwindigkeit“ von 10 bis 12 km/h würde ich also nach Sonnenuntergang ankommen. Czarnkow/Czarnikau wäre vielleicht als Zwischenziel in Frage gekommen, aber dann wäre die Etappe bis Konitz/Chojnice am nächsten Tag in eine 140-Kilometer-Schlacht ausgeartet.

    Da erschien es verlockender, das nur 25 km entfernte Trczianka/Schönlanke anzulaufen. Der kürzeste Weg enthielt allerdings rund vier Kilometer „Waldweg“ bis kurz vor Runowo. Das konnte nach meiner Erfahrung alles sein – von einer Schotterpiste nach Harzer Standard bis hin zu einer langgestreckten Sandwüste. Aber vier Kilometer ... jetzt kam es eigentlich auch nicht mehr darauf an. Die Strecke entpuppte sich als einigermaßen fester und gut zu fahrender Sandweg.

    Deutlich vor meiner kalkulierten Zeit erreichte ich Schönlanke – und geriet mitten in einen Sandsturm. Die Böen der Regenfront wirbelten den reichlich herumliegenden Sand auf und zwangen mich zu einem kurzen Stopp. Einen Moment überlegte ich, bei der nächsten Polentour eine Skibrille mitzunehmen, getreu dem Grundsatz „Nur das Nötigste!“

    Würde es heute vielleicht noch Gewitter geben? Sehr wahrscheinlich. Da kam mir das Hinweisschild auf ein Hotel sehr gelegen. Leider war es das einzige Hinweisschild. So folgte ich erst einmal einer abknickenden Vorfahrt, bis ich mich am Ortsausgang umdrehte und feststellte, dass ich vorbeigefahren sein musste. Also zurück. Wieder kein Hotel. Vielleicht mal nicht der Vorfahrtsstraße folgen? Bingo. Ein Hinweisschild wies in die erste Querstraße. Dann endete aber das „Bingo!“, denn erstens war das „Hotel“ eine Monteurspension, in der zahlreiche übergewichtige Männer in Feinripp-Trägerhemdchen mit Gulaschtöpfen und Bierkästen über den Hof liefen, und zweitens hatte Hausherrin Jadwiga keinen Platz mehr frei.

    Also war doch Zelten angesagt. Ich verließ Schönlanke auf dem schnellsten Wege in Richtung Schneidemühl. Im Nachhinein war es ein Fehler, denn hier habe ich die einzige echt „polnische“ Gastwirtschaft gesehen, die mehr als Alkoholika anzubieten hatte, ohne gleich ein piiiekfeines Restaurant zu sein.

    Zur Entschädigung hatte ich erstmals auf dieser Tour satten Rückenwind. Selbst an den Steigungen musste ich nicht herunterschalten, bergab konnte ich mich gemütlich bei 40 km/h treiben lassen. Schneidemühl rückte wieder in greifbare Nähe... sollte ich vielleicht doch? Der nahe Sonnenuntergang machte mir einen Strich durch die Rechnung. Bis zur kritischen Dämmerung blieb mir noch etwa eine halbe Stunde. Und im Dunkeln die Landstraße mit polnischen Autofahrern zu teilen erschien mir nach den Erfahrungen der letzten zwei Tage nicht ratsam: Für das Wort „Seitenabstand“ gibt es offenbar kein Äquivalent im Polnischen. Der später in einem Zug aufgeschnappten Bemerkung einer polnischen Studentin über „mad Polish drivers“ würde ich nicht widersprechen.

    So schlug ich mich etwa zehn Kilometer hinter Schönlanke seitwärts in die Büsche und fand eine nette Stelle für Hogan, meine Schildkröte. Keine Minute zu früh, denn gerade als ich mein ganzes Gelumpe verstaut hatte, fielen die ersten Tropfen. Um Rehe und Wildschweine fernzuhalten, markierte ich noch schnell mein Revier. Keine Ahnung, ob es wirklich hilft, aber nächtlichen Besuch hatte ich jedenfalls nicht.


    28. April 2010

    Für die erste Draußen-Nacht auf dieser Tour schlief ich erstaunlich gut und wurde erst gegen acht Uhr wach. Es regnete immer noch. Leider deckte sich diese Beobachtung mit der letzten Wettervorhersage, die ich noch in Berlin studiert hatte. Und danach sollte es den ganzen Tag regnen. Um neun Uhr nutzte ich eine Pause, in der es „nur“ nieselte, um mein Lager abzubrechen. Der Rückenwind war natürlich verschwunden, dafür schlingerte mein Fahrrad durch vollgelaufene Spurrillen. Als dann ein Lkw des Gegenverkehrs mit seinem Windsog auch noch meine Kappe vom Kopf fegte, beschloss ich, in Schneidemühl die Möglichkeiten einer Weiterfahrt per Bahn zu überprüfen. „Ich bin ja hier nicht auf der Flucht“, sagte ich mir. Bei meinen Eltern mag das 1945 anders gewesen sein.

    Im übrigen stellte sich heraus, dass ich durch die Etappenunterbrechung noch vor Schneidemühl nichts versäumt hatte. Die Stadt war gegen Kriegsende zu 75 Prozent demoliert worden und hatte den betonspröden Charme einer Aufstrebenden Sozialistischen Stadt, nur inzwischen ohne Sozialismus und ohne Aufstreben. In Pila fuhren sogar Busse des bekannten Premiumherstellers British Leyland. Wie tief kann man eigentlich sinken?


    Herzlich willkommen am kuscheligen Hauptbahnhof von Schneidemühl!


    Insofern bedauerte ich es nicht weiter, dass der nächste Zug in Richtung Konitz/Chojnice schon nach einer Stunde fuhr. Hier konnte ich auch meine erste Erfahrung mit der Fahrradmitnahme sammeln. Die größte Hürde war die erste Stufe vom Bahnsteig in den Zug. Ansonsten ist die Fahrradmitnahme recht locker: In Zügen, die im Fahrplan kein Fahrradlogo haben, dürfen im ersten und im letzten Einstiegsraum je drei Fahrräder befördert werden. Die Fahrradkarte kostet fünf Zloty (etwa 1,40 Euro) und ist an eine gleichzeitig geltende Personenfahrkarte gebunden. In vielen Zügen – namentlich den endemischen Elektrotriebzügen der Baureihe EN57 - gibt es an beiden Zugenden Abteile für Reisende mit Kinderwagen und Großgepäck. Dort passen auch sechs Fahrräder rein, ohne dass das Zugpersonal daran Anstoß nimmt. Im Zug nach Konitz war ich allerdings der einzige Radfahrer. In dem schienenbusähnlichen Gefährt wurde ich ordentlich durchgeschüttelt. Diesel würde hier mit hohem Wirkungsgrad in Lärm und Erschütterungen umgewandelt. Die restliche Energie trieb das Fahrzeug mit 90 km/h schlingernd über die Schienen.

    Mit zunehmender Befriedigung registrierte ich die Regenfluten, die sich die Fenster hinunterstürzten. Noch mehr Befriedigung ob meiner Entscheidung verschaffte mir allerdings die Tatsache, dass der Regen kurz vor Konitz aufhörte. Außerdem rechtfertigte Konitz auf jeden Fall einen längeren Aufenthalt als Schneidemühl: Wie Krzyz war Konitz eine in sich ruhende Kleinstadt mit offensichtlich intakter Sozialstruktur. EU-Fördermittel waren nicht nur angekommen, sondern auch sinnvoll verwendet worden. Weder gab es überkandidelte Luxusinvestitionen noch Ecken absoluten Verfalls. Vielleicht spielte auch eine Rolle, dass Konitz schon seit 1919/1920 zu Polen gehörte – anders als Landsberg, wo 1945 der größte Teil der ansässigen Einwohner weggesäubert worden war.

    • Der Trojanische Bulle
    • Marktplatz
    • Gedenktafel an den Einmarsch der polnischen Truppen 1920: "Nach 147 Jahren preußischer Gefangenschaft gab die nach Konitz einmarschierende polnische Armee am 31. Januar 1920 die Stadt unserem Vaterland zurück."


    Ich fand ein nettes Hotel direkt am Marktplatz für schlappe 90 Zloty. Wie schon in Landsberg brachte mein Fahrrad die Rezeption keineswegs aus der Fassung, es durfte neben der Besenkammer stehen. Beim Einkaufen machte ich eine grandiose Entdeckung: Hochmineralisiertes Mineralwasser mit enormen Magnesium- und Calcium-Mengen sowie anderen Salzen, also ideal für körperliche Anstrengung. Fast drei Gramm gelöste Mineralien je Liter! Zum Vergleich: Die meisten deutschen Mineralwasser kommen auf 0,2 – 0,3 Gramm. Da kann man eigentlich schon von „Schwerem Wasser“ sprechen.

    Ich vertrödelte den verbliebenen Tag unter anderem damit, die Mitarbeiter eines Heimwerkergeschäfts mit Tschechisch aus deutschem Munde zu amüsieren. Den Inbusschlüssel zum Verstellen meiner Packtaschen-Aufhängung hatte ich nämlich zu Hause vergessen. Die Kommunikation klappte ganz gut. Für meine tschechisch geeichten Ohren klingt Polnisch wie Tschechisch aus dem Munde von Jürgen Rüttgers: Es pfeift in der einen oder anderen Silbe ein Zischlaut mehr als nötig raus.


    29. April 2010

    Mit einer frisch erworbenen Wander- und Radwanderkarte der Tucheler Heide im zierlichen Maßstab 1:150.000 machte ich mich am nächsten Tag auf meine Königsetappe: Von Konitz quer durch die Wälder bis über die Weichsel nach Marienwerder/Kwidzyn. Unter intensiver Nutzung von Waldwegen hatte ich mir eine ziemlich geradlinige Trasse konstruiert, die es tatsächlich ermöglichte, 90 Kilometer Luftlinie in nur 110 gefahrene Kilometer umzusetzen. Wer es nachmachen will: Chojnice-Pawlowo-Wysoka-Raciaz-Woziwoda-Biala-Rosochatka-Sliwice-Bledno-Przewodnik-Jaszczerek-Opalenie. Allerdings ist damit zu rechnen, dass ein Teil der Waldwege – die ja überwiegend aus Sand bestehen – im Hochsommer kaum befahrbar sein wird.


    „Straßen"kreuzung hinter Raciaz


    Teilweise war die Tucheler Heide nur öder Kiefernforst, wie man ihn auch aus Brandenburg zur Genüge kennt. Aber ein großer Teil war Mischwald, der gerade die ersten Grünspuren zeigte. Zusätzlich war er mit allerhand Seen durchsetzt. Die Straßen waren außergewöhnlich ruhig, alle fünf bis zehn Minuten kam ein Auto vorbei. Die touristische Infrastruktur mit Zelt- und Biwakplätzen, Hotels und Pensionen lässt allerdings vermuten, dass es dort im Sommer weniger ruhig ist. Dennoch habe ich mir fest vorgenommen, dort wieder hinzufahren.

    Das größte Schauspiel an diesem Tag bot ein Holzlaster mit Anhänger, der in einen engen Waldweg abbiegen wollte. Nach einigen Vor- und Rückwärtsmanövern hatte der Fahrer den Anhänger so vergurkt, dass man ihn eigentlich nur noch mit Abkoppeln und Muskelkraft aus der verfahrenen Situation befreien konnte. Aber nicht so der findige polnische Fahrer: Er kletterte auf seinen Ladekran und hob den Anhänger an der Vorderachse in eine sinnvolle Position.


    „Er zog sich am eigenen Zopf aus der verfahrenen Situation“


    Dank einiger Gedenktafeln erfuhr ich, dass in der Schlussphase des Zweiten Weltkrieges seit der Jahreswende 1944/45 in der Tucheler Heide einige Dutzend Partisanen der polnischen Nationalarmee tätig gewesen waren, die von Fallschirmagenten – vermutlich aus Großbritannien - unterstützt wurden. Ihre Unterschlüpfe befanden sich teilweise unglaublich nahe an Wegen und Straßen. Sie müssen sich also sehr sicher gefühlt haben. Allerdings blieb ihnen der Dank der Sieger verwehrt: 1945 wurden sie vom sowjetischen NKWD verschleppt.

    Ungewöhnlich waren die Wacholderbüsche am Wegesrand unter einem dichten Kieferndach. Wer Wacholder bisher nur aus dem Zusammenhang der Lüneburger Heide oder ähnlicher Offenlandschaften kennt, glaubt seinen Augen nicht zu trauen.

    Im östlichen Bereich der Tucheler Heide begegnete ich auch zum ersten Mal kaschubischer Architektur. Die Kaschuben sind eine ethnische Minderheit und sprechen einen eigenen slawischen Dialekt. Im Streit früherer Jahrzehnte, ob das Land zwischen Hinterpommern und Ostpreußen richtigerweise zu Deutschland oder Polen gehört, wurden immer wieder die Kaschuben bemüht: Für Polen war ihre slawische Sprache der Grund für ihre Besitzansprüche. Für Deutschland war ihre vom Polnischen unterschiedliche abweichende Sprache Beweis genug, dass sie keine Polen sein konnten. Soweit die Geschichte im Schnelldurchgang. Wer diesen Streit ausführlich studieren will, kann sich durch mehrere Regalmeter Literatur quälen.

    • Siedlung mit kaschubischer Holzarchitektur
    • Denkmal am Stadtrand von Konitz: „Es gibt keinen Kaschuben ohne Polen, und kein Polen ohne Kaschuben“


    Schließlich verließ ich den Wald, kreuzte die neue Autobahn nach Danzig und die parallele Fernstraße. Durch einen fast mittelgebirgig anmutenden Wald glitt ich in die Weichselniederung hinunter. Parallel verlief die alte Bahnstrecke zur Eisenbahnbrücke Münsterwalde/Opalenie. Diese war Ende der zwanziger Jahre von Polen demontiert worden – durch die Grenzziehung von 1920 bestand kein Interesse mehr an einer Verbindung über die Weichsel ins deutsche Marienwerder. Da im nördlichen Polen bis heute die Hauptverkehrsachsen von Süd nach Nord verlaufen, wurde sie auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr wiederaufgebaut. Von Grudziadz/Graudenz bis Marienburg/Malbork, rund 60 km, gibt es heute keine einzige Weichselbrücke mehr.

    Zum Glück gibt es aber eine Anzahl kleiner Fähren, „Prom“ genannt - wie der deutsche „Pram“. Mit einer solchen Fähre wollte ich nun von Münsterwalde nach Marienwerder/Kwidzyn übersetzen. Vielleicht hätte ich aber das Schild am Abzweig von der Hauptstraße genauer hinterfragen sollen: Bei dem Hinweis „Prom czinny od __ do __“ (Fähre aktiv von __ bis __) fehlten die Zeitangaben. Grund war nicht Schlamperei, sondern die Tatsache, dass die Fähre wegen Hochwasser tatsächlich eingestellt war. Es war nur ein schwacher Trost, dass auch Einheimische staunend am verwaisten Anleger ankamen. Nach gut 100 Kilometern stand ich nun um 18:30 genau 5,61 Kilometer Luftlinie vor dem Ziel vor einem unüberwindbaren Hindernis.




    Meine Stimmung in diesem Moment gibt vielleicht am besten eine SMS wieder, die ich an einen ebenfalls ost-affinen und von political correctness unberührten Kollegen schickte:

    „Mein unaufhaltsamer vormarsch richtung marienwerder wurde an der weichselfähre von einem hinterhältigen Hochwasser des Feindes gestoppt“

    Jetzt galt es, einen Plan B zu entwickeln: Die Karte wies eine weitere Fähre in Gniew/Mewe aus, etwa 15 km weiter nördlich. Falls die fuhr, würde ich nach etwa 35 Zusatzkilometern doch noch Marienwerder erreichen. Über einige Nebenstraßen am Hang zur Weichselniederung erreichte ich unbeschadet Mewe.

    Das traumhafte Wetter entschädigte reichlich für die Strapazen, und im übrigen hätte ich ohne diesen Umweg nie diese Neureichen-Villa im Deutschordensburg-Stil gesehen:


    Man ist nicht nur neureich, sondern zeigt es auch!


    Die Fähre in Mewe fuhr zum Glück, und war für Radfahrer und Fußgänger sogar kostenlos. Dafür hatte ich den Eindruck, dass man besser nicht so genau nach dem Alkoholgehalt des Fahrpersonals fragen sollte.


    Rund drei Stunden nachdem ich am Westufer der Weichsel gestanden hatte, blickte ich vom Burgberg in Marienwerder auf die Weichselniederung. Zeit für die nächste SMS:

    „Nach einem umgehungsangriff über mewe gelang die einnahme von marienwerder bis sonnenuntergang“


    Mit Camping sah es im Umfeld von Marienwerder mau aus, die wenigen Wäldchen waren entweder als illegale Müllkippen missbraucht worden oder standen noch im Hochwasser. Also war Indoor-Übernachtung angesagt. Ich hätte allerdings meinem bisherigen Usus treu bleiben sollen, zuerst zum Bahnhof zu fahren. Stattdessen durchkämmte ich die Fußgängerzone und ihr Umfeld, bis ich schließlich ein ehemaliges Hotel mit einer neueren Leuchtreklame „Haus der Privatquartiere“ fand. Der Preis von 50 Zloty (15 Euro) war allerdings noch immer ambitioniert in Relation zu dem, was geboten wurde: Eine anscheinend seit 1939 nicht mehr renovierte Bruchbude mit Sanitäreinrichtungen, die das Attribut „Sanitär-“ eigentlich nicht verdienten. Angesichts meiner angestrebten Aufenthaltsdauer von maximal zehn Stunden drückte ich nicht nur beide Augen zu, sondern machte sie auch bald zu. Natürlich nicht, ohne mich vorher in einem 24-Stunden-Laden von einer äußerst sprachgewandten Studentin bezüglich der kalorienreichsten Nahrungsmittel beraten zu lassen.

    Zurück im „Kwater Prywatny“ erwartete mich eine SMS meines politisch unkorrekten Kollegen.

    „Hier spricht die oberste heeresleitung. Willkommen in westpreussen. Inspizieren sie die ordensburg in mewe und begeben sie sich nnw richtung dirschau. Erwarte naechsten lagebericht aus danzig in 36 Stunden.

    Oh shit ... die Ordensburg von Mewe hatte ich natürlich nicht inspiziert, und statt in Dirschau auf dem Westufer saß ich nun auf dem Ostufer, satte 60 km südlich von Dirschau. Das würde Ärger geben! Vor meinem geistigen Auge sah ich Bruno Ganz in „Der Untergang“, wie er seine Generäle zur Sau machte: „Das warrr ein Befäääähl!!!“


    30. April 2010

    Wäre ich doch am Abend vorher erst zum Bahnhof gefahren, fiel mir am Morgen auf. Es hätte ja nicht das Viersterne-Hotel „Centrum“ sein müssen, das namenlose Zweisterne-Hotel gegenüber vom Bahnhof wäre meiner verkrusteten Aufmachung sicherlich eher angemessen gewesen. Bei Tageslicht entpuppte sich Marienwerder als gesichtslose Industriestadt. Die Fußgängerzone wirkte aufgesetzt, und die gesichtslosen Ladenkomplexe dazwischen hätten auch in Oer-Erkenschwick oder Frankfurt (Oder) stehen können.

    Ein „Gesicht“ bekommt Marienwerder erst von der Flussseite her – und das nicht zu knapp: Der mächtige „Dansker“ der Burg reicht bis zum ehemaligen Bett der Nogat, einem Zufluss der Weichsel. Während sich die deutschen und polnischen Erklärungen zum Dansker elegant um die Beschreibung seiner Funktion drückten, wurde für russische Besucher Klartext gesprochen: „Sanitarnyj-higienitscheskij trakt“. Ich denke, dass auch des Russischen nicht mächtige Leser nun ahnen, warum die Deutschordensritter ein Fallrohr-ähnliches Gebäude über dem Fluss platziert haben.

    Beim Einkaufen in Mareza/Mareese unterhalb der Burg entdeckte ich durch Zufall den ehemaligen Kleinbahnhof. An den kann sich sogar noch mein Vater erinnern, denn mit der Kleinbahn ist er häufiger zu seinem Großvater nach Gutsch/Gurcz gefahren. Das Haus, in dem sein Vater geboren wurde, existiert aber offensichtlich nicht mehr – die ältesten Gebäude mit öffentlich dargebotenem Baujahr in Gurcz stammen „erst“ aus dem Jahr 1905, stellte ich beim Durchfahren fest.

    Mein nächstes Ziel war die Marienburg, wahrscheinlich der größte noch zusammenhängend erhaltene Burgkomplex Europas. Wobei das „erhalten“ in Anführungszeichen gesetzt werden muss: Im 19. Jahrhundert war die Burgruine nach jahrhundertelanger Nichtnutzung ganz schön ruiniert. Erst das aufkeimende deutsche - und polnische - Nationalbewusstsein ließ das Bedürfnis entstehen, auch visuell Pflöcke einzurammen, damals mit der Botschaft: Der Deutsche Orden war schon hier, als die Polen noch auf den Bäumen hockten.



    1945 ging die Marienburg in großen Teilen zu Bruch, aber Polen nahm sich des Wiederaufbaus an: Diesmal mit der Botschaft, dass es in der Mitte des 15. Jahrhunderts gelungen war, einen derart mächtigen Gegner praktisch bedeutungslos zu machen – und das Land unter die Herrschaft der polnischen Krone zu bringen. Heute ist die Marienburg fest in der Hand von Touristen, darunter erstaunlicherweise viele aus Russland. Ich kam zur Mittagszeit an, als es nur so brummte. Falls der Ort eine besondere Ausstrahlung hat, blieb sie mir verborgen. Zwischen Russen, Polen und deutschen Schulklassen warf ich bei McD einen vierstelligen Kalorienbetrag ein und beobachtete das lustige Treiben auf dem viel zu kleinen Parkplatz.

    Gegen halb zwei Uhr konnte ich mich nicht mehr länger vor dem nun folgenden Grusel-Abschnitt drücken: Rund 15 km an der „Reichsstraße 1“ - der heutigen Staatsstraße 22 oder umgangsprachlich „Berlinka“ - nach Westen in Richtung Dirschau. Ohne Radweg oder wenigstens Schutzstreifen, dafür aber jeder Menge Lkw-Verkehr. Einen Vorgeschmack hatte ich schon auf dem Weg nach Marienburg bekommen, als ich vier Kilometer auf der "22" fahren musste. Zum Glück wird der Verkehr von Marienburg in Richtung Westen von einer sehr trägen Ampel reguliert. Es gibt also immer wieder etwa drei Minuten lange Pausen, in den man den Rücken einigermaßen frei hat. Wenn die von der Ampel entfesselte Karawane naht, tut man allerdings gut daran, ins Straßenbegleitgrün auszuweichen. In der Hierarchie des polnischen Straßenverkehrs rangiert der Radfahrer nur minimal über den Fliegen auf der Windschutzscheibe des Kraftfahrers. Kein Wunder, dass sich die Fußgänger in sprichwörtlich preußischer Art an die Grünsignale der Ampel halten.

    Zum Glück konnte ich bei Konczewice die Hauptstraße verlassen. Hier traute ich mich zum ersten Mal, zwei ältere Damen auf „richtig“ Polnisch nach dem Weg zu fragen. Ich hätte es nicht tun sollen – denn offensichtlich meinten sie, einen Muttersprachler vor sich zu haben und übergossen mich mit einem Wortschwall. Ich stammelte nur „dziekuje“ und radelte langsam davon. Das Ausbleiben eines weiteren Wortschwalls verriet mir, dass ich den richtigen Weg getroffen hatte.

    Über eine idyllische Landstraße, deren Ruhe nur durch die zahllosen Schlaglochflicken gestört wurde, näherte ich mich der Weichselbrücke bei Dirschau. Einschließlich der Überflutungsflächen überbrückt sie fast zwei Kilometer. Während die Bahnbrücke (verdeckt im Hintergrund) entweder schon saniert ist oder gerade saniert wurde, machte die Straßenbrücke (im Vordergrund) den Eindruck, die Zeit sei 1946 stehengeblieben. Teile scheinen militärische Behelfsbrücken zu sein. Das Befahren mit Pkw im Gegenverkehr ist gerade so eben möglich, auf einem der Brückensegmente allerdings nicht einmal das. Dafür erlaubt der morsche Holzbohlenbelag an einigen Stellen interessante Ausblicke auf die sich zehn Meter tiefer dahinwälzende Weichsel. Aus Rücksicht auf den nachfolgenden Verkehr verzichtete ich auf einen Fotostopp.




    Dirschau machte von Anfang an einen freundlichen Eindruck. Schon am Fuß der Brücke begrüßte mich ein Spielplatz für kleine und große Kinder. Die Altstadt wirkte authentisch und nicht wie Disneyland. Lediglich die Buchläden... hatten natürlich auch nicht die benötigten Topokarten.

    Jetzt war es nur noch ein Katzensprung von 35 km bis Danzig. Meine Heimwehkarten ließen sogar eine vermutlich verkehrsarme Strecke durch die Weichselniederung erkennen. Aber zuerst entdeckte ich am Wegesrand eine Mennonitenkirche. Nicht alle Mennoniten sind nach Amerika ausgewandert und Amish people geworden. Obwohl es mit Blick auf die folgenden Ereignisse wahrscheinlich klüger gewesen wäre.

    Wenig amüsiert stellte ich kurz darauf fest, das der von mir auserkorene Schleichweg nach Danzig mit Betonpanelen begann. Wer schon einmal einen der DDR-Kolonnenwege im Harz mit dem Fahrrad befahren hat, weiß, was das bedeutet... Plopp-plopp plopp-plopp plopp-plopp plopp-plopp ... „Na gut“, sagte ich mir, „nach der Siedlung hört er bestimmt auf. Oder vielleicht doch erst nach dem Stallgebäude dort hinten? Aber an der nächsten Kreuzung ganz bestimmt!“ Um es kurz zu machen: Er hörte erst nach fünf Kilometern auf und ging dann in eine Schotterstraße über, die nach jedem vorbeifahrenden Auto im Grobstaubwirbel verschwand.


    Die Stadtgrenze von Danzig erreichte ich in einem Gewerbegebiet. Dank der Rumpelpiste war ich etwas in Verzug geraten und steuerte daher geradewegs die Haupteinfallstraße von Süden an. Auf dem Fußweg – woran in Polen aber offenbar niemand Anstoß nimmt – folgte ich den Schildern Richtung "Centrum", bis ich schließlich an einer gigantischen Kreuzung mit einer Hochstraße, aber ohne Fußgängerampeln endete. Wahrscheinlich würde ich immer noch nach einer ebenerdigen Kreuzungsmöglichkeit suchen, wenn da nicht der Mountainbiker gewesen wäre, der mit einer Geste der Resignation sein Fahrrad schulterte und die Treppe einer Fußgängerunterführung hinuntersprintete. Ich folgte seinem Beispiel, auch wenn dank meiner Packtaschen von „Sprinten“ nicht die Rede sein konnte. „Sch...stadt“, dachte ich mir, doch das Wort blieb mir im Halse stecken: Ich hatte das Hohe Tor zur Altstadt durchquert und war dabei ins 21. Jahrhundert gesprungen. Kein spätsozialistischer Bröselcharme, sondern eine touristisch gefärbte Fußgängerzone westlichen Standards zwischen „historischen“ Gebäuden empfing mich. Die Anführungszeichen deshalb, weil 1945 beim Kampf um Danzig die Altstadt auf Traufhöhe null reduziert worden war. Die vermeintlich alten Fassaden stammen aus den sechziger und siebziger Jahren.


    Die Langgasse...


    ...die Frauengasse mit ihren typischen „Beischlägen“ an den Hauseingängen...


    ... und das Wahrzeichen Danzigs, das Krantor


    Nach einigem Hin und Her am Rande der Altstadt fand ich sogar im Vorüberfahren ein Hotel, das keine vier oder fünf Sterne hatte, sondern sich mit drei ordentlichen Sternen und umgerechnet 45 Euro begnügte. Den Namen habe ich sofort vergessen, nachdem ich es aufgrund der ruhigen Lage in „Villa Ritalin“ umgetauft hatte.

    Am folgenden Morgen blieben mir nur noch wenige Stunden bis zur Abfahrt meines Zuges zurück nach Deutschland. Die Suche nach den Topokarten verschaffte mir noch eine nette kleine Stadtrundfahrt, brachte aber keinen Erfolg. Die Landkartenhandlung Schropp in Berlin hat die Karten übrigens fast vollständig auf Lager. Um elf Uhr stieg ich in den S-Bahn-ähnlichen Zug nach Gdingen/Gdynia, wo schon der „Interregio“ nach Stettin wartete – geschickt getarnt als Nahverkehrszug und verborgen hinter einer falschen Zielanzeige auf dem Bahnsteig. Zusammen mit fünf anderen Fahrradtouristen enterte ich das Gepäckabteil am Zugende. Vier Stunden gondelten wir durch die Steppe Nordpommerns und erreichten pünktlich Stettin. Von dort war es nur noch ein Katzensprung nach Berlin.

    Und hier noch mal die Tour im Überblick:


    Gesamtlänge der auf dem Fahrrad zurückgelegten Strecke: 510 km.
    Zuletzt geändert von November; 02.11.2011, 19:04.
    Schutzgemeinschaft Grüne Schrankwand - "Wir nehmen nur das Nötigste mit"

  • chriscross

    Fuchs
    • 07.08.2008
    • 1604
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    • Meine Reisen

    #2
    AW: [PL] Nicht verloren in Polen

    Sehr schön!


    und unterhaltsam ist es auch!

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    • ich
      Alter Hase
      • 08.10.2003
      • 3566
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      • Meine Reisen

      #3
      AW: [PL] Nicht verloren in Polen

      Klasse, danke für den tollen Bericht!
      Nicht nur Fuchs sein, auch n puschigen Schwanz haben!

      Spaß im Winter und Wandern mit Kindern

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      • volx-wolf

        Lebt im Forum
        • 14.07.2008
        • 5576
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        • Meine Reisen

        #4
        AW: [PL] Nicht verloren in Polen

        Wunderbar zu lesen! Danke. So fängt der Tag doch gut an.
        Und einmal wieder Fotos aus der Ecke zu sehen ist auch schön, ist nun auch schon wieder 10 Jahre her, dass ich das letzte Mal dort gewesen bin; hat sich ja einiges getan.

        In Danzig hätte es übrigens auch einen Campingplatz gegeben - vor allem gut mit dem städtischen Nahverkehr erreichbar.

        edit: Der hier (falls Du mal wieder dort bist).
        Zuletzt geändert von volx-wolf; 25.06.2010, 07:27.

        Moralische Kultur hat ihren höchsten Stand erreicht, wenn wir erkennen,
        daß wir unsere Gedanken kontrollieren können. (C.R. Darwin)

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        • peter-hoehle
          Lebt im Forum
          • 18.01.2008
          • 5175
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          • Meine Reisen

          #5
          AW: [PL] Nicht verloren in Polen

          Ein sehr schöner Bericht mit vielen Info`s
          zum Land.Da bekommt man gleich
          Reisefieber.

          Gruß Peter
          Wir reis(t)en um die Welt, und verleb(t)en unser Geld.
          Wer sich auf Patagonien einlässt, muss mit Allem rechnen, auch mit dem Schönsten.

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          • sejoko
            Erfahren
            • 23.12.2009
            • 492
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            • Meine Reisen

            #6
            AW: [PL] Nicht verloren in Polen

            Hallo

            Schöner und kurzweiliger Bericht, habe ihn gern gelesen.

            Im August geht es bei mir auch mit dem Fahrrad nach Polen. Ich bin schon gespannt was mich dann so alles erwartet.

            Gruß
            Sebastian
            TRAVLRS.COM
            ein Fenster zur Welt

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            • fraizeyt

              Fuchs
              • 13.08.2009
              • 1891
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              #7
              AW: [PL] Nicht verloren in Polen

              Celujacy

              Hat sich die OSM-Kartensituation seit deinem Besuch verbessert, oder war ein Handeln nicht erforderlich?

              Gruß Tom
              Die Qualität unseres Lebens ist das Resultat unserer Gedanken.

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              • Pfad-Finder
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                • 18.04.2008
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                #8
                AW: [PL] Nicht verloren in Polen

                Zitat von fraizeyt Beitrag anzeigen
                Hat sich die OSM-Kartensituation seit deinem Besuch verbessert, oder war ein Handeln nicht erforderlich?
                Ich habe rund 100 km Wege und Straßen eingetragen... ok?
                Schutzgemeinschaft Grüne Schrankwand - "Wir nehmen nur das Nötigste mit"

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                • fraizeyt

                  Fuchs
                  • 13.08.2009
                  • 1891
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                  • Meine Reisen

                  #9
                  AW: [PL] Nicht verloren in Polen

                  Dafür gibt es den 6. Zusatzstern .

                  Sollte ich mal eine andere Region in Polen einplanen, sage ich dir rechtzeitig vorher Bescheid.
                  Die Qualität unseres Lebens ist das Resultat unserer Gedanken.

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                  • Wollsocke

                    Erfahren
                    • 21.10.2005
                    • 246
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                    • Meine Reisen

                    #10
                    AW: [PL] Nicht verloren in Polen

                    Danke für den schönen Bericht ...hat mir die Mittagspause über gefesselt...ich denke der Biber hat sich nicht übernommen...der hat einfach Geduld ...mal schauen wie es dem Baum in 1-2 Jahren geht...
                    »Heut’ mach ich mir kein Abendbrot, heut’ mach ich mir Gedanken.« W.Neuss

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                    • blenn
                      Erfahren
                      • 08.06.2010
                      • 152
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                      • Meine Reisen

                      #11
                      AW: [PL] Nicht verloren in Polen

                      yep, schöner Bericht, eine gute Schreibe hast du
                      --
                      http://www.rolf-blenn.de/adventure.htm

                      "da ist so `n Mann im Wald"

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                      • blauloke

                        Lebt im Forum
                        • 22.08.2008
                        • 8315
                        • Privat

                        • Meine Reisen

                        #12
                        AW: [PL] Nicht verloren in Polen

                        Hallo

                        Wieder ein schöner Bericht von dir aus einer sonst nicht so bekannten Gegend. Danke!
                        Du kannst reisen so weit du willst, dich selber nimmst du immer mit.

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                        • Goettergatte
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                          • 13.01.2009
                          • 27405
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                          • Meine Reisen

                          #13
                          AW: [PL] Nicht verloren in Polen

                          Vielen Dank für den schönen Bericht,
                          in Küstrin war ich Ostern 2007, im Schneesturm.
                          Den Rest kenne ich noch nicht, nur von Omas Erzählungen und der Burgenliteratur.

                          OT: Nicht alle Dansker sind so monumental wie der von Marienwerder, das liegt an dem Höhnunterschied zwischen Dormitorium (Schlafsaal) und Flußufer.
                          Die Ordensritter nahmen es mit der Hygiene genau so eng wie alle anderen klöstelichen Gemeinschaften.
                          Pech für die Flußabwohnenden.
                          "Wärme wünscht/ der vom Wege kommt----------------------
                          Mit erkaltetem Knie;------------------------------
                          Mit Kost und Kleidern/ erquicke den Wandrer,-----------------
                          Der über Felsen fuhr."________havamal
                          --------

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                          • Nammalakuru

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                            • 21.03.2003
                            • 9352
                            • Privat

                            • Meine Reisen

                            #14
                            AW: [PL] Nicht verloren in Polen

                            Besten Dank! Schöner Bericht!

                            Nam

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                            • walkingalone
                              Dauerbesucher
                              • 05.01.2010
                              • 592
                              • Privat

                              • Meine Reisen

                              #15
                              AW: [PL] Nicht verloren in Polen

                              Schöne Bilder, interessanter Inhalt, gute Sprache! Vielen Dank!!!

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                              • Mika Hautamaeki
                                Alter Hase
                                • 30.05.2007
                                • 3979
                                • Privat

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                                #16
                                AW: [PL] Nicht verloren in Polen

                                Sehr schöner Bericht. Ich freue immer wieder über Berichte aus anderen Gegenden!
                                So möchtig ist die krankhafte Neigung des Menschen, unbekümmert um das widersprechende Zeugnis wohlbegründeter Thatsachen oder allgemein anerkannter Naturgesetze, ungesehene Räume mit Wundergestalten zu füllen.
                                A. v. Humboldt.

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                                • November
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                                  • 11083
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                                  #17
                                  AW: [PL] Nicht verloren in Polen

                                  Cześć Pfad-Finder!

                                  An der Warthe bin ich fast den gleichen Weg gefahren wie du, nur auf der anderen Seite, in die andere Richtung und ein paar Wochen früher. Zu dem Zeitpunkt stand das Wasser noch um einiges höher; auf jeden Fall ein imposanter Anblick.
                                  Die Fähre von Witnica nach Kłopotowo war natürlich auch damals außer Betrieb. Wenn nicht hätte ich wohl auf die andere Seite gewechselt. Immerhin konnte ich einen Blick drauf werfen. So schaut sie aus:


                                  In Żary, wo ich eine Karte kaufen wollte, war an Topokarten natürlich auch nicht zu denken, ebenso wenig an Wanderkarten. Immerhin habe ich eine passende Angelkarte bekommen, Maßstab 1:200 000, auch mit kleineren Wegen. Und wer gerne wissen möchte, welche Gewässer in der Woiwodschaft Lebus zu welcher Zeit beangelbar sind, welches Gemeindeamt samt Telephonnummer dafür zuständig ist und welche Fische am besten wo gefangen werden, kann sichvertrauensvoll an mich wenden.
                                  Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um.

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                                  • hosentreger
                                    Fuchs
                                    • 04.04.2003
                                    • 1406

                                    • Meine Reisen

                                    #18
                                    AW: [PL] Nicht verloren in Polen

                                    War richtig informativ und enorm unterhaltsam -
                                    Hast Du trotz Deiner Kaloriensuche abgenommen?
                                    hosentreger
                                    Neues Motto: Der Teufel ist ein Eichhörnchen...

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                                    • Wooki
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                                      • 10.05.2007
                                      • 185
                                      • Privat

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                                      #19
                                      AW: [PL] Nicht verloren in Polen

                                      sehr schöner Tourenbericht - amüsant und interessant :-)
                                      --

                                      Mal-raus...

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                                        • 18.04.2008
                                        • 11913
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                                        #20
                                        AW: [PL] Nicht verloren in Polen

                                        Zitat von hosentreger Beitrag anzeigen
                                        Hast Du trotz Deiner Kaloriensuche abgenommen?
                                        Nö. In Polen sind Kalorien leicht zu finden. Jedes Dorf hat seinen Krämerladen, der sieben Tage in der Woche aufhat und eigentlich alle Bedürfnisse decken kann. Die Kalorien sind jedenfalls leichter zu finden als "markierte" Wanderwege.

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