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  • Werner Hohn
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    • 05.08.2005
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    • Meine Reisen

    #61
    AW: [PT, ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

    Donnerstag, 22. Mai 2008 Zwischenhalt
    Etappe: Monte do Gozo – Santiago de Compostela
    Tageskilometer: 4 Gesamtkilometer: 720
    Unterkunft: Hostal in der Altstadt


    Ankunft ohne ein Ende
    Es sind nur 4 Kilometer vom Hügel am Stadtrand bis zur Kathedrale in der Stadtmitte. Schnell mal eben runter, die Pilgerurkunde abzuholen und dann weiter an die Küste, die immer noch 3 Tageswanderungen weit weg ist. Wir sind ein kleines Grüppchen, Mechthild, Gotthilf und ich. Im morgendlichen Berufsverkehr schaut sich niemand nach uns um, keine Hand hebt sich hinter getönten Autoscheiben zum Gruß. Pilger, Wanderer, Menschen mit Rucksack gehören seit Jahren zum Stadtbild der Pilgermetropole.
    Zielstrebig trödeln wir zur Puerta del Camino, dem Tor zum Camino. Hier beginnt die barocke Altstadt, die zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört und in dessen Gassengewimmel sich die Kathedrale versteckt.
    Wer über den Camino francés nach Santiago kommt, sieht die Kathedrale erst, wenn er an deren Rückwand steht. Von hinten ist die Kirche so unscheinbar, dass viele erst auf dem großen Platz vor dem Hauptportal realisieren, dass sie am Ziel sind.

    Und dann stehe ich nach 2007 mal wieder vor dem Pilgerbüro und reihe mich in die kurze Schlange ein. Ganz vorne, sogar als Erster, steht der Koreaner, der sich vor Tagen als Priester ausgegeben hat. Dahinter viele zwar bekannte, jetzt schon fliehende Gesichter: mal wieder ein Schalke-Fan mit Wimpel am Rucksack, irgendwo sind wir uns kurz über den Weg gelaufen; der Franzose, der einen auf Krishna-Jünger macht und nicht direkt angesprochen werden will, man soll sich an seinen Begleiter wenden, dieses Pärchen kenne ich schon seit dem zweiten Tag; der Italiener mit der feisten Wampe und dem Minirucksack und viele, viele mehr. Seltsam, die Menschen, mit denen ich in den vergangenen Wochen oft nur einen kurzen Gruß im Vorbeigehen, ein erkennendes Nicken in der Warteschlange vor der Herberge oder noch weniger ausgetauscht habe, bedeuten mir an diesem Tag viel. Bis auf meine Begleiter von heute Morgen sowie Lili und ihre Begleitung sind das eigentlich Fremde für mich. Und trotzdem haben wir etwas Gemeinsames, verbindet uns einiges.

    Es ist nicht nur der lange Weg. der hinter uns liegt. Vielleicht ist es auch das Wissen, dass in wenigen Stunden die kleine Freiheit enden wird, die uns am Laufen gehalten hat. Dass dem Ausbrechen aus dem Alltagstrott wieder das unweigerliche Einleben in eben diese Mühle folgen wird. Die Freiheit, das Loslassen und die Leichtigkeit im Kopf, all das soll hier enden? Der Freiraum, der sich am Anfang unbemerkt eingeschlichen hat, dann ungestüm seinen Platz zwischen all den verkrusteten Vorstellungen gefordert und bekommen hat, der zum lieb gewonnen täglichen Begleiter herangewachsen ist, wie lange wird dieses Stückchen Freiheit überleben? Der verplante und rundum abgesicherte Alltag ist ein zäher und geduldiger Gegenspieler. Vielleicht ist es dieses Wissen, eher ein diffuses Gefühl, das die Menschen vor der schweren Holztür des Pilgerbüros vereint.

    Spontan entscheide ich mich fürs Bleiben. Weitergehen kann ich auch morgen noch. Das Ende der Welt läuft mir nicht weg. Meine Begleiter vom Weg jedoch, die werde ich vermutlich nie mehr sehen.

    Maria, die es gestern nicht erwarten konnte und bis Santiago durchgegangen ist, läuft mir übern Weg. Sie ist immer noch enttäuscht von ihrer Ankunft. Nur enttäuschte Hoffnungen, verratene Erwartungen, über Tage herbeigesehnte und dann verrauchte Träume. Da war nichts, überhaupt nichts. Die Erlebnisse von unterwegs, die Begegnungen und Gespräche, die manchmal endlose Quälerei? War das alles für die Katz'? Eine Ankunft wie auf dem Bahnhof von Wanne-Eickel?
    Oft ja. Manchmal aber braucht es seine Zeit, einen verwehenden Augenblick, damit man Ankommen, vom Erlebten der letzten Wochen zehren kann.

    Santiago ist wie immer, obwohl das erst mein zweiter Aufenthalt in der Stadt ist. Pilgerurkunde abholen, diesmal die „Sporturkunde“, die Wanderer ohne religiöse Motive erhalten, Unterkunft suchen, Pilgermesse besuchen, dann auf dem Platz vor der Kathedrale rumlungern. Hier kommen sie alle an. Einzelgänger, Gruppen, Paare, Fußwanderer, Radpilger und Touristen. Bei mir drängt sich der Eindruck auf, je kürzer der Weg, umso lauter die Ankunft.

    Auch der Platz vor der Kathedrale ist ein Grund, nach Santiago zu gehen. In der Hoffnung, unter den vielen Ankömmlingen bekannte Gesichter zu sehen, lungern hier alle rum. Wer mehrere Tage bleibt, wird immer wieder diesen Platz aufsuchen, und immer wird sein Blick hoffnungsvoll über die Gesichter der Neuankömmlinge streifen. Die Hoffnung aufs Wiedererkennen und nicht zuletzt um die Zeit ein wenig zu betrügen, treibt einen mehrmals am Tag hierhin.

    Und doch ist Santiago nicht wie immer. Diesmal ist sogar die Pilgermesse anders. Nicht nur dass sie diesen Mittag sogar mir nahe geht, auch der ewige Zweifler in mir erhält einen kleinen Schlag auf die Nase. Am Beginn der Messe kündigt der Priester an, dass er den Pilgergottesdienst nicht alleine abhalten wird. Ihm werden zwei Priester, die den Camino komplett gegangen sind und heute beendet haben, zur Seite stehen. Der eine kommt aus Kanada, der andere aus Südkorea ...
    Zuletzt geändert von Werner Hohn; 31.12.2015, 18:38. Grund: Die finale Runde?
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    • Meer Berge
      Fuchs
      • 10.07.2008
      • 2381
      • Privat

      • Meine Reisen

      #62
      AW: [PT, ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

      Puh - wie schön!

      Danke,
      Meer Berge

      Kommentar


      • Werner Hohn
        Freak
        Liebt das Forum
        • 05.08.2005
        • 10870
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        • Meine Reisen

        #63
        AW: [PT, ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

        Camino Fisterra – Der Appendix aller Caminos

        Freitag, 23. Mai 2008 Ungewohnte Begleitung
        Etappe: Santiago de Compostela – Negreira
        Camino francés: 720 km, Camino Fisterra: 23 km
        Tageskilometer: 23 Gesamtkilometer: 743
        Unterkunft: Herberge Negreira (Xunta-Herberge)


        Beides sieht man oft hier // Ponte Maceira
        Ans Ende der Welt wollen alle, sogar die, denen die Zeit davonläuft, die nehmen dann halt den Bus. Hauptsache man war am Ende der Welt. Das kann man nicht auslassen, wenn’s auch das mittelalterliche Ende der Welt ist. Schon lange weiß jeder, dass der westlichste Punkt des Europäischen Festlands in Portugal zu finden ist. Aber was soll’s.
        Wer den Bus nicht nimmt, geht zu Fuß, und das sind jede Menge. Na ja, ein Mensch, der ein paar Wochen auf dem Camino unterwegs war, dem werden die letzten 90 Kilometer nicht mehr das Letzte abfordern. Das wird mehr ein Auslaufen, weil man die Zeit noch ein wenig hinausschieben möchte, oder weil es noch ein paar Tage bis zur Rückreise sind. Was soll man auch sonst tun. Einfach mit dem Gehen aufhören, mitten in einer Stadt?
        Wer zu Fuß durch ganz Spanien gegangen ist, hat am Kap das Ende seiner Reise erreicht. Weiter geht es nicht mehr, hier muss man aufhören. Ein paar Rituale noch, ein letztes Mal die abendliche Runde mit vertrauten Gesichtern, danach ist Ende, Feierabend, Schluss! Am nächsten Tag noch die Busfahrt zurück nach Santiago, dann die Heimreise. Das war’s also.

        Auf dem Camino Fisterra, von mir aus auch Camino Finisterre, wird nicht mehr gepilgert, hier wird gewandert. Am Ende wartet kein Heiliger, keine Kapelle, nur ein einfaches Kreuz. Dort steht ein Leuchtturm, der Seeleute vor den Gefahren der Küste warnen soll. Ein Restaurant, das Touristen die Qualen eines leeren Magens erspart. Natürlich, es ist ja ein erprobtes Geschäftsmodell, fehlen die Stände mit dem unsäglichen Nippes, den Postkarten, den unvermeidlichen T-Shirts auch nicht. Schlussendlich steht am Kap der Nullstein, ein Kilometerstein mit den Angabe 0,00 K.M. – leider bezieht sich das nur auf den Camino Fisterra. Schade, wirklich schade.

        Weil die Regionalregierung das touristische Potential dieses von Mythen und Sagen umwobenen Kaps erkannt hat, gibt es seit einigen Jahren einen brauchbaren Wanderweg. In den letzten Jahren sind noch einige Herbergen dazu gekommen, die aber schon wieder aus allen Nähten platzen. Damit es nicht ganz so arg nach Tourismus aussieht, braucht der müde Wanderer zum Übernachten in diesen Häusern einen Pilgerausweis. Es muss aber der vom Pilgerbüro abgestempelte Ausweis eines Pilgerwegs sein. Mit einem jungfräulichen, so wird versichert, gibt es kein Bett. Na ja.

        Da wollte ich hier nicht hin – noch nicht. Dieser Camino sollte erst in 3 Wochen fällig sein. Zusammen mit meiner Frau wollte ich den gehen. Aber was tun mit der Zeit, mit den freien Tagen, die ich mir erlaufen habe? Museen abklappern, schon nach Portugal fahren und mich an den Strand legen? Zweifelhafte Vergnügen nach 700 Kilometer Fußweg.

        Nun bin ich also unterwegs auf dem Wurmfortsatz aller Caminos, die ja aus allen Richtungen auf Santiago zulaufen und hier einen gemeinsamen Abschluss finden. Und ich bin nicht mehr allein. Seit gestern Abend begleitet mich ein Regenschirm, und was für einer. Kein leichtes Nichts, dessen dürres Gestänge beim ersten Wolkenbruch schlapp machen würde. So einen wollte ich ursprünglich haben, aber die Frau hinterm Tresen des Haushaltwarenladens hat mir den ausgeredet. In Galicien, so meinte sie, braucht es was für die Ewigkeit, es regne ja auch ewig. Wer will da Widerspruch einlegen? Als die Ladentür scheppernd hinter mir ins Schloss fiel, hatte ich einen Trumm von Schirm in der Hand. Der wird mich sicherlich überleben. Galicische Wertarbeit, denn angeblich steht in dieser Region die größte Regenschirmfabrik Spaniens.




        Altes Stadttor in Negreira
        Und noch eine neue Begleitung habe ich, die so neu auch wieder nicht ist: Maria ist dabei. Wir sind uns heute Morgen im triefenden Eukalyptuswald mal wieder über den Weg gelaufen. Wie oft eigentlich schon? Maria ist der einzige Mensch, der mich vom ersten Tag an begleitet. Ausgerechnet ihr hätte ich das niemals zugetraut. Maria hatte sich schon am ersten Tag einen Einwurf verdient:

        „He du, ja du!“ ruft eine Frau quer durch den halben Garten der Herberge. Sie meint tatsächlich mich, denn sonst steht niemand in Rufrichtung. Die Ruferin hört auf den Namen Maria, ist etwas älter als ich und will ebenfalls nach Santiago. Wohin auch sonst.

        Maria und ich haben den Camino gemeinsam gemacht (hier passt das Wort) ohne ihn zusammen zu gehen. Von den vielen hundert Kilometern zwischen Puente la Reina und Santiago de Compostela sind wir noch keine fünf Kilometer Seit’ an Seit’ gewandert. Wir haben oft in unterschiedlichen Herbergen genächtigt; sind immer zu unterschiedlichen Zeiten in den Tag aufgebrochen; aus verschiedenen Töpfen satt geworden; haben fast immer ganz andere Menschen getroffen und wir sind noch nicht mal gemeinsam angekommen. Sie war einen Tag vor mir am Ziel; na ja, eigentlich nur eine Stunde. Und trotzdem: Wir waren meist zusammen unterwegs.
        Vermutlich hat Maria mir den Camino gerettet. Nicht, dass sie das ahnt oder sogar weiß, und erfahren muss die Frau das auch nicht. So, damit verschwindet Maria fürs Erste wieder in der Versenkung. Sie wieder auftauchen, wenn es sonst nichts zu erzählen gibt. Dann aber „am Stück.“


        Nach 800 Kilometer Pilgerweg ist sie schon lange nicht mehr die Pilgerschnecke, als die sie sich gerne bezeichnet. Maria ist flott unterwegs, trotz zu kleiner Schuhe und den sich daraus ergebenden Problemen mit den Füßen. Ich glaube, es gab keinen Abend, an dem sie ihre Füße nicht verarztet hat. Beschissene, ungeeignete Klamotten hat sie auch, von denen sie einen Teil irgendwo vergessen hat. War nicht schade drum. Der zu große Rucksack - anfangs prall gefüllt, nun beinahe leer - verschwindet an diesem Morgen wieder unter einer schwarzen Mülltüte. Es schüttet, wie so oft in den vergangenen Tagen. Seit Tagen kennt das Wetter nur diese eine Stilrichtung.

        Maria und ich haben einiges gemeinsam: wir sind beide jenseits der 50, schon viele Jahre verheiratet, haben Kinder, die keine Kinder mehr sind, Enkelkinder haben wir ebenfalls, und wir sind ohne unsere Ehepartner unterwegs. Da gehören die Gemeinsamkeiten schon auf. Das ist schon ein kleiner Kulturschock für mich, wenn ich nach wochenlangem Gehen ohne Begleitung plötzlich eben diese habe.
        Maria hat eine Gesangausbildung, folglich kann sie singen, wovon sie ausgiebig Gebrauch macht. Nun gehöre ich zu den Menschen, die freudig 200.000 Kilometer mit einem Auto runtergespult haben, dessen Musikanlage stumm, weil kaputt war.
        Es gibt ja dieses Vorurteil, dass Frauen gerne reden. Meine Begleiterin macht keine Anstalten, das zu widerlegen. Aber Maria ist aufmerksam, denn wenn ihr auffällt, dass mein Anteil unserer Unterhaltung sich bis auf ein Wort reduziert hat, fragt sie schon mal nach, ob sie zuviel rede. Natürlich folgt darauf eine Anstandspause. Trotz alledem war es ein schöner, unterhaltsamer Tag. So unterhaltsam, dass wir unsere Wanderung gemeinsam fortsetzen werden. Sie wird für Unterhaltung sorgen und ich für Schutz gegen das Sauwetter. Der Regenschirm ist so groß, da passen locker zwei drunter.

        Warum, wie es ganz am Anfang steht, Maria mir den Camino gerettet hat? In den vergangenen Tagen hat es immer wieder Momente gegeben, da hätte ich am liebsten dem Camino den Rücken gekehrt. Einfach nach Süden abbiegen und zum Mittelmeer gehen. Einmal quer über die vielen Hochebenen Spaniens, aufs Geradewohl nach Süden. Zeit hätte ich genug. Kein Menschenauflauf, kein unaufhörliches Geplapper in den Unterkünften, keine Kegel-, Männergesang-, Nordic Walking- oder Sonst-was-Vereine. Nur ich und eine namenlose, menschenleere Straße, sonst nichts. Es war toll auf dem Camino, das wegen eben dieser Menschen. Die ganze Welt war unterwegs, aber manchmal war es zuviel. Der Impuls, all dem den Rücken zu kehren war in einigen wenigen Momenten so stark, dass nur der Gedanke an meine Antwort, die ich Maria auf ihre allabendliche SMS „Wo steckst du?“ hätte geben müssen, mich auf dem Camino gehalten hat. Gelegentlich braucht es nicht viel, damit ich dabei bleibe. Ein hauchdünner digitaler Faden reicht da schon.



        Samstag, 24. Mai 2008 „Wenn jetzt ein Bus käme!“
        Etappe: Negreira - Olveiroa
        Camino francés: 720 km, Camino Fisterra: 57 km
        Tageskilometer: 34 Gesamtkilometer: 777
        Unterkunft: Gemeindeherberge (Xunta-Herberge)


        Graue Tage am Ende des Weges
        Es ist noch dunkel als ich wach werde. Leises Rascheln hat mich geweckt. Der schwache Schein einer abgedunkelten Taschenlampe huscht über die Dachschräge, bleibt an einem Rucksack hängen, beleuchtet kurz ein Paar Badeschlappen und erlischt dann. Schemenhaft kann ich erkennen, wie sich ein Mann aus dem Zimmer schleicht. Aha, mal wieder einer, der sich Sorgen um die Unterkunft für heute Abend macht. Hier, in diesem Raum ist er mit dieser Sorge aber allein, die anderen schlafen noch alle. Ganz leise ist es um mein Bett herum, nur schwache Atemgeräusche aus der gegenüberliegenden Ecke sind zu hören.

        „Werner, du kannst das Licht anmachen! Sind alle weg.“ schallt es laut aus eben dieser Ecke. Franz-Peter, auf den ich seit Tagen immer wieder treffe, liegt dort. Tatsächlich, bis auf uns beide sind alle weg. Ich kann es nicht glauben. Hört das denn nie auf?
        Allerdings bin ich nicht darüber erstaunt, dass ich davon im Schlaf nichts mitbekommen habe. Mittlerweile stört mich das allnächtliche Schnarchen, das Laufen aufs Klo und das Packen der Rucksäcke im schwachen Schein einer Taschenlampe nicht mehr. Erst morgens, wenn ich eh aufwache, registriere ich diese typischen Herbergsgeräusche. In Santiago letzte Nacht hatte ich ein Zimmer für mich alleine. Darin war es zu ruhig. Lange habe ich wach gelegen, bis ich in den Schlaf gefallen bin.

        Der Morgen ist dunkel und grau. Tiefhängende Wolken verhüllen die Anhöhen, Nebel wabert über die Felder. Als ständiger Begleiter feiner, kaum wahrnehmbarer Dauernieselregen, der sich im Stundentakt zum Wolkenbruch aufschwingt. Ein Morgen zum Grauen. Die Nässe, die Kälte kriecht in unsere Knochen, findet einen Weg in den Kopf, schlägt aufs Gemüt. So unwirtlich, so nass, so kalt haben wir beide uns den Abschluss des Caminos nicht ausgemalt. Ja, bestätigt uns ein Einheimischer, der lange in Deutschland gelebt hat, so nass, so kalt und auch so windig war schon lange kein Frühjahr mehr. Zur Bestätigung fallen wieder die Tropfen, die in wenigen Augenblicken einem Wolkenbruch weichen werden. Das läuft hier immer so ab. Erst ein paar dicke Tropfen, dann stürzt ein Ozean vom grauen Himmel hinab, der innert weniger Minuten Straßen und Wege in Bäche verwandelt. Es folgt wieder Nieselregen, Wind, Nebel, einen flüchtiger Fetzen blauen Himmels.




        Hórreos (Getreidespeicher) in Olveiroa
        Und immer wieder dieser grottenhässliche Eukalyptuswald. Profitorientiert hat man sich für eine schnellwachsende Sorte entschieden. Alles muss schnell gehen: Kahlschlag, mit dem Bulldozer drüber, Setzlinge pflanzen, höchstens zwei Dekaden warten, dann Ernte. Über grünem Farn schießen dünne Stämmchen in den Himmel. Die alte, abgeworfene Rinde hängt wie Hautfetzen am Baum, sammelt sich in den Astgabeln, bildet um die Wurzeln wirre Knäuel. Trauerflor, Baumfriedhof, Wälder nach der Apokalypse – Eukalyptuswälder.

        Wir haben die Schnauze voll. Maria und mir hängt der Camino Finisterre zum Hals raus. Maria wollte den eh mit dem Bus machen, sollte also nicht hier sein. Mann, wir sind den Camino gegangen! Das reicht doch. Immer dieses noch weiter, noch ein Stück, noch eine Etappe. Wenn ich gestern in den Bus nach Portugal gestiegen wäre, Maria in den nach Finisterre ... ja, wenn jetzt ein Bus käme, vermutlich würden wir einsteigen. „Zwei Fahrkarten ans Kap bitte, und die für die Rückfahrt direkt auch“, dieser Satz wäre uns leicht gefallen. Ich könnte diesen Weg in drei Wochen nachholen. Und Maria steht’s bis oben, so richtig. Wir wären zu allem bereit. Aber ausgerechnet an so einem Tag gibt es keine Alternative. Wir können an Ort und Stelle weiter schmollen und versauern, nützen wird es uns nicht. Unser Klagen und Maulen wird niemand hören. Wir müssen sogar ranklotzen, wenn wir ein Bett in der Herberge haben wollen.

        Wir schaffen es mal wieder, sind sogar unter den Ersten, die ihren Rucksack auf der Mauer an der Herberge abstellen. Noch zu, sogar noch ganze 2 Stunden. Marias Laune hat sich noch keinen Deut gebessert, sie will es auch nicht. Es gibt so Tage, da gefällt man sich in seiner schlechten Laune.

        Das Refugio wird voll, so voll, dass Spätankömmlinge sich einen Schlafplatz in der Küche oder in einem der historischen Getreidespeicher suchen. Die Hospitalera schlägt die Hände überm Kopf zusammen und schaut weg. Laut Sicherheitsbestimmungen darf die Anzahl der Gäste die der Betten nicht übersteigen. Für die einzige private Unterkunft am Ort wird dieser Tag mal wieder mit einem satten Plus in der Kasse enden. Der geschäftstüchtige Inhaber erhöht kurzerhand den Preis fürs Doppelzimmer von 40 auf 60 Euro.

        Versöhnlich klingt der Tag aus. Alle sind froh, eine Unterkunft gefunden zu haben, sogar die, die vom Hotelbetreiber übern Tisch gezogen wurden. Sogar Maria hat sich wieder beruhigt. Auch das Wetter hat sich beruhigt, jetzt da niemand mehr unterwegs ist, zeigt sich die Sonne wieder. Blauer Himmel, weiße Wolken, grünes Gras und granitgraue Steinhäuser. Galicien aus dem Reisekatalog.



        Sonntag, 25. Mai 2008 Verpönte Rituale und eine Frau geht ins Wasser
        Etappe: Olveiroa – Kap Finisterre
        Camino francés: 720 km, Camino Fisterra: 90 km
        Tageskilometer: 33 Gesamtkilometer: 810
        Unterkunft: Hostal in Fisterra


        Küste bei Estorde
        Die Augen schmerzen. Egal. Gleißend weißer Nebel umgibt uns. Lichtdurchfluteter Nebel, in dem sich schemenhaft nur die Umrisse der nahen Bäume zeigen, hat den Anfang gemacht. Später folgen die von Windrädern gekrönten Kämme der Höhenzüge und endlich der strahlend blaue Himmel. Das ist Spanien, genau deshalb sind wir hier. Kälte, Regen, Dunkelheit haben wir nicht gesucht, in den vergangenen Wochen aber jeden Tag vorgefunden. Ist das die Wende im Wettergeschehen, so nah an der großen Wetterküche auf dem offenen Atlantik?

        Es tut gut, mal wieder ohne Regenjacke zu gehen, unterm Rucksack zu schwitzen, bei Anstiegen den Schweiß aus den Augen zu wischen. Es tut auch gut, wieder weiter als bis zur nächsten Regenfront schauen zu können. Wir wollen das Meer sehen. Auf jeder neuen Anhöhe halten wir Ausschau. Es dauert, das Meer will nicht. So lange sind wir schon unterwegs und dann will dieser Atlantik einfach nicht. Vorbei an einem stinkenden Kalk- und Zementwerk, einem Kirchlein in gottverlassener Heidelandschaft und schon wieder führt uns ein Weg zu einer Anhöhe hinauf. Und wieder, wie so oft heute Morgen, suchen die Augen den Horizont ab, tasten sich der vermuteten Küstenlinie entlang.
        Ja! Das ist die Küste. Kaum wahrnehmbar hebt sich der graue Atlantik vom dunstigen Horizont ab. Wieder ein Schlenker, erneut eine Kuppe und schon ist das Meer unseren Blicken entschwunden.
        Beim Abstieg nach Cee kann er nicht mehr davonlaufen. Nun gehört der Atlantik uns. Stahlblau schiebt sich sein Wasser ins Land hinein, prallt gegen die Felsen zerklüfteter Buchten, läuft müde auf dem Sand der menschenleeren Strände aus. Wir werden ihn nicht mehr loslassen, vielleicht kurz aus den Augen verlieren, ab nun wird er uns begleiten.

        Raus aus Cee, über die Promenade hinüber nach Corcubión. Eine neue Anhöhe, eine Bucht, eine Wiese, ein paar Häuser, ein Sandstrand, darüber ein Hostal mit einer Terrasse unter Palmen, das ist die Playa de Estorde. Wasser, Sonne, Sand und blauer Himmel – Urlaub.
        Zwei Gäste, Maria und ich. Zwei Riesenpötte Kaffee. Schön ist es hier. Übern Strand tollt ein Hund, das ablaufende Wasser zeichnet Rinnsale in den Sand, ein Mann zieht übern Strand. Eimer, Stiefel und Handschuhe weisen ihn als Krebssammler aus. Noch zwei Riesenpötte Kaffee. Noch ein wenig Urlaub. Unsere Pause fällt länger aus als üblich. Maria will an den Strand, will sogar ins Wasser. Ich nicht. Ich treibe zum Aufbruch, das soll endlich ein Ende haben. Die eintreffenden Gäste einer Familienfeier geben den entscheidenden Anstoß. Noch immer sind es 7 Kilometer bis Fisterra, noch mal 3 bis zum Kap.

        Dann stehen wir endlich am Strand der geschwungenen Bucht, die bis nach Fisterra hinüber reicht. Ein Pfad hat uns hierher geführt. Endlos sind die letzten Meter bis zum Dorf, durchs Dorf und dann stehen wir vor der Herberge. Noch zu, dass wussten wir vorher. Angeblich kann man seinen Rucksack hier abstellen um sich die letzen Meter bis an das Ende der Welt nicht mehr so schwer zu machen. Die Tür ist zu, bleibt zu. Weiterziehen. Wir nehmen die Rucksäcke mit. Alles andere wäre ein Stilbruch.




        Kilometer 0,00 - Das Ende der Welt
        Ein Sträßchen führt uns sachte aber stetig hinauf zum Granitsporn mit dem Leuchtturm. Das Sträßchen ist gerade so steil, dass man mehr mit dem Gehen beschäftigt ist als mit dem Ankommen. Für Maria sind es die letzen Schritte von mehr als 1.000.000 seit Saint-Jean-Pied-de-Port jenseits der Pyrenäen.
        Und dann ist alles wie angekündigt: ein Reisebus, eine Nippesbude, das Restaurant, der Leuchtturm, der Nullstein, ein paar Touristen, die Feuerstellen wo die Pilger eines ihrer Kleidungsstücke verbrennen. Ein Schuh aus Bronze steht ganz vorne auf den Steinen. Das Ende der Welt, ein Schuh aus Bronze, sonst nichts?

        Maria freut sich, will sogar ein Kleidungsstück verbrennen. Ist nichts draus geworden. Wir haben kein Feuer, auch weht der Wind viel zu stark. Ja, Maria freut sich, mehr ist es nicht, mehr zeigt sie jedenfalls nicht. Vermutlich ist die Erinnerung an ihre Ankunft in Santiago noch zu frisch.

        Und ich? Ich werd’ es nie lernen. Ja, ich bin da. Und, was soll’s! Außerdem bin ich noch lange nicht am Ende meiner Wanderung angekommen. Keine Rituale? Keine Klamotten verbrennen? Die werden noch gebraucht. Nicht zusehen, wie die Sonne im Atlantik untergeht? Wie auf Bestellung hat sich die Sonne bei unserer Ankunft hinter einer dichten Wolkendecke unsichtbar gemacht. Zudem ist es noch viel zu früh für den Sonnenuntergang. Das obligatorische Bad im Atlantik wird das auch gestrichen? Natürlich. Es ist erst Mai, quasi noch Winter. Die Südländer wissen schon, weshalb sie nicht vor Juli ins Meer gehen.

        Viel mehr als all die Rituale, die man hier befolgen soll, ja, mehr als die Ankunft, bringt der Nullstein in mir eine Saite zum Klingen. 0,00 K.M. steht auf einem kleinen Messingschild. Umdrehen und wieder zurück? Alles wieder zurück? Nicht wochenlanges Pilgern, diesmal monatelanges Wandern nach Osten bis an die Küsten eines fremden Meeres. Hier endet nicht der Camino Francés, das ist nur das Ende des Camino Fisterra. Hier endet aber auch der Europäische Fernwanderweg E3, oder er fängt hier an. Wie man will. Kein Schild, kein Hinweis, nichts weist hier am Ende der Welt darauf hin. Für mich würde hier ein neuer Weg anfangen. Einfach umdrehen und losgehen mit dem Atlantik im Rücken. Mehr als 8.000 km durch 10 Länder, zum Schluss ein unbekanntes Meer, das Schwarze Meer. Gibt es dort hinten auch ein Ende der Welt? Und wenn ja, wie sieht es aus? Mal sehen, wie lange der Nachhall der Saite anhält.

        Maria will ins Wasser. Unbedingt. Dafür hat die Frau über 900 Kilometer einen Badeanzug im Rucksack mitgeschleppt. Am Dorfstrand springt sie in die winterkalten Fluten des Atlantiks, dreht ein paar Runden, taucht zwischendurch ab und bekommt so nicht mit, dass die Besucher des nahen Restaurants applaudierend hinter den Scheiben stehen.
        Zuletzt geändert von Werner Hohn; 04.01.2022, 18:29.
        .

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        • paddel
          Fuchs
          • 25.04.2007
          • 1864
          • Privat

          • Meine Reisen

          #64
          AW: [PT, ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

          Wie immer, sehr schön und anschaulich.

          Kompliment an Maria, für den mutigen Sprung ins kalte Naß!

          Einfach umdrehen und losgehen mit dem Atlantik im Rücken. Mehr als 8.000 km durch 10 Länder, zum Schluss ein unbekanntes Meer, das Schwarze Meer. Gibt es dort hinten auch ein Ende der Welt? Und wenn ja, wie sieht es aus? Mal sehen, wie lange der Nachhall der Saite anhält
          Alleine beim Lesen spürte ich schon ein kribbeln im Magen

          Freue mich jetzt schon auf die Fortsetzung!
          Froh schlägt das Herz im Reisekittel,
          vorausgesetzt man hat die Mittel.

          W.Busch

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          • Asparagus
            Erfahren
            • 08.11.2008
            • 377
            • Privat

            • Meine Reisen

            #65
            AW: [PT, ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

            Ein phantastischer Bericht! Ich habe erst letzte Woche Hape Kerkelings Buch gelesen und war recht begeistert davon; aber dein Bericht ist einfach toll und noch schöner! Ich habe vor Rührung regelrecht Gänsehaut und feuchte Augen bekommen...

            Danke! Und: bitte, schreib weiter!
            "Es gibt keine großen Entdeckungen und Fortschritte, solange es noch ein unglückliches Kind auf Erden gibt."
            "Zwei Dinge sind unendlich: das Universum und die menschliche Dummheit. Aber beim Universum bin ich mir nicht ganz sicher." (beide Albert Einstein)

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            • Werner Hohn
              Freak
              Liebt das Forum
              • 05.08.2005
              • 10870
              • Privat

              • Meine Reisen

              #66
              AW: [PT][ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

              Spanisch-portugiesisches Zwischenspiel
              Montag, 26. Mai 2008: Wir sind genug gewandert, gepilgert, gelaufen und gerannt. Für die Rückfahrt nach Santiago nehmen Maria und ich den Bus, und zwar den ersten. So wie wir denken jede Menge andere auch, denn schon in Fisterra füllt sich der Bus mehr als zur Hälfte. Es gibt ganz wenig Hartgesottene, vermutlich haben die auch zuviel Zeit, die denselben Weg wieder zurück gehen. Muss nicht sein.
              In Santiago laufen Maria und ich prompt in die Fänge einer alten Frau, die uns ein Zimmer vermieten will. So ein altes spanisches Mütterchen hat bestimmt besseres im Sinn als zwei im Augenblick zur Bequemlichkeit neigenden Wanderern ein überteuertes Zimmer aufzuschwatzen. Doch, genau danach steht ihr der Sinn! Blöd, als wären wir noch nie in Santiago gewesen, laufen wir in ihre Falle. Kalt, leicht feucht, ein „Fenster“ aus 6 Glasbausteinen, eine Gemeinschaftsdusche auf dem Flur, das alles für 30 Euro die Nacht pro Person. Auf den südländischen Brauch des Handelns und Feilschens lässt sie sich nicht ein. Warum auch? Was soll’s. Ich steige am nächsten Morgen in den Bus nach Porto und Maria einen Tag später in den Bus nach Deutschland.

              Dienstag, 27. Mai 2008: Abschiednehmen mag ich überhaupt nicht. Maria ist mit zum Busbahnhof gegangen und da drücken wir uns rum, bis mein Bus endlich abfährt. Einmal drücken, ein paar flapsige Sprüche hinterher und weg. Abschiede ...
              Nach 3 Stunden bin ich in Porto, der Stadt am Douro, der hier in den Atlantik mündet.

              Keine 2 Tage bleiben mir für Porto. Diese knappe Zeit werde ich auf keinen Fall mit stundenlangem Suchen nach einem billigen Zimmer vergeuden. In den letzten 5 Wochen habe ich so preiswert gelebt, da darf es zur Not auch etwas mehr sein. 34 Euro will das erste Hotel, ist aber angeblich komplett belegt. Ich soll ein Haus weiter gehen, dort habe die Hotelkette noch ein Haus, allerdings mit 3 Sternen und ein gutes Stück teuer sei es dort auch. Nein, auch hier ist alles voll. Auch hier bekomme ich den Tipp, ein Haus weiter zu gehen. Die Hotelkette ... allerdings haben die dort noch einen Stern mehr, und billig sei es dort auch nicht. Ah, schon mal gehört.

              Nach wochenlangem Wandern nimmt man schon mal das Äußere eines Vagabunden an. Bei mir ist das immer so. Die Wäsche hat über lange Wochen nur Handwäsche erleben dürfen, der Bart wird unterwegs nicht geschnitten, die Schuhe sind staubig und die Flecken am Rucksack passen auch nicht so richtig zur Rezeption eines 4-Sterne Hotels.

              Die beiden Damen hinterm granitverkleideten und messingglänzenden Tresen erklären mir ohne eine Miene zu verziehen, ihr Haus sei komplett belegt. Das sei bedauerlich, aber leider nicht zu ändern, meint die Jüngere, fügt aber hinzu, dass man in den Etagen 12 bis 14 ein paar größere und noch besser ausgestattete Zimmer hat, da wäre noch etwas frei. Preislich würden die wohl nicht zu meinen Vorstellungen passen. Wenn die wüsste, was ich mir so alles vorstellen kann. Wenig später stehe ich in der 12. Etage am Fenster meines Zimmers und überschlage, dass ich für die kommenden 2 Nächte mehr zahlen muss, als für alle Übernachtungen der letzten Wochen zusammen. Bei durchschnittlich 5 Euro für die Herbergen ist das aber kein Kunststück. Morgen sehe ich nach 5 Wochen meine Frau wieder, kann man das mit Geld verrechnen?

              Die Altstadt Portos ist wunderschön. Leider ist es die morbide Schönheit des Verfalls. Viele Häuser, ganze Zeilen und Straßenzüge sehen aus, als würden sie beim Vorbeirumpeln der Touristenbusse in sich zusammenfallen. Notdürftig verdecken tennisplatzgroße Planen die schlimmsten Ruinen oder kündigen von baldiger Renovierung. Für Prestigeobjekte, für oft wunderschöne moderne Bauten, wurde in den vergangenen Jahren viel Geld ausgegeben, Geld, welches gut sichtbar in den Stadtkernen fehlt. Erst jetzt entdecken die Portugiesen den Wert ihrer historischen Innenstädte und den Geschichten darin.

              Mittwoch, 28. Mai 2008: Meine Frau ist da! Morgen geht es los. Direkt am Anfang mit 36 Kilometer, direkt mit den beschissensten Kilometern der 235, die uns von Santiago de Compostela trennen. Meine Frau wird es angehen wie immer: kein Training, ein Uraltrucksack, in dem eine bleischwere Schwarte für abendliche Lesestunden steckt und dem Willen, das alles zu einem Ende zu bringen. Die macht das immer so. Planen, trainieren, vorbereiten? Alles Blödsinn, Männerkram.
              Zuletzt geändert von Werner Hohn; 01.01.2016, 12:12. Grund: Die finale Runde?
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              Kommentar


              • Werner Hohn
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                • 05.08.2005
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                #67
                AW: [PT][ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

                Caminho Português – Endlich Urlaub

                Donnerstag, 29. Mai 2008 Na ja, immerhin ein Anfang
                Etappe: Porto - Rates
                Camino Francés: 720 km, Camino Fisterra: 90 km, Caminho Português: 36 km
                Tageskilometer: 36 Gesamtkilometer: 846
                Unterkunft: Gemeindeherberge in Rates


                Unter Weinreben // Etwas knapp
                Meter summieren sich zu Kilometern, Minuten zu Stunden. Nur langsam lichten sich die geschlossenen Häuserzeilen der Vorstädte, machen Platz für ein klein wenig offenes Land. Platz und Raum für flüchtige Blicke auf brachliegende Äcker, in deren Furchen sich der Müll sammelt; auf Bauruinen, die von rostigen Gerüsten umklammert werden; Platz für wirr und planlos in die Stadt laufende Hochspannungsleitungen. Porto will nicht enden.

                Wir sind alleine unterwegs. Sollte es noch andere Wanderer hierher verschlagen haben, bedienen die sich bestimmt einer der vielen Buslinien, die nach Norden aus der Stadt rausführen. Wir nicht, auf keinen Fall. Wir nehmen handtuchbreite Seitenstreifen, schmale Bürgersteige, schäbige Industriewege und Asphalt, Asphalt, Asphalt.
                Noch ein paar hässliche Industriegebiete mit noch hässlicheren Blech- und Betonhallen, mit ausufernden Schrottplätzen und kleinen Bars, vor deren Türen staubige rote Plastikstühle um Gäste werben. Weiter, weiter. Die Kilometer entlang der Einfallstraßen wollen nicht enden. Straßen, über die unaufhörlich Autos in die Stadt rollen, die sich hinter den langsamen Traktoren, den stinkenden Mofas kurz aufstauen, um bei freier Fahrt hektisch den Weg fortzusetzen. Hier draußen, im industriellen Speckgürtel, ist Porto austauschbar. Irgendwo in Europa muss ein Masterplan mit Gestaltungsvorschlägen für hässliche Stadtränder die Runde machen. Porto hat zugegriffen, zweifellos.

                Porto ist zäh, unglaublich zäh. So schnell gibt die Stadt den Weg nicht frei. Noch eine Industrieansiedlung, noch eine Kreuzung mit einer Ampel, noch ein Autohaus, dann endlich: die geteerte Straße geht in ein kleines Kopfsteinpflastersträßchen über, wir sind raus, haben es geschafft, Porto liegt hinter uns. Dass wir uns dabei einmal verlaufen haben, war dank der spanischen Wegbeschreibung kein Problem. Immerhin war es abseits etwas ruhiger.

                In Araújo ist das passiert. Auf einer Steinbank vor dem Kirchlein saßen zwei spanische Pilger, die in die Blasenpflege vertieft waren. Auf diesem Weg kann man nicht grußlos vorbeilaufen. Woher? Oh, in Lissabon gestartet. Wohin? Das hängt von den Blasen ab, wohl nicht mehr weit. Wie lange schon? Nicht ganz 4 Wochen, man lässt sich Zeit.
                Kurz vor uns sollen zwei Deutsche sein, wenn wir uns beeilen, würden wir die einholen. Wollen wir das? Ja, und dann haben wir uns eben verlaufen und dabei unbemerkt unsere Landsleute überholt.

                Die haben uns dann während der Kaffeepause wieder eingeholt. Meine Güte, die Welt ist klein. Die beiden Rentner kommen aus unserer Heimat. Später überholen wir noch zwei Deutsche, die kommen aus dem Pott. Dann zwei Frauen, die eine aus Frankreich, die andere aus Deutschland. Noch später eine Dreiergruppe, auch aus Deutschland. Wir alle sind heute in Porto gestartet, aber nur meine Frau und ich haben den Weg aus der Stadt zu Fuß gemacht. Der Weg der Deutschen? Wollen wir das überhaupt? Gemeinsam Unterwegs sein in einem fremden Land, aber mit unseren Landsleuten? Wir gehen zwar nicht zusammen, werden jedoch vermutlich jeden Abend in den Unterkünften immer wieder auf dieselben Leute treffen. Auf diesem Weg ist das anderes als auf dem Camino Francés, hier sind so wenige unterwegs, da kann man sich nicht aus dem Weg gehen. Trotz aller Sympathien, trifft das wirklich unsere Vorstellungen?

                Ruhiger, „landschaftlicher“, schöner wird der Weg, je weiter wir Porto hinter uns lassen. Kopfsteinpflastersträßchen lösen sich mit Feldwegen ab. Immer öfter wandern wir durch Weinberge, gelegentlich auch unter Weinreben. Landschaftsbilder für den Prospekt einer Weinkellerei. Grüne, hochaufschießende Weinreben hangeln sich am Draht entlang und bilden ein Dach, das von grob behauenen Granitpfählen getragen wird. Verstreut namenlose Dörfer, die sich meist nicht weit von der Durchgangsstraße wegtrauen.

                Wenn nur nicht dieser unselige Hang der Südländer zum Einzäunen und Ummauern des Eigenen wäre. Was mein ist, da kommt eine Mauer drum. Wenn’s zu groß ist, oder das Geld zu knapp, dann wenigsten ein Zaun. Wir finden das zum Kotzten. Immer und immer wieder müssen wir auf schmale Straßen, die beidseits von Steinmauern begrenzt werden. Wir sind schon glücklich, wenn noch Platz für einen Graben gelassen wurde. Besonders in den vielen nicht einsehbaren Kurven stehen wir mehr als einmal im Graben oder pressen uns dicht an die Mauer.

                Versöhnlich zeigt sich der Abschluss. Eine kleinteilige Ackerlandschaft aus sanften mit Wein und Wald bewachsen Hügeln, Wiesen und Feldern nimmt den Camino auf. Endlich kein Verkehr, keine Mauer, kein Asphalt. Und endlich mal wieder eine Herberge. Nach 4 Nächten im Hotel und Privatzimmern habe die Herbergen vermisst.

                Wie erwartet treffen nach und nach alle ein, die wir auf dem Weg getroffen haben. Nur das deutsch-französische Pärchen und die zwei Spanier mit den Blasen sind nicht gekommen. Dafür ein spanisches Ehepaar aus den Pyrenäen. Die beiden haben in Coimbra, der alten Universitätsstadt, angefangen und freuen sich, dass sie jemand zum Reden gefunden haben. Er jedenfalls.

                Bis spät in die Nacht sitze ich mit den zwei Rheinländern aus meiner Heimat in der Küche und palavere. Das Rheinland in Bestform. Geschichten, Erzählungen, Erlebnisse mit einem Augenzwinkern. Geschichten, die so richtig wahr nur zwischen den Zeilen sind. Das wohlige Gefühl von Heimat macht sich breit. Bin ich, sind wir dafür bis an den Rand Europas gereist? Morgen müssen wir darüber reden, meine Frau und ich.

                Die liegt schon lange im Bett. Es ist ihre erste Pilgerunterkunft. Das Bett ist ein altes Stockbett aus einer portugiesischen Armeekaserne. Etwas schmal und für die, die oben schlafen, etwas wackelig. Meine Frau hat den Tag klaglos überstanden. Nicht nur den Regen, der uns unter ein schützendes Vordach in Arcos gejagt hat, das innerhalb einer Viertelstunde in den Wassermassen versank. Auch die 36 Kilometer, die tatsächlich nicht zu den schönsten gehören – jedenfalls nicht die ersten –, hat sie klaglos überstanden. Frauen können das besser als Männer. Vermutlich.

                Freitag, 30. Mai 2008 Im 190er Land
                Etappe: Rates – Barcelos
                Camino Francés: 720 km, Camino Fisterra: 90 km, Caminho Português: 52 km
                Tageskilometer: 16 Gesamtkilometer: 862
                Unterkunft: Hotel


                Bei Pereira, Barcelos
                Die junge Frau hinter der Glastheke der Bäckerei ist total überfordert, denn neben den Einheimischen haben sich die Gäste der Herberge für den morgendlichen Kaffee hier eingefunden. Nach und nach haben sich alle durch die klemmende Tür gequetscht und warten nur auf ihren Kaffee, ihr Brot oder darauf, überhaupt ihre Bestellung aufgeben zu können. Massenandrang, Stau, verursacht durch uns. Neun Menschen die ihren Kaffee mit Milch haben wollen, Menschen, die sich nicht auf den landesüblichen Kaffee, also schwarz, einstellen wollen. Neunmal wandern die Tassen unter die Milchdüse. Neunmal schäumt die heiße Milch mit gurgelndem, zischendem Geräusch in die Tassen. Neunmal wird die Milchdüse abgeputzt. Neunmal wandert die Frau von der Kaffeetheke zur Brottheke und gibt das Wechselgeld raus. Es staut sich, die ersten Stammgäste fangen an mit dem Kopf zu schütteln. Nicht über die junge Frau, über uns, über die Deutschen, die ihren Kaffee immer mit Milch haben wollen.

                Sie müsste nur ein ganz klein wenig ihren Arbeitsablauf umstellen, etwa zwei Tassen gleichzeitig unter den Kaffeeauslauf stellen, und schon würde es laufen. Das hat sie noch nie gemacht, jeder kann das sehen, das wird sie auch nie machen. Wenn die Deutschen mehr Effizienz wollen, sollen sie den Kaffee schwarz trinken. Für die paar Touristen wird sie ihr Leben nicht umstellen. Sobald der letzte Drängler die Tür von außen hinter sich zugezogen hat, geht hier alles wieder seinen gewohnten Gang. Der Fernseher wird endlos laufen, die ein, zwei Gäste an der Theke werden diesem ihren Rücken zukehren und im längst erkalteten Kaffeesatz rühren.

                Hier gehen die Uhren anderes, langsamer, trotz der immer noch nahen Industriestadt Porto, trotz EU und trotz moderner Architektur, die hie und da vom Anbruch der hektischen Zeit kündigt. An diesem Morgen kommt uns das sehr entgegen. Wir wollen nur bis ins nahe Städtchen Barcelos. Im Vergleich zum vergangen Tag ist das mal eben um die Ecke. Wir müssen nicht eilen, können uns Zeit lassen. Anhalten für Bilder und Eindrücke, die wir nur aus alten Filmen und verblassenden Fotos kennen.

                Auf einer Wiese wird mit einem hölzernen Rechen das Gras zu niedrigen Heuhaufen geschichtet. Auf dem nächsten Acker ein Bild aus der Frühzeit des landwirtschaftlichen Maschineneinsatzes. Beaufsichtigt von einem alten Bauer, schieben Männer vorsintflutliche Sägeräte übers Feld. Immer nur eine Furche, immer wenn der metallene Sporn des Särads den Boden berührt, fällt ein Korn. Fünfzig Meter das Feld runter, fünfzig Meter wieder zurück, dann muss nachgefüllt werden. Bilder aus längst vergangenen Zeiten werden hier lebendig.

                Die Männer sind mit dem Fahrrad fekommen, einer mit dem alten Moped, das am Feldrand steht. Nur der alte Bauer ist mit dem Auto aufs Feld gefahren. 190 E leuchtet es chromblitzend von der Heckklappe. Mindestens 20 Jahre hat der Wagen auf dem Blech und er ist erstaunlich gut erhalten. Man sieht diese Autos im nördlichen Portugal oft. Autos, die viele für den letzten echten Mercedes halten. Autos, die bis ans Ende der Zeit fahren werden. Bei uns will so was keiner mehr. Nicht zeitgemäß, Technik aus dem letzten Jahrtausend, nicht schnell genug, eben alt. In diese Landschaft passt der 190er. Wer weiß schon, wie die Autos alle hierhin gekommen sind. Gastarbeiter haben sich so was oft zugelegt, bevor sie Deutschland für immer den Rücken gekehrt haben. Was damals modern und auffällig war, wirkt heute wie mit der Landschaft verwachsen. Neuerungen, Veränderungen, Hektik, so scheint es, prallen von diesem Landstrich ab. Wenn, dann geht es langsam voran, auch dafür steht der alte Mercedes.

                Mittags sind wir schon in Barcelos. Massig Zeit für ein kleines Städtchen, das sich herausgeputzt hat und auf kleine Großstadt macht. Abseits der Hauptstraße und der kurzen Fußgängerzone ist die Kleinstadt wie das umgebende Land. Ruhig und am Bestehenden festhaltend, sogar in den Neubauvierteln. Die massive festungsartige Mauer, die den mittelalterlichen Palast dos Condes vor dem Abstürzen in den Fluss Cávado bewahrt, hatte das schon beim Betreten der Stadt angekündigt: Wenn Veränderungen, dann behutsam. Das scheint auch das heimliche Motto der Partido Comunista Português zu sein. Im gepflegten Parteibüro mit angrenzender Bar für die Mitglieder sehen wir nur alte Menschen. Alte, die sich vermutlich noch lebhaft an die Diktatur Salazars und die Nelkenrevolution 1974 erinnern können. Jüngere sehen wir in den Geschäften der Fußgängerzone und auf dem großen Parkplatz, der für all die neuen Autos zu klein ist.

                Samstag, 31. Mai 2008 Ein Tag auf dem Land
                Etappe: Barcelos – Ponte de Lima
                Camino Francés: 720 km, Camino Fisterra: 90 km, Caminho Português: 85 km
                Tageskilometer: 33 Gesamtkilometer: 895
                Unterkunft: Jugendherberge


                Weinland
                Barcelos schläft noch, als die Hoteltür hinter uns ins Schloss fällt. Nur die Männer der Stadtreinigung sind schon bei der Arbeit. Wir sind früh gestartet, so früh, dass die Hotelküche noch nicht mal einen Kaffee für uns hat. Das lässt sich verschmerzen, denn Bars werden wir sicherlich genug vorfinden. Viel schmerzhafter als der fehlende morgendlich Kaffee wird die Sonne werden. Am Freitag hat das Wetter sich endlich daran erinnert, dass hier Südeuropa ist. Dass ich ein Fläschchen Sonnencreme schon viele hundert Kilometer in den Tiefen des Rucksacks mitschleppe, hatte ich beinahe vergessen. Urlaubswetter wie aus dem Bilderbuch.

                Wetter für einen Ausflug aufs Land. Hügelig, fast schon bergig ist es um uns herum geworden. Grün ist die alles dominierende Farbe. Ackerbraune Felder und granitgraue Bauernhöfe drängen sich hie und da zwischen das leuchtende Grün der Weinberge und Wiesen. Zwischen moosbewachsener Steinmauer und dem unter hohen Gras kaum wahrnehmbaren Bachlauf, verengt sich der Weg zu einem schmalen Pfad, kommt bei den niedrigen alten Häusern eines namenlosen Weilers auf eine kurvige Dorfstraße, macht einen Bogen um den Dorfbrunnen, der schon lange kein Wasser mehr führt, und verschwindet am Ortsende im Wald, senkt sich in eine flache Senke, um nach einer kurzen Steigung in einem weiten Tal auszulaufen. Staubige Feldwege führen zu einem Brückchen aus dem Mittelalter. An der Brücke hat das Wasser einen kleinen Strand geschaffen. Schutzlos der Sonne ausgeliefert, flimmert die Hitze über dem Sand. Ein alter Mann mit Eimer und Angel sucht sich einen Platz im hohen Schilf des hier träge dahinfliesenden Rio Neiva. Das Tal ist etwas breiter geworden, nicht viel, aber die sonst so nahen Hügel sind nicht mehr so nah, wirken nicht mehr so hoch. Hinter der nächsten Biegung verschwindet der Weg erneut zwischen Weinbergen, wieder zwischen Granitpfählen, die ein grünes Dach aus Weinlaub tragen. In der Ferne schiebt sich ein weißer Kirchturm ins Bild, verschwindet nach ein paar Schritten wieder und ist plötzlich wieder da. Um dem Kirchplatz gruppieren sich schattenspendende Bäume, fordern steinerne Bänke zur Pause auf. Eiskalt ist der Stein.


                Auf dem Weg zur Arbeit
                Noch mal ein Feldweg, in dessen breite Furchen die alten Feldbegrenzungsmauern zu stürzen scheinen. An einem verwitterten Kreuz blühen Plastikblumen um die Wette. In einer Hofeinfahrt trocknet Heu auf hohen Holzgestellen. Drei alte Frauen biegen mit einem Ochsenkarren um die Ecke. Laut schwatzend und fröhlich winkend setzen sie ihren Weg aufs Feld fort. Ein vergessener Heimatfilm, Anno 1960.

                Ponte de Lima zehrt von den alten Geschichten, von Mauern und Steinen. Völlig unspektakulär, unaufgeregt ist das Städtchen. Eigentlich ist das ein großes Dorf. Doch wer auf eine Vergangenheit, die schon vor dem Jahre Null fußt, schauen kann, darf sich Stadt nennen. Restauriert, aufgeräumt, gefegt und geputzt drängen sich die alten Häuser um den Hügel, auf dem der Palast Paço do Marquês hoch über dem Fluss thront. Spannend hat die Neuzeit ihren Einzug ins mittelalterliche Stadtbild gestaltet: Ein wuchtiger und doch lichtdurchfluteter Betonkubus hat sich eine Bresche geschlagen und schwebt nun federleicht über den Pflastersteinen der alten Straße.


                Ponte de Lima: Paço do Marquêst // Die neue Zeit
                In Ponte de Lima gibt es, wie gestern in Barcelos, keine Herberge, dafür aber eine neue moderne Jugendherberge. Im Treppenhaus kommt mir ein bekanntes Gesicht entgegen. Eine flüchtige Bekanntschaft vom Camino Francés, ein schon lange wieder namenloser Kanadier. Er geht in die umkehrte Richtung, von Santiago nach Porto. Hier geht das. Während wir den gelben Pfeilen nach Norden folgen, folgt er den blauen Pfeilen nach Süden, die erst in Fatimá, dem portugiesischem Wallfahrtsort, enden werden.
                Nach und nach treffen unsere Mitwanderer der letzten Tage ein. Bis auf eine flüchtige Begegnung in Barcelos hatten wir die nicht mehr getroffen. Mangels preiswerter Alternativen ist die Jugendherberge einer dieser Sammelpunkte, an denen sich alle wiedersehen.

                Sonntag, 1. Juni 2008 Notlügen
                Etappe: Ponte de Lima - Rubiães
                Camino Francés: 720 km, Camino Fisterra: 90 km, Caminho Português: 103 km
                Tageskilometer: 18 Gesamtkilometer: 913
                Unterkunft: Herberge


                Der Vorsprung wird schmelzen // Franzosenkreuz unterhalb des „Alto da Portela Grande“
                Ein bisschen verlaufen haben wir uns an diesem Morgen, nicht viel, aber immerhin so viel, dass wir, eigentlich nur meine Frau, von den Gedanken an das, was uns nachher noch bevorstehen wird, abgelenkt werden. Ein Straßenköter begleitet uns eine ganze Zeit. Er gehört zu der Sorte, die mit herzerweichendem Blick um Fressen betteln oder nur mal so mitlaufen. Ob Hunde Langeweile kennen? Für uns sind das wieder ein paar Minuten die ablenken.

                Dann ist es soweit. An einer Bushaltestelle biegen wir ab, verlassen, die ebene Landstraße. Endlich! Darauf habe ich seit Tagen gewartet, denn seit unserm Start in Porto blamiere ich mich jeden Tag aufs Neue. Wochen bin ich schon unterwegs, hunderte Kilometer zu Fuß liegen hinter mir, mein Rucksack ist so leicht wie noch nie, und trotzdem deklassiert mich meine Frau immer wieder jeden Tag neu. Wie ein Anfänger dem jede Kondition fehlt, hechele ich hinter ihr her. Der kurze Stopp für ein Foto sollte wirklich kurz sein, sonst ist sie weg. Eben mal in die Büsche pinkeln und dabei einen Blick über die Landschaft werfen? Lieber nicht, ich könnt sie verlieren. So geht das nun seit Tagen, es ist wirklich blamabel. Sie braucht nur ihren Kaffee in einer Bar und dann läuft sie ununterbrochen. Etwa 5 Stunden geht das so, dann kommt die Frage, ob ich denn heute wieder keine Pause machen will, natürlich im vorwurfsvollen Ton.

                In der Ebene, im Flachland, im leicht welligen Hügelland der letzten Tage ist meine Frau unschlagbar. Aber wehe es kommen Steigungen. Heute kommt eine. Und was für eine! Der steilste und längste Anstieg zwischen Porto und Santiago. Ich habe einen spanischen Wanderführer. Neben tollen Skizzen sind da Höhendiagramme drin, furchterregende Höhendiagramme. Wilde Zacken haben uns die vergangenen Tage begleitet – im Buch wohlgemerkt. Dreißig, fünfzig, hundert Meter mussten wir rauf, zwanzig, vierzig, hundert Meter wieder runter. Höher als 200 Meter waren wir bis jetzt noch nie, und doch zeigt das Buch Höhendiagramme, die an eine Alpenüberquerung denken lassen.

                Heute müssen wir von Meereshöhe auf 400 Meter rauf, aufs „Dach des Caminos“, wie es im spanischen Buch beschrieben wird. Das Höhendiagramm ist grauenvoll: fast senkrecht steigt die rote Linie vom Weiler Arco zum „Alto da Portela Grande“ hinauf. Wer das Diagramm sieht ist geneigt Seil und Haken einzupacken. Meine Frau kennt das Diagramm, sie weiß auch, dass das Kommende nichts anderes ist, als zweimal aus unserer Haustür raus und auf den Hügel dahinter. Mehr nicht.

                Ja, dann geht es links in den „Berg“. Bald wird aus dem Asphaltsträßchen ein gepflastert Weg. Noch mal unter Weinlaub durch, wir sind auf einem Waldweg. Unten rauscht ein Bach, links und rechts am Wegrand steht mannshohes Farn, von weitem höheren wir Kirchenlieder aus Lautsprechern. Schon den ganzen Morgen begleiteten uns die Kirchenlieder. Vermutlich bewegt sich eine Prozession durch die kleinen Dörfer am gegenüberliegendem Hang. Nochmals ein kurzes Stück ebener Weg. Die Lieder verstummen, auf einem Stein im hohen Farn leuchtet ein gelber Pfeil, es geht richtig los, will sagen, es wird steiler.

                Ein schmaler Pfad führt steil nach oben. Rutschig ist der Pfad. Die ausgetretene Spur ist sandig. Das Regenwasser hat eine tiefe Rinne hinterlassen, in der große graue Steine unseren Füßen Halt geben. Schon lange bin ich vorne. Meine Frau bleibt zurück, und es beginnt das seit Jahren eingeübte Spiel. „Du musst nicht warten, geh’ schon mal vor“, damit fängt es immer an. Gemacht habe ich das noch nie, wer weiß wie das endet. Später dann: „Können wir nicht wie andere auch, einen Faulenzerurlaub am Strand machen?“ Das ist schon deutlich gepresster. Nach mehreren Stopps kommt die alles entscheidende Frage: „Wie weit ist es noch bis oben?“ Das ist der kritische Punkt. Wenn’s noch was dauert bis „oben“, will sie belogen werden. Meine Frau bestreitet das vehement, aber das ist nur gekränkter Ehrgeiz. Ich laufe dann schon mal ein paar Schritte vor und berichte, dass der Weg flacher wird oder das ich durch die Bäume die Anhöhe sehen kann. Das muss nicht die Wahrheit sein, doch es hilft ungemein. Meine Frau weiß, dass sie an Steigungen von mir belogen wird, sie will das auch so, all ihrer Widerrede zum Trotz. Notlügen an Steigungen sind meine Spezialität, vielleicht kann ich irgendwann einen Nutzen daraus ziehen.

                Endlich sind wir oben, wir haben sogar eine Pilgerin überholt, und ich kann mich erneut darauf einstellen, meiner Frau hinterherzurennen. Mein Vorteil endet hier oben auf der Anhöhe. Wir müssen runter vom Hügel, die Landschaft wird welliger, dann flacher, meine Frau ist wieder auf und davon. Es gibt nur diesen einem nennenswerten Anstieg bis Santiago. Leider, leider. Ich werde mich wieder blamieren, wieder hinter ihr zurückbleiben, sollte ich nicht aufpassen.

                Montag, 2. Juni 2008 Wiederkommen?
                Etappe: Rubiães - Tui (Spanien)
                Camino Francés: 720 km, Camino Fisterra: 90 km, Caminho Português: 122 km
                Tageskilometer: 19 Gesamtkilometer: 932
                Unterkunft: Xunta-Herberge (Herberge der Regionalregierung)


                Blick zurück nach Portugal, nach Valença
                Unten im Dorf, in Rubiães, in der Bar hinter der Brücke gibt es alles. Zur Straße raus fängt sie mit einem abgenutzten kleinen Schankraum an, der sich übergangslos in einen winzigen Laden fortsetzt. Auf dem Boden stehen Säcke mit Brot, Kartoffeln und dem in diesem Land allgegenwärtigem getrocknetem Kabeljau, dem Bacalhau. Deckenhohe, ehemals weiße Regale glänzen nach all den Jahren in einem undefinierbaren cremig speckigen Farbton, der an Uromas alte Waschkommode erinnert. Bis unter die Decke reicht die gestapelte Ware. Küchenwaagen, Essbestecke, Nachtischlämpchen, Tisch- und Bettdecken, Spielsachen, Werkzeuge, Lebensmittel, Getränke und vieles mehr hofft auf Käufer. Fast alles ist noch im Originalkarton verpackt. Vom unzähligen Zeigen und Hervorholen sind die Kartons abgegriffen, rissig und die Laschen ausgerissen. Wie oft mag eines der Familiemitglieder auf die schwere Eisenstehleiter gestiegen sein, um dann das dann doch nicht Passende wieder an seinen ursprünglichen Platz zurück zulegen? Hier gibt es Dinge, die sind 20 und mehr Jahre alt. Nur mit viel Phantasie kann man von den ehemals bunten, nun sonnengebleichten Bildchen der Kartons auf deren Inhalt schließen.
                In der Luft liegt der Geruch von Seife, Käse, Wurst, Trockenfisch und Reinigungsmittel, der in Richtung Bar vom warmen Duft heißen Kaffees verdrängt wird.

                Was Laden und Bar nicht fassen, findet im Hof Platz. Stacheldraht, Dünger, Schläuche, Kartoffeln, Schubkarren, Brennholz gehen ein buntes Durcheinander ein, dessen Chaos sich vermutlich nur den Alten aus dem Laden erschließt. Ein Zaun trennt den Hof vom Bauernhof, der gehört auch noch dazu. Aus dem Stall hört man das Muhen einer Kuh, weiter hinten ist ein Schweinekoben zu sehen, Hühner mühen sich durch abgrundtiefen Morast. Wie ein Fremdkörper aus ferner Zukunft steht unter einem Vordach ein edelstahlglänzender, vor Sauberkeit blitzender Milchcontainer. EU-Vorschriften werden dem seinen Platz hier beschert haben.

                An diesem Morgen ist diese Bar der beste Platz für einen letzten Kaffee in Portugal. Noch einmal müssen wir über einen Hügel, nur 200 Meter hoch. Portugal verabschiedet sich zügig in Richtung Spanien. Der steile Abstieg vom Hügel geht nach und nach ins wellige Grenzland am Rio Mínho über, als wolle man es uns leicht machen, uns nicht mehr fordern. Portugal entlässt uns mit der Aufforderung bald wiederzukommen.

                Wir werden wiederkommen. Die wenigen Tage haben genügt, um unsere Neugier wieder zu entfachen. Nicht in den Norden, nicht auf einen markierten und beschriebenen Weg. Der Süden soll’s werden, die einsame Atlantikküste abseits bekannter Routen. Im Herbst werden wir wieder im Land sein, wollen dort wieder ansetzen, wo ich vor ein paar Wochen abgebrochen habe. Für Portugal, da sind wir uns ganz sicher, brauchen wir keine vorgeplanten Routen, keine Unterkunftslisten und auch keinen der uns führt. Es genügt, wenn man sich auf die Menschen hier einlässt. Die schauen noch hin, wenn einer mit Rucksack die Straße entlang geht, nicht direkt, aber neugierig sind sie schon, und sie helfen, wenn erforderlich.

                Wie zur Bestätigung spricht uns kurz vor der Grenze eine alte Frau an. Radebrechend, mehr mit Gesten und Mimik, kommen wir ins Gespräch. Woher? Nach Santiago? Ob wir die kleine Kirche besichten wollen? Nein, eigentlich nicht, wir sind keine Pilger. Ihr ist das egal, sie holt den Schlüssel und sperrt auf. Kann man das ablehnen? Zum Abschied schenkt sie meiner Frau ein Sträußchen bunter Frühjahrsblumen. Sie soll die Blumen bis Santiago mitnehmen.
                Minuten später treffen wir erneut auf eine alte Frau. Wieder kommen wir mit Händen und Füßen, mit ein paar Brocken Spanisch ins Gespräch. Sie hat große Wäsche und nutzt den neu errichteten öffentlichen Waschplatz. Die Wäsche hängt zum Trocknen über einem Wiesenzaun. Auch hier wieder die Fragen. Nach Santiago würde sie nicht pilgern, wenn, dann nach Fatimá. Ihr Sohn sei schon dorthin gepilgert. Vor Jahren ist das gewesen. Wir verstehen nicht viel von dem was sie redet. Dass sie stolz auf ihren Sohn ist, lässt sich trotzdem unschwer raushören. Pilgern, egal in welche Richtung, hat bei den alten Menschen hier noch einen ganz anderen Stellenwert als nördlich der Grenze.


                Tui - die Kathedrale, Festung und Kirche
                Die "Internationale Brücke", die Valença mit dem spanischen Städtchen Tui verbindet, bringt uns über den Rio Mínho nach Galicien. Einfach so, keine Kontrollen, keine Fragen, nichts. Vor Jahren hätten wir uns hier vermutlich ausweisen müssen, vielleicht wären unsere Rucksäcke durchsucht worden. Sicherlich hätten wir in einer Wechselstube die eine Landeswährung in die andere getauscht. Rituale, die heute in Europa zum Glück immer seltener werden. Heute ändert sich nur die Sprache, wenn man über die Brücke geht. Hurra, endlich verstehe ich, was die Leute sagen. Vieles, nicht alles. Es ist beinahe ein Heimkommen.

                Spanien, Galicien, das Land der Herbergen und der Caminos, und das Land der endlosen Siestas. Mittags stehen wir vor der Herberge in der menschenleeren Altstadt Tuis. Ich muss telefonieren, damit die Hospitalera kommt. Schwein gehabt. Sie zeigt uns noch ein Restaurant mit bürgerlicher spanischer Küche, dann ist aber wirklich Schluss. Siesta! Wer jetzt noch kommt muss ein paar Stunden warten. Punkt.

                Nachmittags sind unsere gelegentlichen Begleiter der vergangen Tage alle wieder da, es sind sogar noch mehr geworden. Und neue, zukünftige Begleiter haben sich eingefunden. Vier spanische Frauen beginnen hier ihren Camino. Es sind mal wieder die berühmten 100 Kilometer, die für den Erhalt der Compostela gefordert werden. Sogar ein Stückchen weiter ist es noch: 115 Kilometer trennen uns vom Pilgerbüro im Schatten der Kathedrale.

                Spät abends sitzen wir mal wieder mit unseren Landsleuten zusammen. Alle haben Zeit bis zum Rückflug. Alle wollen ab jetzt nur noch kurze Etappen gehen. Meine Frau und ich haben nun ebenfalls Zeit im Überfluss. Wir könnten trödeln, uns jede einzelne Blume am Wegrand ansehen, morgen werden wir aber eine lange Etappe gehen. 30 Kilometer und mehr. Wir brauchen ein klein wenig Abstand.

                Um 22 Uhr liegen alle in den Betten, bis auf die vier Spanierinnen. Die sitzen unten im Flur reden und lachen was das Zeug hält. Türen gibt es für jeden Raum, jedoch tragen die Wände keine Decke. Das Haus schallt wieder vom Lärm der Frauen. Die eiserne Regel der Pilgerherbergen ist uns anderen in Fleisch und Blut übergegangen: Um 22 Uhr geht das Licht aus, spätestens eine Stunde später ist Ruhe.

                Weil die meisten Pilgerherbergen der Regionalregierung keine Lichtschalter haben, es läuft alles über Automatik, Personal ist nachts auch keins da, stehe ich um 23 Uhr vor dem Verteilerkasten und schalte den Damen das Licht aus. Das ist der Vorteil, wenn man in vielen galicischen Herbergen gepennt hat: man weiß wo die Verteilerkästen hängen.
                Zuletzt geändert von Werner Hohn; 01.01.2016, 12:38. Grund: Die finale Runde?
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                • Werner Hohn
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                  • 05.08.2005
                  • 10870
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                  • Meine Reisen

                  #68
                  AW: [PT][ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

                  Dienstag, 3. Juni 2008 Camino militar
                  Etappe: Tui - Redondela
                  Camino Francés: 720 km, Camino Fisterra: 90 km, Camino Portugués: 153 km
                  Tageskilometer: 31 Gesamtkilometer: 963
                  Unterkunft: Xunta-Herberge (Herberge der Regionalregierung)


                  Hoffentlich geht sie nicht verloren // Eine Frage der Ehre?
                  Die beiden jungen Frauen sind fertig, fix und fertig. Unschwer können wir ihnen das ansehen. Beide sind in den Tarnklamotten der spanischen Armee unterwegs, beide tragen eine Pistole am Gürtel und ein Gewehr in der Hand. Komplettiert wird die Ausrüstung durch mittelgroße Rucksäcke, die nicht eben leicht aussehen.
                  Müde greift die mit den langen Haaren über die Theke am kleinen Empfang der Herberge. Sie weiß genau was sie sucht: den Stempel der Pilgerunterkunft. Die Mühe nach der Hospitalera zu suchen machen sie sich nicht. Die Frauen haben keine Zeit, denn sie sind Soldatinnen des spanischen Heeres und auf dem Weg nach Santiago de Compostela. Sie wollen die Pilgerurkunde, vermutlich werden sie dies Stück Papier wollen müssen. Den Gewaltmarsch nach Santiago konnten sie nicht ablehnen. Befehl!

                  Es ist ein Gewaltmarsch. Für die 115 Kilometer zwischen Tui und Santiago haben sie 2 Tage Zeit, so lautet die Vorgabe. Es ist schon später Nachmittag, als die Beiden mit müden Beinen das Haus verlassen. Sie müssen weiter, unbedingt. Pausieren, sich draußen auf die Bank in der Sonne setzen, das geht nicht. Ihre Gruppe ist schon weit voraus, die beiden Soldatinnen bilden die Nachhut, eine ungewollte Nachhut. Mehr als 20 Kilometer liegen noch vor ihnen. Es wird spät werden. Die Dunkelheit der Nacht wird ihre erschöpfte Ankunft im Lager überdecken. Morgen werden sie erneut losziehen, wieder 50 Kilometer, wieder getrieben von ihrer Gruppe, die vollzählig die Kathedrale erreichen will. Soldatenehre? Befehl? Frauen-können-das-auch?

                  Den ganzen Tag waren uns Soldaten und Militärfahrzeuge begegnet. Beim morgendlichen Kaffee in einer Bar am Rand des großen Industriegebiets vor Porriño tauchten die ersten auf. Der Weg bis dorthin war schön, nicht ganz so gut markiert wie in Portugal, aber schön. Viele kleine Sträßchen, ein paar Waldwege durch schattigen Wald. Zersiedeltes Land. Dass Spanien wohlhabender ist als sein kleiner Nachbar, war unübersehbar, fiel uns sofort auf. Häuser, Autos, Straßen, alles war größer, neuer, moderner. Das große Industriegebiet lag vor uns. Getreu dem Grundsatz, dass Industriegebiete zwar nicht schön sind, aber man kann da wenigsten nicht verhungern und verdursten, waren wir in der Bar gelandet.
                  Die Soldaten auch. Es waren unsere ersten. Diese mussten nicht zu Fuß gehen, keine Waffen und Rucksäcke schleppen. Fahrende Mittlere Dienstgrade in gelöster Stimmung. Da stand die Truppe: breitbeinig in polierten Stiefel, in engen gebügelten Militärhosen, die mehr zeigten als verbargen, die Arme vor der Brust verschränkt, hin und wieder, wie zufällig, eine Handbewegung zum Griff der Pistole. Spanische Machos in Reinkultur, es war ja eine Frau in der Nähe. Gezwungen ungezwungen dazwischen, die Fahrer, noch jünger, noch kein Dienstgrad.
                  Wir haben uns nichts dabei gedacht. Militär eben, mangels Feind vor der Haustür auf der Suche nach Beschäftigung.


                  Wird es Licht? // Für den eiligen Bäcker.
                  Auf der endlosen Gerade durchs Industriegebiet hatten wir die schon vergessen. Viel später erst, hinter Porriño, durch dessen Fußgängerzone wir mussten, wunderten wir uns über die vielen Jeeps und Motorräder, die mit Soldaten besetzt, uns den Weg streitig machten. Die Zeltlager und Verpflegungsstationen, die Lazarettzelte und Sanitätsfahrzeuge hatte ich noch als Übung abgetan, sogar als uns der erste Trupp Soldaten überholte. Sechs Männer in fleckiger Tarnkleidung und neongelber Warnweste, alle in voller Ausrüstung. Einer trug ein leichtes Maschinengewehr, das wohl reihum ging. Später wurden wir immer häufiger überholt. Immer 6 Leute mit leichtem Maschinengewehr. Da dämmerte der Verdacht, die sind auf dem Weg nach Santiago!

                  Jetzt, in der Herberge von Redondela wird aus dem Verdacht Tatsache. Dass die 115 Kilometer in 2 Tagen runterreißen kann ich nachvollziehen – aber mit Waffen auf einem Weg, den viele als Pilgerweg sehen?

                  Wir können uns Zeit lassen. Ab jetzt werden wir nur kurze Etappen gehen. Neue Mitwanderer haben wir auch. Eine portugiesische Studentin ist da, zwei spanische Frauen, die ob ihrer Riesenrucksäcke fix und fertig sind, die vier Frauen, die gestern Abend lautstark ihren Camino-Start gefeiert haben sind auch hier gelandet. Und Isabelle, die Französin vom ersten Tag, ist ebenfalls da. Wir sind ihr immer wieder begegnet. Schon am ersten Tag hat sie sich von ihrer deutschen Begleiterin getrennt. Auch in den Herbergen hat die Frau, die ihren Ruhestand mit Wandern verbringt, sich meist abseits gehalten. Isabelle hat es gerne ruhig, geht lieber ihren eigenen Weg. Es sieht ganz nach einem ruhigen, entspannten Abschluss aus.
                  Zuletzt geändert von Werner Hohn; 01.01.2016, 12:44. Grund: Die finale Runde?
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                  • rumtreiberin
                    Alter Hase
                    • 20.07.2007
                    • 3236

                    • Meine Reisen

                    #69
                    AW: [PT][ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

                    Schon wieder so ein klasse Bericht von dir, da macht das Lesen Spaß. Auch wenn zu Fuß wandern nicht so wirklich meins ist. Deine Beobachtungen von Land und Leuten in Spanien erinnern mich oft an meine eigenen Beobachtungen. Weitermachen!!

                    Aber ich hab da mal eine Technik-Frage. Du editierst meistens deinen letzten Post und füllst auf bis dir vermutlich die Maximalzahl an Zeichen pro Posting ein Limit setzt. Das hat für mich als Leser den Nachteil daß ich jedesmal dein letztes Posting lesen muß und schauen ob ich das wirklich schon alles kenne oder ob da was dazugekommen ist. Für mich wäre es angenehmer, wenn jede Ergänzung des Berichts auch ein neues Posting wäre, dann ist der Anschluß leichter wiederzufinden, besonders wenn man neugierig ist und keine Lust hat zu warten bis der Bericht komplett ist und dann in einer "Rutsche" zu lesen. Hat das Dranstückeln für dich irgendwelche mir unbekannten Vorteile?

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                    • Werner Hohn
                      Freak
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                      • 05.08.2005
                      • 10870
                      • Privat

                      • Meine Reisen

                      #70
                      AW: [PT][ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

                      Vorteile? Jein.

                      Weil die meisten hier über "Neue Beiträge" nach neuen Posts suchen, habe ich eine kleine Chance meine Fehler auszubessern. Die Erweiterungen werden bei "Neue Beiträge" ja übersehen.

                      Die Berichte schreibe ich mit einer Textverarbeitung vor, schaue einmal drüber, dabei fliegen die ganz groben Schnitzer raus, und dann kommt der Text ins Forum. Da stecken dann immer noch jede Menge Fehler drin. Hauptsächlich Zeichenfehler, manchmal auch dicke Brocken, die ich übersehen habe, weil ich nur drüberschaue, nicht wirklich lese. Und ich lese dann immer das, was ich noch im Kopf habe, nicht was wirklich da steht. Durch das Anstückeln an den letzten Beitrag bekomme ich etwas zeitlichen Abstand. Und es eilt nicht ganz so sehr, weil der Beitrag so oft nicht angeklickt wird - dachte ich. Es ist erstaunlich, dass ich nur Stunden später Fehler entdecke, die ich vorher mehrmals überlesen habe.

                      Ursprünglich wollte ich die Beiträge vorschreiben, ein oder zwei Tage in Ruhe lassen und dann reinstellen. So habe ich auch angefangen. Aber beim Korrekturlesen finde ich keine Ende. Da wird hier neu formuliert, das könnte man auch noch reinbringen, usw. Das wurde eine Geschichte ohne Ende. So, wie ich das jetzt handhabe, ist es manchmal zwar blamabel für mich, aber es geht voran.

                      Die Berichte von Pamplona bis Finisterre habe ich vor Weihnachten durch den Drucker geschickt und dann korrigiert. Es war erstaunlich zu sehen, wie die Fehlerquote mit fortschreitender Uhrzeit zunimmt.

                      Früher , bei der alten Software lag die Grenze bei 50.000 Zeichen, da war ich gezwungen immer wieder einen neuen Beitrag anzufangen. Bei der neuen Software bin ich in dem Punkt noch an keine Grenze gestoßen.
                      Damit das mit dem Editieren nicht zu unübersichtlich wird, bin ich dazu übergegangen, ab und zu einen neuen Beitrag anzufangen. Das ist dann auch Futter für die Suche nach neuen Beiträgen. So ganz lasse ich den Trefferzähler ja nicht aus den Augen. Niemand schreibt gerne nur für die Datenbank.

                      Bevor ich es vergesse: Sollte ich wieder mal einen Reisebericht in Tagebuchform über so eine lange Tour öffentlich ankündigen, bitte ich um Zwangssperrung in diesem Forum.

                      Grüße, Werner
                      Zuletzt geändert von Werner Hohn; 02.01.2009, 15:27.
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                      • BlaesFevrier
                        Dauerbesucher
                        • 11.05.2007
                        • 557

                        • Meine Reisen

                        #71
                        AW: [PT][ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

                        Och, mich stört das nicht. Ich lese die Beiträge auch gerne mehrmals und sehe dabei zu, wie sie sich verändern. So schlecht, daß man sie, wenn überhaupt, nur ein Mal lesen dürfte, sind sie ja schließlich nicht.

                        Aber mal was anderes. Mich wundert, daß das noch niemand erwähnt hat, deshalb muß ich das wohl mal loswerden: Ich finde Deine Fotos mindestens genau so geil wie Deine Schreibe. Sie sind auf den ersten Blick herrlich unaufdringlich. Aber allahseidank hast Du ein super Auge für Details und weißt kompositorisch immer genau darauf hinzulenken. Die Bilder sind nicht nur reine Illustration des bereits gesagten, sondern beinhalten immer noch irgendwie mehr (mir hat 's zum Beispiel das Schild mit dem "furzenden" Fußgänger sehr angetan; das sagt sehr viel über Deine Haltung gegenüber Deinen Weggefährten ). Gefällt mir.

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                        • hikingharry
                          Dauerbesucher
                          • 23.05.2004
                          • 788
                          • Privat

                          • Meine Reisen

                          #72
                          AW: [PT][ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

                          Zitat von Werner Hohn Beitrag anzeigen
                          Bevor ich es vergesse: Sollte ich wieder mal einen Reisebericht in Tagebuchform über so eine lange Tour öffentlich ankündigen, bitte ich um Zwangssperrung in diesem Forum.
                          Also ich würde Dich ja dann zur Zwangsweiterschreibung vergattern.

                          Und ich sage wieder mal danke, und freue mich auf die nächsten Beiträge.

                          Gruß hikingharry

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                          • Werner Hohn
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                            #73
                            AW: [PT][ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

                            Mittwoch, 4. Juni 2008 Am Meer und in der Stadt
                            Etappe: Redondela - Pontevedra
                            Camino Francés: 720 km, Camino Fisterra: 90 km, Camino Portugués: 171 km
                            Tageskilometer: 18 Gesamtkilometer: 981
                            Unterkunft: Hotel


                            Bei Ponte Sampaio
                            Gestern Nachmittag waren wir schon am Meer gewesen. Es war eine Enttäuschung: Zuerst ein Kilometer Vorstadt, die in glühender nachtmittäglicher Hitze der Totenstille eines Friedhofs näher war als dem pulsierenden Leben südländischer Städte; dann ein gesichtsloser Sportboothafen mit Plastikbötchen, die hinter einer Steinmole Schutz fanden. Das war in der Bucht von Vigo. Unendlich lang zieht die sich ins Land hinein. Mit Meer, Wellen, Brandung hat das alles nicht viel zu tun. Hinter der Steinmole war ein winzig kleiner Strand. Zwischen Müll, faulendem Seetang, Plastik, Zweigen und Ästen hatten sich Besucher im Badedress niedergelassen.

                            Das Wasser hinter der Mole stand. Der Steinwall ist die perfekte Falle für alles, was die Flut mit Macht in die Bucht drückt. Bei ablaufendem Wasser, wenn die Ebbe einsetzt, landet der Dreck hinter der Mauer, staut sich auf, drängt rüber zum nahen Strand, bildet auf dem Wasser eine Dreckschicht, auf der man dem Anschein nach gehen kann. Träge, als würde eine schwere Last auf ihm liegen, blubberte das Wasser unter der Decke des schwimmenden Unrats auf den Sand.
                            Wir hatten Platz unter dem schattigen Vordach einer kleinen unscheinbaren Bar gefunden, Fassungslos schauten wir uns das Schauspiel an. Einen Espresso und eine eisgekühlte Limonade später waren wir weg. So hatten wir uns das Meer nicht vorgestellt.

                            Heute Morgen sind wir wieder am Meer. Wir stehen auf der alten Brücke die mit niedrigen Steinbögen die Mündung des Rio Verdugo überquert. Es ist Ebbe. Das Niedrigwasser hat einen breiten sauberen Strand freigelegt. Kein Mensch ist dort zu sehen. Im Schlick liegen bunte Kähne. Am gegenüberliegenden Ufer, am kurzen aber hohen Kai von Ponte Sampaio kontrolliert ein Mann im signalgrellen Überlebensanzug die langen Festmacher der im Wasser liegenden Boote. Netze, Angelruten, Laternen und Fischkisten zeigen, dass einige der Schiffchen noch immer für den Fischfang eingesetzt werden. Für den Lebensunterhalt wird das nicht langen, für eine Bereicherung des wöchentlichen Speiseplans schon. Und an guten Tagen wird ein Teil des Fangs seinen Weg auf einen Markt oder in die Küche der Fischrestaurants finden mögen.
                            Ganz am hinteren Ende der Bucht von Vigo ist keine Spur mehr vom wütend anstürmenden Atlantik; und der raue Wind, der die Touristen diesen Landstrich meiden lässt, hat, wenn er den langen Weg die Bucht hoch hinter sich hat, seine zerstörerische Kraft längst verloren. So haben wir uns das Meer am Ende der langen schmalen Bucht vorgestellt.


                            Ebbe
                            Isabelle haben wir kurz vor der Brücke überholt – mal wieder an diesem Morgen. Obwohl wir die Französin immer nur für kurze Augenblicke sehen, ist sie immer in unserer Nähe, oder wir in ihrer. Ganz unauffällig, unaufgeregt ist sie, drängt sich nicht auf, sucht keine wirkliche Nähe. Weder will sie unterhalten werden, noch sucht sie Unterhaltung. Isabelle gehört zu dem Menschen, die keine Bühne brauchen, um sich in das Bewusstsein anderer zu drängen. Sie wird noch da sein, wenn Andere, Lautere sich lange wieder verflüchtigt haben.

                            Pontevedra haben wir uns auch anders vorgestellt. Genau genommen haben wir uns überhaupt nichts vorgestellt. Mittags sind wir da, stehen vor dem verschlossenen Tor der Herberge. Es wird noch 4 Stunden dauern, bis sich dieses Tor öffnen wird. Wir wollen nicht mit den Rucksäcken stundenlang durch die Stadt ziehen. Zu Stadtbesichtigungen gehört Muße, die Lust am Bummeln und die Leichtigkeit, die sich nur beim Treibenlassen mit der Menge einstellt. Rucksäcke sind da eher hinderlich. Kurzentschlossen suchen wir uns ein Hotel und entdecken Pontevedra.

                            Pontevedra gehört zu den Städten, denen in den Reiseführern meist nur ein kleiner Absatz eingeräumt wird. Das reicht wenigstens für die Aufnahme in den Ortsindex, damit hat es sich dann auch schon. Zu unserem nachträglichen Erstauen verirren sich nur wenige Touristen in diese Stadt. Pontevedra liegt direkt am salzigen Wasser des Atlantiks, aber ganz am Ende eines fjordähnlichen Einschnitts, einer sogenannten Ría. Das ist weit weg von der eigentlichen Küste, wir merken überhaupt nicht, dass das da draußen der Atlantik ist.

                            Die Altstadt ist wie aus dem Modellbaukasten. Geschrubbt, gewienert, poliert, renoviert, saniert steckt sie voller Leben und Geschäftigkeit. Zwischen die mehrstöckigen Granithäuser schieben sich immer wieder kleine versteckte Plätze, mit den für dieser Region typischen Steinkreuzen. Breite Einkaufsmeilen laufen sich in schmalen Gässchen tot. Spätnachmittags werden aus den großen Plätzen Flaniermeilen, wie sie nur der Süden kennt. In Scharen bevölkern die Menschen die Plätze, die Terrassen der Bars. Die Jungen bleiben in Bewegung, ziehen unstet weiter. Sehen und gesehen werden. Die Alten verbringen den Abend auf den Bänken, lassen das Leben an sich vorbei ziehen. Sie werden so lange dort sitzen bleiben, bis es trotz wärmendem Kissen zu kühl wird.
                            Pontevedra ist nicht so laut wie die Städte unten im Süden, wo das Leben gegen Abend explodiert. Pontevedra ist angenehm, hier kann man die Füße hochlegen, ausruhen.

                            Donnerstag, 5. Juni 2008 Müßiggang
                            Etappe: Pontevedra – Caldas de Reis
                            Camino Francés: 720 km, Camino Fisterra: 90 km, Camino Portugués: 195 km
                            Tageskilometer: 24 Gesamtkilometer: 1.005
                            Unterkunft: Hotel


                            Des Rätsels Lösung // 15:00 Uhr - die Einkaufsmeile von Caldas de Reis

                            Im fahlen Zwielicht der Morgendämmerung verlassen wir die Stadt nach Norden. Vom lebhaften Gewimmel des gestrigen Abends ist nichts mehr geblieben, wir sind alleine unterwegs. In den schmalen Gassen, die zu Flussufer hinunter führen, hallen unsere Schritte von den hohen Mauern der alten Häuser wider. Ein Dieselmotor brummt durch eine versteckte Nachbarstraße, wird lauter und erstirbt. Das blecherne Schlagen ungedämmter Transportertüren wird in der morgendlichen Stille zu Kanonenschlägen verstärkt. Durch einen niedrigen Torbogen fällt gelblicher Lichtschein in die Gasse. In der Backstube wird schon gearbeitet. Schnell rein. Wärme und der Duft frisch gebackenen Weizenbrots empfängt mich. Heute noch bis Santiago?, fragt einer der Bäcker im mehlverstaubtem Unterhemd, möglich wäre das, fügt sein Nachbar hinzu. Ja, die Möglichkeit besteht durchaus. Wer will oder keine Zeit hat, kann die 65 Kilometer in einem Tag runterreißen.

                            Wir wollen nicht, wir haben alle Zeit der Welt. Uns trennen noch 3 kurze Etappen von Santiago und 6 Tage vom Rückflug in die Heimat. Die Vormittage werden wir fürs Vorankommen nutzen, die Nachmittage gehören den Etappenzielen. Berauschende Orte werden nicht dabei sein. Keine Festung, keine Kirche, kein nennenswertes Museum wird uns die Zeit stehlen können. Das was noch kommt, lässt sich im Vorbeigehen mitnehmen. Aha, mal da gewesen, mehr nicht. Es läuft aufs Rumlungern, aufs Totschlagen der Zeit hinaus. Wir werden neue persönliche Bestleistungen fürs Sitzen auf sonnigen Terrassen aufstellen können, unser Kaffeekonsum wird lange nicht mehr gekannte Höhen erklimmen. Und wir werden die Zeit haben, Dinge zu entdecken, die nur an solchen Tagen zu entdecken sind: rostende Blumenkübel unter wucherndem Unkraut, Mauerkronen mit Glasscherben, von Moos überwucherte Steinmetzarbeiten an mittelalterlichen Brücken und Granitkreuzen, rostende Nägel in morschen Holztüren erhalten an diesen Tagen ungewohnte Aufmerksamkeit. Solche Tage geben ohne Mühen ein Stück Zeit her für die Entdeckung des Belanglosen, für das, was im Alltag des Vorankommens meist keinen Raum findet.

                            Am späten Nachmittag sind wir in Caldas de Reis. Vielleicht, angeblich, wenn es sonst nichts gibt und was auch immer, soll es in einer Schule eine Pilgerunterkunft geben. Wir werden abgewiesen. Routiniert weist uns ein altes Mütterlein, die hinter einer niedrigen Glasscheibe die Pforte hütet, auf die nahen Hotels hin. Nach dem späten Mittagessen, mal wieder ein undefinierbares galicisch-fleischiges Regionalgericht, werden meine Frau und ich Eigentümer des Städtchens.

                            Caldas de Reis ist tot, mausetot. Niemand ist auf den Straßen zu sehen, sogar der Lkw-Verkehr ist beinahe zum Erliegen gekommen. Die Geschäfte in der Fußgängerzone sind verrammelt, einzig ein Laden mit asiatischem Nippes und Ramsch ist offen. Asiatischer Bienenfleiß durchbricht die Ruhe der allgegenwärtigen Siesta. Sogar Restaurants schließen, wenn der letzte Gast gegangen ist.
                            Mittagszeit ist Siestazeit, und der Mittag ist lang. Bis in den späten Nachmittag steht das Land still. Wer nicht muss, arbeitet nicht, großzügige Pausenregelungen und deren Auslegung machen das möglich. Beamte, Handwerker, Mediziner, Kaufleute, alle legen eine lange Pause ein, halten den Tag nur für sich an. Hinter geschlossenen Rollläden verschlafen die Menschen die Zeit, oder werden sobald der Sommer voller Wucht einsetzt, vor der alles lähmenden Mittagshitze dort Schutz suchen. Nur Bars, die Schmelztiegel südländischer Kommunikationskultur, sind offen, laden zum faulen Dösen bei einem Kaffee ein.

                            Längst sind unsere Tassen leer, der Kaffeesatz ist kalt geworden. Ein Kellner wird nicht kommen, niemand wird zum Zahlen auffordern oder eine neue Bestellung entgegennehmen wollen. Wir können hier hocken bis die Sonne unter geht. So lange werden wir nicht bleiben, nur bis wieder Leben Einzug ins Städtchen hält. Dann wird die spannende Stille, die wandernden Schatten der Palmen auf den Straße, dem Lärm des erneut einsetzenden Straßenverkehrs weichen. In den Geschäften werden ausgeruhte Kaufleute das Sonnenrollo hochziehen, Juweliere das quietschende Rollgitter beiseite schieben und die Bürgersteige werden sich wieder mit Menschen füllen. Die Siesta ist zu Ende. Schade.
                            Zuletzt geändert von Werner Hohn; 01.01.2016, 12:56. Grund: Die finale Runde?
                            .

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                            • heron
                              Fuchs
                              • 07.08.2006
                              • 1745

                              • Meine Reisen

                              #74
                              AW: [PT][ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

                              hallo Werner

                              danke wieder einmal - ich liiiebe diesen Roman in Fortsetzungen .

                              Kleine feine Beschreibungen, Stimmung ohne ins aufdringlich-schwülstige abzurutschen, wie es so oft passiert, wenn jemand meint mehr desselben ist besser.
                              Grossartig!
                              gx
                              sabine
                              Ich habe keine grossen Ambitionen. Still sitze ich und betrachte wohlgemut das Gewimmel der Welt.
                              Ich benötige nur so viel, wie ich mir ohne Anstrengung und Demütigung beschaffen kann. (György Bálint)

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                              • Peet
                                Gerne im Forum
                                • 19.08.2008
                                • 79
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                                #75
                                AW: [PT][ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

                                Hallo,

                                ich finde den Bericht auch weiterhin super. 1A geschrieben und ich freue mich immer neue Abschnitte zu lesen. Wenn Du mit schreiben ganz fertig bist würde ich Ihn trotzdem mal zu einem Verlag schicken. Gerade wo das Thema noch immer sehr begehrt ist und da, wie ich finde, der Bericht wirklich sehr gut ist. Ansonsten noch einmal vielen Dank für die Mühe die Du Dir hier machst.

                                Top! *Daumen hoch*

                                Grüße, Peter.
                                Mein Blog mit Trekking und anderen Themen.

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                                • Werner Hohn
                                  Freak
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                                  • 05.08.2005
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                                  #76
                                  AW: [PT][ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

                                  Freitag, 6. Juni 2008 Der dritte Zweitletzte
                                  Etappe: Caldas de Reis - Padrón
                                  Camino Francés: 720 km, Camino Fisterra: 90 km, Camino Portugués: 213 km
                                  Tageskilometer: 18 Gesamtkilometer: 1.023
                                  Unterkunft: Xunta-Herberge (Unterkunft der Regionalregierung)


                                  Am Ende eines Weges // Jakobus hinter Glas
                                  Es sind immer die Nationalstraßen die den Weg vorgeben, nicht den ganzen Weg, aber einiges. Nicht, dass man direkt auf den großen Straßen gehen muss, das kommt mittlerweile nur noch selten vor, aber eine ist bestimmt immer in der Nähe. Mal rücken sie einem auf die Pelle, dann wieder sind sie zum Vergessen weit weg, aber da sind sie. Die Vía de la Plata hält sich an drei, vier dieser Fernstraßen, der Camino Francés wird von einem ganzen Strauß Autobahnen und Fernrouten begleitet, nur der Camino Portugués ist genügsamer. Sobald der Weg Spanien erreicht, hält der sich an die N-550. Die Pilgerrouten vergangener Zeiten waren meist gradlinig, führten ohne Umwege direkt zum Ziel. Wenn möglich, wurden Handelsrouten genommen. Diese versprachen Sicherheit und schnelles Vorankommen, Hilfe in der Not und Unterstützung durch die fahrende, reisende und pilgernde Gemeinschaft. Die Schönheit der Landschaft war zweitrangig, Wegführungen weit abseits der wenigen Straßen waren zu meiden. Pfade durch und über die Berge wurden nur da genommen, wo es keine Alternative gab. Der Verlauf der alten Pilgerrouten war optimiert auf ein Ziel: sicheres und möglichst schnelles Ankommen hatte Vorrang vor allem anderen.

                                  Bei der Wiederbelebung der alten Pilgerrouten hat man sich daran gehalten. Nicht eine möglichst naturnahe Wegführung stand im Vordergrund, die Nähe zu den seit alters her bekannten Strecken war die Messlatte – zum Glück. Auf den Caminos bekommt jeder das Land zu sehen wie es ist, nicht wie eifrige Tourismusmanager es einem gerne vorgaukeln.

                                  Seit Tagen treffen wir immer wieder auf die N-550. Es sind immer nur ein paar Meter die nicht stören, dann sind wir wieder auf kleinen Nebensträßchen unterwegs. Wenn man so will, durch die Hinterhöfe der Nationalstraße. Und seit Tagen ist das Land unglaublich zersiedelt. Kaum verschwindet das letzte Haus hinter einer Kuppe, tritt man aus dem Schatten des eines kleinen Tals ins Sonnenlicht, ist der nächste Ort schon da. Es ist ein passender Abschied von der Iberischen Halbinsel. Seit mehr als 6 Wochen bin ich nun hier, und ich bin in der Gegenwart, im Hier und Jetzt. Wieder mal ein vorletzter Wandertag vor Santiago. Es ist der nüchternste von allen.

                                  Der auf der Via de la Plata Frühjahr 2007 wird vermutlich unerreicht bleiben, wird immer seine nagenden Erinnerungen ins Heute strecken. Dieser Tag damals war ein einziger Zeitraffer der schönsten und emotionalsten Momente aus 4 Wochen Davonstehlen aus der Gegenwart. Ein letztes Eintauchen in gestohlene Zeit, bevor das Häuten beginnt, um in unserer Gesellschaft bestehen zu können.

                                  Der auf dem Camino Francés ist erst wenige Wochen her und doch schon am Verblassen. Bilder haben sich gehalten, Erinnerungen an Menschen, an Gespräche, Emotionen weniger. Es war eine Zeit in der Jetztzeit und bis auf sehr wenige Ausnahmen war es eine Zeit unter Menschen, die in eben dieser Zeit leben, die ihr gewohntes Leben fortgeführt haben, wenn auch zu Fuß. Eine Erinnerung wird sicher bleiben, vielleicht die beste von allen, die an einen wirklich internationalen, vielsprachigen Trampelpfad.

                                  Heute der Tag ist ganz anderes, das ist wirklich der vorletzte Tag an dem wir unterwegs sein werden. Die drei Tage, die wir noch in Santiago verbringen müssen, zählen nicht, das wird auf ein Absitzen der Zeit hinauslaufen. Das ist der nüchternste aller vorletzten Tage und doch ist das der vielversprechendste aller vorletzten Tage. Über diesem Tag hängt eine Flüchtigkeit, ein Davonwehen, wie sie nur Tagen anhaften die man auf Reisen verbracht hat. Reisetage sind Tage ohne Wiederholungen. Die Möglichkeit Verpasstes nachzuholen besteht für uns nicht, wenn wir unstet zu Fuß unterwegs sind.

                                  Wir werden das fortsetzen, nicht auf diesem Weg, nicht auf bekannten Wegen. In Portugal haben wir uns das schon vorgenommen, der Tag heute bestätigt das nur, hat die Erwartungen auf ein anderes Reisen verstärkt. Die nächste Zeit wollen wir Fußreisen machen, nicht jede Reise, aber oft. Wir wollen uns nicht immer nur auf die Empfehlungen, Wegbeschreibungen und Erfahrungen anderer verlassen. Wir wollen selbst entdecken wie die Welt aussieht, auch wenn es nur die staubige Dorfstraße eines vergessenen Kaffs ist.

                                  Jedem Tag treffen wir auf die vier Spanierinnen, denen ich in Tui das Licht ausgedreht hatte. Vermutlich wissen die Frauen, dass ich gewesen bin. Das tut ihrer Laune keinen Abbruch. Ebenso wie Isabelle aus Frankreich und die Studentin aus Portugal sind die vier Frauen zu unserer festen Begleitung geworden. Als meine Frau und ich geduldig unter den Platanen am Ufer des Rio Ulla auf die Öffnung der Herberge warten, trudelt das Grüppchen ein. Die Herberge ist noch zu? Was, bis 16 Uhr! Die Damen betrachten das Bereitstellen spottbilliger Unterkünfte durchaus als Selbstverständlichkeit, Ebenfalls, dass die zu jeder Zeit offen sind. Resolut wird per Telefon die Hospitalera herbei zitiert. Man will schließlich etwas vom Nachmittag haben.

                                  Padrón ist ein verschlafenes Städtchen. Der Legende nach soll hier die Barke mit dem Leichnam des Apostels Jakobus angelegt haben. In früheren Zeit haben hier viele Schiffe mit Pilgern angelegt, deren Passagiere dann nur noch wenige Kilometer Fußweg nach Santiago bewältigen mussten. Auch heute soll sich die kleine Stadt bei Pilgern großer Beliebtheit erfreuen, davon merken wir nichts. Na ja, vermutlich ist dieser Freitag der falsche Tag. Morgen, da fängt das Wochenende an, ist hier bestimmt mehr los.
                                  In der Kirche steht eine Statue, die den Apostel Jakobus hoch zu Ross zeigt. Mit gefühllosem Blick schaut er auf die unter seinem Pferd kauernden heidnischen Mauren, denen er jeden Augenblick den Kopf abschlagen wird. Jakobus als Maurentöter, eine über lange Jahrhunderte bemühte Darstellung des Heiligen, auf die Spanien und die Kirche keinen großen Wert mehr legen dürften.

                                  Samstag, 7. Juni 2008 Santiago – mal wieder
                                  Etappe: Padrón – Santiago de Compostela
                                  Camino Francés: 720 km, Camino Fisterra: 90 km, Camino Portugués: 237 km
                                  Tageskilometer: 24 Gesamtkilometer: 1.047
                                  Unterkunft: Hostal in der Altstadt


                                  Santiago in der Abenddämmerung
                                  Wir haben es eilig, wie immer am letzten Tag. Zeit haben wir in Massen. Trödeln, bummeln, die wenigen Kilometer auf zwei Tage verteilen, alles wäre möglich. Wir wollen das nicht. Es ist vorbei, der kurze Urlaub meiner Frau, und meine längere Auszeit, die mich völlig überraschend dorthin gebracht hat wohin ich nie wollte.

                                  Der letzte Tag einer Reise gehört nicht mehr ganz dem Urlaub. Langsam gilt es wieder Fuß zu fassen, sich auf das Alltägliche einzustellen. Die Familie rückt wieder in den Vordergrund, die Blumen auf der Fensterbank, das Auto, das scheinbar ewige Wiederkehren von Nichtigkeiten. Aber gut, dass es letzte Tage gibt, denn nur denen kann ein neuer erster Tag folgen. Immerhin ein Trostpflaster, wenn auch ein kleines.

                                  Das ist meine dritte Ankunft zu Fuß in Santiago, immer über einen anderen Weg. Einmal bin ich zu Fuß aus der Stadt raus gegangen. Das war an dem Tag als ich ans Ende der Welt aufgebrochen bin, nach Finisterre. Das war der schönste Weg. Keine 2 Kilometer dauert es, dann ist man im Grünen, ist tatsächlich auf dem Land, und man hat dort den schönsten Blick auf die Stadt. Kein Fußweg in die Stadt rein kann da mithalten. Heute weiß ich das.

                                  Mittags stehen wir im Pilgerbüro, für mich gibt es erneut die „Sporturkunde“, der Lohn fürs Ankreuzen von „Nicht religiös“. Diesmal gibt es kein Wiedersehen mit vielen Menschen vom Weg. Die paar die wir getroffen haben, werden in der Menge verloren gehen. Vielleicht sehen wir die vier Spanierinnen, die uns so zuverlässig begleitet haben, oder Isabelle, oder das spanische Ehepaar aus der ersten Herberge hinter Porto. Die Studentin aus Lissabon werden wir bestimmt treffen, die war seit Tui immer in unserem Tempo unterwegs.

                                  Wir treffen sie alle. Die spanischen Frauen, die heute Abend laut fröhlich feiern werden, das Ehepaar aus den Pyrenäen, Isabelle aus Frankreich und natürlich die Studentin. Sie ist ein wenig enttäuscht. Der Weg ist zu kurz, kaum gestartet, schon ist man da. Wie ein Spaziergang im Park.

                                  Bis Mittwoch haben wir noch Zeit. Die werden wir erschlagen müssen. Santiago ist nicht Rom oder London. Santiago ist noch nicht mal Köln. Santiago ist trotz der 150.000 Einwohner wie ein großes Dorf mit einer schönen aber überschaubaren Altstadt. Es dauert nicht lange, da kennt man jede Gasse, jeden Kitschladen und Menschen mit Rucksack kann ich auch nicht mehr sehen. Der schönste Teil der Stadt? Nach vier Aufenthalten vielleicht die Wege aus der Stadt raus - und sei es der zum Flughafen. Vermutlich ist das der Preis für die mehrmalige Ankunft.
                                  Zuletzt geändert von Werner Hohn; 01.01.2016, 13:14. Grund: Die finale Runde?
                                  .

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                                  • eifelwalker
                                    Erfahren
                                    • 22.04.2008
                                    • 220
                                    • Privat

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                                    #77
                                    AW: [PT][ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

                                    Wieder ein echter "Werner Hohn".

                                    Auch diesen Reisebericht habe ich "verschlungen" wie einen fesselnden Roman.

                                    Liebe Grüße
                                    Rainer
                                    Cheyenne-Häuptling White Antelope: "Nichts lebt lange, nur die Erde und die Berge."

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                                    • tzrrl
                                      Anfänger im Forum
                                      • 18.07.2012
                                      • 10
                                      • Privat

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                                      #78
                                      AW: [PT][ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

                                      Hallo Werner,

                                      unglaublich wie toll dein Reisebericht zu lesen ist. Plane selber gerade den Weg durch Portugal (ab Porto) und das ist der erste Bericht der sich wirklich gut lesen lässt! Hab Dank dafür!

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                                      • mariodejaneiro
                                        Erfahren
                                        • 17.05.2009
                                        • 323
                                        • Privat

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                                        #79
                                        AW: [PT][ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

                                        Oh ha irgendwie erkenne ich mich in diesem agonistischen Gedanken beim Wandern stark wieder

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