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  • Werner Hohn
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    • 05.08.2005
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    • Meine Reisen

    #41
    AW: [PT, ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

    Donnerstag, 8. Mai 2008 Ein paar Kilometer nur für mich
    Etappe: Boadilla del Camino – Carrion de los Condes
    Tageskilometer: 26 Gesamtkilometer: 309
    Unterkunft: Albergue Espíritu Santo im Konvent der „Hijas de la Caridad de San Vicente de Paul” (Nonnen)


    Canal de Castilla
    Heute morgen ist es so einsam, dass ich mich frage, ob ich mich nicht verlaufen habe. Aber ein gelber Pfeil, der durch das hohe Schilf fast verdeckt wird, beseitigt auch diese Zweifel. Richtig gezweifelt habe ich dann doch nicht. Immerhin gibt das Kanalufer den Weg vor. Nun ja, seit ich das Tor der Luxusherberge hinter mir gelassen habe, bin ich alleine auf dem Weg. Das ist in den letzten Tagen so selten geworden, da können schon mal Zweifel aufkommen. Bis Fromista überhole ich nur Maria, die mal wieder vor sich hintrödelt.

    Wenn die Vorstellungen der Planer Wirklichkeit geworden wären, sollten auf dem Canal de Castilla Schiffe unterwegs sein. Geplant war die Wasserrinne als schiffbarer Handelsweg auf dem die Ernte von den endlosen Feldern zu den Märkten gebracht werden sollten. Dafür hat’s nun doch nicht gereicht. Heute, nach 200 Jahren immer noch unvollendet, bewässert er eben diese Felder, und dient Fröschen und Vögel als willkommener Lebensraum.

    Fromista kündigt sich durch riesige Getreidesilos an. Fromista ist Treff- und Kreuzungspunkt einiger Fernstraßen. Fromista ist auch Treffpunkt fliegender Arbeitsvermittler, die ihre tageweise beschäftigen Arbeiter in den Bars aufsammeln. Fromista ist hässlich.

    Fromista ist herrlich, denn Fromista beherbergt einer der schönsten kleinen Kirchen Spaniens. Die 1.000 Jahre alte Kirche San Martín zählt zu den Meisterwerken romanischen Kirchenbaus. Unverputzter Sandstein, zwei Rundtürme, eine Vierungskuppel. Steinerne Fratzen, Teufel, Dämonen und Tiere bilden den Abschluss der Dachsparren. Es sind mehrere Hundert. Wenn die da oben alle aufpassen, wird diese Kirche noch weitere 1.000 Jahre stehen.

    Fromista ist doch hässlich, denn die Kirche ist verschlossen. Vor lauter Wut mache ich auf dem Absatz kehrt und ziehe weiter. In der Baustelle hinter dem Ort fällt mir ein, dass ich nicht ein einziges Bild von der Kirche gemacht habe. Umkehren? Auf diesem Weg bin ich noch nie umgekehrt, heute Morgen auch nicht.

    Bei uns undenkbar, aber hier stört sich niemand daran, dass wir alle durch die Brückenbaustelle stapfen. Rucksackträger neben Schutzhelmträger, wenn das ein heimischer Sicherheitsbeauftragter sehen könnte.
    Und dann, wie auf Kommando sind alle wieder da. Das auch noch auf einem der monotonsten Abschnitte der letzten Woche. Schnurgerade geht es immer neben der Straße auf einem separatem Weg nach Westen. Die Monotonie wird durch die an jeder Feldzufahrt aufgestellten Betonstelen - gleich in vierfacher Ausführung (die sollen verhindern, dass die Bauern sich des Pilgerwegs bedienen) - noch verstärkt. Nichts wie weg hier, nur wohin?


    Villalcázar de Sirga, Betonstelen vor Carrion de los Condes
    Eine Nebenroute, die in Población de Campos abzweigt, ist die Rettung. Nicht das sich hier ein verwunschener Traumpfad auftut, oder die Landschaft sich in einem anderen Gewand zeigt. Ein ganz normaler auf die Maße europäischer Landmaschinen zugeschnittener Feldweg reicht aus, damit sich meine Stimmung merklich hebt.
    Laut Skizze im Wanderführer werde ich diesem Weg mehr als 6 Kilometer folgen. Immer geradeaus, dabei einen ganz leichten, kaum wahrnehmbaren Bogen nach links machen, einmal links auf eine Brücke abbiegen und am anderen Bachufer die ursprüngliche Wanderrichtung wieder aufnehmen. Zum Schluss noch ein Schlenker nach links, der mich zurück zur Hauptroute führen soll. Höhepunkt wird der Ort Villovieco sein, sonst nur Felder und im Süden die Straße mit dem separiertem Pilgerweg. Traumpfade werden anders beschrieben.

    Vermutlich wäre diese Route an jedem anderen Tag nur ein langweiliger Feldweg gewesen, den man am besten schnell hinter sich bringt. Feldwege wie diesen gibt es ungezählte in Europa. Auf diesen Wegen bin ich aber nicht, ich bin hier und hier passt er. Ich bin allein, nur zwei frische Fußspuren im feuchten Sand zeugen von Leben. Vor mir sind also noch welche. Sie müssen weit voraus sein, denn zu sehen ist niemand. Tatsächlich niemand, vor mir nicht und hinter mir auch nicht. Sollte den anderen 400 Meter Umweg zu viel sein?

    Natürlich ist das hier nicht das Paradies. Aber gelegentlich reicht es schon nicht da zu sein, wo die anderen sind. Absetzen vom Pulk, Ruhe haben, mitten auf dem Weg stehen und in Richtung Sonne pinkeln - kleine Freiheiten.
    Am Wegrand ein moderner, doch schon schäbiger, den Bedürfnissen der Großlandwirtschaft angepasster Bauernhof. Doch eine Storchenfamilie fühlt sich hier offensichtlich wohl. Villovieco, das Nest mit dem Namen, der an Italien erinnert, ist genauso nüchtern. Nüchterne Häuser, teils Hütten gleich, die alle nach einer Renovierung schreien. Ein Pilger als Scherenschnitt aus Blech soll vermutlich eben diese halten. Doch wohin? Die Bar am Sportgelände, deren handgemalte Werbeschilder seit geraumer Zeit Cafè und Bocadillo versprechen, ist schon lange geschlossen. Für wen sollte die auch aufmachen? Pilger verirren sich trotz guter Markierung nicht oft hier hin. Ich brauch’ die Bar auch nicht. Ein Stein im Schatten der Bäume, die hier das Bachufer säumen, tut’s auch.

    Unweigerlich zeichnet sich hinter den Feldern das Ende meiner kleinen Auszeit ab. Bunte Rucksäcke ragen über hochstehenden Getreideähren, die die Stimmen nicht aufhalten können. Schon auf dem gemeinsamen Weiterweg nach Carrion de los Condes verklären sich diese wenigen Stunden – es waren mal eben zwei – und wirken noch bis zum Einschlafen nach.

    In Carrion de los Condes ist für viele Schluss. Nicht für den Weg im ganzen. Viele wollen sich die Meseta nicht mehr antun und nehmen folglich den Bus nach Leon. Der Fernbus, der an der Bar hält – wie passend -, füllt sich in wenigen Minuten bis zum letzten Sitzplatz mit Menschen aus aller Welt. Vielleicht haben einige vor der Abfahrt noch einen Blick aufs Pilgerdenkmal gegenüber geworfen. Wie beinahe alle neuen Pilgerdenkmale am Weg, stellt es einen heroischen blickenden und energisch ausschreitenden Pilger der Vergangenheit dar. Klar doch, was sonst!

    Ich komme im Nonnenkonvent unter, wie siebzig andere auch. Darunter sind Roberto, der Brasilianer mit dem Wäschesack und Maurice, der Franzose. Da haben sich wohl zwei gefunden. Den beiden fällt auf, dass wir schon seit Tagen dieselben Etappen gehen. Na, mit der Beobachtung sind sie nicht alleine.

    Der Tag morgen fängt mit einer 17 Kilometer langen Geraden an. Passend für ein kleines Rennen zwischen Brasilien, Frankreich und Deutschland schlägt Roberto im Spaß vor. Kann er haben!
    Zuletzt geändert von Werner Hohn; 31.12.2015, 16:25. Grund: Die finale Runde?
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      Fuchs
      • 30.01.2006
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      #42
      AW: [PT, ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

      Sparen wir uns das Lob bis zum Schluss und du kannst darin baden . Wie immer ist jeder Abschnitt sehr lesenswert und ich bin gespannt, wie es weiter geht.
      ,,Man wäre kein guter Anarchist, wenn man auf Grundsätzen beharren würde!'' - Eva Demski

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      • Werner Hohn
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        • 05.08.2005
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        #43
        AW: [PT, ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

        Freitag, 9. Mai 2008 Männerspiele – Das große Rennen
        Etappe: Carrion de los Condes - Sahagún
        Tageskilometer: 40 Gesamtkilometer: 349
        Unterkunft: Albergue municipal La Trinidad, Gemeindeherberge in einer ehemaligen Kirche


        Ledigos // Verlaufen unmöglich
        Immer geradeaus, vom Ortsrand des Kleinstädtchens bis nach Calzadilla de la Cueza, einem Bauerndorf in der Weite der Tierra de Campos. 17 Kilometer stur geradeaus, keine Kurve, kein Schatten, kein Dorf, keine Kneipe, kein Berg, kein Tal, nichts. Nur Felder und ein breiter Feldweg.
        Diese Gerade hat beinahe schon Legendenstatus. Jede Wegbeschreibung weist drauf hin, fast jeder der sie unter seinen Füßen hatte, erzählt davon.
        Aber ganz gerade ist sie nicht, denn es gibt zwei, wenn auch unmerkliche Knicke. Und ganz leicht wellig ist die Gerade auch. Geschäftstüchtige Einheimische stehen schon mal am Wegesrand und verkaufen kalte Getränke aus dem Kofferraum heraus. Mit Schatten geizt der Weg tatsächlich, trotz der wenigen Bäume die in letzter Zeit gepflanzt wurden. Die Bäumchen schaffen nicht mehr als den sprichwörtlichen Tropfen auf den heißen Stein.
        Die ganz große Herausforderung ist diese Gerade durch einer der Kornkammern Spaniens heute nicht mehr. In früheren, einsameren Zeiten, als Pilger hier allein übers Land zogen, mag manch einer über den nicht weichen wollenden Horizont geflucht haben.

        Heute morgen sowieso nicht. Gestern Nachmittag und letzte Nacht hat es kräftig geregnet, von einem Kampf gegen die Hitze kann nicht die Rede sein kann. Vom Kampf gegen die Einsamkeit schon gar nicht. Heute ist mal wieder Massenstart. Warum ich an manchen Tagen alleine unterwegs bin, an anderen wiederum nicht, wird mir wohl für immer eine Rätsel bleiben. Ich treffe jede Menge bekannte Gesichter, viele davon schon nicht mehr namenlos und geschichtslos, aber meine beiden Kontrahenten, die mir ein Rennen angeboten haben sind nicht darunter.

        Der Franzose und der Brasilianer haben einen klassischen Frühstart hingelegt. Groß kann deren Vorsprung nicht sein, denn so spät bin ich nicht dran. War eh nur Spaß, oder? Bei mir nicht. Da sitzt ein Stachel im Fleisch, der zur Eile antreibt. Zudem, was soll ich heute auch machen? Ein bisschen Sport zwischendurch kann nicht schaden. Ich höre schon die frotzeligen Kommentare zum Abschluss des Tages, wenn ich die nicht einhole.

        Am Ende der Geraden in Calzadilla de la Cueza bin ich so früh, dass sogar die Bar noch geschlossen ist. Doch schon werden die Spuren des vergangenen Tages beseitigt, denn gleich werden die ersten Pilger einfallen. Mir soll’s recht sein. Hab’ keine Zeit. Ich bin auf der Suche nach zwei Männern, die zusammen mehr als 100 Jahre alt sind und die mir davonlaufen.


        Taubenhäuser bei Moratinos
        Weiter, immer nur weiter. Mal wieder auf einem langweiligen Weg neben einer Landstraße. Der große Pulk liegt hinter mir, allmählich sollte ich auf die Beiden auflaufen. Doch nichts! Wo stecken die? Eine Abkürzung gibt es hier nicht, in einer Bar drücken die sich auch nicht rum. Sollte deren Vorsprung wirklich so groß sein?
        Ein Einzelwanderer. Maurice? Rucksack und Figur könnten passen. Nein, weiter. Ein Pärchen. Sind sie das? Nein, schon von weitem als Mann und Frau zu erkennen. Die Stimmen die aus der Bar in Ledigos bis auf die Straßen dringen? Nein, auch nicht, Spanier. Das graue Hemd, das vor der neuen Herberge in Terradillos de los Templarios auf der Leine im Wind flattert, könnte das nicht Maurice gehören? Schnell reinspringen und nachschauen. Nein, noch kein Gast da, nur die Hospitalera, das Hemd flattert schon seit einigen Tagen im Wind.

        Dann, am Ortsrand sind sie da. Beide hocken im Schatten einer rissigen Lehmwand und ruhen sich aus. Robertos Schuhe liegen im Gras, Maurice wühlt im Rucksack. Die Chance für mich. Ein kurzer Gruß, ein breites Grinsen, kein Nachfragen, kein Absprechen, kein Wort.

        Neustart. Aufspringen, dabei den Rucksack überziehen, ist bei Maurice eins. Roberto braucht länger bis er in den Schuhen steht. Das bekomme ich aber schon nicht mehr mit. Beim Blick zurück sehe ich nur noch den Franzosen. Mehr Tempo. Kein Blick mehr für die leicht hügelige Landschaft. Keine Zeit für eine Fotopause. Die Kamera auf Dauerbild stellen und hoffen, dass etwas Brauchbares dabei hängen bleibt.
        Nach links, rauf auf die autoleere Landstraße, wieder nach rechts, wieder auf einen Feldweg. Aus dem Grund einer Senke ein leichter Anstieg auf einer Kuppe. Hoffentlich ist der Anstieg nur kurz. Auf Steigungen lasse ich immer meinen Vorsprung. Geschafft, ich habe meinen Vorsprung sogar ausbauen können. Das macht leichtsinnig. In Moratinos nehme mir die Zeit für ein paar Fotos; zwei Taubenhäuser auf der Wiese, ein Hügel mit Bodegas (Erdkeller), ein Lehmhaus mit blauen Fenstern. Ein kurzer Augenblick nur, der dann doch zu lang war. Maurice ist wieder da. Himmel, ist der schnell!

        Doping, es hilft nur noch Doping. Im Rucksack steckt noch eine Dose Cola, die richtige, das Zeug in der roten Dose. Wenn ich das um diese Uhrzeit runter kippe, werde ich in der kommenden Nacht kein Auge zu machen. Egal, meine Beine sind so müde, mein Kreislauf denkt nur ans Runterfahren, ohne die Cola geht’s nicht. Runter damit! Es wird keine 10 Minuten dauern, dann läuft mein Körper ohne Murren wieder auf Hochtouren.


        Sahagún - Kirche San Lorenzo
        In San Nicolás wirkt das Zeug schon, trotzdem bleibt Maurice dran. Eine große Scheune nimmt mir die Sicht auf ihn, aber wenn ich Maurice nicht sehen kann, kann der mich ebenfalls nicht sehen. Laufen! Rennen! Richtig schnelles Rennen mit Rucksack, auch wenn es verpönt ist. Ich brauche Vorsprung um jeden Preis, denn es kommt noch eine Stelle, die über Sieg oder Niederlage entscheidet.
        Als ich aus dem Sichtschatten der Scheune raus bin, hat sich der Abstand nur unwesentlich verringert – wenn überhaupt. Aha, Maurice denkt in denselben Kategorien.

        Zu allem Überfluss ballen sich tiefschwarze Regenwolken am niedrigen Himmel. Bloß nicht!. Jetzt nicht! Die Regenklamotten stecken im Rucksack. Keine Zeit für einen Stopp. Natürlich fängt es an zu regnen. Im Gehen muss der Rucksack runter vom Rücken. Regenjacke, Regenhose und Regenhülle für den Rucksack, alles muss raus. Bis auf die Regenhose wird alles während des Gehens übergezogen. Ein Blick zurück bestätigt, dass Maurice das alles auch im Gehen kann.

        Rüber über die letzte Anhöhe vor Sahagún und dann weiter entlang der Straße. Noch mal ein kurzer Blick über die Schulter und dann der Schreck. Mann, Roberto hat zu Maurice aufgeschlossen. Der Brasilianer muss alles gelaufen sein.
        An der Geraden liegt der Knackpunkt, der über Sieg oder Niederlage entscheidet, denn es gibt zwei Varianten. Wer’s eilig hat, bleibt auf dem Weg neben der Straße und erspart sich so mindestens 600 Meter. Der eigentliche Camino macht kurz vor der Stadt einen Schlenker nach Norden und nimmt dabei die Kapelle Virgen del Puente mit und ist somit einen halben Kilometer länger.

        Und nun stecke ich im Dilemma. Nehme ich den längeren Weg, habe ich verloren, denn so groß ist mein Vorsprung nicht. Gehe ich den direkten Weg, werden die beiden vermutlich den an der Kapelle nehmen, weil sie dann eine schöne Erklärung fürs Eintreffen nach mir haben.

        Im Selbstgespräch appelliere ich an den Sportsgeist der beiden und nehme den längeren Weg. Wie vermutet, wollen meine Verfolger den Sieg nicht geschenkt, denn sie folgen mir, überholen mich sogar, lassen es aber wieder zu, dass ich aufschließe. Ich achte dann darauf, dass ich ihnen nicht weglaufe. Der heutige Tag wird keinen Sieger haben. Gemeinsam, sogar nebeneinander treten wir durch die Eingangstür der Herberge.

        Unentschieden. Morgen geht es weiter. Morgen wird es aber auch einen Sieger geben.

        Samstag, 10. Mai 2008 Alles trostlos
        Etappe: Sahagún – Mansilla de de las Mulas
        Tageskilometer: 38 Gesamtkilometer: 387
        Unterkunft: Albergue municipal (Gemeindeherberge)


        Technik im Nirgendwo
        Es hätte die erste perfekte Nacht werden können. Keine Schnarcher, die einen aus dem Schlaf reißen, und das bei mehr als fünfzig Mitschläfern im Raum über der Kirche; niemand, der beim nächtlichen Gang aufs Klo über einen Rucksack stolpert; Frischluft wie schon lange nicht mehr, denn an die Fenster kommt, weil dicht unterm Dach, niemand ran. Ich weiß das ganz genau, denn dank des koffeinhaltigen Aufputschmittels von gestern Nachmittag, habe ich die halbe Nacht nicht geschlafen. Erst gegen Morgen bin ich eingeschlafen.

        Der Regen, der am vergangen Tag nur als Schauer daherkam, hat in der Nacht Anlauf genommen, und so wie es aussieht, wird er uns über den Tag begleiten. Maurice und ich sind drauf eingestellt, Roberto natürlich nicht. Warum auch, in Spanien regnet es nie. Ein kurzer Blick ins Treppenhaus, ob wir alleine sind, und schon hat er einen herrenlosen Kinderregenschirm, also eigentlich einen kinderlosen Schirm, von dessen trostlosen Dasein in der dunklen Ecke unter der Treppe erlöst. Jetzt hat er neben seinem Wäschesack für Kinderwäsche auch noch einen Regenschirm für Kinder.

        Nass, dunkel, unausgeschlafen, beste Voraussetzungen für den Schlussspurt. Wir drei sind alleine unterwegs. Alleine in den dunklen Straßen Sahagúns, in denen unsere Schritte trotz Regens von den Häuserwänden widerhallen. Alleine auf dem Weg neben der Autostraße, und immer noch alleine als es hell wird. Seit dem Start unter der Tür der Herberge bin ich in Führung und ich habe nicht vor die wieder abzugeben. Immer 300, 400 Meter vor den beiden bleiben, habe ich mir vorgenommen. Sollten die Jungs ihr Tempo erhöhen, werde ich mitziehen, sollten die langsamer werden, werde auch ich langsamer, dann kann ich mich erholen. Das ist aber überhaupt nicht nötig. Roberto und Maurice sind zwar flott unterwegs, aber das Tempo vom vergangenen Tag schlagen die nicht mehr an. Müde, kaputt? Ich tippe aufs Wetter. Dem Südfranzosen und dem Südamerikaner macht das mitteleuropäische Schmuddelwetter zu schaffen.

        Das ist mitteleuropäisches Standard-Herbstwetter. Es ist kalt geworden und aus endlos grauem Himmel fällt Regen, der keine Ende zu nehmen scheint. Schon bald steht das Wasser auf der Wegspur knöcheltief. Runter vom Weg, rauf auf den Asphalt, denn auf dem lässt sich gut gehen.

        Die vielen Taxis, die in unsere Richtung unterwegs sind, decken uns mit Gischt ein. Ich habe noch nie so viele Taxis gesehen, wie an diesem Regenmorgen. Meist mit schwarz verklebten Scheiben, transportieren sie vermutlich Wanderer bis kurz vor die Herberge. Einige werden auch gleich die ganze Strecke bis León genommen haben. Gehört habe ich schon öfter davon, von diesen Vans und Kleinbussen mit schwarzer Folie auf den hinteren Scheiben. Angeblich wollen die Leute nicht erkannt werden, die den Camino auf diese Art machen. Und angeblich soll das ein einträgliches Geschäft sein. Wenn dem so ist, dann verdienen die Besitzer heute nicht schlecht. Es muss wohl so sein, wie es die Gerüchte verbreiten, denn nach kurzer Zeit kommen die Autos leer zurück.

        Der Weg passt zum Wetter und das Wetter passt zur Landschaft. Monotones Gehen neben oder auf einer langweiligen regennassen Straße, welche die Landschaft in links neben der Straße und rechts neben der Straße teilt. Schlammbraune Felder mit klinkerroten Pumpenhäuschen. Eine Berieselungsanlage, deren Ausleger an ein Tentakel erinnert. Zerzauste Pappeln mit Kronen so licht, dass sie der Sonne keinen Schatten abtrotzen werden. In den Niederungen meist Tümpel, die sich im Schilf verstecken. Hin und wieder Bänke und Tische aus Beton, für Wanderer die einen Rastplatz suchen. Eine Bahnlinie zerschneidet die Gegend in vor dem Bahndamm und hinter dem Bahndamm. Langweilig, trostlos.

        Monoton, wenig aufheiternd. Ein Weg, der den Blick zu Boden sinken lässt. Zum Unkraut, zum sichtbaren Pfusch am Straßenbau, zu den Pilgergrüßen die mit Farbe auf den Randsteinen oder auf der Straße hinterlassen wurden.

        Das wirft Fragen auf. Wer nimmt einen Pott Farbe mit auf den Camino? Warum lassen die Leute sich fahren? Wann hört der Regen auf? Warum tue ich mir diese Landschaft an? Und die wichtigste Frage überhaupt: Wo sind meine Gegner?

        Ja, wo stecken Maurice und Roberto? Bis Mittag, da hat der Regen aufgehört, sind die mir wie ein Schatten gefolgt. Ein weißer Regenschirm und ein wehender Poncho. Jedes Mal, wenn ich mich umgeblickt habe, war dieses Bild zu sehen. Sollten die aufgegeben haben? Unwahrscheinlich.

        In der Gemeindeherberge klärt sich dann alles auf. Maurice trifft kurz nach mir ein und erzählt, dass Robertos Fußgelenk dick angeschwollen ist. Technischer Defekt, kommentiert er Robertos Malheur, der dann auch erst am frühen Abend eintrifft. Ein fader Sieg, der diesen Namen nicht verdient hat.

        Die Herberge wird voll werden, so voll, dass Wolf, ein deutscher Hospitalero, mir erlaubt für Maria ein Bett zu reservieren. Dass soll was heißen, denn das wird überhaupt nicht gerne gesehen. Aber die alten Hospitaleros, dazu gehört Wolf ohne jeden Zweifel, haben ein Herz für Langsamgeher. Schnellgeher wie Maurice, Roberto und ich, kommen nicht so gut bei den Herren der Hütten an. Dabei geht Maria haargenau dieselbe Strecke wie wir, macht also auch keinen auf geruhsames und beschauliches Pilgern. Im Gegenteil, geruhsam können wir, die Schnellgeher, die Nachmittage ausklingen lassen.
        Als Maria am Abend eintrifft sind tatsächliche alle Betten belegt. Dank Wolfs Gutmütigkeit und meinem Schlafsack auf einem freien Bett, ist Marias Schlafplatz gesichert.
        Zuletzt geändert von Werner Hohn; 31.03.2013, 13:23. Grund: Fotos nun aus der Galerie neu hochgeladen
        .

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        • Rainer Duesmann
          Fuchs
          • 31.12.2005
          • 1642
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          • Meine Reisen

          #44
          AW: [PT, ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

          Staun.

          Sicherlich nie mein Ding, aber genauso sicher: Respekt!

          Rainer
          radioRAW - Der gesellige Fotopodcast

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          • Werner Hohn
            Freak
            Liebt das Forum
            • 05.08.2005
            • 10870
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            • Meine Reisen

            #45
            AW: [PT, ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

            Zitat von Rainer Duesmann Beitrag anzeigen
            Staun.

            Sicherlich nie mein Ding, ...

            Rainer
            Das hätte ich dir Anfang April ohne jeden Einwand unterschrieben.

            Werner
            Zuletzt geändert von Werner Hohn; 23.08.2008, 22:04.
            .

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            • Rajiv
              Alter Hase
              • 08.07.2005
              • 3187

              • Meine Reisen

              #46
              AW: [PT, ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

              Interessanter Aspekt, daß man sich gewissermaßen "ein Rennen liefert".
              Ist mir so eigentlich noch nie passiert, vermutlich weil es landschaftlich immer so reizvoll war (oder andere interessante Sachen am Wegesrand rumstanden), daß ich da die Priorität immer den "Sehenswürdigkeiten" eingeräumt hätte und den "Wettkampf" zurückgestellt hätte.

              Na gut, wenn es auf 'nen Gipfel geht und die letzten Höhenmeter anstehen und man den Abstieg auf der gleichen Route wie den Aufstieg bewältigen will/muß, dann lasse ich mich auch mal hinreißen und latsche etwas schneller. Da siegt dann doch irgendein Gefühl; wollte mir letztes Jahr dann auch nicht nehmen lassen, daß ich an diesem Tag der erste Wanderer war, der den Gipfel vom Pic du Midi de Bigorre erreicht; aber da konnte ich diverse Sachen auch auf dem Abstieg mir in Ruhe ansehen.

              Mal abwarten, wenn ich mich doch mal für 'nen einigermaßen flachen Fernwanderweg begeistern kann, dann lasse ich mich da vielleicht auch etwas "krabbeln".

              Der "Rennbericht" ist einfach herrlich zu lesen! Wieder ein Kompliment dafür! Haste feingemacht!

              Rajiv
              Ich wünscht' ich wär ein Elefant,
              dann wollt ich jubeln laut,
              mir ist es nicht ums Elfenbein,
              nur um die dicke Haut.

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              • paddel
                Fuchs
                • 25.04.2007
                • 1864
                • Privat

                • Meine Reisen

                #47
                AW: [PT, ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

                Wiedermal GENIAL! Habe mich gerade köstlich amüsiert.

                Werner, hast du schonmal überlegt einen Ultramarathon oder ähnliches hinzulegen
                Froh schlägt das Herz im Reisekittel,
                vorausgesetzt man hat die Mittel.

                W.Busch

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                • lor3nz
                  Gerne im Forum
                  • 23.05.2006
                  • 89

                  • Meine Reisen

                  #48
                  AW: [PT, ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

                  Mensch Werner,

                  Du bringst ganz neue Aspekte in meine Überlegungen:
                  Ich bin den Weg im Jahr 2000 (vor dem Öffnen der Pforte) gegangen, als es noch nur ein paar Bücher und keine Wettrennen gab. Die paar Wochen damals haben mich nachhaltig verändert.

                  Deine Beschreibung macht Lust den Weg als sportliche Unternehmung nochmal anzugehen

                  Danke für den Bericht!
                  Markus
                  life is journey - travel it well!

                  Kommentar


                  • Werner Hohn
                    Freak
                    Liebt das Forum
                    • 05.08.2005
                    • 10870
                    • Privat

                    • Meine Reisen

                    #49
                    AW: [PT, ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

                    Pfingstsonntag, 11. Mai 2008 Verpasste Gelegenheiten
                    Etappe: Mansilla de de las Mulas - León
                    Tageskilometer: 19 Gesamtkilometer: 406
                    Unterkunft: „Albergue de las Carbajalas“ im Monasterio de Benedictinas Sta. Mª de Carbajal (Benediktinerinnenkloster)


                    Friedhof // Manche Wege sind hart

                    Mansilla – Leon. Kurz, knackig, noch nicht mal ein halber Tag zu Fuß. Was bleibt? Nichts, oder fast nichts. Eine Storchenfamilie auf dem Turm einer Kapelle, ein ummauerter Friedhof, eine Bar mit dem deutschen Namen „Viel Glück“. Hoffnung oder Warnung? Industriegebiete – natürlich. Am Stadtrand die Zentrale einer Bank, schon ansehlicher – war nicht anders zu erwarten.
                    Wieder Fußwege, die nur ein Unkrautstreifen von der Straße trennt. Hochbordige Bürgersteige versprechen Schutz vor Verkehr, der heute, am Sonntagmorgen nicht eingefordert werden muss. Eine vierspurige Schnellstraße soll überquert werden. Eindeutig zeigen die Pfeile zur anderen Straßenseite. Die Schnellstraße hat alles, was eine Schnellstraße ausmacht, sogar eine Mittelleitplanke, aber Sonntag sei Dank, keinen Verkehr. An einem Werktag, womöglich während des Berufsverkehrs, möchte ich diese Straße nicht überqueren müssen.

                    An einem Sonntag verschluckt auch eine Stadt wie León nicht jeden, sogar dann nicht, wenn der zu Fuß in die Stadt kommt. Zur Orientierung genügt mir eine Gruppe französischer Pilger, die weit vor mir sind. Warum die Führung nicht mal anderen überlassen; das Kümmern um den Weg, das ständige Ausschauhalten nach den in den großen Städten nur spärlich vorhandenen gelben Pfeilen?
                    Die Franzosen machen es gut. Ohne Umweg endet deren Führung mitten im Zentrum, direkt am noch verschlossenen Tor der Klosterherberge. Natürlich haben die mich schon lange bemerkt. „Deutschland benötigt nun mal einen Nachbarn, der zeigt wo es langgeht“, meinen die Vier, und bieten gut gelaunt weitere Hilfe an.

                    In León könnte man zwei volle Tage verbringen, denn hier hat es nicht nur Pilger hingezogen. Früher schlug hier eines der vielen Herzen Spaniens und mancherorts sind immer noch Reste davon zu finden.

                    Die römische VII. Legion war hier und hat der Stadt den Namen da gelassen. Das war zu erwarten, wo waren die Römer nicht? Immerhin haben die Besatzer den Spaniern auch die Sprache da gelassen.
                    Der katalanische Architekt Gaudi hat einen seiner neogotischen Paläste im Herzen der Stadt hochziehen dürfen. Heute residiert darin eine Bank. Klar, wer hat sonst die Kohle, um den Bau in Schuss zu halten.
                    Die Knochen des heiligen Isidor, Bischof von Sevilla(!) und einer der bedeutendsten Schriftsteller, Kirchenleute und Übersetzer des frühen Mittelalters, wurden Anfang des 11. Jahrhunderts hierhin verschleppt. Da war der Heilige schon ein paar hundert Jahre tot. Damit er was hermacht, hat man ihm eine eigene Kirche spendiert, die „Real Basilica De San Isidoro“ – immerhin königlich. Und seit 2001 ist Isidor von Sevilla Schutzpatron des Internets. Ob’s ihn freut?
                    Alfons VII. war vor 800 Jahren auch da, und hat sich hier zum Imperator ausrufen lassen. Anders gesagt, er hat sich das gesamte damals verfügbare spanische Reich untern Nagel gerissen.


                    Kathedrale von Leon
                    Und heute bin ich da, nur von mir wird nichts bleiben. Nur mein Name, den der Hospitalero ins Pilgerbuch eingetragen hat. Schon beim Umblättern zur nächsten Seite wird der in Vergessenheit geraten sein. Noch ehe die mit engen Linien überzogen Seiten der großen Kladde von den Rändern her mit dem Vergilben anfangen, werde ich dem namenlosen Staub der Geschichte anheimfallen. Tröstlich ist nur, dass ich dabei nicht alleine sein werde. Im Buch stehen die Namen einiger Menschen, die mir in den letzten Tagen ans Herz gewachsen sind. Vielleicht nicht fürs Leben, aber für diese Tage.

                    Duschen, die Faltblätter vom Touristenbüro studieren, kurz mit Bekannten vom Weg quatschen, ein längeres Gespräch mit dem alten Hospitalero, der endlich ein Opfer unter all den Ausländern gefunden hat, und schon ist Mittag vorbei und die Sonne macht sich hinter Wolken unsichtbar. Himmel, León läuft mir davon! Woher soll ich die Zeit für das alles nehmen?

                    Wenigstens die Kathedrale, diese gotische Bischofskirche, diese Orgie aus Stein und Glas. Hauptsächlich Glas. Fenster so groß und hoch, dass sie eigentlich unter dem Glas- und Bleigewicht zusammenbrechen müssen. Papst Johannes XXIII. hat diese Kirche auf einen griffigen Satz reduziert: „Dieses Gebäude besitzt mehr Glas als Stein, mehr Licht als Glas und mehr Glauben als Licht.“ Der hat bestimmt Sonne bei seinem Besuch gehabt, anders kann er nicht zu dieser Erkenntnis gelangt sein. Na, für den letzten Teil wird auch sein Glaube gelangt haben.
                    Also, für die Fenster, fürs Spiel der Farben braucht’s Sonne, viel Sonne. Noch scheint die, fragt sich nur wie lange noch.

                    Vergebens, als Maria und ich eintreffen, hat sich der Himmel mit dunklen Regenwolken zugezogen. Im Innern der Kirche leuchten nur die Steine des hohen Deckengewölbes. Schummeriges Kunstlicht macht es möglich. Die Fenster brauchen die Kraft des Sonnenlichts. Die Künstler längst vergangener Zeiten hatten nur das Licht der Sonne, und auf deren Kraft und Lauf sind die bunten Scheiben in den Fenstern abgestimmt. Nichts, die Sonne will heute nicht mehr. Das endgültige Aus kommt von einem Sicherheitsmann, der mich aus der Kathedrale weist. In einer Seitenkapelle hat eine Messe geendet, man will nun schließen!

                    Aus, vorbei. Ich verpasse nicht nur die Kirche, auch alles andere. Sinnlos aber gemütlich vertrödeln wir den Nachmittag. Es ist mal wieder so weit: Das Unterwegssein, das Gehen bis zum Horizont und dann noch ein Stück weiter ist wieder mal zum Tages- und Lebensinhalt geworden. León wird warten müssen, wie so viel alte spanische Städte mit ihren alten Kirchen, trotzigen Burgen und oft abweisenden Mauern.

                    Die Herberge im Kloster der Benediktinerinnen ist einer der wenigen Unterkünfte am Camino mit nach Geschlechtern getrennten Schlafsälen. Unten die Räume der Frauen, oben die der Männer. Nachmittags quillt das Untergeschoss über, während wir oben noch einen ganzen Raum frei haben. Überrascht vom Andrang der Frauen, stimmen die Nonnen nun einer gemischten Belegung zu. Es soll jedoch mindestens eine Bettenreihe frei bleiben, damit Männlein und Weiblein wenigstens optisch getrennt sind. Grenzland, ohne genauen Zuständigkeitsbereich, sozusagen.


                    Pfingstmontag, 12. Mai 2008 Ein Feiertag am Rand der Nationalstraße
                    Etappe: León – Hospital de Órbigo
                    Tageskilometer: 36 Gesamtkilometer: 442
                    Unterkunft: Albergue Parroquial de Peregrinos "Karl Leisner"


                    Im Páramo von León

                    Auf Jeff laufe ich noch innerhalb der Stadtgrenzen auf. Er kommt aus Kanada und findet wie alle Kanadier immer und überall Anschluss. Jetzt eben bei mir. Oder ich bei ihm? Egal, Hauptsache ich habe Begleitung auf dem öden Weg durch die Vorstädte Leóns. Mich wundert, dass Jeff alleine unterwegs ist, denn seit mehreren Tagen habe ich ihn immer nur in Begleitung einer etwa gleichaltrigen Irin gesehen. Meine Nachfragen quittiert er Bob Marley zitierend mit „No Woman No Cry“.

                    Und dann, Jeff ist schon lange in einer Bar am Stadtrand verschwunden, bin ich auf dem falschen Weg unterwegs. Nicht dass ich auf einem ganz falschen Weg abgebogen bin, aber hier wollte ich nicht hin. Es gibt mal wieder eine der so häufigen Alternativrouten, die eingerichtet wurden, um die Menschen von den Wegen neben den Nationalstraßen fern zu halten, und die oft auch durch schönere Landschaften führen.

                    Wie man auf den falschen Weg geraten kann? Na ja, ist ganz einfach. Wenn das Geschäft zu sehr leidet, greifen die Betreiber konkurrierender Pilgerherbergen schon mal zum Farbeimer und übermalen die gelben Pfeile. Zumal wenn die Route geändert wurde. Früher am Weg, heute im Abseits, gleich leere Kassen. Außerdem, ein wenig Faulheit, sich treiben lassen war auch dabei. Warum sich groß Gedanken machen, wenn es auch ohne geht?

                    Wir waren zu viert und standen unschlüssig an der Weggabelung hinter Virgen del Camino. Ein Norweger, ein Franzose, Maria und ich. Links oder geradeaus? Man müsste nur mal in die Wegbeschreibung schauen. Maria macht’s nie, die anderen machten ebenfalls keine Anstalten sich ins Buch zu vertiefen. Ich schon, und ich war der Meinung, dass, wenn wir über Villar de Mazarife gehen wollen, hier nach links müssen. Ach was soll’s, ist doch egal, beide Wege kommen in Hospital de Órbigo wieder zusammen, und ich rannte einfach den anderen hinterher, die sich keinen Deut um meine Ausführungen geschert hatten.



                    San Martin del Camino

                    Das ist jetzt die klassische Pilgerroute entlang der Nationalstraße. Nicht nur dass der Weg dem historische Verlauf folgt, früher, und damit meine ich vor wenigen Jahren, ging es direkt über die Straße nach Santiago. Heute gibt es einen separten Weg neben der Straße nur für uns, also für Menschen, die zu Fuß unterwegs sind.
                    Es dauert nicht lange, dann bin ich alleine unterwegs. Vermutlich wird sich daran heute nichts mehr ändern, denn der Blick auf die Wegskizze macht deutlich, dass ich bis zum heutigen Ziel immer an der Nationalstraße bleiben werde. Das werden sich die wenigsten antun wollen und folglich der schöneren Strecke folgen.

                    Ich muss hier nicht bleiben. Jede größere Stichstraße nach Süden würde mich nach drei, vier Kilometer auf die reizvollere andere Route bringen. Es wäre so einfach. Nur nach links abbiegen und der Straße folgen bis ein gelber Pfeil wieder nach Westen zeigt. Doch ich bleibe.

                    Heute ist der Tag der Nationalstraße, der Carretera N-120, der ich mehr als 25 Kilometer folgen werde. Auch gehört dieser Tag den Straßendörfern mit den langen Namen, die sich lange bevor die ersten Dächer über den Horizont wachsen, durch himmelhochstrebende Wassertürme ankündigen. In Valverde de la Virgen haben Störche den Kirchturm okkupiert. Von sonstigem Leben keine Spur. Nur der Verkehr auf der Straße und ich. Vor einem Haus in San Miguel del Camino steht auf einer Bank eine Schale mit Bonbons für Pilger auf dem Weg nach Santiago. Daneben ein Notizblock, man soll einen Gruß oder Wunsch hinterlassen, verkündet ein handgeschriebenes Pappschild. Ich hinterlasse einen Wunsch, den um schönes Wetter. Was soll ich mir sonst auch wünschen? Wortlos, weil grußlos, wen soll ich auch grüßen, geht es weiter durch den Ort.

                    Am Ortsrand von Villadangos del Páramo hat neue Kunst, die nicht nur entfernt an eine Panzersperre erinnert, einen Platz gefunden. Ein alter Mann in ausgetretenen Hausschuhen überquert langsam schlurfend die Nationalstraße. Er braucht dafür unendlich lange. Stillstand. Keiner hupt, keiner kurbelt das Seitenfenster seines klimatisierten Vehikels runter, um zur Eile anzutreiben.
                    San Martín del Camino, ein paar Häuser mehr, auch hier wieder die obligatorische Pilgerherberge, eine Bushaltestelle aus einem Guss, wenn auch Kunststoff, aber sie passt zum Ort. Auf dem öden Dorfplatz zwei Frauen, die mir den Weg zeigen. Ich muss weg von der Nationalstraße, für ein paar hundert Meter durch eine der Seitenstraßen, sozusagen durch den Hinterhof der Magistrale. Wäsche hängt reglos von der Leine, und wird von der Hitze, die sich vor den Hauswänden staut, zu Brettern verarbeitet. Aufgebockt harrt ein rostiger Peugeot der Dinge die kommen werden. Nebenan werkelt ein altes Ehepaar an einem Traktor, der dem Schrottplatz näher zu sein scheint als dem Feld.



                    Bushaltestelle in San Martín del Camino
                    Zwischen den Dörfern der Páramo von León, eine landwirtschaftliche Einöde. Den an seine Erträge denkenden Bauern mag der fruchtbare Boden freuen. Fürs Auge ist das hier nichts. Flach, kein Anstieg, kein Abstieg, kein Punkt, an der dem der Blick hängen bleibt. Einige Wiesen, viele noch unbestellte Felder, über deren Erde zinkfarbene Wasserleitungen führen. An Feldgrenzen schwarz-weiße Metallschilder, der Hinweis aufs private Jagdgebiet. Hecken, Wäldchen umzingelt von Brachland mit wintergrauem Gras. Stallungen, in der Sonne blitzende Getreidesilos vor schmucklosen Bauernhöfen.

                    Zeit in Hülle und Fülle, genug für Betrachtungen des spanischen Lkw-Fernverkehrs. Das Speditionsgewerbe in Spanien floriert allem Anschein nach. Groß, PS-stark, meist neu und viel zu schnell sind die Fahrzeuge unterwegs. Die Werbung auf den Planen verspricht alles. Heute noch hier, morgen schon dort und übermorgen ganz woanders. Was auch immer, wohin auch immer, wann auch immer. Leere Versprechungen, welche die Fahrer mit Inhalt füllen müssen.

                    Ach, Pfingstmontag, ein arbeitsfreier Feiertag? Nein, im erzkatholischen Spanien nicht. In diesem Land, das Landschaften Raum gibt, in denen ein mittelalterlicher Großinquisitor jeden Augenblick mit seinem Gefolge um die Ecke biegen könnte, sind kirchliche Feiertage keine Mangelware, aber meist sind das Arbeitstage. Weihnachten geht noch. Schenken, die große Lotterie, die Kinder, die Familie. Aber an Ostern, speziell in der Osterwoche, befindet sich das Land im Ausnahmezustand. Dann ist Spanien so katholisch, dass einige fliehen.

                    Ansonsten sind's Dorfheilige, die Heilige des Stadtviertels, der Schutzpatron der Kirche, die vielen Heiligen, die ihre schützende Hand über Fischer, Handwerker und alles und jeden halten sollen, die lokal einen viel größeren Stellenwert haben. Manchmal gibt es ein bescheidenes Feuerwerk, sehr oft Unmengen Knallkörper, die in den engen Straßen einen Lärm wie der sprichwörtliche Weltuntergang entfachen, eine Strohpuppe wird abgefackelt, die inbrünstige Prozession, eine Messe, die einmal im Jahr die Kirche füllt, der Priester gibt seinen Segen, der kirchliche Teil kommt an sein Ende und dann ... ja, dann endlich, hat das Weltliche hat die Oberhand. Es wird gefeiert. Rotweinflaschen, Paellapfannen, Süßgebäck an langen Tischen unter bunten Sonnenschirmen. Im Morgengrauen endet mal wieder einer der vielen Feiertage, die keinen großen Widerhall in den Kalendern finden. Vom restlichen Land ganz zu schweigen.



                    Brücke und Innenhof der Herberge in Hospital de Órbigo

                    Ganz zum Schluss Hospital de Órbigo, mit seiner langen Steinbogenbrücke um die sich eine der vielen Legenden um den Jakobsweg ranken. Ritter, Frauen, Kämpfe, Mut und all die Geschichten drumherum. Stoff aus dem heute die Gemeinde ihre Werbung macht.

                    Die Unterkunft ist schön. Ein kleiner, ruhiger, bunt bemalter Innenhof, hinten raus eine Wiese, ein Radiosender spielt klassische Musik. Die meiste Zeit sitze ich daneben und lausche der Musik. Musik, die ich zu Hause nicht hören würde. An diesem Pfingstmontag hätte ich mir keinen schöneren Ausklang wünschen können.


                    Dienstag, 13. Mai 2008 Fußgänger
                    Etappe: Hospital de Órbigo – Rabanal del Camino
                    Tageskilometer: 39 Gesamtkilometer: 481
                    Unterkunft: „Refugio Gaucelmo“ der britischen „Confraternity of Saint James“ (Jakobsbruderschaft)


                    Ehemaliger Bischofspalast in Astorga // Der "Aufstieg"

                    Vorbildlich! Tatsächlich, die beiden Mädels verhalten sich vorbildlich. Ganz leise haben sie sich ihr Zeug geschnappt und auf Zehenspitzen aus dem Zimmer geschlichen. Es ist niemand wach geworden. Jetzt packen sie draußen im stockfinsteren Innenhof ihre Rucksäcke. Sie haben eine Bank gefunden, auf der das ganz kommod vonstatten geht. Plastiktüten rascheln, obligatorisches Stöhnen übers Rucksackgewicht, die typischen Geräusche, die nur Plastikverschlüsse machen wenn sie einschnappen, fertig. Nicht ganz, denn eine Pilgermuschel fällt klappernd auf den Steinboden und wird unter wortreicher Anleitung „Mach sie diesmal bombenfest, ohne bist du kein Pilger“, wieder am Rucksack befestigt. Noch etwas Pilgertratsch; die Frage nach Zigaretten schwirrt über den Hof. Das metallische Klicken eines Feuerzeugs bestätigt, dass die Suche nicht ohne Erfolg war. Erste Rauchschwaden vermischen sich mit der frischen Morgenluft und ziehen durchs geöffnete Fenster.

                    Es reicht! Es reicht wirklich, denn die Bank steht vor unserem Fenster und das ist weit geöffnet. Mein Kopf ist noch nicht mal einen Meter von der Bank entfernt, von der es im schönsten Schwäbisch zu uns hereinschallt.
                    Wir sind alle wach. Da hat man endlich einen Schlafraum mit nur sechs Betten. Jeder hat sich schon beim Zubettgehen als Nichtschnarcher auf die eigene Schulter geklopft, und alle waren sich einig, dass man nur bei geöffnetem Fenster vernünftigen Schlaf findet. Kurzum: Perfekt.

                    Und dann das. Warum reißt keiner von uns, in dem Fall ich, denn die beiden Mädels sind schließlich meine Landsleute - die anderen kommen aus Venezuela, der Schweiz und den USA - die Klappe auf und jagt die beiden wenn nicht zum Teufel, dann doch wenigstens auf die Straße? Nein, leise grummelnd, mittlerweile sind alle wach, stehen auch wir auf. Die Schwäbinnen merken was sie angerichtet haben, denn als ich den Kopf aus dem Fenster stecke, sehe ich nur noch ihre Rucksäcke von hinten im Zwielicht der Morgendämmerung verschwinden. Pilgern kann ganz schön anstrengend sein, ganz besonders wenn man wandernd unterwegs ist.

                    Für heute haben die Jakobswegplaner wieder zwei Routen geschaffen. Mal wieder eine entlang der Straße und eine schönere, über ein einsames Hochplateau vor Astorga. Feldwege, Wiesenwege, Trampelpfade und Erdpisten führen über die waldige Hochebene.
                    Es ist nass und ungemütlich kalt geworden im Sommerland Spanien, besonders hier oben auf der ungeschützten Hochebene. Ob auf Dauer die grauen Regenwolken die Oberhand gewinnen werden ist noch nicht ganz entschieden. So schnell gibt sich der Sommer doch nicht geschlagen. Blauer Himmel und weiße Wolken lassen Hoffnung keimen. Jedenfalls bis zum nächsten Regenschauer. Fast tausend Meter über dem Meer, dazu ein Wetterumschwung und schon haben Regen- und Fleecejacke das T-Shirt abgelöst. Spanien macht Nordeuropa Konkurrenz.



                    Castrillo de los Polvazares

                    Der alte Franzose, vor Astorga laufe ich auf ihn auf, will tatsächlich heute noch bis Rabanal del Camino. Meine Güte, warum? Der Mann ist im Zweiten Weltkrieg geboren, trägt einen Rucksack der Größe XXL auf seinem breiten Rücken, dem jedoch ein Bauch gleicher Größe entgegenwirkt. Meinen Hinweis aufs sehenswerte Astorga und die vielen Herbergen der Stadt, wischt er mit einen lakonischen „Ich kann keine Kirchen und Mauern mehr sehen!" zur Seite. „Gehen, einfach nur gehen, das mache ich nun schon seit Wochen, mehr will ich nicht“, schiebt er nach. Vor zwölf Wochen ist er im Pariser Becken gestartet und hat all seine kulturellen Ambitionen nach und nach am Wegesrand gelassen. Zusammen mit der warmen Winterkleidung, seiner schlechten körperlichen Verfassung, der Sorge ums tägliche Wohlergehen, nicht zuletzt seine romantische Vorstellung vom Wandern in die Ferne. Frühstücken unterm Baum, Mittagessen in einem guten Restaurant, der Nachmittagskaffee auf einer sonnendurchfluteten Terrasse, das weiche Bett in einem guten Hotel, all das hat weichen müssen für die Freude am zu Fuß gehen, das langsame Vorankommen im Unbekannten. Nur das ist ihm wichtig geworden. Alles andere hat er sich abgewöhnt oder kann warten, bis er wieder in seinem alten Leben Fuß fassen muss.

                    Ich will auch nicht ihn Astorga bleiben, aber einfach so durch eine 2.000-jährige Stadt sprinten, nur um in Bewegung zu bleiben? Zu Fuß gehen und etwas von der Kulturgeschichte links und rechts des Caminos mitnehmen, sollte doch vereinbar sein. Nicht jede Ruine, jedes noch so unbedeutende Kirchlein oder jedes der unzähligen Pilgerkreuze am Weg ist ein Innehalten wert. Astorga aber ist mehr.

                    Doch was sich bei mir schon in León angekündigt hat, findet nun in Astorga seine Fortsetzung. Meine Erinnerungen an das so sehenswerte Astorga? Nicht viel: ein lebhafter Markt, der Geldautomat im Eingang einer Bank, eine Runde fürs obligatorische Foto um den neogotischen Bischofspalast, sowie eine hastige halbe Runde durch die Kathedrale. Bis auf den Stopp am Geldautomaten gab es kein Halten, kein Pausieren, kein Flanieren. Alles zusammen hat noch nicht mal eine Stunde in Anspruch genommen. Vorne den Berg hoch in das Städtchen rein, hinten über das Ausfallsträßchen wieder raus. Sogar die Pause habe ich erst auf einer Bank am Stadtrand gemacht.

                    Astorga ist eine schöne Stadt, aber Astorga wird warten müssen. Weil diese Stadt nicht alleine auf einer langen Liste steht, werde ich irgendwann die Rücksitze meines Autos umlegen, den freien Platz mit zwei Isomatten und Schlafsäcken auffüllen, mich hinters Lenkrad klemmen, meine Frau wird es sich auf dem Sitz daneben gemütlich machen, und dann werden wir all die Städte, Burgen, Klöster und Kirchen besuchen, die zu weit im Abseits liegen um sie zu Fuß zu erreichen oder die dem Unsteten, der Unlust am Stillstand geopfert wurden.

                    Das ist nicht nur bei mir und dem Franzosen so. Einige mehr machen das auch so. Gelistete, zu Tode beschriebe Sehenswürdigkeiten, Oasen der Kultur, Geheimtipps, diese Handelsware aller Reiseführer, verwunschene Orte, die man gesehen haben muss, die Treffpunkte der Welt, in denen man sich angeblich blicken lassen muss, um mitreden zu können, all das gerät bei dieser Art des Reisen zur Fußnote. Am Anfang einer langen Fußreise nehme ich noch vieles mit, irgendwann kommt der Punkt an dem das Unterwegssein, genauer das Unterwegsein zu Fuß, das einzige ist was zählt. Noch nicht einmal Wandern im eigentlichen Sinne. Wandern hat etwas von schönen Wegen durch berauschende Landschaften, von Brotzeit und Einkehr, von „Im Frühtau zu Berge ...“, den „klappernden Mühlen am rauschenden Bach“. Zu Fuß gehen ist anders, ohne Wurzel sein, eine kleine, kostbare Zeit ohne Heimat, mit dem Tag zufrieden sein, egal ob auf einem der Traumpfade dieser Welt, oder auf dem Seitenstreifen einer staubigen Industriestraße in den Hinterhöfen Europas. Nicht viele bevorzugen diese Art des Reisens, aber einige sind es schon. Tagediebe mit einem leichten Hang zum Taugenichts.

                    Jene Unlust, gar Ablehnung, die mich vor wenigen Wochen zum sofortigen Abbruch meiner Wanderung durch Portugal getrieben hat, ist wie weggeblasen. Vermutlich war es auch nie wirklich da. Ich bin wieder unterwegs.



                    Bei Rabanal del Camino

                    Berge, keine unbezwingbaren, aber immerhin Hügel, welche diese Bezeichnung verdient haben, erwarten mich hinter Astorga. In einem unendlich lang gezogenen, dazu noch schnurgeraden Weg geht es unmerklich bergauf. Müde wird man davon nicht.

                    Mittags stehe ich unschlüssig vor der Herberge in Santa Catalina de Somoza. Hierbleiben oder nicht? Wie so oft auf diesem Weg nimmt ein völlig Fremder mir diese Entscheidung ab. Mit „Du willst doch wohl hier nicht schon aufhören!“ zieht Martin mich mit. Einfach so. Ich kenne Martin nicht, er war zwar gestern in derselben Herberge, jedoch das war’s auch schon.

                    Martin ist vor siebzig Tagen in Süddeutschland gestartet und seitdem ununterbrochen zu Fuß unterwegs. Es hat nicht wie so viele zwischendurch mal den Zug genommen oder sein Gepäck transportieren lassen. Er ist alles gegangen. 2.500 Kilometer. Von Süddeutschland zum Bodensee, weiter durch die Schweiz nach Genf, über die Grenze nach Frankreich bis nach Le-Puy-en-Velay, dann übern Aubrac nach Saint-Jean-Pied-de-Port am Fuß der Pyrenäen, dorthin, wo „der“ Jakobsweg angeblich beginnt. Jetzt ist er hier und hat heute seit langem mal wieder seine Frau dabei, die ihn gelegentlich auf dem Weg besucht. Die letzten Kilometer bis ans „Ende der Welt“ wird sie ihn begleiten.

                    Martin gehört zu denen, die „auf Santiago gehen“, deren Jakobsweg vor der eigenen Hautür begonnen hagt. Er ist ganz bewusst auf dem Weg dorthin. Das Ziel ist nicht austauschbar, so wie bei mir. Doch er gehört ebenfalls zu denen, die von Unrast getrieben die Freude am Gehen entdeckt haben. An die Zeit danach will er jetzt, da das Ende seiner Pilgerschaft absehbar ist, nicht denken.
                    Zuletzt geändert von Werner Hohn; 31.12.2015, 16:45. Grund: Die finale Runde?
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                    Kommentar


                    • Marita
                      Anfänger im Forum
                      • 03.08.2008
                      • 45
                      • Privat

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                      #50
                      AW: [PT, ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

                      Zitat von Coenig Beitrag anzeigen
                      Hast Du eigentlich schon einmal überlegt ein Buch zu schreiben? Genau diese Art der Reiselektüre habe ich mehrfach erfolglos in Buchläden gesucht...
                      Dem kann ich nur zustimmen! Vielen Dank fuer den tollen Bericht!

                      Wann geht es weiter?

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                      • Flachlandtiroler
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                        Moderator
                        Liebt das Forum
                        • 14.03.2003
                        • 29019
                        • Privat

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                        #51
                        AW: [PT, ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

                        Zitat von Werner Hohn Beitrag anzeigen
                        Zitat von Rainer Duesmann
                        Staun.
                        Sicherlich nie mein Ding, ...
                        Rainer
                        Das hätte ich dir Anfang April ohne jeden Einwand unterschrieben.

                        Werner
                        Bislang hat es bei mir noch nichtmal für den Klappentext von "Ich bin dann mal kurz..." gereicht (wahrscheinlich ist das auch gut so ).
                        Ich hätte nicht gedacht das dieser Pilgerweg so lesenswert sein kann. , weiter so!

                        Gruß, Martin
                        Meine Reisen (Karte)

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                        • Werner Hohn
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                          Liebt das Forum
                          • 05.08.2005
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                          #52
                          AW: [PT, ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

                          Mittwoch, 14. Mai 2008 Pilgergeschichten
                          Etappe: Rabanal del Camino - Molinaseca
                          Tageskilometer: 26 Gesamtkilometer: 507
                          Unterkunft: Albergue „Santa Marina”


                          Rückblick nach Foncebadón
                          Und dann ist er doch da, der Anstieg. Es sind nur wenige hundert Höhenmeter, die überwunden werden müssen, die ziehen sich jedoch über so viele Kilometer hin, dass es so früh am Morgen keinem die Schweißperlen auf die Stirn treibt.
                          Es ist so kühl geworden in den Montes de León, dass der Atem kleine hauchfeine Wolken in die Luft entlässt. Triefende Taunässe hat sich über Felder und Wiesen gelegt, die im Gegenlicht der aufgehenden Sonne metallisch schimmern. Verfallene Stallungen, windschiefe Hütten, die Reste alter Begrenzungsmauern, eine von Büschen übergewucherte Quelle, lehmige Trampelpfade, all das gibt es hier oben auf beinahe anderthalbtausend Meter. Foncebadón, das bis vor wenigen Jahren nur aus Runinen bestand, war immerhin so wichtig für den mittelalterlichen Pilgerweg, dass hier ein spanisches Konzil abgehalten wurde. Lange Jahre nachdem der letzte Bewohner das Nest verlassen hat, kehrt heute wieder Leben zurück. Zwei Pilgerherbergen bieten Schutz und Unterkunft am Weg, der zum Pass hinauf führt. Die Calle Real gehört heute wieder den Pilgern und zwei träge in der Morgensonne dösenden Hirtenhunden.

                          Zum ersten Mal seit ich unterwegs bin, kann ich mich in die Pilger vergangener Zeiten hineinfühlen. Nicht so richtig, dafür trennt mich dann doch zu viel von den Menschen dieser Zeit, aber ein Hauch Gemeinsamkeit ist da. Die fünfhundert, achthundert oder noch mehr Jahre, die uns trennen, lassen sich nun mal nicht so einfach vom Tisch wischen. Ausrüstung, Unterkünfte, Sicherheit, ja sogar der Weg hat sich gewandelt, von der Rückreise gar nicht zu reden. Früher ging man alles wieder zurück, da gab es keine Billigflieger, keine Busse, die quer durch Europa fahren, nur der wieder viele Wochen, oft Monate zählende Marsch heim nach Frankreich, ins Heilige Römische Reich Deutscher Nationen, hoch ins kalte Skandinavien, einige weit, weit nach Osten.
                          Ungezählt jedoch sind die Pilger, die geblieben sind. Jene, die den Rückweg nicht mehr geschafft haben und in spanischer Erde verscharrt wurden, oder die von der Liebe gefesselt, vom Geschäft gebunden, auf der Flucht von der Heimat ferngehalten, den Weg zurück nicht mehr machen wollten. Nicht zu vergessen die Legionen, die in die Heere der katholischen spanischen Könige eingetreten sind, um das Land von der jahrhunderte dauernden Besatzung der Mauren zu befreien. Menschen aus ganz Europa, die nichts besseres zu tun hatten, als ihr Leben für eine fremde Krone zu opfern, das aber im Namen des selben Gottes.

                          Das war schon ein genialer Schachzug - vermutlich war es Zufall - den tiefgläubigen Menschen jener Zeit einen toten Apostel ins Nest zu legen, den es zu befreien galt. Warum sollte ein Bauer aus dem Frankenland seine zugige Hütte verlassen, ein Fischer vom windigen Kattegatt seinen Kahn am Ufer verrotten lassen, ein Hirte von den sonnenbeschienen Almen des Tessin die Herde im Stich lassen, ein ehrbarer Kaufmann vom Ufer der Budapester Donau sein einträgliches Geschäft aufgeben? Familienväter haben ihre Familie verlassen, ebenso Kirchenleute ihre Kirche, Söhne ihre Mütter, Männer ihre Geliebte, Väter ihre Söhne, Geldsäcke ihre Bankhäuser, Ritter ihre Burgen. Das alles wegen ein bisschen spanischen Bodens? Dem Glanz einer Krone, die nicht einer gesehen hat? Der Freiheit Europas? Pah, bestimmt nicht! Das sind Beweggründe für Hasardeure, Flüchtlinge, Lebensmüde, für Menschen, die nur einen Impuls brauchen, sich aus dem Staub zu machen – und sei er noch so fadenscheinig.


                          Bei Manjarín
                          Otto Normalmittelaltler brauchte mehr. Etwas Höheres, etwas für später, ein Stückchen Himmel, einen sicheren Platz fürs Leben danach. Vielleicht brauchte er auch nur eine Handreichung, sowas wie eine Anleitung, um sich in die eigene Tasche zu lügen. Was hört sich denn besser an? Sich auf den Weg machen, das Grab eines Apostels von den Ungläubigen zu befreien, oder der spanischen Krone zu helfen ihr Reich zu vergrößern, indem man die Mauren wieder übers Mittelmeer nach Afrika jagt? Wenn’s dann auch noch die sündige Lebensbilanz verschönert, bestimmt der Kampf für den Glauben, für die Befreiung eines Grabes auf einem namenlosen Feld.
                          Die Sache mit dem Sternenfeld kam später, obwohl der vorchristliche Sternenweg ja schon lange bekannt war. Diese uralte Ritualroute nahe dem 42. Breitengrad musste nur wieder mobilisiert werden. Heute würde man das der Werbung überlassen, damals gab es etwas ähnliches. Die Legendenbildung rund ums heilige Grab schaufelte ohne Unterlass Menschen aus Zentraleuropa an den westlichen Rand der bekannten Welt.

                          Das Muster war so erfolgreich, dass Luther sich genötigt sah, gegen die Pilgerschaft zu wettern. Geholfen hat es nicht. Pilgern war eine Massenbewegung im späten Mittelalter. Pilgern beeinflusste den kleinen Mann genauso, wie die Politik und die Wirtschaft. Wo sich die Pilgerströme nicht alten, lang bekannten Handelsrouten bedienen konnten, wurde neue Wege geschaffen. Brücken, Klöster und Hospize entstanden. Infrastruktur entstand, der wir uns teils heute noch bedienen. Das Heer der Pilger, welches im Mittelalter dem Ruf der unsteten Pilgerschaft gefolgt ist, zählte nach Millionen. Erst als die ganze Iberische Halbinsel fest in spanischer Hand war, kam der Pilgerstrom zum Erliegen.

                          Das, was heute als Run auf den Camino bezeichnet wird, ist also nicht ganz neu. Das Vermitteln höherer Motive, auch scheinheiliger, auch nicht.

                          Oben auf dem Pass, auf mehr als 1.500 Meter, steht das Cruz de Ferro. Ein kleines eisernes Kreuz, das ein langer von Sonne und Regen ausgebleichter Baumstamm dem Himmel ein Stück näher rückt. Stamm und Kreuz, beide recken sich über einen mächtigen Steinhaufen. Noch so ein Mythos. Jeder Pilger soll einen Stein, den er von zu Hause mitgebracht hat hier ablegen, um damit symbolisch seine Sorgen los werden.
                          Brocken liegen hier, mein Gott, wer hat denn solchen Kummer, solche Sorgen, wer schleppt so eine Last mit sich rum? Vermutlich war’s die Kippmulde eines Lasters aus einem der nahen Steinbrüche.
                          Zwischen den großen Brocken aber die kleinen Steinchen. Viele tragen einen Namen, ein Datum, eine Inschrift. Auf einer flachen Schieferscheibe kann ich eben noch den Wunsch nach einer Heilung für die Schwester lesen. Ein paar Zettel mit Namen, meist schon im Auflösen begriffen, wenige Schuhe, einer mit Namen und Datum, Fahrradketten, Ritzel und Handschuhe liegen über den Hügel verstreut.
                          Am Fuß des Baumstamms ein gelbes Trikot auf dem sich eine ganze Gruppe verewigt hat, Pilgermuscheln, ein, zwei Fotos von vermutlich lieben Menschen, eine Postkarte, viele Zettel, Kleidungstücke, viele Wandersocken, ein Strauß verwelkender Blumen.
                          Nägel, Schnüre, Expandergummis, Reißzwecken, Klebeband und ein Kaugummi halten alles am Platz. Bis zum nächsten Wolkenbruch oder einem der hier häufig wehenden Stürme, die Platz machen für neue Erinnerungen, Bitten und Danksagungen.


                          Das Cruz de Ferro
                          Am Steinhügel treffe ich auf ein französische Familie, die mit zwei Kindern und Maultieren unterwegs ist. Oh wie süß, wie romantisch, wie schön, was für eine schöne Erinnerung an die Kindheit, lassen sich die Zaungäste vernehmen. Ich weiß nicht. Ich habe mir die Gesichter der Kinder angeschaut. Selten haben ich solch Langeweile, Missmut und schlechte Laune in Kindergesichtern gesehen. Kinder finden es nicht toll, wenn sie den ganzen Tag alleine mit den Eltern sind. Kinder kotzt das wochenlange Gehen an, auch wenn sie zwischendurch auf dem Rücken der Mulis sitzen können. Kinder brauchen Kinder als Spielkameraden, keine alten Leute und auch keine Maultiere – mit Sicherheit nicht, wenn sich das Unternehmen über viele Wochen hinzieht.
                          Viele Umstehende vermuten, dass man mit Maultieren schneller voran kommt. Das Gegenteil ist der Fall, erklärt mir die Mutter. Tiere sind nicht so bescheuert wie Menschen. Mehr als 15 bis 20 Kilometer schaffen die nicht am Tag, sonst laufen sich die Maultiere unterm Packsattel wund. Auch dauert es, bis das Lager aufgeschlagen ist, denn nicht immer findet sich eine Unterkunft mit Platz für Vierbeiner. Die Familie schleppt ein großes Zelt, eine komplette kleine Küchenausrüstung, Kraftfutter für die Tiere und einige Spielsachen für die Kinder mit. Sogar ein Elektrozaun ist im Gepäck, denn nachts kann man die Maulesel nicht festbinden, jedenfalls nicht ohne Aufsicht.
                          Die Mutter ist begeistert, sie könnte das noch ein ganzes Leben so weitermachen. Die unter Fahrradhelmen versteckten kleinen Gesichter der Kinder sagen etwas anderes – mir jedenfalls.


                          Manjarin
                          Etwas weiter noch ein verfallenes Bergdorf: Manjarín. Meist nur ein Einwohner und ein paar halbwilde Hunde unter Gebetsfahnen, Gebetsmühlen, Glöckchen. Davor ein Wegweiser in alle Welt. Firlefanz, Mummenschanz, Zirkus am Camino, Spinner, Lebenskünstler, Esoteriker, Dreckloch, urige Herberge, der letzte Tempelritter, ein Leben im Sinne alter Pilgertradition, Pilgerfeeling aus dem Mittelalter. Die Meinungen, Ansichten Vorurteile und Stimmungen geben sich hier ein Stelldichein.
                          Tomás hat sich vor Jahren in der Einsamkeit der Bergwelt niedergelassen und betreibt in den verfallenen Gemäuern seine Herberge. Seit dem Tag an dem er das erste Glas Wasser einem Pilger in die Hand gedrückt hat, teilt sich das Lager in Bewunderer und rigorose Ablehner. Wie dem auch sei, mein Fall ist das hier nicht, und das bestimmt nicht wegen der Unterkunft. Zweifelsohne jedoch ist Tomás eines der letzten Originale am Weg. Schon das ist Grund genug, ihm einen langen Atem zu wünschen.

                          Ich drehe eine Runde durchs Gelände, schmeiß einen Blick in eine Behausung, setze einen Fuß auf die „Terrasse“ und ziehe weiter. Das Ortschild, immerhin neu, hat ein Spanier mit dem handschriftlichen Zusatz „VIVA LAS HILTON“ ergänzt. Ich glaube den Schreiber zu verstehen, nicht nur wegen der Sauberkeit und dem Komfort des Hilton.

                          Vermutlich hat Tomás sich einer der schönste Plätze am Camino ausgesucht. Es ist wirklich schön hier und sehr einsam. Über die holprige Straße ruckelt nun selten ein Auto, wenn doch stört es nicht. Meist bin ich eh auf einem felsigen Pfad unterwegs, der anfangs über den Kamm führt, sich aber bald steil ins Tal senkt. Aus dem Tal leuchten im hellen Sonnenlicht die schwarzen Schieferdächer von El Acebo bis zum Kamm hinauf. Fragt sich nur wie lange hält die Sonne noch durch? Heute Nachmittag noch, meint eine alte Frau auf dem Dorfplatz von Riego de Ambros. Wenn ich mich beeile, komme ich noch im Trocknen bis nach Ponferrada.

                          Bis dahin bin ich dann doch nicht mehr gegangen. Nicht dass es entgegen der Vorhersage früher zu regnen anfing, auch hätte die Zeit noch locker gelangt, aber Molinaseca hat mir gefallen. Schon beim Blick über die Brücke kam der Wunsch nach dem Bleiben auf. Den letzten Ausschlag gibt die junge Dänin, die auf der Terrasse vor der privaten Herberge sitzt. Wir haben uns schon mehrmals getroffen, zum letzten Mal gestern Abend in der Herberge von Rabanal del Camino. Wegen einer Entzündung am Fuß hat sie das Taxi genommen, und freut sich jetzt über Gesellschaft. Sie wird hier warten bis die Gemeindeherberge öffnet und dann dorthin umziehen. Die 7 Euro, die sie in der niegelnagelneuen privaten Unterkunft zahlen müsste, sind ihr zuviel. Ich bleibe in der neuen Herberge, denn die 8 Kilometer bis Ponferrada kann ich morgen auch noch gehen. Ich sollte sowieso meine Etappen verkürzen. Wenn das so weitergeht, bin ich viel zu früh in Santiago.


                          Unterwegs in den Montes de León
                          Molinaseca ist schön. Ein klarer Gebirgsbach rauscht unterhalb des Kirchenhügels durch die Rundbögen der Steinbrücke. Im Sommer kann man hier wunderbar baden. Zwei enge Sträßchen, die von alten, schmalbrüstigen Häusern flankiert werden, ein paar Bars, ein, zwei ausgebuchte Hotels, die offensichtlich ganz gut vom Pilgergeschäft leben, eine winzige Bäckerei, deren Inhaberin die Zeichen der Zeit erkannt hat und das Angebot um Obst und Getränke erweitert hat.

                          Gesellschaftlicher Höhepunkt, Treffpunkt der Jugend und Pilger, der Wanderer, Bus- und Hotelurlauber ist der Lebensmittelladen. Klein, niedrig, eine Theke in L-Form, über die einem der Besitzer und seine Tochter die verlangte Ware reichen. Einkaufswagen, Selbstbedienung ist hier nicht. Eine Batterie nackter Neonröhren an der Decke, versucht Licht ins Halbdunkel zu bringen. Vergebens. Man müsste die kaputten Röhren austauschen. Die winzigen Fenster sind mit staubbedeckten Waren aus lokaler Fertigung zugestellt, die sich erfolgreich dem Tageslicht entgegenstemmen.

                          Jeff, der Mann aus Kanada, ist auch da. Er hat sein Taschenmesser verschlampt und braucht jetzt ein neues. Natürlich gibt es hier alles, sogar das, was man nicht sieht. Der Mann hinterm Tresen zieht eine der unzähligen Holzschubladen hinter sich auf und reicht Jeff ein Taschenmesser. Sein Blick macht unmissverständlich klar, dass er stolz auf sein Sortiment ist. Widerrede zwecklos. Erstaunt, auch etwas zweifelnd, dreht Jeff den Gegenstand in seiner Hand. Zusammengeklappt ist das Messer kürzer als sein kleiner Finger. In Kanada gibt es so etwas nicht, er will ein größeres Messer, soll ich dem Mann hinterm Ladentisch übersetzen. Fehlanzeige. Das oder keins, wird uns klar gemacht. Fürs Brotschneiden taugt es allemal, wird demonstriert. Das aber erst, nachdem die Schraube die als Gelenk zwischen Klinge und Griff fungiert, mit zwei kräftigen Hammerschlägen gerichtet wurde.
                          Ich gönn’ mir ein Kilo Kirschen. Aus Cáceres, da sollen die besten Kirschen der Welt herkommen, meint die Tochter. Ich will’s ihr gerne glauben, denn im letzten Jahr war ich in Cáceres. Allerdings schwärmen die da unten mehr von ihrem Käse.

                          Ich sagte schon: Molinaseca ist schön. Nicht nur das Ortsbild oder die Landschaft, auch die geschäftstüchtigen Einwohner tragen dazu bei.
                          Zuletzt geändert von Werner Hohn; 31.12.2015, 16:57. Grund: Die finale Runde?
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                          • hikingharry
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                            • 23.05.2004
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                            #53
                            AW: [PT, ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

                            Wieder mal ein DANKE für die Fortsetzung. Wirklich sehr gut beschrieben, so gut vorstellbar. Vielleicht sollte ich mal alle deine Berichte ausdrucken, und in einem Zug durchlesen.

                            Gruß hikingharry

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                            • Peet
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                              • 19.08.2008
                              • 79
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                              AW: [PT, ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

                              Ich finde Deinen Bericht super geschrieben und verfolge ihn mit Freuden. Vielen Dank für die Mühe, die Du Dir machst. Wirklich ein sehr guter Bericht.

                              (Eigentlich muss kein Buch mehr geschrieben werden, man nehme den ganzen Reisebericht und lasse ihn drucken. )
                              Mein Blog mit Trekking und anderen Themen.

                              Kommentar


                              • Werner Hohn
                                Freak
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                                • 05.08.2005
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                                #55
                                AW: [PT, ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

                                Donnerstag, 15. Mai 2008 Wasserspiele im Bierzo
                                Etappe: Molinaseca – Villafranca del Bierzo
                                Tageskilometer: 32 Gesamtkilometer: 539
                                Unterkunft: Albergue municipal de peregrinos (Gemeindeherberge)


                                Templerburg im Ponferrada
                                Es gibt Bilder, die haben seit vielen Jahren einen festen Platz in meinem Kopf. Nicht, dass ich die immer vor Augen habe, aber beim passenden Stichwort sind sie da. Bei mir gehört eine Burg dazu, besser, das Bild von der Burg schlechthin.
                                Ein grüner Hügel, der von einem uneinnehmbaren Wall umgrenzt wird. Mächtige, zinnengekrönte Ecktürme bewachen die strategisch wichtigen Punkte. Zierlichere Rundtürme überragen die Brücke, deren Schutz sie gewährleisen sollen. Bruchsteine, Rundbögen, Zinnen, Fahnen. Eine Festung passend für die Ritter aus Artus' Tafelrunde, für Richard Löwenherz, für Barbarossa, für die Ritter vergangener Kindertage. Vor Jahren habe ich mir ein Buch übern Jakobsweg gekauft. Ein richtiges, keine hastige Wegbeschreibung. Ein großes, buntes Buch voll mit Erläuterungen zur Geschichte und Kultur. Und voll mit Bildern von Kirchen, Kreuzen, Häusern, Landschaften. Das Buch habe ich nicht mehr, auch die Bilder sind nicht mehr in meinem Kopf.

                                Bis auf eins, die Aufnahme der Templerburg von Ponferrada. Eine Burg in einsamer Landschaft unter blauem Himmel auf grüner Wiese. Immer wenn das Stichwort Jakobsweg fällt, habe ich diese Burg vor Augen. Keine Pilgermuschel, keine Kirche, nicht die Meseta, immer nur diese Burg. Schutz und Orientierung gebend, liegt diese Festung auf einem sanften Hügel in weiter Landschaft fern von Verkehr und Hektik. Vorstellungen und „Erinnerungen“ an einen Ort, an dem ich noch nie war.

                                Staunend stehe ich am Fuß der Burgmauer. Alles da, genau so wie ich es seit Jahren im Kopf habe. Genau so. Okay, das Wetter ist schlechter als auf dem Bild, es regnet. Dafür kann das Bild aber nichts. Nur eine Kleinigkeit ist anderes. Die Burg liegt mitten im quirligen Zentrum der Industriestadt Ponferrada. Nur ein schmaler Grünstreifen trennt die Burg von der mehrspurigen Innenstadtstraße, auf dem sich der morgendliche Berufsverkehr keinen Deut um meine zerstörte Illusion kümmert. Das holländische Ehepaar hat sich das auch anderes vorgestellt. Nicht so extrem anders als ich, anders eben. Vielleicht burgbergiger. Ebenso der Typ aus Neuseeland, der mit uns an der Ampel steht und auf Grün wartet, und dann doch den Weg abkürzt.

                                Daran hätte ich mir ein Beispiel nehmen sollen. Die verregnete Altstadt ist um diese Uhrzeit noch menschenleer und so toll auch wieder nicht. Das restliche Ponferrada ebenfalls nicht. Austauschbare kostenoptimierte Nutzarchitektur. Eine Industrie- und Verwaltungsstadt eben.

                                Die Oma vom Vortag hat mit ihrer Wetterprognose nicht daneben gegriffen. Regen, mal mehr, mal weniger. Unterbrochen wird er von so kurzen Pausen, dass es nicht lohnt sich mühsam aus den Regenklamotten zu schälen. Dabei sollen angeblich die Berge rund um den Bierzo, die die Landschaft zwischen den Montes de León und dem Höhenzug der Galicien vom Rest Spaniens trennen, den Regen abhalten.

                                Trotz, oder wegen des Regens, sind einige alte Omas unterwegs. Fast immer dunkel gekleidet, den Regenschirm untern Arm geklemmt, ziehen die Alten mit uns mit - halten sogar mit. Nein, die sind nicht auf dem Camino unterwegs, sie biegen am Friedhof vom Weg ab, springen beim nächsten Bäcker rein oder schleppen einen alten, knorrigen Rebstock, der im Feuer enden wird nach Hause. Regenwetter, Altfrauenwetter?

                                Sicherlich Schadenfreudewetter. Ich bin mal wieder auf eine Gruppe Buspilger aufgelaufen. Obwohl die ganz gut zu Fuß sind, denn welche Reisegruppe wartet schon gerne auf Fußlahme, sind die immer nur die schönsten 5 bis 10 Kilometer zu Fuß unterwegs, dann wartet schon wieder der Bus.
                                Am letzen Anstieg vor Villafranca del Bierzo öffnet der Himmel seine Schleusen. Und wie der die öffnet. Erst ein paar dicke Tropfen, dann ein kurzes Innehalten - als wolle jemand Vorwarnen – und dann Wasser, Wasser, Wasser. Das ist kein Sturzbach, keine Dusche am Maximalanschlag, da oben muss ein Damm gebrochen sein. Innerhalb weniger Minuten läuft das Wasser knöchelhoch über die abschüssigen Feldwege. Von den Dächern fällt das Wasser als geschlossener Vorhang zu Boden. Durch die Ritzen, Fugen und Löcher der alten Steinmauern schießt die Brühe auf Wege und Straßen.

                                In den Regenklamotten stecke ich ja schon seit dem zeitigen Aufbruch. Ich muss also nur ein paar Reißverschlüsse zuziehen, die Kapuze über Kopf streifen, und schon kann ich mich dem wohligen Gefühl hingeben, das entsteht, wenn sich kaltes Regenwasser zwischen Rucksack und warmen Rücken einen Weg sucht.
                                Anders, sogar ganz anders, schaut das bei meinen Begleitern aus. Glücklich ist, wer eine Regenjacke hat. Aber nicht lange. Nach wenigen Minuten sucht sich die Nässe einen Weg vom Saum übers dicke Futter nach innen. Wasser, welches diesen Weg nicht nimmt, landet auf der triefenden Baumwollhose, die jedoch blitzartig einen feuchten Verbund mit der Unterwäsche und den Strümpfen eingegangen ist. Regenschirmbesitzer sind plötzlich zu gefragten Menschen geworden. Bis zu den Schuhen reicht auch dessen Schutz nicht. Tänzelnd suchen einige einen halbwegs trockenen Platz fürs leichte Schuhwerk. Vergebens. Freizeitschuhe, Alltagsschuhe und Turnschuhe zeigen, warum sie eben diese Bezeichnung tragen.
                                Gut, meine Füße sind auch nass, aber daran habe ich mich gewöhnt, und wissen müssen die das ja nicht, aber alles darüber ist trocken. Gutgelaunt, mit einem wohligen Gefühl, das nicht nur vom Wasser, das über Rücken rauscht kommt, biege ich zur Herberge ab. Schadenfreudewetter!




                                Unterwegs im Bierzo
                                Ein Netz aus improvisierten Wäscheleinen spannt sich durch unseren Schlafraum, so dass kaum ein Durchkommen ist. Ponchos, Jacken und Rucksackhüllen versprerren zusätzlich den Weg zum Bett. Ich muss suchen, bis ich ein trockenes Fleckchen Zimmerboden finde, auf dem ich den Rucksack abstellen kann. Rund um die schwach glimmende Glut im offenen Kamin bilden Stühle einen engen Halbkreis. Auf den Lehnen ein Durcheinander von nassen Socken aller Couleur. Nahe an der heißen Asche dampfen hochschäftige schwere Wanderschuhe einträchtig neben leichten Laufschuhen vor sich hin. Gelegentlich wirft jemand einen Blick ins Zimmer, wendet vielleicht seine Strümpfe, holt das Paar Schuhe, das zu nahe an der Glut steht etwas zurück und geht wieder.
                                Im Kaminzimmer ist es ruhig, sogar nachdem die Hospitalera das Feuer neu entfacht hat und sich immer mehr Leute hier treffen bleibt das so. Lesen, leise mit einem Mitmenschen vom Weg plaudern, den dampfenden Schuhen beim Trocknen zusehen und dabei auf besseres Wetter hoffen.

                                Geschäftiges Treiben herrscht dagegen auf den Fluren und in den Zimmern, denn der Regen treibt schon früh die Menschen in die Unterkunft. In der Küche sind alle verfügbaren Herdplatten in Betrieb. Heißes Wasser für ein warmes Getränk wollen an diesen regnerischen Tag schließlich alle haben. Der Kaffeeautomat unter der Treppe spuckt ohne Unterlass Heißgetränke aus. Die vielen Bildchen versprechen leckere Getränke, internationale Kaffeespezialitäten und Hochgenüsse für den Gaumen: Kaffee mit und ohne, Cappuccino, Espresso, heiße Schokolade, heiße Brühe. Stimmt haargenau. Internationaler Einheitsgeschmack aus Plastik und Aromastoffen. Aber heiß ist die Brühe, da lügen die Bildchen nicht. Mehr braucht an diesem Tag keiner.

                                Jedes Mal, wenn sich die Türen zu den Duschen öffnen, zieht eine feuchtwarme Wolke durchs Haus, wo sie sich mit der nasskalten Luft vermischt. Jeder Neuankömmling bringt einen neuen Schwall Feuchte mit. Feuchte, die von Rucksackhüllen, von Regenhosen, von Schirmen und Ponchos tropft und auf dem Boden Pfützen hinterlässt. In einer Ecke lagert ein Berg nasser Putzlappen, aus dem sich ein Rinnsal den Weg zur Tür sucht. Den Kampf gegen das Wasser hat die Hospitalera schon lange aufgegeben. Nachmittags kann die Luftfeuchte in der Herberge von Villafranca del Bierzo locker mit der außerhalb des Hauses mithalten.

                                Bis die Sonne rauskommt. Schnell runter ins Städtchen. Sich umschauen, Leute treffen, in der Sonne sitzen, faulenzen, vorher aber ein spätes Mittagessen. Natürlich hat die Bar einen Speiseraum, meint die Frau hinterm Tresen, und zeigt dabei um die Ecke nach hinten. Und was für einen. An den Wänden dunkelroter Stoff, der von schwarzem ehemals hochglänzendem Holz umrahmt wird. Überall verspielte Leuchter, deren schwaches Licht sich in stumpfen Spiegeln bricht. Die Hocker vor der langen mit Kunstleder bespannte Theke sind unbesetzt. So wie das hier aussieht, war das früher eine richtige Bar. Keine Kaffeebar, so eine Bar, so was für richtige spanische Männer, mit Öffnungszeiten von Sonnenuntergang bis zum ersten Tageslicht. Die beiden Schotten, sonst ist kein Gast da, sind auch der Ansicht, aber das Essen soll gut sein.

                                Nachmittags wieder hinunter in die Stadt. Diesmal versorgt mit einem Einkaufszettel und klaren Anweisungen: „Du kennst dich ja schon aus!“ oder „Und ausgeruht bist du auch!“, freundliche, nicht ablehnbare Bitten und Aufforderung, der man sich schlecht entziehen kann, na ja, auch nicht will. Vermutlich das Los vieler Frühankömmlinge.

                                Am Abend mal wieder eine rein deutsche Runde – wie so oft in den letzten Tagen. Der Amerikaner, der mit seiner Tochter unterwegs ist, hat sich schnell verzogen, ebenso die Portugiesin. Das anfängliche Bemühen, das Palavern mit Händen und Füßen, das Blättern in Miniwörterbüchern, das Dolmetschen untereinander, all das hat sich abgestumpft. Reden aus dem Bauch raus, ein schneller Witz, Gefühle vermitteln, dass kann man am besten nun mal in der Muttersprache. Sogar Menschen, die mehrsprachig aufgewachsen sind, wollen nicht immer nur dolmetschen, auch die wollen sich nur unterhalten. Folglich bleibt in den Unterkünften meist jede Nation unter sich. Schade. Zum Ausgleich gibt es aber immer wieder die Treffen auf dem Weg, da funktioniert das immer wieder aufs Neue. Unterwegs können viele Menschen Unterhaltungen führen, auch wenn sie nicht ein Wort der Sprache des Gegenüber beherrschen. Na klar, Unterhaltung ist etwas hoch gegriffen, aber wer will, kommt mit der flüchtigen Bekanntschaft vom Weg ins Gespräch. Zeit, sich auf den Gegenüber einzulassen, ist genügend da. Für Alleinwanderer sowieso.

                                So wird es mal wieder typisch deutsch. Wir sind mal wieder zu laut, so laut, dass eine Gruppe junger französischer Pilger, das sind tatsächlich Pilger, nach ihrem Abendessen unter missbilligenden Blicken den Speiseraum verlässt.
                                Wir wälzen mal wieder Probleme. Die haben sich im Laufe der letzten Wochen aber gewandelt. In den Wochen des Unterwegsseins steht nun nicht mehr die große weite Welt im Mittelpunkt. Die dreht sich auch ohne uns weiter. Die kleinen Geschichten und Begegnungen vom Weg, die Sorgen und Erlebnisse des eigenen Lebens füllen jetzt unsere Köpfe und liefern Stoff für die Abende.
                                Die Ehe- und Lebenskrisen, der ganz persönliche Ärger auf der Arbeit oder mit den Nachbarn, die schmerzvolle Trennung vom Partner, von den Kindern, die Angst wie es nach dem Verlust der Arbeit weitergeht machen jetzt die Runde.
                                Ich soll auch mal was von mir erzählen, kommt’s über den Tisch. Ja, was? Ich kann nur von einer heilen Welt berichten. Sorgenfrei, problemfrei und aus Spaß an der Freud auf dem Weg unterwegs. Ich bin nicht hier, um meinen Sorgen und Problemen eine Auszeit abzuringen.

                                Zum Schluss noch ein kurzer Blick über die Rucksackschlange im Flur. Das gibt es wahrscheinlich nur in den Herbergen kurz vor dem Aufstieg zum Cebreiro. Rucksäcke, die fertig gepackt auf den Abtransport in aller Frühe warten, kenne ich nur aus Hotelhallen. Der Aufstieg nach O Cebreiro soll so anstrengend sein, dass viele ihre Rucksäcke transportieren lassen. Weicheier! Es gibt da noch einen Weg, der ebenfalls dorthin führt und der noch anstrengender sein soll. Der „Camino duro“, der harte Weg, aber der soll nur was für erfahrene Wanderer sein.





                                Freitag, 16. Mai 2008 Zurück für die Höhenflüge
                                Etappe: Villafranca del Bierzo - La Faba
                                Tageskilometer: 25 Gesamtkilometer: 564
                                Unterkunft: Herberge des Stuttgarter Jakobusvereins „Ultreia“


                                Villafranca del Bierzo am frühen Morgen
                                Nebel, der aus Tälern steigt. Junge Knospen und frisches Grün an den Bäumen, der Winter ist auch hier oben endlich vorbei. Zwischen den Bäumen lugt ein graues Dorf hervor. Ein breiter Wirtschaftsweg führt schnell, weil eben, durch einen lichten Kastanienwald. Wenige, meist verwitterte gelbe Pfeile an alten Bäumen und verfallenden Zäunen geben die Richtung vor. Ein halb unter Farn verstecktes Steinmännchen fordert zum Abbiegen auf einen kaum sichtbaren Pfad auf. Durchs Herbstlaub des alten Jahres stöbert schnüffelnd ein Hund. Von weitem grüßt winkend ein alter Mann. Versteckt hinter einem mächtigen Baum, habe ich den glatt übersehen. Rüber gehen und ein paar Worte wechseln? Nein, nicht denken müssen, nicht reden wollen. Alleine bleiben. Nur die Bilder und Stimmungen wirken lassen.

                                Steine bilden Wege. Hügel trennen Täler. Bäume wachsen zu Mauern. Lichtungen öffnen Horizonte. Höhen schaffen Ausblicke. Wind bringt Geräusche. Nebel schafft Stimmungen. Oben sein erzeugt Glücksgefühle. Weitsicht macht frei.

                                Eine imaginäre Grenze überschreiten und Alltägliches neu sehen. Nicht real erleben. Nicht vergleichen mit verstaubten Bildern im Kopf. Nicht beurteilen mit geraden, genauen Messlatten. Nicht einordnen in abgegriffene Schubladen.
                                Neues muss man fühlen, dem Alltäglichen entziehen. Mit Kribbeln im Bauch, mit summenden Hummeln im Arsch und heißem Kopf. Erlebnislandschaften für den Kopf, nicht für den Verstand. Träumen und Gehen gehören ebenso zusammen wie Denken und Gehen.

                                Unterwegssein für einen Moment ohne Verstand, nur für die Stimmung, fürs Leben im Augenblick, fürs Dasein in einer kleinen überschaubaren Welt. Erinnerungen bunkern für die schlechten Tage. Schnipsel, Fragmente, Augenblicke, mehr wird nicht bleiben, mehr soll nicht bleiben. Nur kurze, intensive Erinnerungen, mehr Gefühle als Erinnerungen an Wege, die zu lang sind fürs Erinnern. Und ebenso Erinnerungen für neue, für unbekannte Wege.






                                Talblicke
                                Vermutlich kann ich so lange Wege ohne solche Momente nicht gehen, nicht, wenn ich mir keine Gewalt antun möchte. Ich brauche diese Momente als Bollwerk gegen das tägliche Warum, das Runterzählen der Kilometer und manchmal gegen die Einsamkeit im Kopf.

                                Und vermutlich brauchen solche großen Wege wie dieser Jakobsweg, diese kleine Wege wie den hier. Wege mit kleinen Geschichten, die einen Ruf vor sich hertragen, an denen man sich messen kann, mit denen sich ein wenig angeben lässt, über die sich einvernehmlich stöhnen lässt. Die lärmenden Wege durch die ach so grauenvollen Vorstädte, für die man besser den Innenstadtbus nehmen soll. Die Wege am Rand todbringender Fernstraßen, in deren Gewimmel das Taxi zum Glück des Pilgers nicht auffällt. Die staubigen, lehmigen Pisten durch die nicht enden wollenden Ebenen, deren Distanzen nur im Zug auf ein erträgliches Maß schrumpfen. Eben Wege, die Entschuldigungen und Ausreden mitliefern.

                                Der „Camino duro“, der harte Weg und der folgende Anstieg zum Cebreiro gehören dazu. Über den Cebreiro müssen alle. Wer’s bequem haben will, lässt sich den Rucksack hochfahren. Und wer es noch bequemer haben will, der fährt bis La Faba mit dem Auto und "macht" nur die letzten 4 Kilometer zu Fuß. Sozusagen fürs kleine Poesiealbum, darin stand auch nie die Wahrheit. Übern „Duro“ muss man nicht, man kann, sofern man will. Viele wollen nicht, denn die Alternative unten im Tal ist zu verlockend. Wozu 500 Höhenmeter rauf auf nicht ganz 1.000 m stiefeln, wenn man zum Schluss doch wieder bei den anderen im Tal landet? Quälen nur für ein bisschen Aussicht und Landschaft?

                                Mein „Camino Duro“ war anders. Kein Quälen, kein Schleppen und kein Mühen. Meiner hat Bilder geschaffen, steht oben und er wird einen kleinen Ehrenplatz bekommen. Kein Denkmal, nur eine kleine Nische, an der ich gelegentlich Halt machen kann.

                                Dabei hätte ich den beinahe verpasst. Obwohl fest geplant, hatte ich den Abzweig übersehen. Es hat eine viertel Stunde gedauert, bis mir auffiel, dass ich den Weg durchs Tal genommen habe. Umkehren?
                                Seit dem Start in Pamplona bin ich noch nie umgekehrt und zurück gegangen. Ich mag das nicht. Eher ertrage ich den Lärm der Fernstraßen, die Öde ausgedehnter Industriegebiete oder die Häuserschluchten der Vorstädte, als auf dem Absatz kehrt zu machen und alles noch mal zurück zu gehen. Heute muss ich zurück. Warum ist mir selber nicht ganz klar, denn so toll wird der andere Weg auch nicht sein. Also alles wieder zurück! Mindestens eine halbe Stunde für die Katz’.

                                Ich blicke in erstaunte Gesichter und höre Fragen ob man noch auf dem richtigen Weg sei. Keine Sorge Leute, ihr seid alle auf dem richtigen Weg, nur ich bin mal wieder auf dem falschen. Nicht nur ich. Gotthilf, ein nicht mehr ganz junger Pilger vom Niederrhein, schließt sich mir an. Der will auch unbedingt auf den „Duro“. Alles zurück bis zur Brücke in Villafranca del Bierzo. Hier muss er sein, der Aufstieg in luftige Höhen. Etwa das Betonsträßchen hoch? Ein Autofahrer bestätigt unsere Vermutung. Mittlerweile sind wir zu viert, denn zwei aus unserer Runde von gestern Abend, die sich jedoch den Rucksack auf den Pass fahren lassen, schließen sich uns an.






                                Auf der Hochebene am "Camino duro" // Tafel an der Kirche von La Faba
                                Tatsächlich, es geht steil nach oben, nicht so steil wie bei mir hinterm Haus, dafür dauert es länger. Gotthilf bleibt als erster zurück - das Alter. Ein Zeit lang halten die beiden ohne Rucksack mit, dann bin ich alleine. Und dann beginnt mein „Camino duro“.

                                Später treffe ich unten im Tal auf Mechthild und bleibe bei ihr hängen. Wir sind uns schon öfter übern Weg gelaufen, sind uns also nicht mehr so ganz fremd. Sie will heute nur noch bis La Faba kurz unterhalb des Cebreiro. Ich will heute noch übern Pass und wenn es gut läuft noch ein oder zwei Stunden weiter.

                                Einen Café con Leche und zwei Stunden später lande auch ich in La Faba. Mechthild bleibt, Maria wird auch noch kommen, die Herberge ist in Ordnung, eine dunkle Regenwolke drängt, Zeit habe ich in Massen und der Anstieg aus dem Tal hier rauf war anstrengender als der „Camino duro“. Warum also weiter übern Pass?

                                Die Herberge ist im ehemaligen Pfarrhaus innerhalb des ummauerten Kirchenbezirks untergebracht. Sanierte Bruchsteinmauern, akkurate Schieferdächer, über die sich die Kronen alter Laubbäume ausbreiten, ein Kirchturm mit neuer Glocke. Ein Bild von einem Kirchlein, das sich unter den nahen Pass zu ducken scheint, doch weit ins Tal hinunter schaut.

                                La Faba hat nur noch 20 Einwohner, eine Bar, zwei Pilgerherbergen und einen „Laden“, dessen Angebot in ein Billy-Regal passen würde. Einheimische kaufen hier nicht. Niemand zahlt diese Preise und vermutlich werden die Bewohner des Dorfes auch keinen Bedarf an Fertigsoßen und ähnlich Überflüssigem haben.
                                Ich brauche das auch nicht, denn am Abend werde ich in der Gemeinschaftsküche von einer brasilianischen Gruppe zum Mitessen aufgefordert. Die haben richtig gekocht. Nudeln mit mehreren Soßen. Als die Gruppe fertig ist, räumen sie ihre Teller und Besteck ab, spülen alles und sind verschwunden. Der letzte Esser spült die fünf Töpfe und das Kochgeschirr ... auch auf dem Camino gibt es nichts umsonst.

                                Maria ist mal wieder unter den Nachzüglern. Macht nichts, denn auch sie bekommt noch ein Bett. Und Maria ist etwas stolz, weil sie ist ebenfalls den „Camino duro“ gewäglt hat. Es sei eine spontane Entscheidung an der Abzweigung gewesen. Oha, noch mal Glück gehabt. Heute in der Früh war mir nicht klar, warum ich zurückgehen sollte. Jetzt weiß ich es. Nicht auszudenken, welchen Spott ich über mich ergehen lassen müsste, wenn ich den Weg zurück gescheut hätte.






                                Samstag, 17. Mai 2008 Eine Stocksymphonie in Galicien
                                Etappe: La Faba - Triacastela
                                Tageskilometer: 25 Gesamtkilometer: 589
                                Unterkunft: Private Herberge „Complexo Xacobeo“


                                Im Morgengrauen der letzte Blick auf Kastilien-León
                                Kurz hinter La Faba hat’s angefangen, jenes wolkenverhangene Land aus Regen und Nebel am Ende der Welt. Jenes Land, in dem sogar die grauen Steinmauern der Häuser den Schutz schieferschwarzer Dächer suchen. Das Land hochragender Wälder und ungezählter Wasserläufe, über das sich ein meist regendunkler Himmel spannt. Ein oft graues, kaltes, meist ein nasses, trotzallem ein schönes Märchenland. Galicisches Märchenland. Bei diesem Wetter manchmal ein mythisches Märchenland.

                                Dann reißt der Himmel auf, und Galicien ist grün, so grün, als hätte die Natur bei der Erschaffung dieses Fleckens nur diese eine Farbe gehabt. Etwas Blau hat die Natur auch noch irgendwo gefunden. Für den Himmel, damit die Sonne einen Platz findet, um all das Grün zum Leuchten zu bringen. Für das Leuchten regennasser Schieferdächer, die dann aus dem Tal hoch blitzen. Für Wassertropfen, die im scharfen Licht eines einsamen Sonnenstrahls, der einen Weg ins Dunkel der Wälder gefunden hat, funkeln. Für Wasserläufe, die sich durchs hohe Gras grüner Wiesen kämpfen. Auch eine galicische Märchenwelt. Bei diesem Wetter aber nüchterner.

                                An diesem Morgen ist Galicien nass und kalt und ungemütlich. Nebel steigt aus den Tälern, wabert über den Pass und taucht die Wälder rund um den Cebreiro in unwirkliches Licht. Schlammige und steile Pfade führen hinauf nach O Cebreiro, dem ersten Ort Galiciens. Dunkle Steinmauern, die dunkle verlassene Sträßchen eingrenzen. Darüber eine dunkle Kirche, bewacht von einem weißen Hund. Sanierte Steinhäuser mit rechten Ecken, geraden Wänden, polierten Dächern, behauenen Fensterstürzen. Einige pallozas, jene runden urtümlichen Bauernhäuser aus mythischer keltischer Vorzeit, bieten heute neben musealer Anschauung gut betuchten Wanderern stilvolle Bleibe und Schutz vor den wechselhaften Launen des Wetters. O Cebreiro geht es offensichtlich gut. Ein bewohntes Museum. Der Ort lebt heute von Tagesausflüglern und Pilgern. Erstere wollen meist den Gral, den Heiligen Kelch von Galicien, sehen und bei Letzteren rückt ab hier das baldige Ende des Caminos in die tägliche Gedankenwelt.






                                Im Nebel am Cebreiro
                                So um die 150 Kilometer sind es ab hier noch bis ins Ziel. „So viel noch!“ oder „Nur noch das bisschen?“, das sind die unterschiedlichen Blickwinkel auf das was noch kommt. Spätestens hier fängt das erneute Einteilen, das endgültige Vermessen der Kilometer an. Einige werden nun trödeln können, während andere aufs Tempo drücken müssen.

                                Tick, tick, tick, tick. Da ist es wieder, das eindringliche Geräusch, das mich seit Beginn dieser Wanderung begleitet. Mal lauter, dann wieder leiser, manchmal unhörbar. Aber wenn es da ist, dann immer leicht scheppernd, blechern. Metallbewehrte Spitzen moderner Trekkingstöcke auf hartem Asphalt machen solche Geräusche. Kurz, flüchtig, regelmäßig wiederkehrend wie ein Uhrwerk. Oft störend, gelegentlich nervend, aber der tägliche Klang dieses Weges. Man muss es hinnehmen, wie das Wetter oder die Herbergen.

                                Tick, tick, tick, tick. Kurz war es weg, nun ist es wieder da. Sehen kann ich niemanden, nur hören. Doch heute Morgen ist das keine Lärm. Das Geräusch, diesen Rhythmus, ja fast schon den Klang der Stöcke kenne ich. Das ist hohe Kunst, die nur ein eingespieltes Team zustande bringt. Viele, viele Kilometer waren nötig für diese Symphonie für acht Trekkingstöcke. Es ist perfekt: Acht Stöcke im Einklang. Acht Spitzen die absolut gleichmäßig aufgesetzt werden, die wie eine klingen. Da hängt keiner nach, stochert im eigenen Takt durchs Land, oder lässt gar gedankenlos einen seiner Stöcke übern Teer schleifen. Kein großes Gerede, von Geschwafel ganz zu schweigen. Wenn, dann nur wenige Worte wegen des Streckenverlaufs oder einer knappen Anweisung wie „Wir bleiben auf der Straße!“. Fast schon Befehlston.
                                Ich mag die Kerle, die da oben über mir zum Pass von San Roque eilen. Natürlich bleiben sie auf der Straße. Tempo machen um jeden Preis. Seit Tagen treffe ich sie immer wieder. Mal bleiben wir ungewollt für ein kurzes Stück beieinander, mal trennt sich unser Weg schon nach ein paar eiligen Minuten. Wenn möglich, nehmen die immer die Straße, es geht da schneller voran und angeblich soll man da besser gehen können.
                                Man trifft sie oft, diese Trupps Stöcke schwingender Pilger, die sich meist gemeinsam auf den Weg gemacht haben und nach Möglichkeit immer zusammen bleiben. Stoßtrupps nenne ich die für mich. Einer gibt das Tempo und die Richtung vor, der Rest folgt mit klappernden und fliegenden Stöcken.






                                Regenwetter
                                Über mir auf der Straße, das ist die hohe Schule der Stockgänger. Die sind in internationaler Besetzung unterwegs, und haben sich sogar unterwegs erst gefunden. Keine Generalprobe zu Hause, kein Abstimmen des Tempos, kein Aussuchen nach Schrittlänge. Vier Männer die wenig Gemeinsames haben. Alter, Größe, Sprache, Schrittlänge, Gepäck, nichts passt zusammen. Das Wirrwarr dreier Sprachen, das Tempo des Jüngsten, nichts lässt auf einen Einklang schließen. Und doch, sie sind perfekt und das nicht nur heute. Immer wenn ich sie höre, höre ich den Klang einer Symphonie für acht Trekkingstöcke. Tick, tick, tick – es klingt wie ein Stock.

                                Ablenkung für einen unspektakulären Regentag, der trotz deutscher Schulklasse in der Herberge ruhig ausklingt. Ein Abend der seit vielen, vielen Kilometern erstmals wieder am Rechner und im Internet endet. Keine aufregenden Neuigkeiten aus der Welt der geschwätzigen Foren und den aus Bits und Bytes geschaffenen Briefkästen. Die Welt vermisst mich nicht und das schon seit Los Arcos. Das war bei Kilometer 70. Beruhigend.





                                Sonntag, 18. Mai 2008 Miese Laune und ein Junkie
                                Etappe: Triacastela - Ferreiros
                                Tageskilometer: 31 Gesamtkilometer: 620
                                Unterkunft: Albergue de Ferreiros (Xunta-Herberge, Unterkunft der Regionalregierung)


                                Hütte im Regen // Hof im Regen
                                Regen, Nebel, Wind und tief hängender Himmel. Abscheuliches Wetter für Regenjackenautisten wie mich. Wasserdicht einmümmeln, Kapuze dicht ziehen und von der Welt abschotten. Mit gesenktem Kopf, dabei im eigenen Saft garend, vor sich hintrotten ohne einen Blick für die Welt da draußen.
                                Die Welt da draußen riecht. Die riecht nicht nach frischer Frühlingsduft und auch nicht nach der Frische eines reinigenden Sommerregens. Die Welt da draußen riecht nass und muffig. Der vor sich hinmodernde Bauernhof, den ich durchqueren muss riecht nicht, der stinkt bestialisch. Das ist nicht der Geruch von Kuhscheiße und Gülle. Irgendwo im dunklen, kaum mannshohen Stall verfault ein totes Tier. Kein Mensch lässt sich blicken, nur helles, wütendes Hundegebell dringt aus dem oberen Geschoss. Nase zu und durch. Noch weiter einsinken ins gedankenlose Dahintrotten. Bloß nicht dem Scheißwetter um mich herum mehr Aufmerksamkeit schenken als nötig.

                                Ein Laut, ein Ruf verschafft sich Zugang in meine geschlossene Welt. Trotz des monotonen Geprassels, den Regentropfen auf Plastikkapuzen verursachen; trotz der Gedankenbarriere, die mich von der Umwelt abschottet. Am Abzweig, den ich vor Sekunden passiert habe, steht einer der ruft und winkt. Ist das nicht der Koreaner, den ich eben erst überholt habe? Klar doch! Ist dem etwas zugestoßen, oder warum winkt der so heftig? Nun ja, dann mal die paar Meter zurück. Ihm ist nichts zugestoßen, ich hätte mich beinahe verlaufen. Wir müssen hier rechts, klärt er mich auf. Und er sei Japaner, kein Koreaner, fügt er angesauert hinzu. Hoppla, mein erster Japaner und der ist dann auch noch schlecht gelaunt. Sind die doch nicht immer nur höflich? Anfangs hielt ich alle Koreaner für Japaner, bis ich aufgeklärt wurde, dass das alles Südkoreaner seien. Seitdem ist jeder Asiat für mich ein Koreaner. Bei dem Wetter hier oben am fast tausend Meter hohen Alto de Riocabo sowieso.

                                Regenwetter, Mieselaunewetter. Die miese Laune hält auch noch an als ich Sarria erreiche, immerhin bei Sonnenschein. Es noch keine 12 Uhr. Grade mal Mittag und ich spiele mit dem Gedanken, für heute Feierabend zu machen, denn am Jakobsweg, der mitten durch Sarria führt, reiht sich Herberge an Herberge. Warum nicht Schluss machen für heute? Eine SMS-Runde mit Maria verscheucht auch diesen Gedanken. Tritte in den Hintern lassen sich heutzutage auch auf digitalem Weg austeilen. Dann mal weiter.

                                Hinter Sarria fangen die letzen 100 Kilometer an. Wer als Fußgänger die Pilgerurkunde haben will, muss den Weg ab hier zu Fuß zurücklegen. Sarria und alles was danach kommt, hat sich darauf eingestellt. Ab hier fällt man fast im 2-Stundentakt von einer Herberge in die nächste. Für die meisten Spanier, seit Neuestem auch für viele meiner Landsleute, ist das hier ein Muss. Mal eben 4 bis 6 Tage auf den Camino und dann in Santiago anstellen für eine Pilgerurkunde. Macht sich immer gut, so ein Papier. Den Spaniern verschönert die Urkunde den Lebenslauf, sogar bei Bewerbungen wird das Papier gerne gesehen, und die anderen haben was zum Vorzeigen, zum Erinnern. Oder doch nur ein Stück Papier fürs Passepartout hinter Glas? Zeigen, dass man dabei war, dass man den Camino gemacht hat?

                                Mittags, hinter Sarria, ist der Camino jedoch menschenleer. Bis auf ein spanisches Ehepaar treffe ich niemanden. Wo stecken die Massen? Nur eine große Gruppe Radfahrer - die für die Urkunde 200 Kilometer machen müssen – ist unterwegs. Die Jungs hier machen das an einem Sonntag. In aller Früh in Ponferrada gestartet, werden sie gegen Abend Santiago erreichen und sich am Pilgerbüro in die lange Schlange einreihen. Ein perfekter Sonntag! Man tut etwas für die Gesundheit, das berufliche Vorankommen und fürn Pastor daheim.

                                Schlagartig sind alle wieder da. Musste ja so sein. Zuerst mal wieder zwei Busse mit Kurzstreckenpilger. Direkt zwei! Mindestens siebzig Leute werden auf einen Schlag auf den Weg losgelassen. Eine Busladung Deutschland, eine Busladung Vereintes Königreich. Das Bildungsbürgertum unterwegs auf dem Camino. Die Internationale der Oberstudienräte und Theaterabobesitzerinnen vereint unter dem Zeichen der Jakobsmuschel. Natürlich nehmen die diesen Weg. Genau hier ist der historisch, so richtig historisch, nicht mal so ungefähr und vielleicht. Zwischen den Weilern und Höfen finden sich noch jede Menge alter Verbindungswege, die schon zu römischen Zeiten existierten, und darüber wird der Jakobsweg geführt. Steinige, knorrige, enge Wege zwischen alten Mauern, beschattet von uralten Bäumen. Sicher, diese Wege hat jeder Jakobswegreiseveranstalter im Programm, die kann niemand auslassen. Das Eintauchen in die Geschichte des Pilgerwegs. Eins werden mit dem Camino. Den Atem der Vergangenheit spüren. Auf den Spuren der Vorgänger pilgern. Irgendwas in diese Richtung.






                                Nach dem Regen
                                Papperlapapp! Nach dem Dauerregen der letzten beiden Tage sind die Wege so überflutet, dass sich alles auf die Trittsteine drängt. Es staut sich an den Engstellen. Es staut sich ebenso an den Kreuzen und Kapellen. Alles wartet geduldig, ist auf nervige Art freundlich, lässt, wenn erforderlich, dem Nachbarn den Vortritt.

                                Nur einer ist nicht freundlich, ist sogar richtig schlecht gelaunt – ich. Ich habe heute meinen Extratag für beschissene Laune. Ich will nicht zu jedem freundlich sein, schon überhaupt nicht, wenn mir einer „Avanti! Avanti!“ hinterher ruft. Mann, wir sind hier nicht in Italien! Mit ist es wurscht, was die Leute von mir denken. Wie ein Schnellzug, der einen auf dem Nebengleis abgestellten Güterzug überholt, ziehe ich vorbei. Platsche durchs Wasser, drängel mich zwischen die Reihen, drücke von hinten aufs Tempo , schiebe mich zwischen schwatzende Paare, maule die Laute von der Seite an. Unfreundlich, unhöflich, mies gelaunt. Gottfried, der vom „Camino duro“, ist auch wieder da. Der hält mit. Warum? Keine Ahnung! Vielleicht auch sein schlechter Tag?

                                Zwischen den Buspilgern tummeln sich jede Menge neue Gesichter mit großen, nagelneuen Rucksäcken. Aha! Da sind sie also, die Jäger der letzen hundert Kilometer. Von einer Bar in die nächste, dann weiter zur nächsten Herberge. Die brauchen keinen Kaffee und auch noch kein Bett. Die wollen Stempel für den Pilgerausweis. Zwei pro Tag würden für diese Kurzstrecke reichen. Bei den meisten sehe ich mehr. Stempeljäger im Kampf gegen die Jungfräulichkeit des Pilgerpasses.

                                Ob das Bett unter meinem noch frei ist, hat Heinrich gefragt. Sicher doch, denn noch liegt da nichts drauf; und ich bevorzuge als einer der Wenigen die obere Etage. „Schön, dann schlafe ich in diesem Bett zum vierten Mal“, freut er sich und knallt seinen von der Sonne gebleichten Rucksack auf das Bett der Pilgerherbege von Ferreiros.

                                Heinrich wird im nächsten Jahr 70. Heinrich ist ein Junkie! Keiner von der Sorte die Spritzen oder Pfeifen braucht oder sich anderweitig den Kopf zudröhnen. Auch braucht er seinen Stoff nicht jeden Tag, aber abhängig ist Heinrich trotzdem. Hochgradig abhängig! Heinrich ist ein Camino-Junkie. Einer, der spätestens nach einem Jahr wieder auf den Camino muss. Es ist egal, ob auf den hier oder einen seiner nicht so bekannten Brüder. Hauptsache Camino. Heinrich ist schon dreimal den Hauptweg gegangen, war auch schon auf dem Camino del Norte unterwegs und kommt nun von der Vía de la Plata aus dem Süden Spaniens hoch. Er hat nicht wie alle anderen die Hauptroute über Ourense genommen. Er ist nach Astorga hoch gegangen, damit er auf den Hauptweg kommt. Noch mal ein paar Etappen auf dem Jakobsweg gehen. Noch einmal in Erinnerungen schwelgen, denn dieser hier wird sein letzter sein, denn allmählich wird er zu alt dafür.

                                Man trifft sie gar nicht mal so selten, diese Junkies der Caminos. Meist fallen sie nicht sonderlich auf. Einige gehen jedes Jahr für ein paar kurze Wochen auf den Weg, nur mal wieder ein paar Etappen machen. Andere gehen immer wieder den kompletten Camino, immer nur den Hauptweg. Dann gibt es die, die jeden spanischen Camino mal unter den Füßen gehabt haben wollen. Ehemalige Berg- und Weitwanderer sind genauso dabei, wie Hausfrauen, die einmal im Jahr ihre Familie im Stich lassen und sich den Weg gönnen. Ebenso Pilger, Sinnsucher, Drückeberger, Camino-Pioniere und Realitätsflüchtlinge.
                                Vernünftige Erklärungen hat niemand zur Hand. Vielleicht ein Schulterzucken, ein verlegenes Lächeln oder „Weil er nun mal da ist!“. Wieder wird man bei der Ankunft in Santiago seinen Lieben versprechen, dass es der letzte Camino war und schon dabei wissen, dass man im nächsten Jahr erneut losziehen wird. Junkies eben.

                                Heinrich gehört auch dazu, auch wenn diesmal endgültig Schluss sein soll. Sein von der harten Sonne Südspaniens verbranntes Gesicht, in dem sich die Haut an Nase und Ohren löst, spricht Bände.

                                Sollte es einen Himmel geben mit einem Petrus, der vor dessen Tor wacht, sollte Petrus neben dem Eingang zum Paradies und der Pforte zur Hölle, noch eine dritte Alternative anbieten können. Ein kleines unscheinbares Türchen, dass wieder runter auf die Erde nach Spanien führt. Ein Türchen direkt auf die Pilgerwege, eine Bonusrunde nur für die Camino-Junkies.
                                Zuletzt geändert von Werner Hohn; 04.01.2022, 18:24.
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                                  AW: [PT, ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

                                  Montag, 19. Mai 2008 Ist das der Camino?
                                  Etappe: Ferreiros – Palas de Rei
                                  Tageskilometer: 32 Gesamtkilometer: 651
                                  Unterkunft: Private Herberge „Buen Camino“


                                  Spanische Pilger mit leichtem Gepäck // Erlaubtes Hilfsmittel
                                  “Ausziehen, du musst dich bis auf die Unterwäsche ausziehen.“, hat der gut 40-jährige Koreaner gesagt, der neben mir auf einem Bett sitzt. Vor ihm auf dem Boden sitzt eine junge Spanierin, die unschlüssig mit einem verlegenen Lächeln zu ihm hinauf schaut. Gespannt beobachten wir anderen die Szene. Drei spanische Männer, zwei spanische Frauen, eine sehr junge Norwegerin und ich. Der Koreaner spricht Englisch, ein Spanier dolmetscht. „Ich bin Priester, du musst dir keine Gedanken machen, und ich kann dir helfen.“, macht er ihr Mut. So beginnt der schönste Abend der letzten drei Wochen.

                                  Der Tag war seltsam zerfasert, zerstückelt, als habe er nicht vor, sich in die Erinnerung zu drängen. Die zwei Stunden runter von Ferreiros zum Stausee von Belesar waren wie ein Gehen in Halbschlaf. Ruhig, verpennt. Gehen, weil man weiter muss, weil man an diesem Tag keine andere Wahl hat.
                                  An der Brücke übern Miño, der wird hier zum See gestaut, habe ich ebenfalls keine Wahl gehabt. Ich musste hoch nach Portomarín, denn ich brauchte Wasser und etwas zu essen. Wer das nicht braucht, kann sich den Weg auf den Hügel sparen, es sei denn man will zur Kirchenburg der Johanniter. Mal wieder zu früh dran, für die Geschäfte. Eine freundliche Frau sperrt extra für mich ihren Supermarkt eine viertel Stunde früher auf. Nein, Brot hat sie noch nicht. Der Bäcker war noch nicht da. Es wird auch ohne gehen.

                                  Wieder runter, wieder zurück. Über einen wackeligen Eisensteg zurück auf den Pilgerweg. Nun ist das scheinbar ein ganz anderer Weg. Lebendig, voll, schnell, gesprächig, geschäftig. Viele, viele spanische Pilger mit kleinem Gepäck, meistens Alte, die sich ihr Gepäck mit dem Auto zur Unterkunft fahren lassen. Besseres, bequemeres, erholsameres Pilgern. In dem Alter verständlich. Trotzdem auch die scheinen zu eilen. Am Straßenrand überfüllte Bars, die oft einen Extratisch für den Pilgerstempel, der zur Sicherheit mit einer dünnen Kette gesichert wird, aufgestellt haben. Selbstbedienung für die ganz Eiligen.

                                  Auch die Namen der Dörfer scheinen es eilig zu haben. Auf den Ortschildern prangen keine langen Dorfnamen mehr, so wie in Kastilien-León, die dort oft schon die halbe Dorfgeschichte erzählen. Kurz sind die Namen hier, zumeist aus zwei, drei Silben bestehend. Manchmal so kurz wie die Dorfstraße der kleinen Weiler, die oft noch erstaunlich gut erhalten sind. Ein paar alte Häuser, die sich um eine meist romanische Kirche drängen. Ein verwittertes Steinkreuz markiert den Dorfplatz. An einer Häuserecke ein noch immer intakter Waschtrog, der sogar noch genutzt wird. Die kurzen Ortsnamen auf den weißen Schildern halten ihre Ankündigung nicht, denn eilig hat es hier niemand. Zeit hat für die Menschen hinter diesen Mauern eine andere Bedeutung. Die viele Zeit, die schon vergangen ist, und die wenige Zeit, die noch bleibt. Die Dörfer leben von den alten Frauen und den trägen Hunden. Letztere heben noch nicht mal den Kopf, wenn man vorbei geht.

                                  Und nun bin ich hier in Palas de Rei, in der bis heute teuersten Unterkunft am Weg. 9 Euro wollte die Frau hinter den Zapfhähnen haben. Einsamer Rekord für ein Stockbett! Ein Missverständnis hat mich hier hin geführt. Ich hatte eine alte Frau nach der Gemeindeherberge gefragt, und deren Antwort falsch verstanden. Und im Schlepptau hatte ich den Koreaner, den vorgeblichen Priester, was mir da aber noch nicht bekannt war.

                                  Wir kennen uns schon seit Tagen. Wir haben uns gelegentlich in den Unterkünften getroffen, oft auf dem Weg gesehen und noch öfter gegenseitig überholt. Groß geredet haben wir nie, nur ein paar Worte gewechselt. Er geht ebenfalls alleine, auch er zieht es vor, nur für sich zu gehen.
                                  Groß, drahtig, einer dünner Bart rund ums Kinn, ein spärlicher Rest schwarzer Stoppelhaare auf dem Kopf, die von einem verwegen gebundenen Tuch verdeckt werden. Der könnte glatt aus einem billigen asiatischen Kung Fu-Film entsprungen sein. Modische Freizeitkleidung, ein schmaler Rucksack, leichte Laufschuhe, immer gut gelaunt. Sehen so die Männer der Kirche aus? Nein. Priester sehen anders aus, sind ernster, seriöser. Und doch, kommt nicht jeden Abend ein altes koreanische Ehepaar zu ihm? Und behandeln die ihn nicht beinahe ehrfürchtig, ihn, den viel Jüngeren? Sollte er doch Priester sein?

                                  Die Frau vor uns auf dem Boden scheint keine Zweifel zu haben. Nach kurzem Zögern zieht sie sich bis auf die Unterhose und den BH aus und rutscht näher an den Mann ran, damit er sie besser massieren kann. Sie ist um die dreißig und gehört zu der Gruppe Spanier, mit denen wir auf einem Zimmer liegen. Die sind wie so viele jetzt auch nur die letzten 100 Kilometer für die Pilgerurkunde unterwegs. Heute ist ihr zweiter Tag, und dementsprechend kaputt sind alle. Die Frau vor uns auf dem Boden klagt über fürchterliche Verspannungen im Rücken; ein klarer Fall für asiatische Massagekünste. Es hilft, jedenfalls behauptet sie das, und fragt nach der Entlohnung, denn so selbstverständlich sei das ja wohl nicht.
                                  „Nichts, überhaupt nichts“, bekommt sie als Antwort, und ein „Das ist der Camino!“ schiebt der Koreaner noch hinterher. Ungläubig, erstaunt wollen die Spanier das nicht akzeptieren und schleppen uns runter in die Bar. Wenigstens ein Glas Rotwein, ein Bier oder so, irgendwas wollen unsere neuen Bekannten zurückgeben.

                                  Und sie wollen etwas haben, nein, erleben: jenes berühmte Camino-Feeling, die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft vermeintlich Gleichgesinnter. Also runter in die Bar. Ein Belgier und ein Ire finden auch noch den Weg an unseren Tisch. Je später der Abend wird, um so mehr erinnern sich alle an Reste ihres Schulenglischs. Spanische Sätze, durchmischt mit englischen Wörtern treffen auf englische Sätze, die mit spanischen Wörtern angereichert werden und wo das nicht reicht, helfen, Hände, Füße, Gesten und Mimik. Irgendwann fällt erneut der Satz „Das ist der Camino!“, wieder in Verbindung mit spontan geleisteter Hilfe.

                                  Ist das wirklich der Camino? Macht das diesen Weg zu einem besonderen Weg? Nein! Zu allererst ist das eine abgedroschene Phrase. Vielfache Wiederholungen einen Schlagwortes, das dadurch nicht mit Inhalt gefüllt wird. Hilfeleistungen, Handreichungen, Unterstützung gibt es auch auf anderen Wegen. Hier macht es eben die Masse. Wo viele sind, lässt sich oft helfen. Aber viel öfter kann man wegsehen, vorbeigehen, denn es sind ja noch andere da.
                                  So hat sich niemand dafür interessiert, dass wir Roberto, meinen „Gegner vom Privatrennen“, mit schmerzenden Gelenken in der Herberge von Mansilla de las Mulas verarztet haben - obwohl wir mitten auf der Treppe saßen. Einen Tag später saß er stundenlang mit kühlendem Eiswickel und hochgelegtem Bein mitten im Hof der Herberge in Leon. Vermutlich ist jeder der 150 Gäste an diesem Nachmittag an Roberto vorbeigegangen, ohne Hilfe anzubieten. Gefragt haben viele, aber helfen wollte niemand. Wie gesagt: Hilfe gibt es auch auf anderen Wegen. Selbstverständlichkeiten, die nicht mit einem Schlagwort belegt werden müssen.

                                  Und den Apfel, den eine Frau über den Zaun reicht, das Glas Wasser, das aus einer kalten Flasche ausgeschenkt wird, den gut gemeinten Rat wegen des Wegverlaufs, den heißen Tipp für die Unterkunft, das kann man auf jedem anderen Weg erleben. Sogar noch eher als auf diesem Camino.

                                  „Das ist der Camino!“ oder abgewandelt „Das ist der Weg!“ hört man auf anderen Wegen nicht. In all den Jahren, in denen ich zu Fuß unterwegs bin, habe ich das nie gehört. Nicht auf den Europäischen Fernwanderwegen, schon gar nicht auf den neuen Premiumwanderwegen, die mit erheblichem Marketing unter die Leute gebracht werden. Sogar nicht auf der Vía de la Plata im letzten Jahr, und das soll immerhin ein Pilgerweg sein.

                                  Was ist also der Camino? Dass sich ein Frau inmitten einer Männerschar bis auf die Unterwäsche auszieht und sich massieren lässt? Eher nein. Vermutlich war auch ein bisschen Abenteuerlust dabei; oder das Gefühl, dass so etwas auf dem Camino alltäglich ist. Ja, es ist schon alltäglich, aber meistens suchen sich die Beteiligten eine ruhigere Ecke.




                                  Am Waschtrog // Klare Verhältnisse
                                  Das Besondere an diesem Camino sind die Menschen. Nicht so Leute wie ich oder die unzähligen Gelegenheitspilger, die den Weg mal eben so machen. Menschen wie die vielen Problemwälzer, Sinnsucher und Realitätsflüchtlinge, die hier zuhauf zu finden sind. Menschen, die eben wegen ihrer Probleme auf genau diesem Weg unterwegs sind und freimütig darüber erzählen, habe ich sonst nirgendwo getroffen. Mal eben auf den Camino, als könne ein Weg Probleme lösen.

                                  Die Mutter, die ihre zwei kleinen Kinder für 6 Wochen der Obhut der Verwandtschaft überlassen hat, damit sie zu sich findet. Sie erzählt das in einem Ton, als erwarte sie Bestätigung und Beifall. Sprachlos und ohne Abschiedsgruß bin ich weiter gegangen. Was hätte ich ihr sagen sollen? Das, was ich in diesem Augenblick wirklich gedacht habe?

                                  Der Ehemann, der sich eine Auszeit von seiner Frau genommen hat, ohne deren Zustimmung. Er muss sich in Ruhe Gedanken über die „Beziehung“ machen. Der Kerl erzählt das, als erwarte er eine Rat. Zu was soll man raten? Ist seine Ehefrau überhaupt noch da, wenn er zurück kommt?

                                  Der Holländer mit den verwirrenden Geschichten aus seinem Leben. Sein tägliches Anecken bei den Kollegen und der Ärger mit dem Chef. All das setzt sich im Privatleben fort. Bis ins kleinste Detail bekomme ich alles erzählt. Die gemeinsten Tricks und Finessen seiner Umwelt, die angeblichen Schikanen seiner Nachbarn und die sich daraus ergebende Einsamkeit sind Thema für einen ganzen Abend in einer Bar. Er sieht sein Verrennen, sein Festhalten am verzerrten Blickwinkel und kann doch nicht loslassen. Der Weg soll’s richten. Ermüdet von seinen wirren Sprüngen durch seine unverstandenen Sorgen, lasse ich ihn zurück. Selten war ich über das frühe Schließen der Herberge so froh. Ein vorgeschobener Grund zum Aufbruch.

                                  Ja, dann gibt es noch die Pilger. Richtige Pilger mit einem Anliegen, mit einer Bitte, einige auch mit einer trotzigen Forderung. Die trifft man eher nicht auf Wegen wie dem Hermannsweg oder auf der Route von der Nordsee an den Bodensee. Die kann man hier treffen. Leider gehen sie fast unter in der Masse. Die meisten tragen ihr Pilgerdasein, ihre Beweggründe nicht offen zur Schau. An der Pilgermuschel, dem Zeichen der Jakobuspilger, lässt sich das ebenfalls nicht erkennen, die baumelt an so gut wie jedem Rucksack.

                                  Pilger sind oft sehr leise. Vielleicht nur leise geworden unter all den geschwätzigen Muschelträgern. Ihr Anliegen, ihre Sorgen, ja sogar ihr Glauben ist nichts für den abendlichen Plausch in der Bar oder auf der Mauer vor der Unterkunft. Aber manchmal tut sich ein Fenster auf, fängt einer mit dem Erzählen an, selten laut, mehr für sich, gelegentlich wie ein Selbstgespräch. Hilfe und Rat erwartet niemand. Effekthascherei, damit man mal wieder im Mittelpunkt steht, ist allen fremd.

                                  Der alte Mann aus Belgien, der jeden Meter, den er geht den Rosenkranz betet. Über seine Beweggründe wollte er nicht sprechen. Vermutlich konnte er auch nicht, denn für eine Antwort müsste er stillstehen, denn beim Gehen will er beten, nicht nur die Perlen durch die Finger gleiten lassen.

                                  Da ist die Frau aus der Schweiz, die ihre Lebensgeschichte in wenige dürre, schmucklose Sätze verpackt. Sie will nur einem Wanderer, den sie noch keine 2 Minuten kennt, Widerrede geben. Warum? Vielleicht, weil trotz aller Differenzen etwas da ist was verbindet? Ohne spürbare Emotionen, nüchtern, fast hart, verschönt nur durch ihren kaum wahrnehmbaren Dialekt, erzählt die Frau die Geschichte ihres Lebens, eines Lebens, dessen Umstände besser im Mittelalter aufgehoben wären als im Heute. Eine Lebensgeschichte, die zu einer Frage herausfordert, die unbeantwortet bleiben wird.

                                  Jenes alte Ehepaar aus dem Norden, das für eines ihrer Enkelkinder unterwegs ist. Zunächst zögerlich, als wollten sie das Thema Glauben und Religion aus dem Weg gehen, dann aber bestimmt und ohne Zweifel, erzählten sie von ihren Beweggründen.

                                  Der junge Mann aus Südtirol hat die größte Enttäuschung seines Lebens hinter sich. Anfang des Jahres ist er nach Lourdes gepilgert. Natürlich in einem Bus voll mit Gleichgesinnten, vom Glauben bewegten Menschen. Es ist eine einzige Enttäuschung. Hinfahren um religiös zu sein. Zurückfahren um da gewesen zu sein. Die Massenabfertigung, das Durchschleusen durch die Grotte, die nicht enden wollende Reihe der Andenkenläden mit Devotionalien, die er nicht braucht. Wenn das Pilgern sein soll, dann ist jede Autobahn nach Rom ein Pilgerweg. Unter einer Pilgerfahrt hat er sich jedenfalls etwas ganz anderes vorgestellt. Auf der Rückfahrt hat eine Mitreisende vom Jakobsweg erzählt, da würde er all das finden, was er suche. Einen Tag später hat er sich Wanderschuhe und Rucksack gekauft, mit täglichem Training angefangen und aufs Frühjahr gewartet. Nach 4 Wochen auf dem Camino ist er mit sich im Reinen. Vielleicht auch, weil er nicht auf der Suche nach seinem Glauben ist. Er will nur mal beten, und wie es sich für eine Pilgerfahrt gehört nicht mit dem Hintern auf dem Sitz eines klimatisierten Reisesbusses. Beten, sagt er, kann man hier mit den Füßen.

                                  Noch etwas ist das Besondere an diesem Weg. Genau genommen trifft das auf alle langen Wege zu, aber weil es hier für viele der erste lange Weg ist, verbinden das alle mit dem Camino.

                                  Das ungewohnte lange Unterwegssein fordert Vieles. Vielleicht verlässt den ein oder anderen mal der Mut ob der nicht enden wollenden Kilometer, der drückenden Last auf dem krummen Rücken oder der mal wieder monotonen Landschaft. Von denen die durchhalten, werden einige verändert nach Hause kommen. Die haben gesehen und erlebt, wie wenig man zum Leben braucht. Wie wenig leben braucht. Materielles, das wofür man sich krumm legt, lässt sich auf Rucksackgröße reduzieren. Frei sein, ungebunden sein braucht wenig. Nur den ersten Schritt machen und losgehen. Der unnötige Ballast im Kopf löst sich schon auf – wenn man es zulässt.

                                  Auch das ist der Camino. Das Loslassen, die Aufgabe eingeschliffener nie hinterfragter Gewohnheiten und Ansichten, um vielleicht Freiheit erleben – und sei es nur auf Zeit –, das gibt dieser Weg einigen Menschen. Manch einem wird es zur Sucht werden und sich immer häufiger aufmachen, um sich aus den Zwängen des Alltags zu lösen. Anfangs unbemerkt, dann immer mehr, bis man wieder loszieht. Der Auslöser kann eine Lappalie sein. Ein Wanderrucksack, den ein verschwitzter Wanderer durch die Stadt trägt, ein Buch, das jemand unachtsam auf dem Wühltisch der Buchhandlung hat liegen lassen.

                                  Die Veränderungen, die wochenlanges Leben mit reduzierten Ansprüchen in vielen Köpfen bewirken, lassen sich nirgendwo so einfach erfahren wie auf diesem Weg. Aufbrechen um Ballast los zu werden. Auch "Das ist der Camino!".



                                  Dienstag, 20. Mai 2008 Hundeleben
                                  Etappe: Palas de Rei - Arzúa
                                  Tageskilometer: 29 Gesamtkilometer: 680
                                  Unterkunft: Herberge de Arzúa (Xunta-Herberge)


                                  Irgendwo an einer Gabelung // Lili
                                  Auf Lili treffe ich nun schon den vierten Tag hintereinander, wenn man es ganz genau nimmt, sogar den fünften. Lili ist ein erstaunliches Mädel, jedenfalls für meine Begriffe. Noch kein Jahr alt, und schon kann sie auf eine Wanderung von mehr als 700 Kilometer zurückblicken. Lili hat sogar 70 Kilometer mehr auf dem Buckel als ich, denn sie ist in Saint-Jean-Pied-de-Port jenseits der Pyrenäen gestartet. Hin und wieder ist Lili schneeweiß, meist jedoch kommt sie in der Farbe des gerade durchwanderten Untergrunds daher. Das Mädel reicht mir noch nicht mal bis zur Kniescheibe. Lili ist ein West Highland Terrier, also eine dieser Hündinnen, die in der Regel auf warmen Decken und flauschigen Teppichen ihr Leben fristen. Lili ist trotz der vielen Tage, die sie unterwegs ist, noch immer putzmunter und kann es kaum erwarten, dass es weiter geht. Ihre „Chefin“, den Namen wollte sie nicht verraten, wenn, dann sei sie als „Mutter“ von Lili bekannt, gönnt sich mal wieder eine Kaffeepause. Pausen mag Lili überhaupt nicht, denn sie hat vor ein paar Tagen ein Zwangspause machen müssen.

                                  Lili kenn’ ich nun seit Villafranca del Bierzo mit seiner Herberge im strömenden Regen. Einen Kaffee wollt’ ich mir ziehen, am Automat unter der Treppe. Während die Brühe blubbernd und dampfend den Weg in den Plastikbecher findet, habe ich Zeit mich umzusehen. Was liegt da eigentlich fürn Müll unter der Treppe? Im diffusen Halbdunkel der kleine Nische unter der Treppe lässt sich kaum etwas erkennen. Vielleicht eine alte Decke, ein vergessener Schlafsack? Und was ist der weiße Knäuel oben drauf? Sieht aus wie ein schmutziges Handtuch. Bei dem Licht kann man kaum was erkennen. Als ich den Kopf unter die Treppe stecke, bewegt sich das Handtuch, die vermeintlich alte Decke auch. So lerne ich Lili und ihre Begleitung kennen.

                                  Weil Hunde nicht in spanische Pilgerherbergen dürfen, liegen die Beiden unter der Treppe. Das sei ein noch lange nicht selbstverständliches Entgegenkommen der Hospitalera gewesen, meint Lilis Begleiterin. Weil sie damit gerechnet hat, dass sie selten ein festes Dach über dem Kopf haben werden, steckt in ihrem Rucksack ein kleines Zelt, das die Beiden schon mehrmals vor einer Nacht unter freiem Himmel bewahrt hat. Damit Lili die lange Strecke durchhält, hat sie ein nicht ganz leichtes Paket mit Kraftfutter dazu gesteckt. Alles in allem mehr als 20 Kilo. Beachtlich, nicht nur weil sie eine Frau ist. Mir hätte ich das auf keinen Fall zugemutet. Und wo die überall schon gepennt haben. Unter alten Kirchendächern, in zugigen Schuppen, in nassen Eingängen und eben im Zelt. Für die Frau ist es der dritte Camino, für Lili der erste. Es wird dabei bleiben, denn so anstrengend hat sich die „Mutter von Lili“ das alles nicht vorgestellt.

                                  Wegen Rückenschmerzen muss zwei Tage in Villafranca del Bierzo pausiert werden. Länger ist es auf keinen Fall möglich, denn der Rückflugtermin steht fest. Der Arzt hat ein Attest ausgeschrieben, damit die Frau mehr als einen Tag in der Unterkunft bleiben darf. Leider war da das Problem mit dem Hund. Ohne kein Problem, aber mit ..? Vermutlich lag es an den treuseligen Augen Lilis, welche die Hospitalera ihre Vorschriften großherzig auslegen ließ. Für die zweite Nacht bekommen die Rekonvaleszenten sogar ein Bett zugewiesen. Der Hund sei sauberer als die meisten Pilger!
                                  Auch wenn der Rücken noch streikt, morgen müssen sie weiter. Der nahe Termin erlaubt keinen weiteren Tag zur Genesung. Versehen mit einem Packen Schmerzmittel und einem Satz Trekkingstöcke wird es schon gehen, meint die Frau.
                                  Seitdem treffe ich jeden Tag auf den Hund und ihre Begleitung. Klein und weiß wie Lili nun mal ist, ist sie eine begehrtes Fotomotiv, und wird wahrscheinlich über die Festplatten der Welt verteilt werden. Eins ist jedenfalls sicher: Wenn Lili wieder in ihrer Heimat ist, hat sie bei ihren sozialen Kontakten einiges zu erzählen - auch wenn’s ihr die großen Kollegen bestimmt nicht abnehmen werden.




                                  Zeitsprung im Vorbeigehen
                                  Sogar Rosi, die Frau vom ersten Tag und aus Burgos, treffe ich wieder. Sie winkt aus einer Bar rüber. Sieh an, auch sie hat es bis hierhin geschafft, wenn auch mit viel Bus fahren. Zugetraut habe ich ihr das nicht. Seit einigen Tagen ist Rosi mit gleichgesinnten Frauen unterwegs, die wie sie auch nur in Hotels und Hostals schlafen. Aha, neben den Gemeinschaften, die sich aus den Pilgerherbergen kennen, gibt es auch die aus den Hotels. Erstaunlich, dass es so wenig Berührungspunkte gibt. Erstaunlich ist auch, wie groß die Distanz zu Rosi geworden ist. Ein paar Tage haben gereicht, um die Welt aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu beurteilen. Die drei Frauen leben immer noch im Hier und Jetzt, machen sich Sorgen und Gedanken um den Anschlussweg hinter Santiago obwohl sie den nicht gehen werden. Die angeblichen Überfälle und so. Mein Zeithorizont reicht bis zum heutigen Abend. Ein zufällig daherkommender Pilger mit Esel ist für mich willkommener Anlass, ja Ausrede, die Bar fluchtartig zu verlassen.

                                  In der Schlange, die sich mal wieder vor dem Tor der Herberge gebildet hat, treffe ich Mechthild wieder, die Frau die mich nach La Faba gelotst hat. Kurz bevor die Herberge öffnet, reihen sich ans Ende der Schlange „meine“ drei Spanier ein.

                                  Es sind wirklich meine Spanier. Vermutlich bin ich einer der ganz Wenigen, denen bekannt ist wie die pilgern. Ich weiß schon nicht mehr wo wir uns das erste Mal über den Weg gelaufen sind. Es muss schon eine Weile her sein. Seitdem aber immer wieder. Das letzte Mal war es gestern Nachmittag kurz vor Palas de Rei. So 2 oder 3 Kilometer vor dem Ort. Ich treffe die immer 2 oder 3 Kilometer vor oder hinter einem Ort, und immer ist ein silberner alter amerikanischer Van in der Nähe. Schwarz verklebte Scheiben und die Werbung als Camino-Taxi lassen keine Zweifel zu: Meine Spanier fahren Taxi und das jeden Tag. Gestern, an der Ortsgrenze von Palas, gab’s kein Entkommen, keine Ausreden mehr. Die Männer stiegen in dem Augenblick aus dem Auto, als ich völlig überraschend um die Ecke bog. Ausflüchte wie bei unseren bisherigen zufälligen Treffen würden nicht mehr ziehen.

                                  Frank und frei wurde zugeben, dass sie den Camino mit dem Taxi machen. Das nicht mal eben an den Tagen, an denen sie keine Lust aufs Gehen haben, nein, jede Etappe zwischen den Pyrenäen und Santiago wird mit dem Auto gemacht. Wie so oft wurde die Idee mit der gemeinsamen Pilgerung aus ein Rotweinlaune heraus geboren und mit viel Pathos verkündet. Die Ernüchterung folgte schon am nächsten Tag. Mehr als 750 Kilometer quer durch Spanien gehen und dabei noch das Gepäck tragen? Undenkbar! Einer hatte schon mal was vom Rucksacktransport gehört. Wenn man die Rucksäcke per Taxi über den Camino verfrachten kann, warum dann nicht bei den Rucksäcken im Auto bleiben? Übers Internet war schnell ein Unternehmen, welches sich auf Camino-Transporte spezialisiert hat, gefunden. Weil das nicht ganz billig ist, mussten schwarze Kassen geöffnet werden. Seitdem fahren meine Spanier Auto. Morgens verlassen sie wie alle anderen auch die Unterkunft, um spätestens nach einer halben Stunde ihr Taxi am vereinbarten Treffpunkt vorzufinden. Der Tag wird irgendwie vertrödelt, bis es Zeit ist, sich mit dem Auto zum nächsten Zielort fahren zu lassen. Natürlich nicht ganz, die letzte halbe Stunde geht man zu Fuß. Dabei werden die Schuhe eingesaut, wenn erforderlich. Schwungvolle Videos werden gedreht, damit die Lieben zu Hause an den Mühen des Pilgerns teilhaben können. An heißen Tagen wird etwas Wasser aus der Flasche über den Rücken verteilt, man hat schließlich geschwitzt. Der ganze Aufwand für die Familie und Freunde, und für eine Urkunde aus leblosem Papier.

                                  Jetzt stehen die Jungs am Ende der Warteschlange und machen geräuschvolle Dehnübungen. Niemand in der Schlange nimmt ihnen das Getue ab. Buspilger, werden viele denken. Dass es noch bequemer machbar ist, wissen die Wenigsten. Ich werde das auch keinem erzählen, immerhin habe ich das „meinen“ Spaniern hoch und heilig versprechen müssen.



                                  Mittwoch, 21. Mai 2008 Noch kein Ankommen?
                                  Etappe: Arzúa – Monte do Gozo
                                  Tageskilometer: 36 Gesamtkilometer: 716
                                  Unterkunft: Herberge auf dem Monte do Gozo (Touristen/Pilger-Komplex)


                                  Denkmäler kurz vor Santiago - Nicht ganz bis ins Ziel, Flughafentechnik
                                  Kilometersteine haben keine Seele, keinen Verstand und reden können die leblosen Betonstelen am Wegesrand auch nicht. Und trotzdem können sie antreiben, weil man es endlich hinter sich bringen will. Können sie abbremsen, weil man noch nicht ankommen will. Können sie einem die eigenen Geschichten vom Weg erzählen.
                                  Kilometersteine gibt es auf allen galicischen Caminos, egal aus welcher Himmelsrichtung der Wanderer nach Santiago de Compostela eilt. Eine nüchterne Betonstele, kaum einen Meter hoch mit einer blauen Kachel mit gelber Jakobsmuschel im oberen Drittel, darunter die verbleibenden Kilometer bis Santiago, das sind die galicischen Kilometersteine. Zuverlässig verringern sie die Distanz, stutzen immer wieder neu die verbleibende Zeit zurecht.

                                  Das Auftauchen des ersten Steins an der Regionalgrenze wird wahrscheinlich von jedem heiß ersehnt. Ein Aufatmen, nun ist es nicht mehr weit. Vielleicht eine Woche noch oder weniger. Dann kann man nicht mehr hinsehen, wenn immer wieder, manchmal alle viertel Stunde, ein neuer Stein auftaucht. Man wird ihrer überdrüssig, tröstet sich mit dem Wissen, dass die angegebenen Entfernungen schon lange nicht mehr stimmen. Der Weg wurde so oft verlegt, dass das alles nicht mehr stimmen kann. Jeder freut sich, wenn mal wieder das kleine Schild mit der Kilometerangabe fehlt. Es tut gut, nicht immer wieder erinnert zu werden wie weit es noch ist - oder nur noch ist.

                                  Der 100-Kilometerstein wird von allen zur Kenntnis genommen. Übersät mit unzähligen Namen, Graffiti, Daten und natürlich mit der falschen Entfernungsangabe. Es ist ein kleines Stückchen weiter nach Santiago als hier angezeigt. Nicht viel, vielleicht eine halbe Stunde oder etwas mehr. Aber der Stein war immer hier, und weil es der mit der magischen Zahl ist, wird er auch bleiben. Es muss auch nicht so ganz genau sein. Die Entfernung die da steht ist nicht für die Füße, die ist für den Kopf.
                                  Und die anderen Steine? Man will sie nicht mehr sehen und schaut doch zwanghaft hin. Im letzten Jahr was das anders. Auf der Vía de la Plata stehen diese Steine auch, da sind sogar noch beinahe alle Entfernungsangaben dran. Dort haben sie getrieben, haben gelockt, haben das Versprechen der baldigen Ankunft mit sich getragen.

                                  In diesem Jahr ist etwas neu. Für mich sind die Steine wertlos. Eine Ankunft, die zugleich das Ende ist, wird es dieses mal nicht geben. Es wird weiter gehen. Weiter bis ans Ende der Welt und dort ist immer noch nicht Schluss. Es geht noch weiter, erneut auf einen Camino, der auch wieder in Santiago auf dem Platz vor der Kathedrale enden wird. Also noch kein Ankommen, noch kein Aufatmen, kein Ausruhen. Für mich sind die Entfernungen hier trügerisch.

                                  Noch 80 Kilometer, dann 70, 60, 50. Unbemerkt fangen diese Steine an die erlebten Geschichten der vergangen Wochen zu erzählen, längst vergessen geglaubte Menschen wieder zu beleben. Noch nicht ganz angekomen und schon werden aus dem soeben Erlebten Geschichten. Und die Steine fangen an zu treiben. Auch mich. Heute wären das nur 41 Kilometer bis zum Ende des Caminos. Das kann ich heute noch schaffen bis Santiago, in die Stadt, in der ich vor einem Jahr schon mal zu Fuß angekommen bin. Es treibt kein sportlicher Ehrgeiz, nicht die Sehnsucht nach einer Stadt, die ich doch schon kenne, geschwiege ein Verlangen heute noch anzukommen.

                                  Die puren Zahlen auf den Steinen treiben. Magische Zahlen. Keine magischen mathematischen Spielereien, keine wie auch immer geartete esoterische Deutung von Zahlen. Zahlen, die durch das Mitgehen mit ihnen, durch das Verkleinern der Zeit ein Eigenleben entwickeln. Immer kleiner, immer überschaubarer werden die Entfernungen. Erinnern zunächst an die Distanzen einer Tageswanderung, an einen Spaziergang. Schließlich werden die Zahlen einstellig, es ist nur noch eine Ziffer.

                                  Weiter, eben mal den Berg runter, dem Nachmittag mal eben noch eine dreiviertel Stunde abringen? Nur noch 4 Kilometer bis zur Ankunft. Kann man das dann eine Ankunft nennen? Im vergangenen Jahr bin ich schon nicht in Santiago angekommen, da war meine innere Ankunft einen Tag früher. Heute wollt’ ich’s auch nicht, hab’s nicht erwartet und auch nicht verlangt. Das Ankommen ist immer der langweiligste Teil einer langen Reise. Und trotzdem fangen diese Steine, diese Zahlen an zu treiben, zu locken.

                                  Maria, Mechthild, Gotthilf und ich waren uns einig, dass wir uns Zeit lassen können. Wir wollten nur bis zum Monte do Gozo, dem letzten Hügel vor Santiago de Compostela gehen. Gemeinsam wollten wir nicht gehen, uns dort oben treffen.Die letzten Kilometer wollten wir uns für den nächsten Tag aufsparen. Nach so vielen Tagen würden das doch nur Meter, keine Kilometer mehr sein. Ankommen nur um da zu sein wollten wir nicht. Ich wollte eh nicht ankommen. Nur morgen früh nach Santiago rein, mir die Pilgerurkunde für Nichtpilger abholen, ein paar Infos für den Weiterweg nach Finisterre besorgen, und dann schon wieder weg. Raus aus der Stadt, ans Ende der Welt.

                                  Mechthild hat mich gebremst, ohne sie wäre ich weiter gegangen. Eine Stunde war ich schon unterwegs, als wir uns mal wieder über den Weg liefen. Mit „Werner, kann ich heute mit dir gehen?“, fing der bisher einzige Wandertag an, an dem ich nicht alleine gehen sollte. Es ist ein ganz anderes Gehen, wenn man nicht alleine ist. Die spanischen Männer schauen anders, sogar verdammt anders, sobald eine Frau daher kommt. Als alleinwandernder Mann war mir das noch nie aufgefallen. Ich gehe dann auch ein anderes Tempo, wenn jemand dabei ist. Immer versuche ich mich meiner Begleitung anzupassen, egal wie schnell die ist. Aber ich rede dann auch nicht viel mehr. Da muss ich passen.

                                  Mechthild kenne ich schon ewig, zumindest nach Camino-Maßstäben. Nur Maria kenne ich noch länger. Vor Burgos bin ich Mechthild schon begegnet. Wir haben uns immer wieder aus den Augen verloren. Aber immer wenn das Vergessen die Oberhand gewinnen sollte, bog sie unverhofft um eine Ecke, kam aus einem Laden oder stand am Wegrand. Das vorletzte Mal hat sie mich nach La Faba gelotst, gestern Nachmittag saß sie auf der Stufe eines Hauseingangs in Arzúa. Heute waren wir eben gemeinsam unterwegs. Es war nicht der schlechteste Tag der letzten 3 Wochen. Und wie schon erwähnt, ohne Mechthild wäre ich bis nach Santiago durchgegangen.

                                  So sitzen wir in der Küche der Unterkunft auf dem Monte do Gozo und warten auf Maria. Gotthilf ist auch mit uns angekommen. Unterhalb des monumental hässlichen Denkmals, das zu Ehren des Papstbesuchs über dem Hügel des Monte do Gozo thront, sind wir wieder auf Gotthilf gestoßen. Alle sind wieder beisammen, bis auf Maria. Eine SMS am Abend lässt unsere Vermutung Gewissheit werden: Maria ist in Santiago de Compostela.

                                  Maria hat es gemacht. Sie hat es wohl so geplant, nicht weit im Voraus. Vermutlich gestern Abend oder heute während des Gehens. Sie geht ja immer alleine, bleibt immer hinter allen zurück. Gesagt hat sie nichts. Wahrscheinlich wollte sie alleine ankommen. Das Gefühl erleben, von dem so viele erzählen. Ja, welches Gefühl eigentlich? Maria ist jedenfalls am Boden zerstört. Nichts, rein gar nichts, hat sie empfunden. Nur pure Enttäuschung. Vielleicht sollte man doch innehalten und nicht durchrennen. Vielleicht sollte man gar nichts erwarten.
                                  Zuletzt geändert von Werner Hohn; 04.01.2022, 18:27.
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                                    Liebt das Forum
                                    • 05.08.2005
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                                    #57
                                    AW: [PT, ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

                                    Nur noch 4 Kilometer bis Santiago de Compostela, dem ersten Zwischenziel, und trotzdem ist hier für die nächsten 3 bis 4 Wochen Pause.
                                    Weiterschreiben werde ich auf jeden Fall, schon alleine, weil es jede Menge Lob gegeben hat. Es kommen dann noch gut 340 Kilometer. Stoff für eine Fortsetzung ist also genügend da.

                                    Und ein Dankeschön an alle, auch wenn ich nicht auf jeden Beitrag ausdrücklich geantwortet habe. Immerhin hat's geholfen, mich an die verd..... Tastatur zu zwingen.

                                    Im Augenblick freue ich mich auf die Wanderung durch den Süden Portugals, die morgen startet. Diesmal nicht alleine, meine Frau wird sich mit mir das Zelt teilen.

                                    Werner
                                    Zuletzt geändert von Werner Hohn; 07.10.2008, 12:32.
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                                      • 557

                                      • Meine Reisen

                                      #58
                                      AW: [PT, ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

                                      Dann gute Reise. Bring neue Geschichten mit.

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                                        #59
                                        AW: [PT, ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

                                        lieber Werner,
                                        dein Bericht fasziniert mich jedesmal aufs Neue, wenn ich wieder ein Stückchen weiter lese. Und ich freue mich jedesmal über deine Art der Schreiberei.
                                        Es ist sicherlich sehr spannend gewesen, das liest man ja, aber ich würde eine solche Reise niemals machen, ich glaube, das wäre für mich der absolute Horror
                                        wünsch dir viel FReude auf eurer gemeinsamen Reise!

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                                        • hikingharry
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                                          • 23.05.2004
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                                          #60
                                          AW: [PT, ES] Drei Caminos und ein Vorspiel im Sand

                                          Wieder mal ein Danke für Dein Weiterschreiben. Und alles Gute für Eure Wanderung.

                                          Gruß hikingharry

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