[FI] Über die Fjälls in Lappland: Vom Wandern und Schreiben

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  • Sylvie
    Erfahren
    • 20.08.2015
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    • Privat

    • Meine Reisen

    #41
    AW: [FI] Über die Fjälls in Lappland: Vom Wandern und Schreiben

    Freitag 12. Juli 2019: Über die sieben Berge...

    Wir schlafen lange und fest. Die Sonne scheint auch am Morgen noch fleißig und das gibt uns Hoffnung, auch wenn der Wind hier ganz schön launig über die Anhöhe pustet. Aber im Windschatten der Feuerstelle gibt es erst mal ein nettes Frühstück. Dann packen wir ein und laufen los.

    Wohin gehen wir heute? Wir könnten zu der Hütte mit dem unaussprechlichen Namen wandern: Muorravaarakanruoktu. Der Weg dorthin am Anterin entlang soll schön sein. Aber wir haben keine Lust auf Muorravaaraka, wir kennen die Hütte schon von vor drei Jahren. Und ich persönlich habe auch von den Fjälls noch immer nicht genug. Ich will nicht am Fluss entlang laufen, ich will hoch hinaus in die Freiheit der Berge und mir den dreisten Wind um die Nase pusten lassen. Also peilen wir zunächst eine wilde Feuerstelle an, die Stef letztes Jahr auf seiner Solotour entdeckt und für höchst romantisch befunden hatte.

    So machen wir es! Kurz vor dem Start diskutieren wir mit dem Pferdeschwanz-Helden noch einmal (wie gestern Abend bereits) die Sauna-Fee. Hier im Tal haben wir sowieso kein Netz, da ist an Bezahlung nicht zu denken. Ihr müsst Euch bei Telia anmelden, rät uns der Finne, oder hoffen, dass Euer Telefon Telia als Netzanbieter aussucht. Irgendwo, wo Ihr Netz habt, dann müsste es eigentlich klappen. Also gut, dann versuchen wir das. (Um es hier gleich vorweg zu greifen, das Thema scheint ja im Forum von Interesse zu sein: wir schaffen es nie von unterwegs und erledigen das dann in Kiilopää. Eine Kasse des Vertrauens wäre hier vielleicht angebrachter?). Also los jetzt, es ruft uns der Weg. Wir laufen zunächst den Wanderweg Richtung Muorravaaraka, der sich liebreich und sonnig am Fluss entlang schlängelt.



    Nach drei Kilometern verlassen wir die finnische Lieblichkeit und steigen hinauf in die finnische Rauheit. Über die Obstbaumwiesen geht es stetig bergan, bis wir irgendwann auf dem nackten Heidekraut laufen.


    Aufstieg ins Blaue



    Warten ohne den Rucksack abzusetzen. Die hohe Kunst. :-)



    Mit freundlichen Grüßen: Euer Winter. P.S. Ich komme wieder.

    Oben angekommen, müssen wir uns erst mal setzen. Auch wegen der atemberaubenden Aussicht, mit der wir hier wieder begrüßt werden. Der Wind bläst wie immer kräftig und eisig. Wir ziehen uns Handschuhe und eine zweite Jacke an. Dann sitzen und staunen wir.


    Bzw. liegen und staunen.

    Unser Abstiegspunkt aus dieser Bergkette, liegt faktisch genau gegenüber, seitlich des Anteripää an einem Joch zum nächsten Hügel. Wir könnten mittig den Talkessel durchqueren und auf der anderen Seite wieder nach oben laufen – aber ich habe keine Lust darauf. Das sind mir zu viele Höhenmeter, ich will lieber hier oben bleiben. Mein Vorschlag daher an Stef: Wir laufen wie Schneewittchen auf den sieben Bergen einmal um den Talkessel herum, bis wir auf der anderen Seite den Anteripää erreichen. Dort steigen wir wieder hinab ins Tal. Du hast wohl von Kraft geträumt, meint Stefan zu mir. Ja, hab ich! Jetzt lass es uns wenigstens erst mal versuchen, auf diesen putzigen Gipfeln rumzuturnen.

    Also los! Wir wagen die Umrundung. Auch wenn wir die Gipfel nicht direkt überschreiten, sondern meist höhenmetersparend etwas unter-gipfelig umwandern.



    Der Wind pustet immer noch ziemlich extrem, als hätte er sich’s zum Spiel gemacht, uns kleine Kraftmeier von seinen Wipfeln herunterzufegen. Das macht die Schneewittchen-Tour schon wesentlich anstrengender als anfangs erträumt. Auch die putzigen Gipfel erweisen sich bei genauerer Betrachtung als weit weniger putzig. Ich habe diese irre Weite stark unterschätzt. Ein Hügel grenzt nicht unbedingt nahtlos an den anderen, wie man aus großer Distanz vermutet. Die oftmals recht tiefen Einkerbungen zwischen den Bergen kennen wir ja schon, aber dann gibt es noch diverse Bodenwellen, die man von Weitem als solche gar nicht erkennt. In der Nähe entpuppen die sich als kleinere Extra-Einzel-Hügel, die man entweder umlaufen oder übersteigen muss. Und Schneewittchen läuft über die 107 Berge…

    Aber zumindest Geröll gibt‘s es hier Gottseidank erst mal nicht, sodass wir trotz aller Unwägbarkeiten, recht gut vorankommen. Immer Schritt für Schritt kämpfen wir uns voran, bis zu jenem Sattel, und dann weiter bis zu diesem Zwischenhügel, und dann immer noch weiter bis zu jenem großen Felsblock da.


    Stef ist schon fast auf dem Sattel.

    Manche Strecken schätze ich auf 20 Minuten Wegzeit ein, aber wir brauchen ne Stunde dafür. Das also ist das Fjäll. Es ist gigantisch. Die Aussicht ist grandios. In seiner rau-wilden Windigkeit ruft das alles in mir eine Art trotzigen Kampfesmut hervor: Du nicht, gräulicher Nordwind, Du pustest mich nicht vom Berge hinab! Am spannendsten aber ist immer jener Moment, wo ich endlich den Gipfel oder den Sattel erreiche und voller Freude ins Nachbartal blicken kann. Schon als Kind wollte ich immer wissen, was hinter den Bergen liegt, jetzt kann ich das endlich mehrfach erfahren. Was für ein tolles Gefühl.



    Wir kämpfen uns wacker voran und erreichen alsbald den letzten Sattel vor dem Anteripää. Der Blick zurück lässt mich schaudern. Da drüben sind wir losgelaufen. Sieht aus, als könnte man diesen Weg eben mal locker in 30 Minuten zurücklegen.



    Kein bisschen lassen die sanften Wellenhügel von hier aus betrachtet erahnen, wie hart sie erkämpft und erklommen wurden. Wir sind ziemlich erschöpft, wir brauchen dringend ne Pause. Der Wind pfeift mit Schwung über den Sattel. Im näheren Umkreis entdecken wir nichts, das uns irgendwie schützen könnte. Keine Kuhle, in die wir uns kauern können, kein größerer Stein, hinter dem man dem Sturm entkommt.


    Das Steinmännchen ist leider zu klein.

    Also türmen wir kurzerhand unsere Rucksäcke zu einer winzigen Mauer auf und legen uns einfach dahinter.



    Zur Stärkung gibt es Beef Jerky und Walnüsse. Dann aber müssen wir weiterziehn, denn der Durst treibt uns ins Tal.


    Stef guckt ausnahmsweise mal nicht nach Vögeln, sondern nach dem Weg.

    Eine Weile laufen wir auf dem Sattel entlang, dann wird uns das zu geröllig und wir steigen kurzzeitig hinab in etwas tiefere Lagen, wo weniger Steine sind.


    Oben lang wird uns bald zu mühselig.

    Hier umturnen wir flugs den Gipfel des Anteripää, steigen dann wieder höher hinauf bis zum nächsten Sattel, wo wir den Abstieg beginnen. Wenn wir hier relativ grade herunterlaufen, dürften wir so ziemlich genau auf eine Feuerstelle am Ufer des Muorravaraakanjoki treffen. Der Blick ins Muorravaarakatal ist großartig. An der Bergkette gegenüber erkennt man das Teufelsjoch.



    Das haben wir vor drei Jahren von Sarvioja kommend durchquert.


    Von etwas weiter unten erkennt man es besser.

    Der Abstieg ist mindestens ebenso anstrengend wie der Aufstieg. Es geht relativ steil hinab, Hagens Dolchstoß terrorisiert mich schon wieder im Schulterblatt. Der erste ernstzunehmende Wasserlauf ist deshalb unser. Wir pausieren länger hier, essen Schokolade und trinken uns satt. Erst dann gibt es Kaffee und unsere Knäckebrote, die wir fortan die Verpuffungsmahlzeit nennen.

    So! Der richtige Abstieg kann jetzt beginnen. Nach der längeren Pause kommen wir gut voran. Bald schon erreichen wir wieder den finnischen Märchenwald. Nach der rauen Wildheit von eben, bin ich schon wieder total beeindruckt von der hiesigen Lieblichkeit. Nichts hartes liegt hier in der Luft. Alles ist weich und fließend, üppig und grün. Chlorophyll-Explosion im Tal. Wer sich hier ein Haus baut, baut sich nirgendwo anders mehr eins.


    Chlorophyll-Explosion im hohen Norden

    Wir finden die Feuerstelle (Akanhärkäkuru) sofort, nutzen sie aber nur, um unsere Wanderschuhe gegen die Crocs auszutauschen. Dann queren wir flugs den Muorravaarakajoki. Drüben am anderen Ufer lassen wir unsere Füße einfach in der Sonne trocknen.


    Zerschredderte Füße, aber wenigstens ordentlich angemalt.

    Etwas feucht-sumpfig geht es gleich darauf weiter, aber es ist Gottseidank nicht so schlimm, dass wir unsere Watstrümpfe brauchen. Wir suchen den Weg zu Stefans romantischer Feuerstelle und finden ihn schnell. Sie liegt etwas höher in der Obstbaumwiesenzone am Ufer des… vermutlich ist das noch immer der Muorravaarakjoki, so genau kann man das auf der Karte nicht erkennen. Es ist langsam Abend geworden. Im Schatten der umliegenden Berge kraxeln wir friedlich wieder nach oben, immer dem großen Sokosti entgegen. Die Feuerstelle ist verwaist. Die Holzbänke um den kreisrunden Herd zersplittern bereits und modern fleißig. Holz gibt es keins. Ein bisschen enttäuscht bin ich schon, aber weiterlaufen ist jetzt nicht mehr. Stef weist nur stumm auf die Gegend ringsrum. Ja, bis auf die lottrige Feuerstelle ist der Platz ausnehmend zauberhaft. Etwas weiter oben finden wir eine zweite, kleinere Feuerstelle mit ein paar toten Ästen daneben. Wir betrachten das als Einladung. Also ist es beschlossen, hier bleiben wir. Stef baut das Zelt auf, ich fange an, das Essen zu kochen. Wir entfachen ein winziges, aber dennoch sehr tröstliches Mückenschutz-Feuerlein und essen froh unser Wandererfood.



    Dann beraten wir den morgigen Tag. Bisher haben wir uns von Neugier und netten Gelüsten treiben lassen. Jetzt wird es Zeit, der Reise ein bisschen Struktur zu geben. Denn langsam müssen wir zusehen, rechtzeitig wieder nach draußen zu kommen. Der Pausentag im Park wird vermutlich unseren launischen Fjäll-Eskapaden zum Opfer fallen. Wir müssen jeden Tag laufen, um wenigstens noch einen freien Tag in Kiilopää zu haben, den wir mit Chillen, Essen und Klamottenwaschen verbringen wollen. Und da wir zunächst erneut wieder über die Berge müssen, werden wir auch morgen kaum Strecke schinden. Also: erst mal Luirojärvi. Wir wollten den zwar umgehen, doch als erste Station soll er uns dienen. Und je nach Verfassung dann eben als Zwischenstation. Wir packen zusammen und verschwinden ins Zelt. Schreiben? Ist heut nicht mehr.
    Zuletzt geändert von Sylvie; 30.07.2019, 20:07.

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    • maahinen
      Erfahren
      • 01.02.2014
      • 303
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      • Meine Reisen

      #42
      AW: [FI] Über die Fjälls in Lappland: Vom Wandern und Schreiben

      Liebe Sylvie,
      mal wieder: vielen, vielen Dank für deinen wunderschönen Bericht! Du schreibst einfach toll. Bitte mehr!
      Das mit dem Moor ging mir gerade gestern durch den Kopf. Ich war die letzten ein paar Tage Moltebeeren sammeln. Dabei nahm ich ungewollt ein Bad in einem Sumpfloch. Ich habe es gerade noch geschafft, aus eigener Kraft rauszukommen. Und alles - schlicht aus eigener Blödheit 😂
      Liebe Grüße
      Maahinen

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      • Munzelchen
        Erfahren
        • 27.01.2017
        • 148
        • Privat

        • Meine Reisen

        #43
        AW: [FI] Über die Fjälls in Lappland: Vom Wandern und Schreiben

        Scheint ja alles in allem eine gemütliche Wanderung gewesen zu sein
        Und der Bericht ist toll und unterhaltsam geschrieben

        Auf der Webseite "dein-finnland.de" steht geschrieben: "Der Urho-Kekkonen-Nationalpark ist ideal für Trekking Anfänger die sich schrittweise an längere Trekkingtouren heranwagen möchten. Mit der sehr guten Infrastruktur in der Basiszone können Anfänger sich mit der Gegend und dem Gelände vertraut machen, bevor sie sich in die Wildniszone mit ihren hohen Fjells, Flussüberquerungen, gemütlichen Hütten und Saunas aufmachen [...].

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        • Sylvie
          Erfahren
          • 20.08.2015
          • 361
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          #44
          AW: [FI] Über die Fjälls in Lappland: Vom Wandern und Schreiben

          Zitat von maahinen Beitrag anzeigen
          Liebe Sylvie,
          mal wieder: vielen, vielen Dank für deinen wunderschönen Bericht! Du schreibst einfach toll. Bitte mehr!
          Das mit dem Moor ging mir gerade gestern durch den Kopf. Ich war die letzten ein paar Tage Moltebeeren sammeln. Dabei nahm ich ungewollt ein Bad in einem Sumpfloch. Ich habe es gerade noch geschafft, aus eigener Kraft rauszukommen. Und alles - schlicht aus eigener Blödheit 
          Liebe Grüße
          Maahinen
          Hallo Maahinen,
          wie schön, dass Du wieder "mitwanderst", da macht es gleich nochmal so viel Spaß, weiterzuschreiben. Ja, Sümpfe sind der Hass. Ich habe dieses Jahr mal wieder gelernt: langsam laufen! Umsichtig. Bedächtig. Es nützt nichts und ist meist kontraproduktiv, wenn man da so schnell wie möglich durch will. Meist landet man im Loch. Wie tief hast Du drinne gesteckt?

          Liebe Grüße
          Sylvie

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          • Sylvie
            Erfahren
            • 20.08.2015
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            #45
            AW: [FI] Über die Fjälls in Lappland: Vom Wandern und Schreiben

            Zitat von Munzelchen Beitrag anzeigen
            Scheint ja alles in allem eine gemütliche Wanderung gewesen zu sein
            Und der Bericht ist toll und unterhaltsam geschrieben

            Auf der Webseite "dein-finnland.de" steht geschrieben: "Der Urho-Kekkonen-Nationalpark ist ideal für Trekking Anfänger die sich schrittweise an längere Trekkingtouren heranwagen möchten. Mit der sehr guten Infrastruktur in der Basiszone können Anfänger sich mit der Gegend und dem Gelände vertraut machen, bevor sie sich in die Wildniszone mit ihren hohen Fjells, Flussüberquerungen, gemütlichen Hütten und Saunas aufmachen [...].
            Hallo Munzelchen,
            oja, absolut gemütlich. Und gar nicht anstrengend.

            Das mit der Basiszone für Anfänger stimmt. Wir sind aber gleich auf unserer ersten Tour raus aus der Komfort Zone und rein in die Wilderness Zone. Trotzdem würde ich mich nicht unbedingt als erfahren bezeichnen. Wir machen das erst fünf Jahre und ich halte mich sehr wohl noch für einen Frischling auf diesem Gebiet. Macht aber nix... in jedem Anfang liegt ein Zauber inne.

            Bis denne
            Sylvie

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            • maahinen
              Erfahren
              • 01.02.2014
              • 303
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              #46
              AW: [FI] Über die Fjälls in Lappland: Vom Wandern und Schreiben

              Hei Sylvie,
              Danke für die Nachfrage
              Man könnte daraus eine dramatische Erzählung ausbauen, aber dein erzählerisches Talent besitze ich leider nicht.
              Also, ganz schlicht... es war schon recht schwer, alleine rauszukommen, mit einem Bein war ich bis zum Oberschenkel in dem Modder, einen meiner schönen Nokiastiefel habe ich fast verloren. Ich musste mich auf einer Seite werfen, damit ich nicht mehr tiefer versinke, danach waren meine Hose und auch das Hemd nass. Bei fast 30 grad allerdings schön erfrischend.
              Mein Fehler war eigentlich, dass ich an einer heiklen Stelle stehenblieb...

              Liebe Grüße
              Maahinen

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              • Sylvie
                Erfahren
                • 20.08.2015
                • 361
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                #47
                AW: [FI] Über die Fjälls in Lappland: Vom Wandern und Schreiben

                Zitat von maahinen Beitrag anzeigen
                Hei Sylvie,
                Danke für die Nachfrage
                Man könnte daraus eine dramatische Erzählung ausbauen, aber dein erzählerisches Talent besitze ich leider nicht.
                Also, ganz schlicht... es war schon recht schwer, alleine rauszukommen, mit einem Bein war ich bis zum Oberschenkel in dem Modder, einen meiner schönen Nokiastiefel habe ich fast verloren. Ich musste mich auf einer Seite werfen, damit ich nicht mehr tiefer versinke, danach waren meine Hose und auch das Hemd nass. Bei fast 30 grad allerdings schön erfrischend.
                Mein Fehler war eigentlich, dass ich an einer heiklen Stelle stehenblieb...

                Liebe Grüße
                Maahinen
                Ohoho Maahinen,
                das klingt aber schon sehr dramatisch, wie Du es hier beschreibst. Ich weiß genau, was Du meinst, ich hatte als ich so mit einem Bein im Loch steckte, genau die gleiche Idee, mich auf die Seite zu rollen, damit ich ne Hebelwirkung am Bein habe. Ich weiß bloß nicht, ob ich das mit dem Rucksack hingekriegt hätte. Vor meinem inneren Auge sah ich mich schon dort am Loche liegen und mit dem Arme im Schlamm suchen, um meinen Schuh wieder rauszufischen. Aber mit Hilfe der Wanderstöcke konnte ich mich dann nach oben stemmen, und dabei den Fuß ganz dolle zusammenkrampfen, damit der Schuh haften bleibt... oder so... Was lernen wir? Zu schnell darf man nicht gehen und stehenbleiben darf man auch nicht. Warum aber bliebst Du stehen? Gab es dort besonders viele Beeren? Pilze? Bären? Mücken? Klingelte etwa Dein Telefon? Fragen über Fragen türmen sich vor mir auf.

                Ganz liebe Grüße
                Sylvie

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                • Sylvie
                  Erfahren
                  • 20.08.2015
                  • 361
                  • Privat

                  • Meine Reisen

                  #48
                  AW: [FI] Über die Fjälls in Lappland: Vom Wandern und Schreiben

                  Samstag 13. Juli 2019: Durchs Nebelgebirge

                  Das Wetter durchkreuzt unsere Pläne. Am nächsten Morgen regnet es. Ich wache auf und habe sofort dieses wundersame Lied von Element of Crime im Kopf. Ins Dunkel rausgeschickt verfusselt sich die Zeit…. Die Melancholie, die es ausstrahlt, passt perfekt zum kaltfeuchten Trübsinn, der sich heute in meinem wirren Haar und ebenso wirren Verstand verfängt.

                  Es regnet und wieder nichts getan, nur wieder wie im Wahn ein Luftschloss aufgebaut
                  Es regnet und wieder eine Nacht am Fenster zugebracht und Träume durchgekaut

                  Es regnet, begossen wird die Welt. Wer jetzt nicht schläft, verfällt der feuchten Träumerei
                  Es regnet – in Müdigkeit verstrickt, ins Dunkel rausgeschickt, verfusselt sich die Zeit

                  Und im Garten blüht die Illusion, das kenn' ich schon. Mal seh'n, ob sich das Warten lohnt
                  Immer wieder geht ein Regen nieder und am Himmel hängt ein halber Mond.


                  Stefan meint freilich, ich ließe mich zu sehr von schlechtem Wetter beeindrucken. Stimmt auch wieder. Also hopp hopp, raus aus den Federn und erst mal Frühstück gemacht. Wir kochen im Vorzelt Kaffee und Haferbrei und essen das alles fein unterm heimelnden Baldachin des schützenden Zeltes.


                  Haferflocken mit getrockneten Beeren und weiterem Schnickschnack. Unsere tägliche Gönnung.

                  Der Regen verzieht sich nach ein paar Stunden und wir packen alles zusammen. Stefan zeigt mir auf der Karte, wo er heute gedenkt entlangzulaufen, am Vesipää hinauf in die Fjälls. Oben entscheiden wir, wie es weitergeht. Ich widerspreche nicht, heute gibt es kein großes Palaver, bei schlechtem Wetter erkenne ich anstandslos an, dass er der Chef du Tour ist, was zählt, ist der kürzeste Weg.

                  Kurz vor dem Aufbruch borg ich mir Stefans Stuhl. Sorry, sag ich zu ihm, aber ich brauche bevor wir aufbrechen, noch einen kleinen Moment der Kontemplation. Du bist also auch der Meinung, dass dieser Stuhl für Deine innere Sammlung unerlässlich ist?, fragt Stefan mich hinterlistig. (Die Stuhlfrage wird nicht nur hier im Forum heiß diskutiert, auch familienintern bietet sie immer wieder Anlass für philosophische Betrachtungen.) Na nee, sag ich, ich kann mich überall kontemplieren, ich setz mich sonst einfach auf den Boden, nur geht das jetzt nicht, denn der Boden ist nass. Womit wir wieder bei meiner Frage wären, konstatiert der Filou lakonisch. Ok. Wir einigen uns auf die Aussage: Unter feuchten Bedingungen ist der Stuhl unerlässlich für Sylvies Zentrierung und Wohlbefinden. Dann packen wir auch dieses letzte Refugium fein in den Rucksack und setzen uns in Bewegung.

                  Gleich zu Beginn balancieren wir in unsre Watstrümpfe, denn wir müssen über den Fluss, der tief und reißend hier ist. Der Anstieg danach ist anspruchsvoll. Wir laufen ihn sehr bedächtig. Nicht dass wir hier jemals wirklich schnell laufen würden oder überhaupt irgendetwas in lästiger Hast verrichteten – aber dieser Anstieg ist dennoch bedächtiger als alle anderen Strecken zuvor. Zum Einen, weil die Landschaft hier sehr bizarr ist und wir einige Zeit mit Staunen verbringen. Zum Anderen aber auch, weil der Weg über große Granitblöcke, teilweise rutschig, weil nass, unsere ganze Aufmerksamkeit und Kraft erfordert.





                  Der Wind bläst eisig, der Himmel ist verhangen. Weltuntergangsstimmung am Ende der Welt. Wir marschieren südöstlich am Sokosti vorbei, nur sehen wir nicht sehr viel von ihm, sein Kopf steckt verschämt in einem Nebelhäubchen. Wie auch alle anderen Berge ringsrum.



                  Während wir uns mühsam nach oben schleichen, staune ich einmal mehr, wie man unterwegs zu Entscheidungen kommt. Es gibt hier keinen Weg, der unser Streben einschränkt, aber auch nicht erleichtert. Und so steht man manchmal suchend vor einem Hindernis und entdeckt mit der Zeit mehrere gangbare Möglichkeiten. Erst eine, dann zwei, dann vielleicht sogar drei oder vier. Eine nur kann man nehmen; jede bietet Vor- und auch Nachteile. Schließlich reduziert man die Möglichkeiten wieder auf zwei – links oder rechts. Dann gibt es einen spürbaren inneren Ruck und man stiefelt los – alle Nachteile dieser Entscheidung in Kauf nehmend und alle potentiellen Vorteile der möglichen anderen Entscheidungen ausblendend. Das Ganze passiert ständig, meist unterbewusst und wie nebenbei. Nur manchmal, in kniffligen Lagen, durchbricht es die Schranke zum Bewusstsein und gibt uns zumindest das Gefühl, etwas willentlich entschieden zu haben. Und so werkeln wir uns mühsam im Zickzack voran und diesen schwierigen Berg hinauf.

                  Irgendwo mitten im Fjäll, nachdem wir die erste Kuppe bereits hinter uns haben, pausieren wir kurz. Wir suchen ne Weile erfolglos nach einer windstillen Ecke und nehmen dann die erste beste, winzige Kuhle, die zumindest Placebo-artigen Schutz verspricht. Außerdem gibt’s hier einen einzigen blanken Stein, der noch trocken ist. Auf den setze ich mich für die Pause, Stefan nimmt selbstverständlich den Stuhl. Wir essen Beef Jerky und Aprikosen, leckere Kombi aus Eiweiß und Zucker. Dann geht es zügig weiter, bis wir den Sattel zwischen Vesipää und Kärppäpää erreichen.



                  Wir sehen uns kurz um und laufen dann wortlos drüber hinweg in tiefere Lagen. Wir könnten noch eine Weile hier oben langtingeln, in Richtung Sokosti, aber es ist uns einfach zu ungemütlich. Der Nebel nimmt uns die Sicht und kriecht uns in jede Pore. Und in meine Schuhe, wie es scheint. Die sind mittlerweile ziemlich nass. Bei jedem Schritt quackert es gurgelnd aus ihnen hervor. Ich hoffe mal still für mich, dass das keine neuen Blasen mehr gibt.

                  Die Hanghuhn-Schräglage für die nächsten zwei Stunden lässt diese Hoffnung schrumpfen, aber noch halten sie sich wacker, meine Füße. Hier hinterm Berg ist es etwas milder. Der Nebel treibt sich oben auf den Gipfeln rum. Und wir treiben uns an, um ins Tal zu kommen. Nach den Obstbaumwiesen und einem wahrhaft märchenhaften Taigawald erreichen wir die angepeilte Feuerstelle am Kärppäjärvi. Hier pausieren wir kurz. Zeit für unsere Verpuffungsmahlzeit. Dann brechen wir hastig auf – und diesmal meine ich wirklich hastig. Bis zum Luirojärvi sind es noch sieben Kilometer. Jetzt aber hurtig, es gibt einen Weg. Wege sind in dieser Gegend wie Autobahnen. Selbst wenn sie stolprig und steinig sind – allein der Fakt, dass man die Steine, auf die man tritt, wenigstens sieht, macht, dass man forscher ausschreitet. Ich jedenfalls tue das jetzt mit Inbrunst. Nach all diesen Trippelschrittchen der mühsamen Fjällkletterei will ich endlich mal große Schritte machen. Und ich will ankommen und meine Schuhe trocknen. Ich schalte hoch in den Turbogang. Das erste Mal auf dieser Tour laufe ich wirklich schnell. Stef schiebt es freilich auf die Jagdwurst, die ich grade gegessen habe.

                  Am Luirojärvi gibt’s einen Trockenraum. Bisher hat es immer geregnet, wenn wir zum Luiro kamen, egal wann, egal aus welcher Richtung. Wir haben den Trockenraum immer gebraucht und waren froh, dass er da war. Es ist als könnte der Trockenraum das finnische Wetter bezirzen. Komm, launische Wetter-Diva, lass es regnen und schneien, die Leute sind dann himmlisch dankbar für mich. Der Trockenraum muss sich doch lohnend bewähren. Unterwegs schicke ich fünfzehn Gebete zum Himmel, dass vielleicht die alte Hütte nicht besetzt ist - das wäre so wunderbar, denke ich - wir laufen inzwischen an einem großen Geröllfeld entlang - ich habe so gar keine Lust, das Zelt aufzubauen - viel lieber will ich ins Warme - jetzt geht der Weg wieder etwas nach oben in lichte Birkenhaine, wir sehen den See von hier aus – oh Mann, der ist immer noch ganz schön weit weg - hopp, schon sind wir wieder im Wald - es ist Sommer - die Finnen gehen im Sommer nie in den Park – da ist es ihnen zu mückig – zack, die Gegend wird sumpfig - sie bevorzugen lieber den Herbstdie letzten Male war es immer so gewesen – husch, sind wir wieder im Wald, und wir wissen: der See ist nah – andererseits am Luirojärvi ist es immer voll, egal wann man dort auf leere Hütten hofft – dieses Glück hatten wir nur beim ersten Mal – Anfängerglück sozusagen…. - doing, plötzlich stehen wir vor der Hütte. Mein Gedankenstrom stoppt kurz für zwei Sekunden. Vor der Tür kein Hinweis auf eine Besiedlung. Vielleicht haben wir ja doch bisschen Glück nach diesem regennassen Tag? Aber der Blick in die Hütte pfeift uns zurück. Zwei Teenagermädchen sitzen hier schnatternd zwischen mannshohen Wäschebergen. Sie begrüßen uns freundlich und lachen dazu. Ok, dieses Chaos stören wir trotzdem nicht. Wir ziehen gleich weiter zur neuen Hütte.

                  Auch hier ein ähnliches Bild: Etwa zehn Schlafplätze sind schon besetzt. Ich zögere kurz: ich könnte mich mit dazu legen. Die Versuchung lockt, aber dann entscheide ich mich dagegen. Es ist ziemlich spät. Die meisten Bewohner liegen schon in den Daunen, die will ich jetzt nicht mit Geklapper wecken. Wir stecken Schuhe und Socken zu den 20 anderen Schuhen und Socken in die Trockenkammer und bauen im Wald unser Zelt auf. Dann kochen wir was an der Feuerstelle. Eine rot bezopfte Finnin kommt grad aus der Sauna. Die ist noch schön warm, erklärt sie uns freundlich, geht doch hinein, wenn Ihr mögt. Aber selbst dazu sind wir zu müde. Wir wollen nur noch ins Bett. Jetzt freilich, so kurz vor Mitternacht, reißt lächelnd noch einmal der Himmel auf.



                  Und Mitternacht wird zur Mittsommernacht. Die Sonne grüßt aus Nordwesten hinter den Bergen hervor. Der See strahlt jetzt gülden und die Bäume ringsum in Pfirsichsfarben.


                  Das typische Luirojärvi-Motiv. Zu jeder Tages- und Jahreszeit äußerst malerisch.



                  Nachtlicht am Ufer

                  So wunderschön ist das! Was für eine feine Belohnung für Nebelfelsen und nasse Schuhe.



                  Wir werfen noch zwei bis drei Blicke auf diese entrückende Unfassbarkeit, dann aber fallen wir ziemlich erschöpft ins Zelt. Heute noch schreiben? Fehlanzeige!
                  Zuletzt geändert von Sylvie; 03.08.2019, 02:30.

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                  • Bergahorn
                    Erfahren
                    • 13.04.2019
                    • 368
                    • Privat

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                    #49
                    AW: [FI] Über die Fjälls in Lappland: Vom Wandern und Schreiben

                    Wunderbarer, sehr lebendiger und amüsanter Reisebericht, vielen Dank!

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                    • danobaja
                      Alter Hase
                      • 27.02.2016
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                      #50
                      AW: [FI] Über die Fjälls in Lappland: Vom Wandern und Schreiben

                      ahh welch poesie! regen, nebel, watstrümpfe.

                      ich hab grad entdeckt dass man dich rückwärts lesen muss um auch die wirklich dramatischen effekte deines eloquenten schreibstiles zu entdecken. beispiel gefällig?


                      Zitat von Sylvie Beitrag anzeigen
                      ...
                      Ich hoffe mal still für mich, dass das keine neuen Blasen mehr gibt. Bei jedem Schritt quackert es gurgelnd aus ihnen hervor.




                      macht aber süchtig. ich geh jetzt alle deine reiseberichte von von hinten nach vorne durch!
                      danobaja
                      __________________
                      resist much, obey little!

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                      • Sylvie
                        Erfahren
                        • 20.08.2015
                        • 361
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                        #51
                        AW: [FI] Über die Fjälls in Lappland: Vom Wandern und Schreiben

                        Zitat von Bergahorn Beitrag anzeigen
                        Wunderbarer, sehr lebendiger und amüsanter Reisebericht, vielen Dank!
                        Danke sehr Bergahorn. Und vor allem vielen Dank für's Mitkommen! :-)

                        Bis ganz bald
                        Sylvie

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                        • Sylvie
                          Erfahren
                          • 20.08.2015
                          • 361
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                          #52
                          AW: [FI] Über die Fjälls in Lappland: Vom Wandern und Schreiben

                          Zitat von danobaja Beitrag anzeigen
                          ahh welch poesie! regen, nebel, watstrümpfe.

                          ich hab grad entdeckt dass man dich rückwärts lesen muss um auch die wirklich dramatischen effekte deines eloquenten schreibstiles zu entdecken. beispiel gefällig?

                          macht aber süchtig. ich geh jetzt alle deine reiseberichte von von hinten nach vorne durch!
                          Orr quackernde Blasen... Kopfkino ... und Aua... bist Du irgendwie Schlachter oder sowas? Chirurg? Leichenaufschnippler? Meine Phantasie in Deine Richtung wird immer gräuslicher.... kommt gleich nach dem Axtmann.

                          Ich kann vor Lachen nicht mehr schreiben. Und ja!!! Die Idee ist gut, die Berichte rückwärts zu lesen. Ich glaube, da kommt viel bei rum. Mir ist nämlich aufgefallen, dass ich in der Tat anfangs Dinge schrieb, die dann plötzlich wahr wurden. Für den Axtmann will ich das mal nicht hoffen, aber sonst... lauter freudscher Sch..... irgendwo bewegt ein Schmetterling seine Flügel und in China fällt gleich een Sack Reis um... kurze Zeit später Fukushima, ein Kind wird geboren, Jemand verhungert, die Pole schmelzen ab, ein alter Mann singt Gutenachtlieder, die Sonne scheint, Mücken wollen auch überleben, ein Blutbad in Jerusalem... und so und so... das hängt doch alles zusammen... mein eloquenter Schreibstil ohne Drama, nur beim Rückwärtslesen... niemand kann wissen, was das bei Dir auslöst.

                          Schneesturm und Feuerwind oder Erdbeeren mit Schlagsahne?

                          Na gut... ich VERSUCHE !!! mal jetzt ein bisschen weiter zu schreiben. Kommt ja eh nix bei rum.

                          Bis denne
                          Sylvie

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                          • Sylvie
                            Erfahren
                            • 20.08.2015
                            • 361
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                            #53
                            AW: [FI] Über die Fjälls in Lappland: Vom Wandern und Schreiben

                            Sonntag, 14. Juli 2019: Drei lustige Gesellen

                            Heute geht’s Richtung Lankojärvi, ein langer Ritt nach Nordwesten. Ob wir den See erreichen, lassen wir offen. Meine Schulter zickt rum, jeden Tag, obwohl der Rucksack schon so viel leichter geworden ist. Die amfortische Wunde pulst nicht an den Füßen, sondern viel weiter oben, nahe beim Kopf. Heute fühl ich mich regelrecht schlapp-krank. Warn’s die nassen Füße etwa, die mich hier in die Knie zwingen wollen? Nach neun Stunden Schlaf bin ich noch immer wie zermartert. Aber tapfer schäl ich mich aus dem Schlafsack und verrichte recht automatisch all die vielen kleinen Dinge, die man hier so erledigen muss. Ein bisschen ist das wie Arbeiten, sag ich zu Stef. Ich wünsche mir grad einen Koch und einen Zusammenpacker.

                            Irgendwann sind wir mit allem fertig und Stefan baut wie immer brav unser Zelt ab. Wenn ich hier schreibe: „Wir bauen das Zelt auf (oder ab)“, stimmt das nämlich nicht ganz. Stef baut es meistens allein auf und er tut das sofort, wenn wir ankommen. Sowas kann ich nicht. Ich muss, wenn ich ankomme, erst mal nur sitzen und vor mich hin starren. Erst nach einer Weile ausgiebigen Starrens kann ich mich aufraffen, um irgendwas an mir irgendwohin zu bewegen. Stef ist dann meist schon fast fertig mit dem Zelt. Ich darf höchstens noch Handlangerarbeiten verrichten. Meistens mach ich dabei aber alles falsch. Stets stecke ich irgendwelche Schlaufen falsch oder in der falschen Reihenfolge in die falschen Ösen – kurz: Ich kann hier nur verlieren. Das Zelt ist Stefans Baby. Er hegt und pflegt es liebevoll. Ähnlich wie manche Frauen ihre Männer stets kritisieren, wenn sie das richtige Baby angeblich nicht richtig wickeln, genauso werde ich kritisiert, wenn ich Stefans Baby nicht richtig behandle… die Heringe nicht schräg oder nicht grade genug reinstecke, irgendwelche Stangen nicht ziehe, sondern schiebe… wie auch immer. Ich habe bis dato nicht gewusst, wie viel man eigentlich falsch machen kann beim Zeltaufbau. Ich habe mir deshalb angewöhnt, ihn und sein Baby in Ruhe zu lassen. Er findet das, glaub ich, auch ganz ok. Manchmal hab ich sogar den Eindruck, er kann es überhaupt nicht leiden, wenn ich irgendwelche Arbeitsschritte vornehmen will, die ER gerne gemacht hätte. Also Heringe in Tüten packen ist schon ok, das darf ich ohne Bedenken tun, solange ich beachte, sie vorher zu säubern und sie richtig rum (!!!) in die richtige Tasche zu verstauen. Aber schon beim Stangenzusammenfalten hört der Spaß für ihn auf. Das macht er viel lieber ganz alleine und ganz richtig, wie sich das gehört.

                            Während er also am Zelt rumpuzzelt, gehe ich meistens Holz suchen oder bereite das Essen vor. Oder ich sitze eben und starre. So wie heute. Irgendwie komm ich heut gar nicht in die Puschen. Dabei wird es mal Zeit, ebenjene aus dem Trockenraum zu holen. Also hopp, sonst setze ich hier noch Moos an. Langsam, fast schon in Zeitlupe, schleiche ich runter zur Hütte und hole unsere Schuhe und Socken aus dem Trockner. Dann setz ich mich still auf ein kleines Bänkchen und fette sie ein. So. Mal sehen, welche Unbill uns heute ereilt, aber nasse Füße werden allerhöchstwahrscheinlich nicht dazu gehören.

                            Langsam preschen wir vor in die Poleposition. Einen ganzen Eimer voll Selbstermunterung brauche ich heute, um die lähmenden Startprobleme zu meistern. Nur die Vorfreude auf meinen schönen Lankojärvi pusht ein wenig meine Motivation. Nun gut, der Weg wird mich schon wieder einnorden. Immerhin laufen wir ja nach Norden heute. Wir überqueren den Luirojoki und wählen die gleiche Route wie im letzten Jahr, über die Berge und nicht die am See entlang.



                            Sehr hoch müssen wir heute nicht, nur bis in die Obstbaumwiesenzone, dann durch ein Joch ins nächste Tal, über den Suomujoki und schon sind wir da. Eigentlich ist es auch mal nett, wenn man den Weg schon kennt, denke ich mir. Auch wenn er wie heute 25 km lang ist und also erst mal gemeistert werden will. Das Wetter ist immer noch trübe und für meine Begriffe etwas zu kalt.



                            Oder für meine luftige Hose zu kalt, wie man‘s nimmt. Ich müsste schneller laufen, um die schlackernden Hosenbeine mit Wärme aufzufüllen. Auch mein Hosenproblem kommt auf meine to-buy-Liste, gleich unter den Rucksack und die Socken. Ich hab mir die Hose, die mir viel zu weit war, nur eben schnell von meiner wundersamen Schneiderin abnähen lassen. An der Taille sitzt sie wie geschmiert, an den Beinen aber schlottert sie. Die hatte ich bewusst nicht verengen lassen, weil ich es mag, wenn ich Bewegungsfreiheit habe. Nun gut, wer das Eine will, der muss das Andere mögen. Meine Beine sind jetzt zwar sehr frei, aber eben auch ziemlich kalt. Eine lange Unterhose würde hier helfen, aber ich bin zu faul, sie aus dem Rucksack zu kramen. Da hoffe ich lieber auf besseres Wetter. Immerhin, meine Füße sind heute schön warm und trocken. Immer wieder bin ich erstaunt, wie man beim Wandern selbst die winzigsten Annehmlichkeiten ungeheuer positiv wertet, um die Motivation hoch zu halten. Und überhaupt: Dinge, die sonst selbstverständlich sind - warme Füße, Essen, ein schützender Ort – sind es hier eben nicht und man ist dankbar dafür. Selbst der kleinste Funke nährt unsere Hoffnung und die lässt uns weiterlaufen.

                            Während ich dieses und jenes gedanklich erörtere, sind wir bereits am 2. Bach. Ein Weg muss hier abzweigen, der uns hoch in die Obstbaumwiesen führen soll. Wir suchen nach ihm, doch wir finden ihn nicht. Wie schon im letzten Jahr. Also laufen wir erst mal weglos hinauf in die Birken. Ich entdecke ihn dann. Ich entdecke tatsächlich den Ursprung des Weges. Stefan vermerkt das als einen historischen Moment. In der Tat ist uns das noch nie gelungen. Wir fanden die Wege immer erst dann, wenn sie schon irgendwie da waren und in beide Richtungen hätten verfolgt werden können. Heute mal nicht. Die Quelle ist ausgemacht, der Pfad wird jungfräulich von uns betreten und damit die Existenz dieses Weges fundamental zementiert. Wir folgen dem Weg und stiefeln – mittlerweile recht guter Dinge - durch die Obstbaumwiesen, immer hinauf bis zur Kuppe und von dort aus hinein ins Nachbartal. Mal wieder piept uns der Goldregenpfeifer – was für ein schönes, vertrautes Geräusch.



                            Drüben im anderen Tal durchlaufen wir wieder Regionen von grünstem Grün. Im ganzen Park ist es grade sehr grün, aber an manchen Stellen scheint die Natur in den Neontopf zu greifen. Wenn das ein Maler genauso malen würde, sag ich zu Stef, die würden den für verrückt erklären. Dabei malte er nur, was er sähe.



                            Der finnische Wald ist schon wieder um uns und in uns, voll duftender Würzigkeit vom blühenden wilden Rosmarin. Wir rasten lange an einer Feuerstelle am Fluss, dem Palovanganjoki. Letztes Jahr gab‘s hier noch Holz. Dutzende Baumarktsäcke mit geschnittenen Scheiten. Dieses Jahr nur klägliche Reste, ne kaputte Säge und eine Axt. Entweder ist das Holz dieses Jahr schon alle oder man will diesen Platz verwaisen lassen, überlegen wir laut. Zumindest wird diese Holzlosigkeit uns eher dazu bewegen, weiter zu ziehen, statt hier unser Zelt aufzubauen (mein Rücken mal wieder!).

                            Wir wollen gerade zusammenpacken, da kommt ein lustiger Trupp angeschossen: die beiden Teenagermädchen, die wir gestern Abend am Luirojärvi trafen, mit einer älteren Frau im Schlepptau. Die dreie stolpern mit sperrigem Gepäck und Mückennetzen an den Hüten durch wegloses Gelände am anderen Ufer des Flusses. Alles an ihnen ist bunt, Isomatten und Schlafsäcke baumeln wild an ihren Rucksäcken, teils werden sie in Plastiktüten in der Hand getragen. Wenn ich sie nicht mit meinen Augen vor mir sähe, ich glaubte, ich träume das. Ich fühle mich sofort in die märchenhafte Welt von Eno Raud versetzt, Drei lustige Gesellen, ein äußerst amüsantes Kinderbuch. Ok, die Protagonisten Moosbart, Halbschuh und Muff sind Wichtel, aber trotzdem: diese bunte Truppe hier und vor allem ihr Equipment macht, dass ich sofort das Buch vor Augen habe. Den ganzen Weg bis hierher sind die in Sommerklamotten und mit diesem Gigantengepäck gelaufen? Ich staune mal wieder über die Härte der Finnen.

                            Allerdings sind sie unterwegs vom rechten Pfad abgekommen oder sie haben einen anderen Weg genommen, denn der Fluss trennt sie jetzt von der Feuerstelle. „Könnt Ihr uns sagen, wo Ihr den Fluss überquert habt?“, ruft eines der Mädchen, die Ältere, über die rauschenden Fluten. „Wir haben den Fluss gar nicht überquert“, antwortet Stefan wenig hilfreich. Die Mädels gucken irritiert und sagen erst mal nichts. Dann fangen sie an, recht aufgescheucht, immer wieder am anderen Ufer hin- und herzulaufen. Sie diskutieren lautstark und laufen vor, zurück, vor zurück, ihre Schlafsäcke schlackern wie wild gegen ihre Beine. Langsam misch ich mich ein: „Wenn Ihr über den Fluss wollt oder müsst, warum kommt Ihr nicht hier herüber?“, rufe ich fragend hinüber. „Findest Du?“, fragt das Mädchen zurück. „Ja“, sag ich, „der Fluss ist seicht hier, man kommt gut hinüber.“ Die Augen des Mädchens leuchten auf, das sieht man sogar durch das Mückennetz. „Wir gucken noch mal auf die Karte“, strahlt sie und dann pischpern die dreie emsig über die Karte gebeugt, es klingt wie das Murmeln des Flusses selbst. Endlich haben sie sich entschieden und waten in durchsichtigen Plastikschuhen hinüber zu uns ans andere Ufer. Was für drollige Typen! Schrieb ich nicht anfangs, dass sich nur Verrückte hier tummeln? Und bitte: da sind sie. Ich nehme mir postwendend vor, das Buch noch einmal zu lesen.

                            Wir kommen sofort ins Gespräch. Die alte Dame übernimmt das Ruder, sie spricht erstaunlich gut Englisch und erzählt uns, kaum dass sie sitzt, dass sie dieses Jahr auch schon in Deutschland war. Und auch in Luxemburg und in Frankreich, denn sie ist jetzt in Rente und hat für immer Ferien, erklärt sie uns strahlend. Aha, denke ich, die Mädchen sind jung, schwer zu schätzen, vielleicht 14 und 17, also muss das die Oma der beiden sein. Das jüngere Mädchen fragt uns nach unseren Namen. Wir tauschen brav die allgemeine Faktenlage aus. Die Oma heißt Aava, die jüngere Schwester Emma und die Ältere Iida (die Namen habe ich geändert). Emma setzt sich sofort ans Feuer und fängt an zu schreiben. Das kann ich total verstehen. Der Drang zum Stifte ist immer übermächtig, sie ist meine Schwester im Geiste. Ich sage ihr das – und sie freut sich darüber.

                            Omi Aava trocknet sich derweil die winzigen Füße am Feuer. Sie passt mir in ihrer Zartheit so gar nicht recht in die raue Landschaft hier. Ich sehe sie vielmehr sofort am Kamin im Schaukelstuhl sitzen. Mit Filzpantoffeln und einem kecken Dutt auf dem Kopf. In der Hand eine blaue Milchkanne mit weißen Punkten darauf. Aus der Kanne dampft lieblich heißer Kakao. „Wollt Ihr hier bleiben?“, reißt mich das Ömchen aus meinen Gedanken. „Nein“, sage ich. „Wir gehen noch ein Stückchen. Es gibt uns zu wenig Holz hier.“ „Ach Unsinn“, ruft Iida, die Ältere und rennt sofort los, um Totholz zu sammeln. Dann entfacht sie unser mickriges Feuerlein zu stattlicher Größe. Was für eine nette Arbeitsteilung: Eine macht Feuer, eine wärmt sich die Füße und Emma, die Dichterin, schreibt darüber. Ich lobe das Feuer ausgiebig und Iidas türkisblaue Augen strahlen wieder so intensiv durch das Mückennetz, dass ich kurz versucht bin, den Schleier zu heben, um dieses Wunder ganz unverhüllt zu bestaunen. „Bitte sehr, gern geschehen“, sagt Iida stolz. Und ungesagt fügt sie hinzu: „Da müssen erst wir Finnen kommen, um Euch zu zeigen, wie man ein richtiges Feuer macht.“

                            Wir bleiben aber trotzdem nicht hier. Unser Kaffee ist getrunken, wir müssen langsam weiterziehen. Ich bedaure das so sehr. Ich würde am liebsten hierbleiben und diese drei Urgesteine der finnischen Wanderkultur ausfragen, bis ich alles weiß. Oder einfach nur Mäuschen spielen und sie beobachten, ihr Zusammenspiel, ihre Interaktionen, auch das würde meine Neugier sehr bedienen. Noch im Weggehen sehe ich, dass Iidas Augen geschminkt sind. Auch die Wimperntusche und der Eyeliner haben demnach ihren Platz gefunden in diesen Massen an Gepäck, das diese drei Heldinnen hier wacker durch den Wald hucken. Durch Iidas hellbeigen Pullover blitzt ein schicker BH, ihre feine Baumwollhose trüge ich eher zum Tanz. Wo ist eigentlich der Wohnwagen, mit dem die drei lustigen Gesellen durch die nordischen Wälder ziehen?, frage ich mich entgeistert. Zumindest im Buch tun das die Wichtel. Hier aber müssen sie schleppen. Wir verabschieden uns regelrecht überschwänglich voneinander. Macht’s gut, Ihr drei! Vielleicht sehen wir uns am Lankojärvi?

                            Fortsetzung bald. Ich muss die Texte bisschen teilen, weil die Bearbeitung hier auf den Seiten sonst sehr unhandlich wird. Sorry dafür.
                            Zuletzt geändert von Sylvie; 17.08.2019, 08:57.

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                            • andrea2
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                              #54
                              AW: [FI] Über die Fjälls in Lappland: Vom Wandern und Schreiben

                              Liebe Sylvie,

                              wie immer ist es ein Vergnügen mit dir durch Finnland zu wandern. Auch wenn ich die Wanderung nicht auf der Karte verfolge wie in den von uns bevorzugten Gebieten in Schweden und Norwegen, so freue ich mich doch über jeden deiner Berichte und sehe alles förmlich vor mir. Ich beneide dich, dass es dir solche Freude bereitet alles aufzuschreiben. Für mich ist das immer ein notwendiges Übel um daheim nicht schon die Hälfte vergessen zu haben. Jeden Abend schlage ich meinem Mann vor, er könnte das auch mal übernehmen. "Nein, nein mach du mal, ich koche lieber", meint er dann immer.

                              Wie muss ich mir eure Watstrümpfe vorstellen? Sind das so Angelerhosen mit Füßen dran, aus Neopren? Wie schwer sind die? In Finnland mit den vielen Mooren ist sowas wohl nicht verkehrt.

                              Zitat von Sylvie Beitrag anzeigen
                              Einmal passiert es mir tatsächlich, dass ich bis weit über’s Knie im Boden versinke. Wie Rumpelstilzchen. Nur mit Mühe und sehr viel Kraft und jeder Menge Panik gelingt es mir, mein Bein wieder rauszuziehen, ohne dass mir der Schuh vom Strumpf gelutscht wird….
                              Das erinnert mich sehr lebhaft an unsere erste Tour mit den Kindern, bei der sich eine Katasrophe an die andere reihte

                              https://www.outdoorseiten.net/forum/showthread.php/46420-NO-SE-Ein-paar-Tage-von-Gr%C3%B6velsj%C3%B6n-in-den-Femundsmarka-NP?p=732371&viewfull=1#post732371

                              Zitat von andrea2 Beitrag anzeigen
                              …Doch auch heute war das Glück nicht mit uns. Wir waren wohl noch keine Stunde gelaufen, da höre ich meine Tochter hinter mit stöhnen. Ich drehe mich um, und sehe sie bis weit über die Knie -wohl eher bis an den Hintern- im Sumpf eingesunken. Mit dem Oberkörper kippte sie dann noch nach vorne, so dass sie fast komplett nass war. Gemeinsam zogen wir sie aus dem Moor. Das hieß nun schon wieder Abbruch, möglichst schnell zurück zum Zelt, trockene Klamotten anziehen…
                              Das Piepen der Goldregenpfeifer ist meist einfach nur ein Anzeichen für eine Störung, oder sie wollen euch vielleicht von ihrem Gelege weglocken. Oft kann man beobachten, wie sie, sich krank stellenden, über den Boden laufen. Dabei schleift gerne ein Flügen am Boden in der Hoffnung so ihre Feinde vom Nest bzw. den Jungvögeln wegzulocken.

                              Zitat von Sylvie Beitrag anzeigen
                              Doch irgendwann heißt es Packen und danach tun wir das, was wir am liebsten machen auf dieser Tour: Auf die Karte gucken und über den Weg philosophieren.
                              Das ist jeden Abend auch unsere Lieblingsbeschäftigung, auch wenn der Weg eigentlich komplett klar ist. Aber mit dem Finger auf der Karte wandert es sich so wunderbar leicht.

                              Zitat von Sylvie Beitrag anzeigen
                              Ich aber will die mühsam erkämpften Höhenmeter nicht sofort wieder aufgeben. Es ist mir so schön hier oben. Ich mag einfach diese Übersicht. Und kann es total gut leiden, wenn ich zumindest in etwa weiß, wo ich mich grade befinde…
                              Meine Rede. Ich liebe diese Weite. Im Wald ist es auch ganz schön, mal kurzfristig.

                              Zitat von Sylvie Beitrag anzeigen
                              ..und furchtbar einsichtig phantasieren wir nur von üppigen Fressgelagen..
                              Das kennt wohl jeder auf Tour. Schon im Laufe des Tages überlegen wir lang und breit, was wir am Abend kochen wollen. Und am Ende der Tour wird dann schon im Kopf die erste Einkaufsliste geschrieben.

                              Zitat von Sylvie Beitrag anzeigen
                              Kurz vor dem Aufbruch borg ich mir Stefans Stuhl. Sorry, sag ich zu ihm, aber ich brauche bevor wir aufbrechen, noch einen kleinen Moment der Kontemplation. Du bist also auch der Meinung, dass dieser Stuhl für Deine innere Sammlung unerlässlich ist?, fragt Stefan mich hinterlistig. (Die Stuhlfrage wird nicht nur hier im Forum heiß diskutiert, auch familienintern bietet sie immer wieder Anlass für philosophische Betrachtungen.)
                              Ja, ja der Stuhl Ich würde immer noch nicht in Erwägung ziehen einen mitzunehmen, auch wenn es noch so bequem ist.

                              Zitat von Sylvie Beitrag anzeigen
                              …und Stefan baut wie immer brav unser Zelt ab. Wenn ich hier schreibe: „Wir bauen das Zelt auf (oder ab)“, stimmt das nämlich nicht ganz. Stef baut es meistens allein auf und er tut das sofort, wenn wir ankommen. Sowas kann ich nicht….
                              Ich muss gerade sehr lachen…

                              Aber so gibt es überall die Arbeitsteilung. Bei uns ist es eben das Kochen und Schreiben. Koche ich mal, dann heißt es: pass auf es brennt an, oder lass den Deckel auf dem Topf, die Wärme verpufft, oder pass auf dass der Brenner nicht umfällt…. Man könnte meinen ich muss verhungern wenn ich alleine wandern täte. Also schreibe ich halt ;)

                              Liebe Grüße

                              Andrea

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                              • Sylvie
                                Erfahren
                                • 20.08.2015
                                • 361
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                                #55
                                AW: [FI] Über die Fjälls in Lappland: Vom Wandern und Schreiben

                                Liebe Andrea,
                                vielen vielen Dank für Deine superschöne, ausführliche Antwort und die vielen Anregungen. Ich bin grad wirklich geflasht von der Mühe, die Du Dir gemacht hast.

                                Für mich ist das immer ein notwendiges Übel um daheim nicht schon die Hälfte vergessen zu haben. Jeden Abend schlage ich meinem Mann vor, er könnte das auch mal übernehmen. "Nein, nein mach du mal, ich koche lieber", meint er dann immer.

                                Also, ich finde nicht, dass Deine Texte nach Mühe klingen. Dein Stil ist locker und sehr schön. Mich beeindruckt bei Dir aber immer besonders, wie genau und detailliert Du alles beschreibst, nicht nur jeden Berg in der Nähe, sondern auch alle Verrichtungen, die man so machen muss, wenn man unterwegs ist. Ich denke dann immer: ja. Genau so ist es. All die vielen kleine Dinge, die man erledigen und beachten muss. Niemand, der nicht wandert, weiß das eigentlich. Deshalb sind Deine Berichte auch so wertvoll für die Außenwelt. Sie legen Zeugnis ab. Von einer ganz speziellen Kultur. Und jedes Zeugnis sollte in Äonen eingehen.

                                Und ja, haha, Ihr habt also auch eine ganz spezielle Arbeitsteilung, Du und Dein Mann. Das Witzige ist: ich musste, als ich das aufschrieb, genau an Euch beide denken. Ich dachte mir: bestimmt ist das bei Andrea + Partner ähnlich, wie das eben bei alten Ehepaaren so ist. :-)


                                Wie muss ich mir eure Watstrümpfe vorstellen? Sind das so Angelerhosen mit Füßen dran, aus Neopren? Wie schwer sind die? In Finnland mit den vielen Mooren ist sowas wohl nicht verkehrt.

                                Die Dinger sehen so aus:



                                Material? Keine Ahnung, irgendein PVC, sie wiegen 270g und kosten 14 €. Der Hersteller/Verkäufer preist ihre Festigkeit an - nu ja, das war bissel übertrieben, aber sonst sind sie praktisch.

                                Das erinnert mich sehr lebhaft an unsere erste Tour mit den Kindern, bei der sich eine Katasrophe an die andere reihte

                                https://www.outdoorseiten.net/forum/showthread.php/46420-NO-SE-Ein-paar-Tage-von-Gr%C3%B6velsj%C3%B6n-in-den-Femundsmarka-NP?p=732371&viewfull=1#post732371


                                Oh... Ihr habt auch Kindertouren gemacht? Wie schön. Dann weiß ich jetzt schon, was ich lesen werde, nachdem ich meinen Bericht beendet habe. Bin gespannt.

                                Das Piepen der Goldregenpfeifer ist meist einfach nur ein Anzeichen für eine Störung, oder sie wollen euch vielleicht von ihrem Gelege weglocken. Oft kann man beobachten, wie sie, sich krank stellenden, über den Boden laufen. Dabei schleift gerne ein Flügen am Boden in der Hoffnung so ihre Feinde vom Nest bzw. den Jungvögeln wegzulocken.

                                Ja. Das war auch meine Befürchtung, dass wir die armen Vögel ganz schön verwirrt haben, indem wir durch ihr Gelände gelatscht sind.

                                Aber so gibt es überall die Arbeitsteilung. Bei uns ist es eben das Kochen und Schreiben. Koche ich mal, dann heißt es: pass auf es brennt an, oder lass den Deckel auf dem Topf, die Wärme verpufft, oder pass auf dass der Brenner nicht umfällt…. Man könnte meinen ich muss verhungern wenn ich alleine wandern täte. Also schreibe ich halt ;)


                                .... genau! Und ich würde das Zelt NIE NIEMALS alleine aufgebaut bekommen, wenn ich Stef nicht mit dabei hätte. :-)


                                So, ich mach mal weiter im Text!

                                Sei herzlich gegrüßt

                                Sylvie

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                                • Sylvie
                                  Erfahren
                                  • 20.08.2015
                                  • 361
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                                  #56
                                  AW: [FI] Über die Fjälls in Lappland: Vom Wandern und Schreiben

                                  Immer noch Sonntag 14.09.2019: Waldesruh

                                  Wir sind längst wieder krass unterwegs in Finnisch-Lieblich, aber meine Gedanken weilen noch lange bei den Drei lustigen Gesellen. Wo ist der Opa zu diesem Gespann? Ist er gestorben? Hatte er keine Lust zum Wandern? Und was ist mit der Mutter der Mädchen? Lebt sie noch? Oder ist sie vielleicht krank? Warum kümmert sich hier diese zarte Oma um die beiden? Was ist die Geschichte dieses Trios? Stef rennt derweil vorneweg, während ich lahm hintertrottend die Story im Kopfe weiterspinne.



                                  Seltsamerweise fallen mir nur traurige oder dramatische Varianten ein. Das muss der Wald mit mir machen. Da sehe ich überall Horrorszenarien. Aber hey, was ist, wenn es alles ganz einfach ist? Die Oma hat jetzt endlich Zeit für ihre Enkel. Sie geht gerne wandern. Also machen die drei eine große Abenteuertour in der Wildnis… Hm…so richtig gefällt mir das nicht. Was ist schon einfach im Leben? Ich denke und denke, sehe ganze Sequenzen eines großen Beziehungsdramas vor mir – und der Fluss nebenan säuselt dazu ganz leise. Er lullt mich ein in meine Gedankenwelt.

                                  Das alles stimmt mich versöhnlich und müde. Pünktlich, wie immer wenn ich erschöpft bin, meldet sich auch mein Rücken. Und Hagen sticht Siegfried von hinten ins Herz. Es wird also Zeit für uns, die Füße ruhen zu lassen. Und vor allem, den Rucksack abzuwerfen. Der Fluss wird lauter jetzt und wilder. Er drängelt sich dröhnend durch das enger werdende Flussbett und schmirgelt hier lärmend die Steine glatt. Es gibt mehrere Feuerstellen hier, teils am felsigen Steilufer, teils etwas tiefer drinne im Wald. Auch hier gibt es kein Holz. Nun gut, also machen wir es wie Iida und suchen das Holz im Wald.

                                  Nach einigem Hin und Her entscheiden wir uns für ein liebreiches Plätzchen im Wald. Hier wollen wir heute das Zelt aufstellen. Also Stefan macht das, wie immer, ich laufe los nach Feuerholz.



                                  Der Wald ist aufgeräumt. Hier hatten schon einige vor mir die gleiche Idee. Es dauert ein Weilchen, ehe ich ein kleines Häuflein zusammen habe. Ein Feuer aus halbvermodertem Holz brennt natürlich nicht ganz so gut wie eins aus frisch gehauenen Scheiten. Es flackert kurz auf und verzischt dann. Mit ihm alle Käfer, Pilze und Kleinstlebewesen, die hier ihre wichtige Zersetzungsarbeit leisten. Hier komme ich langsam ins Grübeln. Ein bisschen Sorge habe ich schon, dass wir hier zu sehr ins biologische Gleichgewicht eingreifen. Also nicht nur wir, sondern alle Feuermacher vor uns und nach uns an diesem Platz. Stefan meint aber, gemessen an der Gesamtgröße des Parks, nehmen diese wenigen Feuerstellen nur sehr winzige Flächen ein. Der Aktionsradius der Feuerholzsammler ist auch eher gering. Die kommen alle mit zerlatschten Füßen hierher, die laufen keine größeren Strecken mehr, um Holz einzusammeln.


                                  Mückenschutz und Quelle der Hoffnung

                                  Hm… aber trotzdem, sag ich, das ist paradox: Wir können, um die Schönheit dieser Landschaft kennenzulernen, nur durch sie hindurchwandern. Und nur was wir kennen, schätzen wir. Und nur was wir schätzen, wollen wir schützen. Und dennoch verwunden wir das, was wir kennenlernen, indem wir es kennenlernen. Wir achten zwar peinlichst darauf, nirgendwo auch nur ein Fitzelchen Müll zu hinterlassen, aber wir sammeln das Holz, wir treten die Pflanzen platt. Andererseits… die Pflanzen hier oben sind stark. Sie sind Meister des Widerstandes. Sehr gut spezialisiert auf das raue Klima. Moderater Stress schädigt sie nicht, sondern stärkt sie. Das ist ja beim Menschen nicht anders. Was aber ist moderater Stress? Und so und so… wir kommen im Plaudern zu keinem befreienden Schluss. Das Feuer ist längst niedergebrannt und wie zur Versöhnung guckt endlich die Sonne mal aus ihrem Bett. Ja, scheine Du nur, scheine! Immer fleißig in unser Zelt. Wir waren heute viel weniger faul als Du. Wir mussten uns unseren Mittagsschlaf hart erwandern.

                                  20 Kilometer waren es heute. Genug, um sich von der Helligkeit nicht beeindrucken zu lassen. Soll ich noch schreiben? Zu müde! Oh Mann, ich bin mehrere Tage im Rückstand. Ich hoffe, ich krieg dann noch alles zusammen. Ich denke zurück an Emma, das Dichtermädchen, die offenbar ziemlich schnell in den Schreibmodus wechseln kann. Ich brauch dafür bisschen mehr Muße. Und Wachheit natürlich im Kopf. Die aber hat sich verzogen. Oder besser: sie wurde verdrängt. Von dieser alles beherrschenden Müdigkeit, die von den Füßen her gekrochen kam und langsam meinen ganzen Körper okkupierte.
                                  Zuletzt geändert von Sylvie; 09.08.2019, 23:04.

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                                  • Sylvie
                                    Erfahren
                                    • 20.08.2015
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                                    #57
                                    AW: [FI] Über die Fjälls in Lappland: Vom Wandern und Schreiben

                                    Montag, 15. Juli 2019: Stille am Lankojärvi?

                                    Eigentlich ist heute unser Pausentag. Eigentlich wollten wir längst schon am Lankojärvi sitzen und die Seele baumeln lassen. Zeit und kraftraubend waren die Touren über die Fjälls. Wir sind streckentechnisch etwas ins Hintertreffen geraten. Und also müssen wir erst mal zum Lankojärvi hin, bevor wir dort die Seele baumeln lassen können. Also frisch die Schuhe geschnürt und hinaus in die Welt mit unseren morschen Körpern. Gottseidank sind es nur ein paar Kilometer, die rutschen wir doch auf der halben Arschbacke ab. Die Tour heute beginnt allerdings fast schon wieder mit einem Abenteuer. Zwei junge Männer kommen uns entgegen und warnen uns vor. Die Brücke über den Suomujoki ist kaputt, man kommt dort nicht mehr über den donnernden Fluss. So richtig wundert mich das nicht. Die Brücke war schon im letzten Jahr nur noch ein wackliger Steg, auf dem zu verweilen Torheit bewiesen hätte. Dennoch ist ihr Verlust natürlich wenig erfreulich. Mein Frohlocken auf eine chillige Tour schmilzt gerade dahin.

                                    „Was sollen wir tun?“, frag ich den einen der beiden finnischen Recken. „Oh“, sagt der, „nur drei Kilometer flussabwärts gibt’s eine andere Brücke. Die könnt Ihr nehmen.“ Drei Kilometer in die falsche Richtung und dann drei Kilometer wieder zurück macht schon sechs. Sechs Kilometer zusätzlich zu jenen, die wir sowieso schon vor uns haben – mein Frohlocken wird immer kleiner. „Oder Ihr nehmt die Planken etwa 50 Meter stromaufwärts“, klärt unser Wanderfreund uns auf. „Aber die sind extrem wacklig. Da drüber zu gehen halte ich für gefährlich. Wir sind eben über die Planken und mir zittern noch immer die Knie.“ Oh, oh, oh…. wenn ein Finne etwas gefährlich findet, dann sollte man ihm unbedingt Glauben schenken. Für Finnen ist nämlich sonst nie was zu schwer, zu gefährlich, zu anstrengend, die Wege sind immer kurz und einfach zu laufen, das Wetter ist immer gut. Körperliche Anstrengung kennen die einfach nicht, zumindest nicht in dem Maße wie unsere verweichlichten deutschen Körper sie kennen, also ganz speziell mein Körper, der von Stefan ist ja scheinbar doch eher nordischer Natur. Mein Frohlocken wird klein wie ne Maus. Gleichzeitig meldet sich trotzig mein Kampfesmut. Also gut, sag ich, wir sehen uns die Planken mal an. Lieber kurz gezittert, als ewig gewandert.

                                    Wir setzen uns in Bewegung, aber schon kurze Zeit später stoppe ich. Guck mal den Fluss hier an, sag ich zu Stef. Das ist doch der, über den wir dann sowieso müssen. Hier ist grad ne Stelle, wo er recht breit ist, sich in zwei Arme teilt und relativ sanft über die Kiesel gleitet. Also relativ sanft ist natürlich milde ausgedrückt, der Fluss ist auch hier unbändig wie ein wütendes Kind, aber dennoch: eine Furt scheint möglich an dieser Stelle. Stefans Augen leuchten auf und er zückt seine Karte. Wenn wir zu früh hier furten, kann es nämlich passieren, dass wir noch irgendwelche Nebenflüsse queren müssen, ehe wir den Wanderweg am Hauptfluss erreichen. Aber alles ist frei. Stefan nickt. Da ist nur ein kleiner Sumpf auf der anderen Seite. Den können wir aber leicht umgehen. Na hoffen wir das! Wir machen uns startklar. Kein wildes Geplanke, keine sechs Kilometer Umweg – mein Frohlocken wird grade zum Adler, der sich kühn in wirbelnde Höhen schwingt. Wir laufen in Crocs rüber, ein bisschen nervenkitzelig ist es schon, aber lange nicht so wie im Sumpfloch zu stecken.

                                    Drüben finden wir das Moor und umklettern es. Die Gegend ist Gottseidank felsig, sodass sich der Sumpf nicht endlos breitmachen kann. Pünktlich zum Sumpfbeginn kommt auch die Sonne raus und lockt das Mückenkroppzeug hervor. Aber uns hält jetzt nichts mehr auf. Wir finden den Weg und wir laufen ihn. Die Wege zum Lankojärvi hin und auch die von ihm weg, sind allesamt anspruchsvoll. Zumindest, wenn man sie im erschöpften Zustand absolviert, wie es bisher immer geschah. Sie führen über Felsen, in ständigem Auf und Ab, immer am Fluss entlang. Oben drohen steile Stufen, unten sumpfige Senken mit Mückenplagen. Aber heute sind wir nicht erschöpft, sondern ausgeruht. Heute macht der Weg richtig Spaß. Kurz vor dem Ziel furten wir schnell noch den Fluss...


                                    Der Suomujoki ist breit hier, aber nicht sehr tief.

                                    .. und schon sind wir da. Mein Lankojärvi, mein liebster aller finnischen Seen begrüßt uns heute mit Düsternis. Die Sonne ist wieder verschwunden, der Himmel dräut regenschwer und die Mücken freuen sich auf uns.



                                    An der Hütte treffen wir seltsame Gestalten – warum wundert mich das eigentlich nicht mehr? Ein mittelalter Mann mit wildem Bart und wilden Augen, dazu ein junger Mann, baumstark und blond, und ein Mädchen mit grünen Haaren. Also am Scheitel sind die Haare blond, dann aber wedeln sie grün von dieser blonden Kappe herunter, sodass ich das alles von Weitem zunächst für ein Mückennetz hielt. Das Mädel ist trotzig-scheu, hebt kaum ihren Blick, der Baumprinz blickt tumb durch uns hindurch, der Rädelsführer ist der mittelalte Waldzausel. Aber auch er sagt nicht viel, nur das Nötigste. Die drei sind zum Angeln hergekommen, erzählt er knapp. Drei Tage wollen sie hierbleiben und dann zum Luirojärvi weiterziehen. Nach dieser kurzen Einführung werfen wir erst mal die Rucksäcke ab und kochen uns Kaffee am Feuer.

                                    Die Fishermangang gesellt sich hinzu und wieder mal staune ich irre, was die alles mit in den Wald schleppen. Schwere Angelausrüstung, Stiefel, Essen jeglicher Art in Dosen jeglicher Form und dies noch und das noch. „Wie schwer sind Eure Rucksäcke?“, frag ich den Anführer. „Etwa 35 Kilo“, antwortet er kauend. Danach sagt von ihnen lange Zeit keiner mehr was. Mit Filzpantoffeln und dicken Wollsocken drin sitzen die Dreie friedlich am Feuer, ein jeder ein Pfadfindertuch um den Hals, und genießen schweigend ihre unüberschaubaren Mengen an Brot mit Butter und Wurst, dazu Müsli, Kaffee und Tütensuppen. Stefan und ich reden ganz leise nur, damit wir diese Idylle an finnischer Beredsamkeit nicht sinnlos zerstören.

                                    Der Tag ist noch jung. Stef macht sich zu seinen Vögeln auf, während ich mich in die Hütte verziehe, um endlich zu schreiben. Hier drinnen ist es noch warm, die letzten Bewohner sind noch nicht lange weg, schätze ich. Ich packe erst mal meine Matte aus, denn aus nostalgischen Gründen will ich heute mal wieder im Haus schlafen. Ein kurzes Probeliegen und schon bin ich weggenickt. Geweckt von den Mücken schieb ich mich wieder in die Vertikale und koche mir erst mal einen feinen Tee. Und dann, endlich, endlich greif ich zum Stift und zum Block. Um mich herum summen die Mücken. Hier am Tisch schreibt es sich wunderbar, ich bin sofort wieder drin in der Story – aber die Mücken! Ist hier ein Loch in der Hütte? Wo kommen die alle denn plötzlich her? Frustriert geb ich irgendwann auf und geh wieder raus ans Feuer. Der Lankojärvi, so lieblich er ist, hat ein Mückenproblem. Zu viele Sümpfe ringsrum, zu feucht all die Mulden und Senken, für die Mücken ein feines Vermehrungsparadies.

                                    Die Fishermangang baut gerade ihr Zelt auf. Dann werfen sie sich ihre Angeln über und verschwinden in Richtung See. Erst später erfahren wir, dass die drei eine Pfadfindersippe sind. Der ältere Zausel ist tatsächlich der Anführer. Er ist mit der Grünhaarnixe und dem russischen Recken schon in die Wildnis gezogen, als diese noch Kinder waren. Jetzt verstehen wir auch, warum der bärtige Zausel von den beiden Jüngeren auf eine sehr rührende Art und Weise regelrecht angehimmelt wird. Wenn er redet, schweigen sie. Wenn er schweigt, schweigen sie erst recht. Wenn er mit dem kleinen Finger wackelt, springen sie auf und bedienen ihn. Das nenne ich wahre Lehenstreue. Die Natur geizt ja niemals mit Abenteuern und gemeinsam bestandene Abenteuer in rauer, unkomfortabler, lebensfeindlicher Umgebung schweißen ja durchaus sehr fest zusammen. Vielleicht hat der Scout diese Kinder aus schwierigen Verhältnissen geholt? Zumindest bei dem Grünhaarmädchen wäre das anzunehmen. Denn sie wirkt extrem ruhelos, subversiv, verzweifelt, süchtig vielleicht? Besonders ihr Verhalten gegenüber dem Sippenführer zeugt von großem Respekt und von großer Dankbarkeit.

                                    Ich sitze hier lange und genieße die Stille. Und schreibe wie besessen. Gottseidank fallen mir die Gedanken allesamt aus dem finnisch-verhangenen Himmel direkt in den Schoß. Manchmal plauzen sie mit geballter Wucht wie ein Starkregen auf mich ein, sodass ich Mühe habe, sie so schnell aufzuschreiben. Mein bester Kuli ist schon zerschlissen. Gottseidank hab ich noch einen zweiten mit. Luxus muss man sich er-schleppen können. Die Ruhe ist himmlisch hier.



                                    Ab und zu turnt Stefan vorbei und demonstriert mir sehr anschaulich, welche Vögel er wieder getroffen hat und wie die sich ihm gegenüber verhalten haben. Noch sind wir allein hier am See. Da traut er sich, so zu hampeln. Es ist niemand hier, der uns für schräge Vögel halten könnte. Obwohl… hier oben im Park ist das Schräge ja das Normale, es würde wahrscheinlich niemanden wundern, wenn er Stef so hüpfen und mit den Armen rudern sähe. Stef hat seine Vögel, ich hab meine Ruhe und jeder von uns ist glücklich damit.

                                    Irgendwann sind wir nicht mehr allein. Erst kommen die Unglückshäher, drei an der Zahl, und dann kommen weitere schräge Vögel, diese jedoch in Menschengestalt. Zunächst schnauft ein älteres Ehepaar ein. Sie wollen sich morgen am Luiro mit Sohn und Schwiegertochter treffen, erzählen sie mir. Ihre Ausrüstung ist wunderbar oldschool und nach kurzer Verschnaufpause beginnen sie auf wunderbar umständliche Art und Weise ihr winziges altes Zelt aufzustellen. Es ist dreieckig wie ein Dach und hat gerade mal Platz für zwei Luftmatratzen. Die Rucksäcke dieser wackeren Wanderer müssen draußen schlafen, sorgsam verpackt in Regenponchos. Ich bin entzückt und beobachte alles mit großem Behagen. Dabei stelle ich fest, dass auch bei diesem Pärchen eine nette Arbeitsteilung herrscht: der Mann baut eher auf und die Frau sitzt eher daneben im Gras. Dann kommt eine Mutter mit ihrer Tochter. Das Mädchen ist vielleicht zehn oder zwölf. Die beiden sind sichtlich erschöpft und verziehen sich schnell in die Hütte. Und dann höre ich sie endlich: die Stimmen, auf die ich gewartet habe. „Hallo Sylvie und Stefan“, tönt es von Weitem laut durch den Wald. „Das ist ja schön, Euch wiederzusehen“, rufen die Stimmen laut durchs Geäst. Da sind sie wieder, meine drei lustigen Gesellen Aava, Iida und Emma. Sie wirken erschöpft, aber fröhlich. Ich frage sie, wie sie geschlafen haben. „Schlecht“, sagt Aava, „unsre Schlafsäcke sind nicht so toll. Wir haben im Zelt ziemlich gefroren.“

                                    Einen Platz am Feuer lehnen sie dennoch ab. Auch sie wollen erst mal in die Hütte. Später kommt Iida zu uns ans Feuer. Ich frage sie, ob Emma ihre Schwester ist. „Jawohl“, sagt sie, „das ist korrekt.“ Und dann frage ich, ob Aava ihre Großmutter ist. „Nein!“ Iidas sternenblaue Augen werden verwundert kugelrund. „Aava ist unsere Mutter.“ Oh Mist, denke ich, was für ein Fettnäpfchen. Ich schweige erst mal verlegen und fummle plötzlich wie wild an unserem Kocher rum, den ich grade zusammenpacken will. Die Mutter! Ich werde gar nicht drüber fertig. Wir waren völlig auf der falschen Fährte. Weil sie doch immer wieder betonte, dass sie jetzt in Rente ist. Ab wann geht man in Finnland eigentlich in Rente? Und die Mädels sind noch so jung. Oder sind sie vielleicht doch schon älter? Oder sind sie vielleicht adoptiert? Und wo ist der Vater? Ich frage das alles natürlich nicht, ein Fauxpas am Tag ist mehr als genug, aber mein Kopf spinnt sofort die Geschichte um, gleiches Drama, weitere Protagonisten, das macht dieser Taiga-Märchen-Wald mit mir. Und wieder frage ich mich, warum dieses Drama so düster ist. Vielleicht ist alles ganz einfach und die drei machen fröhlich hier Ferien? Aber nein, denke ich, so spielt das Leben nicht, irgendwas haben die an sich, das unter der Fröhlichkeit sitzt. Und erst das macht ihr Fröhlichsein glaubwürdig.

                                    Ein paar Momente später gibt das Leben mir Recht. Emma, die Dichterin, kommt kurz ans Feuer und mir fällt jetzt noch deutlicher auf (als gestern schon), dass sie ihre Arme so seltsam schlenkert, als würden sie gar nicht zum Rest ihres Köpers gehören. Und dann sehe ich es: Ihre Arme sind vom Handgelenk bis weit über die Armbeuge mit feinen weißen Narben übersät, alle fein säuberlich eingeritzt in einer Reihe ins zarte mädchenhafte Dichterinnenfleisch. Beide Arme sind rot und geschwollen davon. Wer sich das ansieht, spürt sofort den Schmerz, den die Wunden jetzt noch verursachen. Die beiden Schwestern bleiben nur kurz, wir bereden ein bisschen dies und das, dann verschwinden sie wieder im Haus. Nach dem Essen laufe ich hoch zur Hütte. Gleich als erstes frage ich Emma, ob sie heute schon geschrieben hat. „Ja“, sagt sie, „gleich heute Morgen am Feuer. Ich schreibe nämlich an einem Abenteuerroman“, verkündet sie stolz. Sehr gut! Schreibe das alles auf meine Dichterin. Dann musst Du es nicht mehr in Deine Haut ritzen. Letzteres freilich denke ich nur.

                                    Es ist heiß in der Hütte. Die Finnen haben hier ordentlich hochgeheizt. Aava und Emma pumpen schwitzend und stöhnend im oberen Bettenlager ihre Luftmatratzen auf. Iida kocht derweil das Essen. Die andere Mutter und ihre Tochter schlafen bereits im unteren Lager. Mir ist es zu heiß hier. Ich beschließe spontan, im Zelt zu schlafen und den Platz im unteren Lager freizugeben. „Ich gehe ins Zelt zu meinem Mann“, erklär ich den lustigen Gesellen. „Da ist es zwar kalt, aber Ihr könnt dann unten liegen, wenn Ihr wollt und müsst da oben nicht schwitzen.“ Die drei Damen begrüßen das. Iida meint lachend dazu: „Deine Matratze sieht aus, als hält sie was aus. Und bestimmt ist Dein Schlafsack besser als meiner. Du wirst es überleben.“ Wir wünschen uns grinsend ein schönes Überleben und dann schleich ich mich hinaus.

                                    Draußen ist inzwischen die Hölle los. Willkommen beim Lankojärvi-Festival, meint Stefan lakonisch zu mir. Die Feuerstelle ist dicht besetzt. Zwei Pärchen sind noch gekommen. Dazu noch drei Wanderer, die nebenan in der Varaustupa schlafen. Auch die Fisherman’s Friends sind vollzählig zurück. Gefangen haben sie nichts. Nur die Grünhaarnixe hatte kurz was an der Angel, erzählt ihr zerzauster Mentor. Aber der Fisch war zu klein, um ihn rauszuholen. Ich stehe indes fassungslos vor diesen wuselnden Massen hier. Mit uns sind es 19 Leute am Lankojärvi. Früher waren wir hier fast oder ganz allein. Zumindest im Sommer. Da ist der Park eigentlich leer. Nun, dieses Jahr offenbar nicht. Und vielleicht auch nie wieder mehr? Am Feuer geistert indes die Geschichte, dass in Anterinmukka ein Bär gesehen wurde. Mit jeder Version, die wir davon hören, wird die Story dramatischer. Die Finnen sind voll in ihrem Element. Bei Gruselgeschichten wird selbst der Schweigsamste plötzlich gesprächig. Ich aber hab keine Lust mehr auf Bärengeschichten. Ich geh lieber ins Zelt und schreib noch ein bisschen.


                                    Schreiben im Zelt um Mitternacht. Läuft bei mir.

                                    Morgen wird ein harter Tag. Der Weg nach Kiilopää ist weit, aber ich freue mich schon auf ein richtiges Bett. Und auf die Sauna. Und erst das Essen!!! Und darauf, einen ganzen Tag schreiben zu dürfen, ohne dafür irgendwohin laufen zu müssen. Stefan kommt irgendwann auch ins Zelt und wir lauschen gemeinsam den netten Geräuschen, die unsere neuen Nachbarn beim Zeltaufbau machen. Darüber schlafen wir ein.
                                    Zuletzt geändert von Sylvie; 12.08.2019, 20:46.

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                                      #58
                                      AW: [FI] Über die Fjälls in Lappland: Vom Wandern und Schreiben

                                      Dienstag, 16. Juli 2019: Einzug ins Paradies

                                      Heute weckt uns der Wecker, denn wir wollen früh raus. Ein Viertelhundert Kilometer liegt vor uns bis Kiilopää. Schnell packen wir alles zusammen und stiefeln los, immer das Tal am Rautujoki hinauf bis nach Rautulampi. Wie immer am letzten Tag bin ich irgendwie fertig mit der Welt und will nur noch ankommen. Das Wetter ist mies, ein eiskalter Nieselregen ärgert uns stets, ich friere, ich habe Hunger und mein Nacken puckert. So sieht’s mal aus. Nach endloser Latscherei durch das Tal – Stef versüßt mir den Weg mit Vogel-Erklärungen – erreichen wir jene Stelle, an der wir im letzten Jahr falsch abgebogen sind. Stolz laufen wir dieses Mal richtig, überqueren den Nebenfluss und bleiben dem Hauptfluss ein treuer Begleiter. Aber ach, nur kurze Zeit später und kurz vor der Hütte passiert uns ein ähnlicher Fehltritt an einem weiteren Nebenfluss. Das Gelände ist einfach zu unübersichtlich hier mit seinen vielfach verzweigten Flussadern. Wir laufen ein Weilchen am falschen Fluss entlang und als die Hütte ewig nicht kommt, wird Stefan misstrauisch. Déjà-vu, meint er beschwörend zu mir und diesmal gehen wir gleich zurück. Wir sind erst 400 Meter im falschen Abzweig, aber trotzdem: 400 Meter hin und zurück, das macht schon fast nen Kilometer mehr Weg und jeder Meter Umweg ist einer zu viel, wenn man kurz vor den Toren des Paradieses steht. Das alles mosere ich ungehalten in mein Doppelkinn, ich hatte wirklich schon bessere Laune auf dieser Tour.

                                      Die Hütte indes wird niemals mehr kommen. Rautulampi ist abgebrannt. Von der ältesten Hütte im Park gibt es nur noch verkohlte Balken. Das muss irgendwann dieses Jahr passiert sein, denn letztes Jahr sahen wir sie noch unversehrt am Lampi-See stehen, pittoresk (wie ein Reiseführer schreibt) und von oben, von der Raututunturi aus, wohin es uns fälschlicherweise verschlagen hatte. Unglaublich, was hier abgeht. Hütten und Brücken verschwinden, Feuerholz gibt es nicht mehr und der Park wird geflutet von Menschenmassen. Wir setzen uns fassungslos an die Feuerstelle und kochen uns einen großen starken Kaffee. Das müssen wir erst mal verdauen. Zum Schock dazu gibt’s die letzten Knäckebrote. Jetzt heißt es für uns nur noch ankommen, denn unser Proviant ist bis auf den letzten Krümel aufgegessen. Nur eine Notration Travellerfood dümpelt noch irgendwo in den Tiefen unserer Rucksäcke. Die allerletzte eiserne Reserve - wir hoffen natürlich, wir brauchen sie nicht.

                                      Plötzlich hören wir hinter uns im Gebüsch wieder die lieblich-vertrauten Stimmen: „Hello again, Sylvie und Stefan“, tönt es fröhlich aus kichernden Mädchenmündern. Das gibt’s doch gar nicht! Die drei lustigen Gesellen sind wieder am Start. Sie müssen kurze Zeit nach uns am Lankojärvi losgelaufen sein. Ich freue mich so sie zu sehen, dass ich sie gleich auf nen Kaffee einlade. Die drei setzen sich dankend ans Feuer und packen auch gleich ihr Essen aus. Emma, die Dichterin, trägt nur ein T-Shirt bei dieser Eiseskälte. Ich selbst habe zwei Jacken über zwei Pullovern an. Ich frage sie, ob sie nicht friert. Sie verneint lächelnd, der Anstieg war sehr schwer, sagt sie. Dann setzt sie sich hin und schreibt. Ihre Arme sind rot, blau glänzen die Narben, sie aber schreibt und lächelt ein bisschen dabei. Sie ist Linkshänderin und sie schreibt akkurat. Mir fällt ein, dass ich sie nie mit Jacke sah in den letzten Tagen. Immer nur kurzärmelig. Vielleicht hat sie Schmerzen, wenn sie die Arme bedeckt? Ich weiß gar nicht, was ich hier fühlen soll. Der Anblick des schreibenden Mädchens macht mich gleichzeitig traurig und froh. Es fällt mir sehr schwer, sie nicht anzustarren.

                                      Aava, die Mutter, bemerkt mein Sinnieren, und mit ihrem feinen Humor lenkt sie uns zart auf andere Themen. Wir reden über unsere Wege. Die drei wollen heute am Nilanpää schlafen. Dann wandeln wir plaudernd von diesem zu jenem. Wir schlürfen gemütlich unseren Kaffee und Emma schreibt. Ich würde gerne noch weiter reden, aber Stefan drängelt und das zu Recht. Der Weg über die Fjälls ist noch lang bis nach Kiilopää. Ich schenke den dreien meinen letzten Rest Kaffeepulver und auch den Kaffeeweißer dazu. Sie bedanken sich hocherfreut. Na, ich weiß doch, womit man Finnen verzücken kann. Im Kaffeetrinken sind die wackeren Recken Weltmeister. Wir verabschieden uns herzlich von diesen drei sehr bezaubernden Exemplaren der menschlichen Spezies. Ein letzter Blick auf die forsch-kecke Iida mit ihren Sternenaugen und auf Aava, die Feine in allen Belangen, na und auf Emma...die fortwährend schreibende Unbeschreibliche – dann schultern wir unsere Rucksäcke und asten uns hoch auf die Fjälls.


                                      Rautulampi


                                      Der See hinter uns wird kleiner und kleiner. Schließlich verschwindet er ganz. Insgeheim hoffe ich, dass ich die drei noch mal wiedersehe.

                                      Der Wind ist gnädig heute mit uns. Er pustet nur manchmal von hinten uns an, immer noch kalt, aus dem Osten heute, aber längst nicht so rüttelnd und schubsend wie neulich am Anteripää. Der endlose Weg über die Raututunturi, vorbei am Rautupää zieht und zieht sich. Er ist steinig und schwer zu laufen. „Hopp, hopp, schnell übers Fjäll“, hatte Stefan gestern getönt. Von wegen hopp hopp, bei dieser Steinbrockendichte hier geht wieder mal gar nichts wirklich schnell. Ich nehme mir grummelnd vor, Stefan nicht immer wortwörtlich zu nehmen. Irgendwann haben wir genug von den garstigen Steinen und steigen hinauf in höhere Lagen.



                                      Wir umrunden den Nilanpää weglos und gehen auch dann nicht wieder hinab auf den Wanderweg, sondern schlängeln uns mutig oben herum. Von Ferne winkt uns der Kiilopää. Wir sind also auf der Zielgeraden. Mir geht es noch immer nur mittelprächtig. Meine Schulter meldet sich mehrfach stechend zu Wort. Ich komme mir wahrlich alt und morsch vor an diesem sehr trüben und feuchtkalten Tag.

                                      Eine längere Pause machen wir noch. Wir verbringen sie liegend in einer Kuhle, in der ich so ziemlich sofort tief und fest einschlafe. Irgendwann schrecke ich hoch, geweckt von meinem eigenen Schnarchen – und dann geht es deutlich besser mit mir. Ich fluche nur noch halb so viel rum über Steine, Geröll, sinnlose Anstiege, zu steile Abstiege und dergleichen mehr. Stefan erträgt die maulende Myrte stoisch in der ihm eigenen Art. Ab und zu fragt er mich mal, was ich jetzt tun will, wo ich jetzt lang will. Hier lang oder da lang? Was schlägst Du vor, frag ich quarrig zurück. Ich finde am besten, hier runter und dort wieder hoch – orr nee, nicht schon wieder hier hoch und da wieder runter, maule ich bockig weiter. Einen Tod musst Du sterben, das ist nun mal so, sagt er dann seelenruhig, lächelt dazu und geht einfach los.



                                      Und ich trabe stirnrunzelnd, aber stille, brav hinterher. Wir sind schon ein nettes wanderndes Pärchen. So richtig zum Streit kommt es aber nicht. Wozu auch? Wir sind ja fast da. Auf den letzten paar Metern phantasieren wir uns unsere Träume zurecht. Stef träumt von Bier. Ich träume von Strom für meine E-Zigarette. In den letzten Tagen ist mir der Strom immer knapper geworden und selbst die Solarbatterie riss dieses Loch nicht wirklich heraus. Heute war ich dann endgültig saftlos. Wahrscheinlich auch deshalb bin ich so knatschig und schwer zu ertragen.

                                      Unser Eintritt ins Paradies fühlt sich wie immer heroisch an. Auch wenn unser Kiilopää, anders als sonst, voll mit Touristen ist. Der Parkplatz ist ziemlich zugeparkt und statt spärlicher Gruppen mit tristen Rentnern tollen hier junge Familien mit Kindern herum. Wir bangen plötzlich um unser Zimmer. Aber Glück gehabt – das allerletzte Blockhaus, ganz am Rande der Siedlung ist noch frei. Und also ist es unseres. Ahhh….die irdischen Freuden können beginnen. Essen, trinken, dampfen (!), waschen und saunieren. Manchmal denke ich ja: Nur für diesen einen, jeglichen Rahmen an erlebbarer Freude sprengenden Moment, nur für dieses eine große Glücksgefühl, lohnt es sich, überhaupt loszugehen. Das stimmt natürlich so nicht, denn es gibt diese vielen Momente des Glücks ja auf der Tour schon. Und das sind meist so winzig kleine Begebenheiten, im hektischen Alltag würden wir die nur flüchtig vielleicht als positive registrieren – hier aber kriegen sie so ein gigantisches Gewicht. Inmitten von Unbill und Strapazen wird auch die kleinste Erleichterung dankbar zur Kenntnis und angenommen. Trockene Füße, kein Regen, abgeheilte Blasen, nachlassende Schmerzen, keine Mücken, Feuer, Wärme, Licht, Essen, Kaffee, Schokolade, gerade Zeltflächen – die Liste könnte beliebig lang fortgesetzt werden. Dieses alles macht es natürlich ebenso lohnenswert, loszugehen. Mal abgesehen von der wunderschönen Landschaft, dem Abenteuer und der Selbsterfahrung. Aber selbst wenn es das alles nicht gäbe, wenn die Tour also durch und durch misslungen wäre, was am Ende bleibt, ist dann ja erst Recht: dieses fulminante, alles beschließende Glücksgefühl, der Stolz und die Freude, es wieder einmal überlebt zu haben. Ich würde lügen, wenn ich das als unwichtig abtäte.

                                      Und so beginnen wir also unser „normales“ Leben in überquellender Dekadenz, die uns bald schon wieder alltäglich sein wird. Noch aber beglückt sie uns. Hungrig und staunend stürzen wir uns ins Touristengetümmel eines gut gefüllten Speisesaals und füllen unsere leeren Mägen mit vielem was da ist und allem, was das Herz sich wünscht. Dann fallen wir seeligst einfach um und träumen den Traum im Schlaf weiter.
                                      Zuletzt geändert von Sylvie; 17.08.2019, 11:13.

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                                        #59
                                        AW: [FI] Über die Fjälls in Lappland: Vom Wandern und Schreiben

                                        Mittwoch, 17. Juli 2019: Schreibrausch im Paradies

                                        Heute erlebe ich einen wahrhaften Schreibrausch. Gleich nach dem Frühstück fange ich an, es gibt so viel nachzuholen, ich bin tagelang im Rückstand. Stefan treibt sich derweil irgendwo im Park rum. Oder keine Ahnung, was der macht. Ich kann mich dafür jetzt nicht interessieren, denn ich muss schreiben und schreiben. Ich tue das in allen Körperlagen, in der Hütte auf dem Bett liegend, Blick auf’s Feuer...



                                        ...dazwischen immer mal Saunagänge, Recherchen zu finnischen Pfadfindern, zum Ritzen, zum Rentenalter in Finnland, zu diversen Vögeln und Blumen, zu Fjellformationen, zu den Skanden, zwischendurch nick ich auch immer mal weg, dann wache ich auf und mach weiter. Was für ein herrlicher Tag! Bei den ersten Tagen in den Fjells habe ich anfangs Mühe, mich korrekt zu erinnern, wo sind wir gleich noch mal hoch? Welche Richtung sind wir gegangen? Woher kam der Wind? Das sah ja da oben alles so ähnlich aus. Und die Touren waren auch ähnlich, wir sind hoch, oben lang und irgendwo wieder runter, rein in den Wald, da war meist eine Feuerstelle, und dann erst kam unser eigentliches Ziel. Später dann, bei den jüngeren Ereignissen wird es leichter und alles fließt. Der Staudamm im Kopf ist endlich geöffnet und kann sich entleeren. Wenn auch zuweilen etwas unkontrolliert und übersprudelnd.

                                        Wenn ich nicht mehr liegen kann, gehe ich ins Restaurant, bestell mir nen Kaffee, beobachte die Leute und schreibe hier einfach weiter. Und die Leute beobachten mich. Neugierig. Manchmal lächeln wir uns an. Aber nur zwei Sekunden, dann bin ich wieder im Text. Möglicherweise halten die mich für irre … wie ich da sitze, fiebrig, die Finger flitzen über das Papier, ohne Unterlass, selten schaue ich auf. Ein Tag schiebt sich zum anderen, ein Moment gebiert den nächsten, ein Gedanke weitet sich aus zur Idee, eine Beobachtung wird zum Gefühl. Ich schreibe so, wie andere reden. Ohne Punkt und Komma. Pausen mach ich nur kurz, wenn ein Tag beendet ist und ein neuer beginnt – also auf dem Papier, nicht in echt. Aber auch in echt fliegt die Zeit. Irgendwann fällt mir auf, dass ich wirklich lange, 60, 70 Minuten am Stück nur schreibe, ohne auch nur ein einziges Mal innezuhalten. Die Leute müssen wirklich denken, ich bin verrückt. Eine arme Irre, getrieben von blauer Tinte. Dieser Fokus verwundert mich, denn allzu oft habe ich Mühe, mich lange zu konzentrieren. Irgendwann steigt mein zweiter Kuli aus. Auch das Papier ist alle.

                                        Ich gehe nach nebenan in den kleinen Laden und suche nach Ersatz. Es gibt aber weder Blöcke noch Stifte hier. Die nette Dame an der Kasse hilft aus: sie schenkt mir zwei Blatt Papier und borgt mir ihren Kugelschreiber. Zwei Blatt sind besser als nix. Ich nehme mir vor, klein zu schreiben. Zur Sicherheit nehm ich aber noch zwei Veranstaltungsflyer mit, die sind auf der Rückseite unbedruckt und zum Vollschreiben daher geeignet. Ich frage die Frau, ob ich ihr den Stift auch erst morgen zurückgeben kann. Ja, darf ich. (Als ich ihn aber am nächsten Tag brav wieder hinlegen will, schenkt sie ihn mir. Du kannst den brauchen, sagt sie lachend. Sie hat wohl gesehen, wie besessen ich bin. Jetzt habe ich einen schönen Kuli aus Pappe, auf dem Suomen Latu Kiilopää steht. Er schreibt hervorragend. Ein wahrhaft königliches Geschenk.)


                                        Heute ist übrigens auch das Wetter sehr königlich.

                                        Nach einigen Tassen Kaffee geh ich zurück in die Hütte und schreibe dort weiter. Stef ist inzwischen auch wieder da und baut sein Zelt zum Trocknen auf. Wir quatschen noch ne Weile, dann gehen wir Abendbrot essen. Dann schreibe ich wieder. Erst tief in der Nacht beende ich den Bericht. Unglaublich. Keine Ahnung, wie viele Stunden ich jetzt nur mit Pinseln zugebracht habe. Stef wird irgendwann wach davon und fasst lakonisch zusammen: Sylvie macht mal wieder keine halben Sachen. Dann dreht er sich um und schläft weiter.

                                        Genau. Und hier kommt mein Fazit:
                                        Dieses Jahr bin ich gesättigt vom Park. In meinem Fazit vom letzten Jahr hatte ich ja diverse Wünsche und Träume formuliert, und was soll ich sagen, einen Großteil davon haben wir wunderbar in die Tat umgesetzt. Hier ist ein Auszug meiner Wunschliste 2018:

                                        Stef und ich kamen aber auch zu dem Schluss, dass wir auf dieser schmerzarmen Tour nicht richtig ausgelastet waren. Das hatten wir zwar genauso gewollt, wir wollten keine Hetzjagden durch wildes Gelände – jetzt aber wollen wir mehr.
                                        1.)Wir wollen mehr sehen vom Park, vor allem die Regionen im Osten reizen uns sehr.
                                        Also müssen wir entweder länger bleiben oder weiter laufen.
                                        2.)Wir müssen es schon machen wie die Finnen: früher aufstehen, weitere Strecken zurücklegen und mittags ordentlich was zusammenkochen, damit wir gut über den Tag kommen.
                                        3.)Der Gang durch Weglosigkeiten über die atemberaubenden Weiten der Fjälls soll noch mehr Gewicht und Gestalt bekommen. Und auch wenn ich die Hütten liebe, wir wollen uns unabhängiger machen von Hüttenromantik und –komfort. Auf Unwegen werden wir wandeln und unter Zeltplanen ruhen, bis wir uns sattgelüstet haben an Stille und Grenzenlosigkeit.
                                        Die zweite Option, länger zu bleiben, steht natürlich auch zur Debatte. Dann allerdings müssten wir mehr Essen schleppen oder den Gürtel enger schnallen. Vielleicht machen wir auch beides? Weiter laufen und länger bleiben? Mit Tagen dazwischen wo wir uns vollends treiben lassen. Das hielte ich eigentlich für einen ganz ausgezeichneten Plan. Ob wir es schaffen, ihn durchzuziehen? Wir wissen es nicht, aber wir träumen davon. Und es ist nie verkehrt, einen guten Traum zu haben.


                                        Wenn ich das jetzt hier für mich noch mal aufsplitte, dann komme ich auf eine erstaunlich feine Bilanz:
                                        zu 1.) Wir sind im östlichen Teil gelaufen, so wie wir es wollten. Hier ist es wunderbar einsam und der Märchenwald ist russisch.

                                        zu 2.) Früher aufgestanden als neulich sind wir nicht wirklich, aber da die Sonne nicht unterging, war das kein limitierender Faktor. Eine ordentliche Siesta aber (nur ohne drückende Hitze) haben wir dieses Jahr tatsächlich immer zelebriert. Geblieben sind wir mit acht Tagen, zwei Tage länger als 2018. Sehr viel weiter gelaufen als sonst sind wir eigentlich nicht. Zumindest gefühlt nicht. Nach rationaler Betrachtung der zurückgelegten Entfernungen haben wir dieses Gefühl leicht korrigiert und zumindest in Zahlen verankert. Knapp 120 Kilometer in sechs und zwei halben Tagen – wir sind’s zufrieden.

                                        zu 3.) Die wunderbaren Fjälltouren haben wir wie geplant durchgezogen. Wir wissen jetzt, wie es ist, sich tagelang oben im Sturm rumzutreiben und mitten im Wald zu schlafen.

                                        Insgesamt ist zu sagen: Wir hatten einen Traum und den haben wir in die Wirklichkeit gehoben. (Gottseidank hab ich ihn vorher aufgeschrieben und damit ein bisschen schon manifestiert.) Vor allem die wilden Touren durch die Tunturi waren atemberaubend und wunderschön. Kein Geschehnis auf dieser Welt kann jene tiefe Befriedigung hervorrufen, als genau das: ein Traum, der nicht wie Fortunas Glückshorn über Dich kam, sondern durch eigenes Tun (und unter Schmerzen) in Lehm gegossen und modelliert wurde. Das ist ein wunderbares und ganz besonderes Gefühl, das eine ganz besondere Sättigung hervorruft.

                                        Gesättigt war ich auch anderweitig, denn mir persönlich war es ein bisschen zu anstrengend. Wandern ist in jedem Fall eine sehr körperliche Angelegenheit. Besonders, wenn einen die Zipperlein plagen, so wie es dieses Jahr bei mir ganz massiv der Fall war, kann diese physische Präsenz des eigenen Körpers alle anderen Eindrücke von Wetter, Landschaft und Leuten dann doch sehr stark einfärben oder gar überstrahlen. Ich wurde recht schmerzlich auf meine Sollbruchstellen zurückgeworfen. Es war niemals unaushaltbar, aber vielleicht werden ja die Signale, die der Körper aussendet, in dieser ungewohnten Reizarmut und Stille auch sehr viel stärker wahrgenommen, als im hektischen Alltag, wo unser überhitztes Gehirn sich immer wieder der permanenten Überreizung mit Lautem und Grellem zu stellen und sich ihr zu entziehen hat – ein aktiver Prozess, vermute ich, der Energie kostet. Diese Energie ist dann nicht mehr vorhanden, wenn man sie braucht, zum Beispiel, um seine eigenen Körpersignale genügend wahrzunehmen und richtig zu interpretieren. Beim Wandern hingegen gibt es von außen keine Reiz-Überlagerung mehr. Man hat plötzlich genügend Raum und Zeit, diese seltsamen Körpersignale zu empfangen. Nun ja, wie das am Ende ausgehen kann, beschrieb ich ja bereits.

                                        Was mir sehr gefehlt hat, war das Schreiben unterwegs. Für mich scheint das offenbar ein ganz wesentlicher Teil der Wahrnehmung und Verarbeitung dieser Touren zu sein. Ich kam zu der Erkenntnis: Ich bin mehr der Schreiber, als der Wanderer. Laufen ist fein und ganz wunderbar, aber wenn ich es danach nicht aufschreiben kann, ist der Genuss nur ein halber. Dieser Wunsch-Drang nach geistiger Transformation des Erlebten hatte sich dann ja sogar im Außen manifestiert: in Emma, der Dichterin, die mir nachhaltig und eindrücklich an drei Tagen hintereinander über den Weg lief. Die mir gezeigt hat, wie man es auch machen kann. Und die mich tief beeindruckt hat. Sie hat mir ausdrücklich erlaubt, über sie und ihre Familie zu schreiben – darüber war ich sehr glücklich, denn sie hat die Geschichte am Ende rund gemacht. Ich meine, ich konnte ja anfangs nicht wissen, dass ich so wenig zum Schreiben kommen werde und dass es mir so fehlen würde. Und ich konnte auch nicht wissen, dass ich sie treffen werde, die mir genau das noch stärker bewusst macht. Gerade an jenem Tag, als ich sie kennenlernte, als wir vom Luirojärvi kamen, hatte ich noch zu Stefan gesagt, dass ich mir wünschte, ich würde mehr zum Schreiben kommen. Drei Stunden später tauchte sie auf und hielt mir meinen eigenen Wunsch direkt vor die Nase. Das Leben ist voller Wunder und seltsamer Koinzidenzen.

                                        Schlussendlich die letzte Sättigung: Wir waren sehr überrascht über die vielen Leute, die wir am Ende der Tour im Park antrafen. Am Anfang ja nicht, im Prinzip war die Tour dreigeteilt: erst durch Finnisch-lieblich, dann sehr einsam über die Fjälls und dann sehr busy durch gemischte Landschaften und durch Menschenmassen. Das hat mich erschreckt und sehr nachdenklich gemacht. Auch die Holzknappheit an den Feuerstellen und dass wir den Wald um sein Totholz brachten, hat mich dazu gebracht, umzudenken. In letzter Konsequenz habe ich für mich die Entscheidung getroffen: Eine weitere Tour durch den Park wird es vorerst nicht geben. Zumindest im nächsten Jahr nicht – und auch jetzt, mehrere Wochen nach Beendigung der Tour, ist diese Entscheidung nicht durch relativierende Wankelmütigkeit geprägt. Vielleicht hat sich die Besucherzahl in ein paar Jahren ja wieder ein bisschen nach unten eingepegelt (bei Populationen ist es ja auch so: zu viele Raubfische – keine Friedfische mehr – weniger Raubfische – wieder mehr Friedfische), weil außer uns auch andere Leute auf die Idee kamen, den Park durch ihr eigenes Nichtkommen zu entlasten. Diese Entwicklung bleibt abzuwarten.

                                        Ob und wo wir nächstes Jahr wandern werden, wissen wir noch nicht. Aber nach Skandinavien wollen wir schon. Stef und ich träumen im nächsten Sommer von einem Haus am See in Schweden. Dort wollen wir zwei Wochen lang chillen und angeln und gemeinsam Musik machen. Ein neuer Traum. Und wie bereits angedeutet: Es ist nie verkehrt, einen guten Traum zu haben.



                                        Euch allen vielen Dank für's Mitkommen. Es war mir wie immer eine Freude, mit Euch in Kontakt zu treten.

                                        Sylvie

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                                        • danobaja
                                          Alter Hase
                                          • 27.02.2016
                                          • 3287
                                          • Privat

                                          • Meine Reisen

                                          #60
                                          AW: [FI] Über die Fjälls in Lappland: Vom Wandern und Schreiben

                                          vielen dank sylvie!

                                          hier fehlt ein verbeug-smilie.

                                          du bist schön zu lesen, ich mag alles von horror über hiker-sadomaso bis finnisch lieblich von dir. und vor allem, dass, wenn man schon die lösung vor augen hat immer noch eine kurve kommt.

                                          ich freu mich schon wenn dich nächstes jahr der axtmann an der hütte am see besuchen kommt und dem stefan seinen stuhl wegnimmt. oder so ähnlich.

                                          auf jeden fall brenn weiter, feuerwind! brennen ist das schönste was einem passieren kann!

                                          das wird jetzt wieder ewig dauern bis du vom nächsten urlaub zurück bist.
                                          danobaja
                                          __________________
                                          resist much, obey little!

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