AW: [DE] O Tannenbaum - Zwischen Goldlauter und Leipzig
05.12.2018 / 10./11.12.2017 Ilmenau
Es ist ein klarer Tag. Heute wäre Wandern ein Genuss. Morgen soll das Wetter wieder umschlagen. Regen, Schnee, Schneeregen. Mein Zug fährt ab Ilmenau, und ich nehme meinen Schicksalsbus, die 300, der nach Ilmenau fährt. Schmiedefeld leuchtet in der Sonne. Wie schön es hier sein kann. Leider kann ich nicht richtig fotografieren, die Sitze sind im Weg.
Und im letzten Jahr? Im letzten Jahr war ich auch mit der 300 nach Ilmenau gefahren. Noch hatte ich die Hoffnung, eine Tour machen zu können. Mein Kalkül war, dass Ilmenau nicht mehr so hoch liegt (der Rennsteig war den Tag zuvor tief verschneit und alle größeren Wege Loipen), und ich mich von dort aus besser orientieren kann. Aber auch hier war das Wetter schlecht, Tauwetter, Blitzeis und Regen waren angekündigt. Meine letzte Hoffnung waren die Radrouten, da könnte man jedenfalls Roller fahren.
In der Nähe des Rennsteigs. Man sieht, das Tauwetter begann bereits.
In Ilmenau buchte ich ein Hotelzimmer. Wind setzte ein, es wurde wieder kälter, ein wenig Schnee fiel, und der Wind wirbelte den frischen Schnee auf. Ich schaffte es gerade zur Bäckerei, um eine Kleinigkeit zu kaufen und erfuhr den neusten Klatsch.
Später traute ich mich noch mal raus, ich suchte eine Pizzeria und kam mir vor wie im finnischen Joenssu, es war kalt und menschenleer, viele Läden hatten geschlossen. Der Wind produzierte nun einen eindrucksvollen Schneesturm, der mich trotz winterlicher Kleidung zur Flucht in einen Häusereingang zwang. Ein Foto machte ich dennoch, der Lohn war ein Sandstrahl aus Schneekristallen im Gesicht. Aua.
In einer kurzen Windpause spurtete ich zurück zum Hotel und knabberte meine Notnüsschen. Der Wetterbericht kündigte einen Temperatursprung und Blitzeis an.
Als ich am Morgen erwachte, sah ich vor meinem Fenster im Innenhof noch gute 20 Zentimeter Schnee. Als ich vom Frühstück zurückkam, war der Schnee weg. Es regnete. Und abends sollte es wieder frieren. Ich gab auf. Mit der Bahn-App buchte ich, vor dem Hotel stehend, im strömenden Regen einen Zug nach Leipzig, ein Geldgeschenk an die Bahn, denn ich buchte das falsche Datum, irgendetwas hatte sich verstellt. In der Sekunde, in der ich auf „kostenpflichtig bestellen“ drückte, bemerkte ich den Irrtum. Zu spät. Stornieren kostete ungefähr so viel, wie der Fahrpreis, insgesamt bekam ich 19 cent zurückerstattet. Ich hatte für das Wochenende ein Hostel in Leipzig vorgebucht, und hatte Glück. ja, es ist die nächsten Tage auch ein Bett frei.
In strömendem Regen rollerte ich zum Bahnhof. Zwei Passanten schauten mich bewundernd an, ich fühlte mich einfach nur schlecht und war frustriert. Ich hatte den preiswertesten Zug genommen, das bedeutete drei Stunden Wartezeit, die ich im Wartesaal mit Lesen zu verbringen gedachte. Eine Gruppe Jugendlicher kam und ließ sich im Wartesaal nieder, sie dürften noch minderjährig gewesen sein. Ein Mädchen und ein paar Jungs, einer davon ist ihr Freund, der zwischen zwei Sprachen hin- und herwechselte, um sich mit einem der Kumpel zu verständigen. Das übliche Gehabe, laut, ein wenig großspurig und betont cool, um den schwachen Kern und die Ängste zu verstecken. Ey Mann, was geht denn. Wortgeplänkel. Zwei jüngere Jugendliche fuhren, ein Neuer kam. Ich wurde ignoriert, obwohl ich wusste, dass ihnen klar ist, dass ich da bin, Show halt. Irgendwann machte ich einen Spruch, sie lachten, etwas erleichtert. Kleinstadt halt, man weiß nie, wie Erwachsene reagieren. Sie wurden ruhiger.
Der neu gekommene Junge, klein, rundes Gesicht, helle Haare, lief immer hin und her, ey setz Dich, was laberst Du da, Du hast doch gar kein Geld, um wegzufahren. Italien, sagte er, lachte ein wenig irre, lief weiter hin und her und im Kreis herum. Ey, was laberst Du da, Du fährst nicht nach Italien. Er lachte wieder, irgendwas stimmte mit ihm nicht, er war nicht aggressiv, aber irgendwie hinüber, als hätte er Drogen genommen (so wirkte er aber nicht) oder als hätte er eine Aufmerksamkeitsstörung, irgendwas stimmte da nicht. Ja, Italien, ich fahre nach Italien, könnt ihr mir glauben. Ey, erzähl keinen Schxxx, Mann.
Der Junge griff in die Jacke und drückte einem der jungen Männer einen Packen Papier in die Hand. Lies doch. Und lief weiter. Immer hin und her. Und lachte. Lachte wieder. Lachte. Was ist das für Papier? Der junge Mann gab es an seinen Kumpel weiter. Kannst Du das lesen? Ey, das ist doch viel zu viel. Lies Du mal. Er sah das Mädchen an. Es schüttelte den Kopf. Ey, was soll ich damit? Das ist doch kompliziert. Sie schaute mich an: Können Sie das lesen?
Ich nickte und griff nach dem Papier. Geahnt hatte ich den Inhalt schon. Ich las quer, die erste Seite, die zweite Seite, Juristendeutsch. Aber eindeutig und klar. Drei Augenpaare starrten mich an, während ich las, und der Junge weiter hin- und herlief und lachte. Er hat Recht, sagte ich. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich einen Abschiebungsbescheid in den Händen hielt. Der Junge hat in Italien Asyl beantragt und ist nach Deutschland weitergereist. Er muss Deutschland innerhalb von 14 Tagen verlassen und sich den italienischen Behörden stellen, damit diese über den Asylantrag entscheiden können. Eine Wiedereinreise ist frühestens in 6 Monaten möglich. Seht ihr, sagte der Junge. Ich fahre nach Italien. Schweigen. Ich reichte die Papiere zurück.
Das Mädchen fand seine Sprache zuerst. Aber was soll er denn in Italien? Da kennt er sich doch gar nicht aus! Und er kann die Sprache doch gar nicht. Ich muss da hin, sagte der Junge, sagt doch auch das Papier. Ja, aber, das ist doch unfair, sagte das Mädchen. Er ist doch noch ein Kind! Ich bemühe mich, in zwei Sätzen das Dublin-Abkommen zusammenzufassen. Das Mädchen schaute mich mit großen Augen an. Das ist trotzdem unfair, sagte sie. Und ich freute mich, über ihre Offenheit und ihr Mitgefühl. Der junge Mann neben mir zückte seine Aufenthaltsbewilligung und hielt sie mir stolz vor die Augen. Ich darf bleiben, sagte er. Ich freute mich für ihn.
Mein Zug war angekommen, und ich verabschiedete mich. Sie hatten mich bereits vergessen. Das Leben ging weiter.
Aus dem Zugfenster sah ich Regen, Regen und überflutete Wege mit Spuren von Resteis. Trist und trostlos. Nur weg hier.
05.12.2018 / 10./11.12.2017 Ilmenau
Es ist ein klarer Tag. Heute wäre Wandern ein Genuss. Morgen soll das Wetter wieder umschlagen. Regen, Schnee, Schneeregen. Mein Zug fährt ab Ilmenau, und ich nehme meinen Schicksalsbus, die 300, der nach Ilmenau fährt. Schmiedefeld leuchtet in der Sonne. Wie schön es hier sein kann. Leider kann ich nicht richtig fotografieren, die Sitze sind im Weg.
Und im letzten Jahr? Im letzten Jahr war ich auch mit der 300 nach Ilmenau gefahren. Noch hatte ich die Hoffnung, eine Tour machen zu können. Mein Kalkül war, dass Ilmenau nicht mehr so hoch liegt (der Rennsteig war den Tag zuvor tief verschneit und alle größeren Wege Loipen), und ich mich von dort aus besser orientieren kann. Aber auch hier war das Wetter schlecht, Tauwetter, Blitzeis und Regen waren angekündigt. Meine letzte Hoffnung waren die Radrouten, da könnte man jedenfalls Roller fahren.
In der Nähe des Rennsteigs. Man sieht, das Tauwetter begann bereits.
In Ilmenau buchte ich ein Hotelzimmer. Wind setzte ein, es wurde wieder kälter, ein wenig Schnee fiel, und der Wind wirbelte den frischen Schnee auf. Ich schaffte es gerade zur Bäckerei, um eine Kleinigkeit zu kaufen und erfuhr den neusten Klatsch.
Später traute ich mich noch mal raus, ich suchte eine Pizzeria und kam mir vor wie im finnischen Joenssu, es war kalt und menschenleer, viele Läden hatten geschlossen. Der Wind produzierte nun einen eindrucksvollen Schneesturm, der mich trotz winterlicher Kleidung zur Flucht in einen Häusereingang zwang. Ein Foto machte ich dennoch, der Lohn war ein Sandstrahl aus Schneekristallen im Gesicht. Aua.
In einer kurzen Windpause spurtete ich zurück zum Hotel und knabberte meine Notnüsschen. Der Wetterbericht kündigte einen Temperatursprung und Blitzeis an.
Als ich am Morgen erwachte, sah ich vor meinem Fenster im Innenhof noch gute 20 Zentimeter Schnee. Als ich vom Frühstück zurückkam, war der Schnee weg. Es regnete. Und abends sollte es wieder frieren. Ich gab auf. Mit der Bahn-App buchte ich, vor dem Hotel stehend, im strömenden Regen einen Zug nach Leipzig, ein Geldgeschenk an die Bahn, denn ich buchte das falsche Datum, irgendetwas hatte sich verstellt. In der Sekunde, in der ich auf „kostenpflichtig bestellen“ drückte, bemerkte ich den Irrtum. Zu spät. Stornieren kostete ungefähr so viel, wie der Fahrpreis, insgesamt bekam ich 19 cent zurückerstattet. Ich hatte für das Wochenende ein Hostel in Leipzig vorgebucht, und hatte Glück. ja, es ist die nächsten Tage auch ein Bett frei.
In strömendem Regen rollerte ich zum Bahnhof. Zwei Passanten schauten mich bewundernd an, ich fühlte mich einfach nur schlecht und war frustriert. Ich hatte den preiswertesten Zug genommen, das bedeutete drei Stunden Wartezeit, die ich im Wartesaal mit Lesen zu verbringen gedachte. Eine Gruppe Jugendlicher kam und ließ sich im Wartesaal nieder, sie dürften noch minderjährig gewesen sein. Ein Mädchen und ein paar Jungs, einer davon ist ihr Freund, der zwischen zwei Sprachen hin- und herwechselte, um sich mit einem der Kumpel zu verständigen. Das übliche Gehabe, laut, ein wenig großspurig und betont cool, um den schwachen Kern und die Ängste zu verstecken. Ey Mann, was geht denn. Wortgeplänkel. Zwei jüngere Jugendliche fuhren, ein Neuer kam. Ich wurde ignoriert, obwohl ich wusste, dass ihnen klar ist, dass ich da bin, Show halt. Irgendwann machte ich einen Spruch, sie lachten, etwas erleichtert. Kleinstadt halt, man weiß nie, wie Erwachsene reagieren. Sie wurden ruhiger.
Der neu gekommene Junge, klein, rundes Gesicht, helle Haare, lief immer hin und her, ey setz Dich, was laberst Du da, Du hast doch gar kein Geld, um wegzufahren. Italien, sagte er, lachte ein wenig irre, lief weiter hin und her und im Kreis herum. Ey, was laberst Du da, Du fährst nicht nach Italien. Er lachte wieder, irgendwas stimmte mit ihm nicht, er war nicht aggressiv, aber irgendwie hinüber, als hätte er Drogen genommen (so wirkte er aber nicht) oder als hätte er eine Aufmerksamkeitsstörung, irgendwas stimmte da nicht. Ja, Italien, ich fahre nach Italien, könnt ihr mir glauben. Ey, erzähl keinen Schxxx, Mann.
Der Junge griff in die Jacke und drückte einem der jungen Männer einen Packen Papier in die Hand. Lies doch. Und lief weiter. Immer hin und her. Und lachte. Lachte wieder. Lachte. Was ist das für Papier? Der junge Mann gab es an seinen Kumpel weiter. Kannst Du das lesen? Ey, das ist doch viel zu viel. Lies Du mal. Er sah das Mädchen an. Es schüttelte den Kopf. Ey, was soll ich damit? Das ist doch kompliziert. Sie schaute mich an: Können Sie das lesen?
Ich nickte und griff nach dem Papier. Geahnt hatte ich den Inhalt schon. Ich las quer, die erste Seite, die zweite Seite, Juristendeutsch. Aber eindeutig und klar. Drei Augenpaare starrten mich an, während ich las, und der Junge weiter hin- und herlief und lachte. Er hat Recht, sagte ich. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich einen Abschiebungsbescheid in den Händen hielt. Der Junge hat in Italien Asyl beantragt und ist nach Deutschland weitergereist. Er muss Deutschland innerhalb von 14 Tagen verlassen und sich den italienischen Behörden stellen, damit diese über den Asylantrag entscheiden können. Eine Wiedereinreise ist frühestens in 6 Monaten möglich. Seht ihr, sagte der Junge. Ich fahre nach Italien. Schweigen. Ich reichte die Papiere zurück.
Das Mädchen fand seine Sprache zuerst. Aber was soll er denn in Italien? Da kennt er sich doch gar nicht aus! Und er kann die Sprache doch gar nicht. Ich muss da hin, sagte der Junge, sagt doch auch das Papier. Ja, aber, das ist doch unfair, sagte das Mädchen. Er ist doch noch ein Kind! Ich bemühe mich, in zwei Sätzen das Dublin-Abkommen zusammenzufassen. Das Mädchen schaute mich mit großen Augen an. Das ist trotzdem unfair, sagte sie. Und ich freute mich, über ihre Offenheit und ihr Mitgefühl. Der junge Mann neben mir zückte seine Aufenthaltsbewilligung und hielt sie mir stolz vor die Augen. Ich darf bleiben, sagte er. Ich freute mich für ihn.
Mein Zug war angekommen, und ich verabschiedete mich. Sie hatten mich bereits vergessen. Das Leben ging weiter.
Aus dem Zugfenster sah ich Regen, Regen und überflutete Wege mit Spuren von Resteis. Trist und trostlos. Nur weg hier.
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