[EU] Geschichten von Straßen und Wegen

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  • Werner Hohn
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    • 05.08.2005
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    [EU] Geschichten von Straßen und Wegen

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    Mitreisende
    In diesem Thread sollen nach und nach Geschichten, Erlebnisse, Anekdoten und Erfahrungen aus 25 Wander- und Radtouren-Jahren erscheinen. Vielleicht werden manche nicht direkt mit meinem Outdoorleben in Verbindung stehen, doch sie spielen sich immer vor der Tür ab.

    Inhaltsverzeichnis
    [IT] Der alte Mann mit dem Fahrrad
    Radtour eines Dritten (1990)

    Warum ein alter Mann aus Norddeutschland aus dem Stand ein Fahrrad kauft, sich auf den Weg nach Süden macht, und seine Frau erst anruft, als er nicht mehr zurück kann.

    [FR] Côte Vermeille: Tour de Madeloc mit Wind (#11)
    Tageswanderung 2015

    Eine beliebte Wanderung für einen halben Tag an der Côte Vermeille, Südfrankreich.

    [BE] [NL] [DE] Dem Zufall hinterher (#12)
    Radtour 2012

    Zweiwöchige Radtour bei der der Zufall Regie geführt hat.

    [HR] Insel Pag - Eine Wanderung für dunkle Wintertage (#17)
    Spaziergänge, Kurzwanderungen 2003

    Ein Segeltörn im Herbst entlang der kroatischen Adriaküste endet vorzeitig als Inselwanderung.

    [EU] Hamish Fultons 2.800 Kilometer Wanderung in neun Fotos (#19)

    English Version
    Zuletzt geändert von Werner Hohn; 19.04.2020, 21:50.
    .

  • Werner Hohn
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    #2
    AW: [EU] Geschichten von Straßen und Wegen
    [IT] Der alte Mann mit dem Fahrrad (1990)

    Dieser Text ist schon 2010 im ODS.magazin erschienen.

    Das Wetter an der sizilianischen Südküste war im August 1990 so wie Urlauber aus nördlichen Regionen sich das Mittelmeerwetter gerne vorstellen, wenn sie im Winter in den Sommerkatalogen der Reiseveranstalter blättern. Heiß, heißer, glühend heiß. An diesen Tagen im August fanden wir für das Wetter nur ein passendes Wort: Temperatur. Der Rest vom Wetter war egal, weil immer gleichbleibend. Morgens blauer Himmel, mittags blauer Himmel, nachmittags blauer Himmel, der abends lange gegen das Dunkel der nahenden Nacht standhielt. Mittags hob ein leichter Wind an, der wenn er es gut meinte, nicht direkt vom nahen Afrika herüber wehte, sondern einen weiten Weg übers sommerlich warme Mittelmeer genommen hatte. Schon am Nachmittag schlief der Wind immer ein. Dann dauerte es nicht lange, bis ein Lüftchen, nur ein Hauch, mehr eine Ahnung von Luftbewegung einsetzte, die sich vom Land hinunter an die Küste schob. Unmerklich, so sanft und sachte, dass meist noch nicht mal die zittrigen Blätter der Eukalyptusbäume in Bewegung gerieten. Und doch brachte dieser abendliche Hauch die Gluthitze des Inselinneren hinunter an die Küste, wo die Urlauber auf abendliche Abkühlung hofften.

    Mit solch einem abendlichen Hauch tauchte ein alter Mann auf den Campingplatz bei Agrigento auf. Braungebrannt, faltig, dürr, fast schon ausgemergelt. Ein Fahrrad schob er über den Platz. Ein Rennrad von der Sorte, die damals jedes große Kaufhaus mit Sportabteilung feilbot. Sein Gepäck bestand nur aus zwei rissigen, mehrfach geflickten Packtaschen, an denen nur die Verschlussriemchen aus Leder unverwüstlich waren, sowie einer Packsackrolle, die augenscheinlich aus einem zweckentfremdeten Müllsack bestand.

    Trotz seiner offensichtlich mehr als 70 Jahre hob er behände sein Rad über das kleine Mäuerchen, jenes Hindernis, welches Wohnwagenbesitzer davon abhielt, den Zeltplatz auch noch zu okkupieren. Im Nu raffte er sein Gepäck vom Rad und fing mit dem Zeltaufbau an. Nur Augenblicke später stand sein Minizelt, ein Firstzelt, ein Einwandzelt neben dem unseren. Vorne keinen dreiviertel Meter hoch, hinten mal eben einen halben. Ehemals knallig rot, nun schon ins Rosa changierend, war ersichtlich, dass dieser Mann schon länger unterwegs sein musste. Die Nahtlöcher der Zeltnähte hatten sich so geweitet, dass die Sonne eine helle gepunktete Linie ins Zeltinnere zeichnen konnte. Einige Sicherheitsnadeln am Zelteingang mussten den kaputten Reißverschluss ersetzen. Zum Schluss schob er eine dünne gefaltete Malerplane seitlich unters Zelt. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass es irgendwann in diesem italienischen Sommer doch noch Regen geben sollte, erklärte er und fuhr fort, dass er nun Urlaub vom Urlaub machen werde.

    In wenigen Tagen würde seine Frau mit dem Flugzeug nachkommen. Dann müsse er für drei Wochen ins Hotel umziehen. So lange würde es dauern, bis sie die Heimreise antreten werde. Natürlich mit dem Flugzeug. Er hingegen wird die Heimreise mit dem Fahrrad machen. Schließlich sei er auf diese Art bis nach Sizilien gekommen. Die sehr späte Erfüllung eines Jugendtraums.

    Hinunter nach Sizilien wollte er schon in seiner Jugend. Wärme, Licht und Sonne, Zitronen, Orangen, den Duft von Wildkräutern, den Lärm der Zikaden, staubige, ausgezehrte Landschaften, die schon morgens in der Hitze flimmern, das wollte er alles sehen, selbst erleben. Goethe sei nicht der Auslöser gewesen, eher der Seume, noch mehr das Lesen und Stöbern in den ersten Reiseberichten der Vorkriegszeit, trotz Schwarz-Weiß-Fotos und kulturbeflissener Reiseschilderungen. Von da an wollte er mit dem Fahrrad nach Italien und wenn schon, dann bis Sizilien. Eine andere Möglichkeit als das Fahrrad kam für ihn nicht in Betracht. Die Vorstellung mit dem Auto nach Süden zu fahren gab es damals noch nicht und eine Bahnreise war viel zu teuer und unflexibel. Mit dem Fahrrad also.

    Bevor sein Wunsch Wirklichkeit werden konnte, zog der Zweite Weltkrieg mit all seinen schrecklichen Auswirkungen übers Land. Danach der Neuanfang, das Aufbauen, der Beruf, die Frau, die Kinder, das Auto, das Haus. All die guten Gründe, etwas aufzuschieben. Die Radtour nach Sizilien war weit weg, aber nie so weit, dass sie für immer verschwand. Dann der Ruhestand. Jetzt aber! Nein, die Gesundheit, die Bedenken der Kinder, die seiner Freunde und Bekannten und vor allen Dingen die der Ehefrau.

    Er feierte seinen siebzigsten Geburtstag. Jetzt noch? Nein, seine Frau war strikt dagegen. Auf andere hörte er schon lange nicht mehr. Der nächste Geburtstag stand an, wie immer im zeitigen Frühjahr. Da war er noch immer nicht in Italien gewesen, mit dem Fahrrad schon überhaupt nicht. An diesem Tag hatte er seiner Frau einen Spaziergang angekündigt. Mal eben zwei, drei Stunden über die Felder vor dem Haus.

    Anstelle des Spaziergangs fuhr er mit dem Bus in die nahe Stadt, suchte dort das erstbeste Kaufhaus mit Sportabteilung auf und besorgte sich alles, was er für die Wahrwerdung seines Jugendtraums benötigen würde. Er brauchte Fahrrad, Zelt, Schlafsack, Luftmatratze, Packtaschen und den nötigen Kleinkram. Später, da lagen schon die ersten Kilometer hinter ihm, hatte er seine Frau angerufen und ihr mitgeteilt, dass er auf dem Weg nach Sizilien sei.

    Anfangs hatte er noch oft in Pensionen und Hotels geschlafen. Da war es noch kalt und die Tagesetappen mussten wegen mangelnder Fitness noch kurz ausfallen. Später, als er seinen Weg ein kräftiges Stück nach Süden verlängert hatte, wurde immer öfter das Zelt aus einer der Packtaschen geholt. Im Frühjahr war er in Hannover gestartet, zum Sommeranfang überquerte er bei Schneeregen den Brenner. Die klassische Route aller Italienreisenden. Er wollte hinüber an die Westküste, zur ligurischen Küste. Um dorthin zu gelangen, musste er durch die Poebene mit ihren endlosen, monotonen Straßen; dann über den Apennin, dort sind die Straßen steil, eng und kurvig. Die Westküste runter, auf dem Heimweg die Ostküste hoch, so hatte sich der alte Mann das vor mehr als fünfzig Jahren ausgemalt.

    Daran wollte er nichts mehr ändern. Bis Sizilien hatte er das auch nicht. Immer entlang der Küste war er gefahren. Im Frühjahr war noch wenig Verkehr auf den Küstenstraßen gewesen und zum Sommer hin war er schon so tief im Süden und vor allen Dingen mit dem Autoverkehr in Italien so vertraut, dass ihn das nicht mehr gestört hatte. Mit dem Fahrrad durch Rom und Neapel, das sei allerdings nervtötend gewesen.

    Anfang August hatte der Alte sein Fahrrad mit den gammeligen Packtaschen und der Müllbeutelrolle in Villa San Giovanni auf die Fähre von nach Sizilien geschoben und war übergesetzt. Ein paar Wochen später als er ursprünglich angenommen hatte. Darauf mussten jetzt noch die drei Wochen gemeinsamen Hotelurlaub mit seiner Frau addiert werden. Die Zeit für die Rückreise mit dem Rad würde knapp ausfallen. Es sollte ja erneut am Meer entlang gehen, wenn auch auf der anderen, der für Radfahrer einfachen Seite Italiens. Das Ionische Meer und die Adria wollte er sehen. Wenn Italien, dann ganz Italien. Bis zum Brenner, wenigsten bis Bozen, sollte seine Radreise auf alle Fälle noch fortdauern. Es wäre schon Winter in den Alpen, wenn er dort oben sein Kaufhaus-Fahrrad in den Zug nach Norddeutschland schieben wird.

    Und die Augusthitze, sagte er, wenn die bis in den Herbst durchhalten würde, sei er nicht böse darum. Davon habe er Jahrzehnte nur träumen können.

    Ein kurze Bemerkung aus dem Jahr 2020: Obwohl ich vor 30 Jahren weit, weit weg vom Wandern oder Radfahren war, hat die geschilderte Begegnung bleibende Spuren hinterlassen. Losgelassen hat mich diese Begegnung nie. Sie war nicht tagesbestimmend, doch immer wenn ich mir in jungen Jahren vorgestellt habe wie ich mein Alter verbringen möchte, war er da mit seinem Fahrrad aus dem Kaufhaus.
    Zuletzt geändert von Werner Hohn; 07.04.2020, 17:02.
    .

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    • Galadriel
      Dauerbesucher
      • 03.03.2015
      • 913
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      • Meine Reisen

      #3
      AW: [EU] Geschichten von Straßen und Wegen

      Sehr schöner Text...:-)) Kann ich gut nachvollziehen, dass man diese Begegnung nicht mehr vergisst. Mich beeindrucken solche Menschen auch...
      Wandern & Flanieren
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      • Moltebaer
        Freak

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        • 21.06.2006
        • 12241
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        #4
        AW: [EU] Geschichten von Straßen und Wegen

        Mensch, hier werden Sehnsüchte geweckt!

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        • rockhopper
          Fuchs
          • 22.04.2009
          • 1234
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          #5
          AW: [EU] Geschichten von Straßen und Wegen

          Danke!

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          • Galadriel
            Dauerbesucher
            • 03.03.2015
            • 913
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            #6
            AW: [EU] Geschichten von Straßen und Wegen

            Zitat von Moltebaer Beitrag anzeigen
            Mensch, hier werden Sehnsüchte geweckt!

            Hast ja noch bissl Zeit...bis 70 ...
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            • Meer Berge
              Fuchs
              • 10.07.2008
              • 2381
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              #7
              AW: [EU] Geschichten von Straßen und Wegen

              Deckt sich grob mit meinen Plänen zum Renteneintritt ...

              Klasse, einfach gemacht! Trotz Wenn und Aber.

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              • Moltebaer
                Freak

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                • 21.06.2006
                • 12241
                • Privat

                • Meine Reisen

                #8
                AW: [EU] Geschichten von Straßen und Wegen

                Zitat von Galadriel Beitrag anzeigen
                Hast ja noch bissl Zeit...bis 70 ...
                Kriegen wir hin.
                Zwischen Jokkmokk und Maccagno fehlen mir nur noch ~280 km als Verbindungsstücke.
                Danach ein wenig nach Süden rollen lassen... läuft
                Wandern auf Ísland?
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                • Moltebaer
                  Freak

                  Liebt das Forum
                  • 21.06.2006
                  • 12241
                  • Privat

                  • Meine Reisen

                  #9
                  AW: [EU] Geschichten von Straßen und Wegen

                  Hehehe, bin eben über Archivaufnahmen gestolpert
                  Es geht um meinen Arbeitsweg anno 2010
                  Wandern auf Ísland?
                  ICE-SAR: Ekki týnast!

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                  • Voronwe
                    Erfahren
                    • 03.04.2008
                    • 440
                    • Privat

                    • Meine Reisen

                    #10
                    AW: [EU] Geschichten von Straßen und Wegen

                    Danke für den Text.
                    Wichtig auch für diese Zeit: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben
                    "We aren't lost! We only don't know where we are!" - Cartman

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                    • Werner Hohn
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                      • 05.08.2005
                      • 10870
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                      #11
                      AW: [EU] Geschichten von Straßen und Wegen
                      [FR] Côte Vermeille: Wind am Tour de Madeloc (2015)

                      An dieser Küste landen meine Frau und ich oft. Gezielt nie, okay, fast nie. Von daheim sind das mal eben 1.200 Kilometer, in Gegenrichtung gleichfalls; was nichts anderes heißt, dass man zur Not in wenigen Stunden auf dem Sofa vor dem Fernseher im heimischen Wohnzimmer sitzen kann. Es ist also einfach, das Ende des Urlaubs bis zum allerletzten Drücker hinauszuschieben. Kommen wir heut' nicht, kommen wir bestimmt übermorgen heim. Kurz: die Reserve-Sicherheits-Zuschlagtage aus der Portugal-Rückfahrt verbummeln wir mittlerweile bevorzugt an der Côte Vermeille.


                      Colliure

                      Die Küste ist obwohl naturnah, doch ganz schön verbaut. Immer noch ist das erträglich. Das Tolle an der Küste ist das Hinterland. Hier tauchen die Pyrenäen aus dem Mittelmeer auf. Die ersten Berge - nicht alle sind welche – wollen erwandert werden. Als Liebhaber von Küstenlandschaften müssen wir dabei keine schmerzenden Kompromisse eingehen. Das Meer verlässt uns nicht.


                      Richtung Argèles-sur-Mer


                      Kulturlandschaft

                      Die Wanderung zum Tour de Madeloc ist Pflicht. Jeder gedruckte Wandführer hat die Tour. Alle sind gleich. An einem bequem mit dem Auto erreichbaren Parkplatz, kann auch ein „wilder“ sein, fängt jede beschriebene Wanderung an. Über den Grat hoch zum Turm, über die alte Verbindungs- und Militärstraße zurück zum Auto. Oder andersrum. Alle Madeloc-Touren unterscheiden sich nur in Nuancen. Unsere stammt aus dem roten Rother. Auf dem Rückweg werden wir vom Wandervorschlag abweichen. Ein Weg mit dem Westhang des Balcó de Madeloc scheint vielversprechender.


                      Am Refuge Madeloc

                      Wir machen das, was der Rother für richtig hält: Das Auto bleibt an der Ermitage Notre-Dame de Consolation zurück. Das Hotel ist leider verschlossen. Der Zutritt wird uns verwehrt. Kein Kaffee am Tourende!


                      Tour de Madeloc

                      Unten am Wasser war es warm. Oben bläst es. Uns schwant, auch für diese Berge wären eine warme Jacke und eine lange Hose im Gepäck vielleicht nicht ganz überflüssig. Beides haben wir nicht. Am Coll de la Serra verlassen wir das Sträßchen. Die Route wird wanderiger. Später steiler. Noch später wegloser. Mit jedem Höhenmeter wird es kälter. Jeden Höhenmeter wird es lauter. Zuerst rascheln unsere Jacken im Wind, zuletzt ist das Plastik so laut, dass wir uns anschreien müssen.


                      Batterie de Taillefer

                      Am Turm klammern sich die Besucher an das Metallgeländer. Wir klammern mit. Wir zittern auch mit. Ein südfranzösischer Oktober ist unten Sommer, oben auf 650 Meter mit Starkwind aus dem Norden schon mehr Winter. Hurtig basteln wir den Wandervorschlag um und nehmen einen Trampelpfad entlang des windgeschützten Westhangs. Dieser Pfad wird nicht beschrieben. Wir sind und bleiben nun alleine. Noch ein Abstecher zur Batterie de Taillefer. Schon mittags sind wir wieder beim Auto. Noch immer ist alles dicht. Immer noch kein Kaffee, kein französisches Mittagessen. Schade. Wir trösten uns: Immerhin waren wir endlich mal wieder in den Bergen.
                      Zuletzt geändert von Werner Hohn; 11.04.2020, 22:12.
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                      • Werner Hohn
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                        #12
                        AW: [EU] Geschichten von Straßen und Wegen
                        [DE] [BE] [NL] Dem Zufall hinterher

                        Reisezeit: Sommer 2012
                        Tourart: Radtour
                        Dauer: Zwei Wochen und ein Tag
                        Länge: 1.500 km

                        Dieser Tourbericht ist die aufgebohrte Version meiner Antwort auf blaulokes Frage in einem anderen Thread, wie ich zum (Touren-)Radfahrer geworden bin.


                        Stark geglättete Route

                        Daten von OpenStreetMap - Veröffentlicht unter CC BY-SA

                        Drei Wochen hatte ich Zeit. Groß geplant musste nicht werden. Vorantreiben würden mich die Straßenkarten der durchfahrenden Länder, die noch immer an den meisten Tankstellen vorhanden waren und sind. Frankreichs Atlantikküste war das Ziel, und dass ich die Loire entlang wieder zurück in die Heimat fahren wollte. Vorher Kanalküste, Normandie, Bretagne und eben die Schlösser der Loire. Als bekennender Schloss-Banause war nicht nur absehbar, sondern sicher, dass ich kein einziges von innen sehen würde. Auch egal. Der Anstoß für Tour und Fahrrichtung kam von meinem Zahnarzt. Zwischen Bohren, Schleifen, Säubern, Abdrücke abnehmen, schwärmte er so oft von seiner Radtour nach dem Studium, dass mir praktisch nichts anderes blieb, als ihm nachzueifern.


                        Düren - Rathaus aus den 1950er Jahren


                        Hollands Küste - Brouwersdam

                        Im Sommer war es dann soweit. Zunächst also nach Belgien, dann weiter an die Kanalküste Richtung Bretagne und irgendwie zurück. Mit dem „irgendwie“ war die Loire schon halb untergebuttert. Von der Küste quer hinüber nach Paris und dann Kurs 90 Grad zurück ins Rheinland wäre auch eine Option. Das wäre kürzer - und frei von Schlössern. Zwar nicht ohne Steigungen, die immerhin nur wellig. Leicht anstrengendes Flachland sozusagen. Mal im Hinterkopf halten.


                        Hollands Küste bei Ter Heijde


                        Katwijk - Oude Kerk


                        Hollands Küste - Camperduin

                        Nach zwei Tagen war ich über Düren-Aachen-Maastricht in Antwerpen. Bei Ankunft an der belgischen Küste waren von Westen aufkommende Gewitter, Hitze und dauerhafter Gegenwind angekündigt. Darauf hin habe ich mir an der nächsten Tankstelle einen Straßenatlas Belgien-Holland gekauft und bin in die Gegenrichtung gefahren. Nach Nordosten, nach Holland, genauer Cadzand-Bad. Die komplette holländische Küste hoch bis nach Ostfriesland sollte es werden. Das ist es dann auch geworden. Als alter Holland-Fan war das Land diesmal so lala. Die Campingplätze verlangten Höchstpreise, einige hatten im Hochsommer mehrere Tage Mindestaufenthaltsdauer. Das Pennen am Strand verbot sich. Das in den Dünen sowieso. Naturschutzgebiete in Reihe. Ausgewichen bin ich mehrmals ins Hinterland. Einmal fand sich dort sogar ein kleines Wäldchen, gelegentlich ein Camping, der nicht von deutschen Urlaubern bis zu letzten Platz überflutet war.


                        Harlingen


                        Noordhorn - Irgendwo da

                        Amsterdam, zwischenzeitlich ganz fest ins Auge gefasst, hatte ich gestrichen. 30 Jahre alte Jugenderinnerungen sollte man ihr verklärendes Kleid nicht runterreißen. Später war es heiß geworden im Binnenland. August-Sommer. Auf dem Groninger Campingplatz hatte die Luft gestanden. Meine Zeltnachbarn, eine holländische Familie, hatte besorgt gefragt, ob ich Hilfe benötige, Ich konnte verneinen. Wenn es heiß ist, sehe ich schon immer so aus, als wäre ich kurz vom den Zusammenbruch. Überzeugt ob meiner Erklärung waren sie nicht. Ich solle wenigsten einen ihrer Stühle nehmen, damit ich mich erholen kann. IWie jämmerlich muss ich ausgesehen haben? Ein Stuhl, ein Stuhl, ein Königreich für einen Stuhl. Bei der nächsten Tour geht einer mit, stand an diesem Abend fest.


                        An der Ems in Bingum (bei Leer)


                        Papenburg - Catharina von Papenburg

                        Für die Querung des Dollard hatte ich die Fahrt mit der Fähre von Delfzijl nach Emden ausgesucht. Am verwaisten Anleger wartete ich so lange, bis ein Spaziergänger mich darauf hinwies, dass die Fähre nicht jeden Tag fährt. Heute auf keinen Fall! Dann eben einmal rundherum um den Meerbusen. Abgeerntete Felder flimmerten in der Augusthitze. Locker in die Pedale tretend überholte mich eine alte Frau. Sie wollte zu ihren Bauernhof. Schön war die Radfahrt um den Dollard schon alleine, weil ich hier den in Holland allgegenwärtigen Radwegen aus dem Weg fahren konnte. Landstraße, endlich. Die Grenze nach Deutschland war nur an den Solaranlagen auf den Hausdächern auszumachen. Wo es schwarz vom Dach glitzerte, war nicht mehr Holland.


                        Ehemals Wahn - Wehrtechnische Dienststelle für Waffen und Munition (Schießplatz)


                        Sögel - Schloss Clemenswerth (Teilansicht)

                        An einer Tankstelle in Leer hat der ADAC-Autoatlas Deutschland den holländischen ersetzt. Ich wollte hinüber nach Hamburg. Weil in der Nacht die Isomatte verreckte, musste eine neue her. In Leer war keine brauchbare zu bekommen. In Papenburg auch nicht. Ein Frau gab mir den Tipp weiter nach Süden zu fahren. Bei Sport-Klahsen in Aschendorf sollte ich fündig werden. So war es dann auch. Da war ich schon ein Stück nach Süden gefahren und auf den Schildern tauchte immer wieder die Magnetschwebebahn auf. Das wollte ich mir ansehen. Dass die nach dem tödlichen Unfall nicht mehr fährt, erfuhr ich erst in Lathen.


                        Kaiser Wilhelm Denkmal an der Porta Westfalica


                        Rattenfängerstadt Hameln

                        Hamburg war jetzt fern. Wieder einmal war das egal, denn ich hatte einen Straßenatlas für das ganze Land. Der Dümmer See war das nächste Ziel. Doch vorher einmal durch den Schießplatz der Wehrtechnische Dienststelle für Waffen und Munition Meppen, der an bestimmten Tagen, oder wenn die Zufahrt frei ist, so genau weiß ich das nicht mehr, gefahrlos durchquert werden konnte. Und einmal quer durchs maisverseuchte Emsland zum Dümmer See bei Diepholz. In Diepholz gab es früher ein jährliches Autorennen auf dem Flugplatz. Das Diepholzer Flugplatzrennen. Die Herren Stuck und Schuhmacher sind dabei gewesen. Motorsportgeschichte. Zurück zum Dümmer. Der Dümmer war eine Katastrophe! Eine Wiese unter Wasser. Wie sollte es weitergehen? Zum Mittellandkanal und hinüber Richtung Münsterland, dann Pott? Beim abendlichen wälzen der Straßenkarte vor dem Zelt, hielt ein älterer Mann auf einem MTB an. Wohin soll die Reise gehen? Meine Überlegungen fand der nicht so toll. Die Weser und die alten Fachwerkhäuser soll, ach was, muss ich mir ansehen. Gemeinsam hatten die Nasen in den Autoatlas gesteckt und eine Route gebastelt.


                        Weser vor Höxter (?)


                        Höxter - Corvey (UNESCO Welterbe)

                        Bei Minden bin ich auf die Weser gestoßen. Von da hoch bis Hann. Münden, weiter nach Kassel wollte ich, zur Documenta. Zwei Tage würde ich für die abzwacken können. Die Weser entlang war Betrieb. Weserradweg und so. Es dauerte nicht lange, bis ich die Straßen vermisste. In Hameln, der Rattenfängerstadt, wollte mir eine Stadtführerin partout nicht abnehmen, dass ich alles mit dem Rad gefahren bin. Da bin ich sauer geworden. Später, als sie mit ihrer Gruppe erneut um die Ecke bog, hatte sie sich entschuldigt.

                        In Höxter hatte ich mir den bis heute wichtigsten Ausrüstungsgegenstand für Radreisen gekauft. Den Helinox Chair One. Der stand im Schaufenster eines Outdoorladens. Fürs Probesitzen hatte der Eigentümer den Stuhl rausgefriemelt. Boah! Was für ein Sitzerlebnis! Nein!, der! ist! nicht! verkäuflich! Die nächste Lieferung kommt in wenigen Tagen. Bis dahin soll ich mich gedulden. Wir hatten lange diskutiert, was mit meinen triumphalen Auszug aus dem Laden endete.


                        Nordhessen - Radfahren macht endlich wieder Spaß


                        Nordhessen

                        Ab Bad Karlshafen die Fulda hoch mit dem Radfernweg R1 bis Kassel. Ereignislos und nach dem Herdentrieb an der Weser einsam. Macht den niemand? Bei einer Pause gesellte sich ein alter Mann dazu. Er hatte Zeit, ich hatte Zeit. Wir beide hatten etwas Langweile. Gelegenheit für einen begeisterten Exkurs über die Talsperren im Sauerland und ihre Funktion für die Schiffbarkeit der Weser. Vor dem Ruhestand war er beruflich in den Regelhaushalt der Weser eingebunden. Es war im anzumerken, dass das immer noch sein Lebensinhalt war.


                        Nordhessen - Hinter den Lahnbergen


                        Nordhessen - Amöneburg

                        Kassel und seine Documenta sind mir schon in der Touristen-Info mächtig auf die Eier gegangen. Bis zu diesem Tag habe ich es für nicht möglich gehalten, dass solche Massen von blasierten Menschen, dazu ohne jeglichen Kunstverstand, zusammenkommen können, ohne das eine höhere Macht Verstand vom Himmel schickt. Die Masse plappert einfach nach, was im Feuilleton steht. Kein gutes Urteil, ich weiß. Vielleicht kommt das auch nur zustande, weil ich schon am Stadtrand von einer uralten Tankstellenbesitzerin angeblafft wurde, wie man in Zeiten von Navi und GPS auf die bescheuerte Idee kommen kann, in einer Tankstelle nach einem Stadtplan zu fragen. Außerdem hatten die Geldautomaten an der Touri-Info mir bescheinigt, dass meine Karten ungültig sind. Der Documenta-Virus im Zentralrechner, oder was? Und die sanitären Anlagen auf dem Campingplatz wären über die Bezeichnung Saustall freudig erstaunt gewesen. Die zwei Tage, die ich für die Documenta reserviert hatte,wurden gestrichen.


                        Nordhessen - Irgendwo in Lahnnähe


                        Runkel an der Lahn

                        Zwischendurch hatte meine Frau vorsichtig nachgefragt, wohin und wie lange die Reise noch gehen soll. Richtung In-guten-wie-in-schlechten-Zeiten würde sie positiv bewerten. Also einmal quer über Bundes- und Landstraßen durch den Norden von Hessisch-Sibirien bis zur Lahn bei Marburg. Zum Schluss dieser folgend hinunter zur Mündung in Lahnstein. Der Lahnradweg war langweilig, sehr oft auch viel zu eng. Tempo machen war schwierig. Das Ausweichen auf die B 49, die "Lange Meile", zwischen Gießen und Limburg war und ist durchgehend für Radfahrer nicht möglich, weil verboten. Ab der Mündung noch 50 nun nicht mehr fordernde Kilometer bis heim. Geschlafen hatte ich aussschließlich im Zelt, womit ich nicht gerechnet hatte, denn fast durchgehend schönes Wetter hatte ich nicht erwartet.


                        Dietkirchen an der Lahn - St. Lubentius


                        Obernhof an der Lahn - Kloster Arnstein

                        Nur zwei Tage hatte ich von Kassel bis nach Hause gebraucht, darunter mit 170 Kilometer meine bis dahin längste Tagesetappe Nach 1.500 Kilometer kam diese Tour zwar eher als geplant zu ihrem Ende, sie hatte mich jedoch dorthin geführt, wohin die Zufälle gelenkt hatten.
                        Zuletzt geändert von Werner Hohn; 12.07.2020, 14:17.
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                          #13
                          AW: [EU] Geschichten von Straßen und Wegen

                          Danke für die schöne Morgenlektüre!

                          "Bis zu diesem Tag habe ich es für nicht möglich gehalten, dass solche Massen von blasierten Menschen, dazu ohne jeglichen Kunstverstand, zusammenkommen können, ohne das eine höhere Macht Verstand vom Himmel schickt. Die Masse plappert einfach nach, was im Feuilleton steht."

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                          • maahinen
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                            #14
                            AW: [EU] Geschichten von Straßen und Wegen

                            Hei,
                            auch von mir einen gaaaaanz großen Dankeschön.
                            Deine Art zu „planen“ gefällt mir.

                            Liebe Grüße
                            Maahinen

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                            • November
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                              • 11083
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                              #15
                              AW: [EU] Geschichten von Straßen und Wegen

                              Danke Werner, gefällt mir sehr.

                              Natürlich die Geschichte vom alten Italienfahrer. Ich dachte erst, es ist die Geschichte eines Mannes aus der DDR, der 1990 endlich die erste Gelegenheit für seine eine Traumreise ergriff. Aber es gibt eben auch andere Hinderungsgründe.

                              Auch deine erste spontane Radtour mag ich, sozusagen vom Wind getrieben.

                              Ich gebe zu, die Tagestour habe ich noch nicht gelesen.
                              Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um.

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                              • Werner Hohn
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                                #16
                                AW: [EU] Geschichten von Straßen und Wegen

                                Zitat von November Beitrag anzeigen
                                Danke Werner, gefällt mir sehr.

                                Natürlich die Geschichte vom alten Italienfahrer. Ich dachte erst, es ist die Geschichte eines Mannes aus der DDR, der 1990 endlich die erste Gelegenheit für seine eine Traumreise ergriff.
                                Das Jahr hätte gepasst. Nach '89 haben wir überall im Süden neugierige, teils ungeduldige, manchmal auch entäuschte Menschen aus der DDR getroffen. Ich glaube, nicht wenige aus der Wendezeit sind nachdem die Neugier gestillt war in altvertraute Regionen zurückgekehrt. Leider findet man selten Geschichten aus dieser Zeit.

                                Vor ca. 15 Jahren ist uns auf einem Campingplatz in Portugal ein alter Radfahrer (Rentenbeginn) über den Weg gelaufen. Der kam aus Marrakesch, wollte die Küste hoch nach Santiago de Compostela, dann in Gegenrichtung den Camino bis Frankreich, zum Schluss nach Berlin. Das war ein alter DDRler. Bevor es körperlich "fordernd", so nannte er das, wird, wollte er sich noch schnell Südeuropa vom Fahrrad aus anschauen.

                                Nach der Wende war sein erstes Ziel das das Nordkapp. Sobald er konnte, hatte er sich das Fahrrad unter den Hintern geklemmt und war da hoch gefahren. Seitdem war er Skandinavien verfallen. Doch hin und wieder musste es doch der Balkan sein.
                                Zuletzt geändert von Werner Hohn; 12.07.2020, 17:02. Grund: Deutsches "Nordkapp".
                                .

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                                • Werner Hohn
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                                  • 05.08.2005
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                                  #17
                                  AW: [EU] Geschichten von Straßen und Wegen
                                  [HR] Pag- Eine Wanderung für dunkle Wintertage

                                  Reisezeit: Herbst 2003 (Fotos von 2004)
                                  Reiseart: Spaziergänge, Kurzwanderungen

                                  Dieser Text ist schon 2010 im ODS.Magazin erschienen

                                  Die Bora sollte noch ein paar Tage durchhalten. In der Hoffnung, der Herbststurm könnte sich unverhofft doch abschwächen, schlichen wir seit dem hoffentlich sturmsicheren Vertäuen der Segelyacht mehrmals am Tag zum Büro des Hafenmeisters, nur um dort schwarz auf weiß bestätigt zu bekommen, dass in den nächsten Tagen keine wesentliche Wetteränderung zu erwarten war. Die Sturmwarnung mit Windstärke 10 für die Kvarner-Bucht wurde nicht zurück genommen. Auslaufen und den Törn nach Norden fortsetzen war nicht möglich. Die Ausfahrt der kleinen rundum von Land geschützten und in der Seekarte so sicher aussehenden Hafenbucht von Šimuni an der Westküste der kroatischen Insel Pag war unpassierbar.


                                  Pag (Stadt)

                                  Am zweiten Tag riss unter der Last des nicht enden wollen Sturms die verrottete Muringleine der neben uns liegenden Motoryacht, was meine Frau und ich als Vergewisserung nahmen, dass die Leine, die unser Charterboot halten sollte in viel besserem Zustand sein musste. Wenigstens für Stunden konnten wir das Boot sich selbst überlassen und uns die Beine vertreten.

                                  Vom Deck einer Segelacht aus ist Pag eine Insel wie viele andere auch. Ein zunächst kaum wahrnehmbarer langgezogener Landstreifen, der sich erst beim Näherkommen vom unmittelbar dahinter hoch aufsteigenden Velebitgebirge abhebt. Grau, schroff und von See her abweisend, erschien Pag als ereignislose Einöde. Die ideenlose Gestaltung der wenigen Hafengebäude, deren Läden im Oktober schon wieder – oder immer noch – geschlossen hatten, tat das Ihrige dazu. Zu sehen gibt es hier nicht viel, waren wir sicher.

                                  Der Faszination Pags erlagen wir, nachdem wir uns auf den Weg gemacht hatten, die Insel auf Spaziergängen zu erkunden. Zuerst zaghaft rund ums Hafengebiet - schließlich konnte das Wetter jederzeit besser werden - dann in weiten Schleifen bis auf die Hügel der Pager Bucht im Süden. Oder eine große Runde zum Sveti Vid in der Inselmitte, der zaghaft an der 350-Meter-Marke kratzt.


                                  Pag und Velebit-Gebirge, die durch den natürlichen Velebitski Kanal getrennt sind

                                  Pag ist waldlos, kahl, dort wo die Stürme vom Velebit ungebrenst auf die Insel prallen, scheinbar ohne jegliche Vegetation. Der Rest ist verkarstet, hat blendend weiße Steinwüsten, Schotterfelder, Geröllhalden, Felsen. Dazwischen immer wieder karge, von der Sommerhitze ausgedörrte Wiesen, umzäunt von weißen Steinmäuerchen, die uns oft so zerbrechlich erschienen, dass wir versucht war, einen Stein aufzuheben, um die Mauer zu verstärken. Uralte, mächtige, vom Wind und der Zeit geformte Olivenbäume auf Feldern, die nur aus Felsbrocken zu bestehen scheinen. Dazwischen immer wieder kleine Schafherden, dann ein einsamer Esel, windschiefe Feldhütten mit im Sturmwind scheppernden Blechdächern. An windgeschützten Stellen, dort wo die vom Festland herüber wehenden Fallwinde noch Reste fruchtbaren Bodens gelassen haben, Hartlaubgewächse, ein Hecke aus Feigenbäumen, etwas Weinbau, spärlicher Gemüseanbau. Von niedrigen Steinmauern begrenzte Feldwege, die ohne Plan über die Insel führen, reichen bis zum Horizont oder enden abrupt im Nichts. Urwüchsige Landschaft. Unwirklich. Nach wenigen Stunden faszinierend, anziehend.


                                  Ruine Fortica

                                  Abseits der Hauptroute führten enge und löchrige Straßen, die oft nur Platz für ein Auto lassen in die wenigen Siedlungen und Dörfer der Insel. Nur alle paar Stunden klapperte ein Auto in meist halsbrecherischem Tempo an uns vorbei. Scheinbar ohne Plan zweigen Pfade hinunter in Richtung Meer ab, die dann wie gehofft oft in einer einsamen Kiesbucht endeten. Dort unten, wo der Sturm während dieser Tage seine Kraft nicht entfalten konnte, in den einsamen Buchten auf der Leeseite, roch Pag nach Oregano, Salbei und Thymian. Der Duft des Sommers, der Duft Südeuropas.

                                  Die Bora hatte so lange angehalten, dass wir das geliehene Boot im Inselhafen lassen mussten. Wir würden wiederkommen. Nicht wegen der Segelyacht, das war Sache der Charterfirma, Pag hatte es uns angetan. Wir wollten die langgestreckte und schmale Insel auf einer langen Wanderung erkunden.

                                  Beginnend an der winzigen Steinmole des kleinen Hafen von Tovarnele am nördlichen Ende der Halbinsel von Lun, weiter über Novalja und Pag bis zur Brücke über den künstlichen Durchstich des Ljubačka vrata, der Pag zu einer Insel macht. In vier, fünf oder sechs Tagen würden wir die 60 Kilometer zwischen dem Norden und dem Süden auf 80 oder 90 ausdehnen. Vielleicht mit einem Abstecher hinüber zur unglaublich kahlen Ostküste, wo gegen Bora und Jugo kein Gewächs bestehen kann. Kolan, den einzigen Ort im Inselinneren müssten wir mitnehmen. Ob wir erneut über den Sveti Vid gehen würden oder die Straße über Šimuni vorziehen würden, um Pag zu erreichen, könnte man ad-hoc entscheiden. Von Pag nach Košljun an der Westküste? Sicherlich, denn das ließe sich zu einem langen Bogen über Povljana und Smokvica nach Vlašići ausbauen. Die Südspitze Pags wäre von dort in wenigen Stunden erreicht.



                                  Seitdem waren wir mehrmals auf Pag. Gewandert sind wir nie. Einmal war unsere Zeit so knapp bemessen, dass es nur für ein Auffrischen der Erinnerungen reichte. Beim nächsten Besuch hatte uns die Bora vertrieben – wieder im Oktober. In diesem Oktober war es so kalt, regnerisch und stürmisch, dass der Campingplatzbetreiber alle seine Gäste mit Zelt ohne Aufpreis in den nagelneuen Mietheimen untergebracht hatte.

                                  Aber die Wanderkarte liegt seit Jahren im Regal und daneben einen Stapel Satellitenfotos für die Wege und Pfade, die keinen Eingang in die Karte gefunden haben. Wir werden das schon noch schaffen. Bis dahin aber kann man in dunklen und kalten Wintern von einer Wanderung übers sommerlich heiße Pag träumen.

                                  Eine Bemerkung aus dem Jahr 2020: Seit 2003 sind wir noch mehrmals in Kroatien gewesen. Noch immer liegen die Karten im Regal und noch immer sind wir nicht über die ganze Insel gewandert. Vielleicht muss aus der "Wanderung für lange Winterabende" eine "Wanderung für den Ruhestand" werden. Klima und erinnertes Lebensgefühl der Insel laden dazu ein.
                                  Zuletzt geändert von Werner Hohn; 09.05.2020, 10:14.
                                  .

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                                    AW: [EU] Geschichten von Straßen und Wegen

                                    Mein erster spontaner Gedanke: Da hat der Werner bei PRAG aber das R vergessen. Dann hab ich runter zum erste Bild gescrollt und gemerkt, ach nee, der meint doch was anderes.

                                    Sehr fein, danke.
                                    Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um.

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                                    • Werner Hohn
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                                      AW: [EU] Geschichten von Straßen und Wegen
                                      [EU] Hamish Fultons Weitwanderung in neun Fotos

                                      Seven Paces:



















                                      Gesehen am Rheinufer nahe dem Arp Museum in Remagen-Rolandseck. Diese Bodenskulptur auf dem Rheinradweg war ein Anstoß für unsere/meine Straßenwanderungen in Deutschland und Portugal.

                                      Wikipedia: Hamish Fulton
                                      Zuletzt geändert von Werner Hohn; 18.04.2020, 21:09.
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                                      • Rattus
                                        Lebt im Forum
                                        • 15.09.2011
                                        • 5177
                                        • Privat

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                                        #20
                                        AW: [EU] Geschichten von Straßen und Wegen

                                        Schöne Eindrücke, danke
                                        Das Leben ist schön. Von einfach war nie die Rede.

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