[PL] Polen von seiner schönsten Seite: Radtour Lubuskie

Einklappen

Ankündigung

Einklappen
Keine Ankündigung bisher.
X
 
  • Filter
  • Zeit
  • Anzeigen
Alles löschen
neue Beiträge

  • Torres
    Freak

    Liebt das Forum
    • 16.08.2008
    • 30593
    • Privat

    • Meine Reisen

    [PL] Polen von seiner schönsten Seite: Radtour Lubuskie

    Tourentyp
    Lat
    Lon
    Mitreisende
    1. Tag 6. Sep 2011. Szczecin - Obryta (Woj. Zachodniopomorskie) 54 km

    Es ist Dienstag, der 6.09.2011. Um 9.08 Uhr verlässt der Regionalzug Richtung Lübeck den Hamburger Hauptbahnhof. Von dort aus geht mein Anschlusszug nach Szczecin (Stettin). Meine Anreise zur ODS Mitgliederversammlung auf Burg Ludwigstein hat begonnen.
    Im Zug nach Lübeck unterhalte ich mich nett mit einem angehenden Medizinstudenten. Der Umstieg in Lübeck ist problemlos, mittlerweile sind viele Bahnsteige behindertengerecht mit Aufzügen ausgestattet, so dass Abladen des Fahrrades der Vergangenheit angehört.



    Der Regionalexpress ist komfortabel. Mein Ziel ist es, den Campingplatz in der Nähe von Stargard zu erreichen. Zwar hatten sowohl lutz-berlin als auch mein polnischer Arbeitskollege den Weg aus Stettin heraus als nicht unbedingt radwürdig abklassifiziert, aber ich will nicht noch in einen polnischen Zug umsteigen. Man will ja die Erfahrungen selbst machen.




    Pünktlich 14.46 Uhr erreiche ich Stettin.



    Es ist strahlender Sonnenschein und ich trage das Fahrrad die Treppe hinunter. Leider muss ich nun auch wieder eine Treppe hoch. Damit habe ich aber gerechnet. Jedoch nicht damit, dass mit ein netter Pole hilft. Dann stehe ich im Ausgang und sehe dieses Bild.



    Ich freue mich. Wieder in Polen. Dennoch: Ich muss die Empfangshalle suchen. Mein Kollege hatte mir geraten, im Bahnhof das Geld zu wechseln und ich brauche Wasser. Die Bezeichnung Wechselstube klang deutsch und ich finde sie auch sofort: Kantor - Change. Ich erhalte für 150 Euro 589 Zloty, der Kurs ist also ungefähr 1:4. Am Kiosk nehme ich mein Fahrrad mit ins Geschäft und kaufe Wasser. Meine Frage nach Kaffeebonbons wird nicht verstanden – noch sind meine Polnischkenntnisse zu begrenzt. Nach einer Woche wird das erheblich besser! Das Wörterbuch habe ich übrigens vergessen.

    Ich schiebe das Rad Richtung Brücke. Es ist Berufsverkehr, die Autos stehen im Stau. Hinter dem Bahnhof steht ein interessantes Gebäude, ich schiebe das Rad eine kleine Anhöhe hinauf. Aufgrund einer verschobenen Gehwegplatte falle ich fast hin – nein, bitte jetzt nicht mit dem Fuß umknicken. Erst einmal heraus aus der Stadt. Ich wende und fahre navigesteuert Richtung Kobylanka. Dort solle es einen Campingplatz geben. Eine gute Startbasis, um morgen den Drawa Nationalpark zu erreichen.

    Der Weg aus der Stadt ist tatsächlich nicht sehr erfreulich. Viele Autos, schlechte Radwege. Dennoch genieße ich es – der Kontrast zu den Landstraßen wird wunderbar sein. An der Ausfallstraße aus dem Ort die üblichen hohen Bordsteine und unebenen Gehwegplatten, aber zum Teil gibt es für Radfahrer Ausweichmöglichkeiten. An einer vielbefahrenen Straße die übliche Baustelle: Ein Schild, der Rest findet sich. Als ich mich links an eine Abfahrt halten muss, denke ich, die Baustelle sei bereits vorbei und fahre leichtsinnig auf dem Bürgersteig. Eine Falle – der Weg endet an einer meterhohen Treppe, von der Fahrbahn trennen mich Leitplanken. Die Bauarbeiter ignorieren mich, also hebe ich kurzentschlossen das Fahrrad hoch – es hängt über den Leitplanken, der Gepäckträger ist zu schwer beladen. Verdammt. Ich höre nur ein „oh oh oh“ und schon sind die Bauarbeiter zur Stelle und transportieren das Fahrrad auf die andere Seite. Auch der Dame hinter mir wird sofort geholfen und sie diskutiert lautstark mit dem Arbeitern.

    Nun wird die Straße entwas ruhiger und als ich die Odra quere (welchen Teil auch immer – das ist hier nicht einfach zu sagen), kommt Urlaubsstimmung auf.



    Der Campingplatz von Stettin lockt, denn er sieht nett und gemütlich aus. Aber ich bin gerade mal eine Stunde gefahren, das ist mir für die heutige Etappe zu wenig. Also folge ich der Straße Richtung Stargard. In einem kleineren Ort dann perfekte Radwege – ich lasse mich hinreißen und gebe Gas. Natürlich komme ich viel zu weit nördlich heraus und verliere die Orientierung, da weder Karte noch Navi Alternativen bieten (die es aber durchaus gibt – die Karte habe ich da aber noch nicht besessen!). Also muss ich mich im Berufsverkehr in die Schlange einordnen, um zurück zur Strecke zu kommen. Aber da ich den polnischen Verkehr mittlerweile kenne, ist das ein Heimspiel. Sie nehmen nämlich durchaus Rücksicht, wenn man sich behauptet. Es gibt einfach zu viele Polen, die selbst Rad fahren.

    Als ich richtig abbiege, stelle ich fest, dass ich immer noch in Stettin bin – der Ort ist wohl ein Vorort. Also weiter. Dann plötzlich wieder Baustelle, eine Autobahn oder Schnellstraße droht im Hintergrund, vor mir ist Einbahnstraße – wo soll ich jetzt hin? Ich fahre erst einmal ordnungsgemäß rechts ab und studiere auf dem Bürgersteig meine unzulängliche Karte. Ein LKW kommt um die Kurve gebraust und der Luftzug wirft mein Fahrrad um. Fast fällt es auf die Straße, ich kann es im letzten Moment abfangen und verhindern, dass es von den LKW Reifen zermalmt wird. Das hätte mir noch gefehlt. Der LKW Fahrer hat das selbst bemerkt, er bremst ab und schaut, ob nichts passiert ist. Nein, es ist alles gut.

    Ich fahre wieder zu der Einbahnstraße, notfalls fahre ich eben falsch. Da sehe ich parallel zur Straße einen Sandweg – aha! Tatsächlich führt eine wunderschöne sandige MTB Strecke parallel zur Straße entlang. Sie weist tiefe Wasserpfützen auf und das erste Mal mache ich wieder Erfahrung mit den freundlichen Stechmücken – willkommen in Polen. Nun ist die rote, vierspurige Bundesstraße 10 angesagt. Die Autos sind schnell, die Strecke ist hügelig, aber der Asphalt ist sehr gut. Teilweise weiche ich auf den Grünstreifen aus, um die LKW vorbei zu lassen – sie sind mir einfach zu laut, wenn sie millimetergenau überholen. Dann geht es auf perfekten Radwegen rechts ab nach Kobylanka. Ein kleines Hotel lockt am Straßenrand, daneben ein kleines Restaurant, es sieht nach Urlaubsidylle, frisch bezogenen Betten und leckeren Pirogi aus. Aber ich will ja zelten. Oh, wie werde ich später insgeheim bereuen, dort nicht abgestiegen zu sein!

    Kobylanka ist langgezogen und wirkt eher amerikanisch als polnisch. Auf der rechten Seite lockt der See, so dass ich in eine Seitenstraße einbiege und ein Foto mache. In der Ferne sehe ich am anderen Ufer Wohnmobile und leite daraus ab, dass der Campingplatz existiert. Es ist windig und die Boote hüpfen auf und ab. Die Szenerie hat Steinhuder-Meer- Charakter und voll Vorfreude fahre ich weiter.



    Tatsächlich sehe ich dann hinter einem Zaun die Wohnmobile, aber es gibt weder ein Schild Camping noch ein Hinweis auf den Eingang. Anscheinend ein Privatplatz. Egal. Ich will ja auf den offiziellen Platz aus dem Campingführer.
    Diesen finde ich mit dem Navi problemlos – er liegt idyllisch unter Bäumen – es ist nur niemand da! Ein paar polnische Jugendliche langweilen sich in der Parkanlage vor dem Tor, aber die Rezeption hat geschlossen. Ich probiere, die Tür zu öffnen, sie ist offen. Aha, man könnte hier also nächtigen. Schließlich hat der Platz offiziell bis zum 15.09.2011 geöffnet. Ich schaue auf lange Reihe Wohnhütten, höre die Jugendlichen im Hintergrund und denke: Nein. Das ist mir zuwenig Sicherheit für Fahrrad und Ausrüstung. Mal sehen, ob ich einen netten Platz am See finde, der unbeobachtet ist.

    Ich biege in die Straße am See Richtung Kunowo ein und genieße die Ruhe der autolosen Straße. 11 km weiter soll es ein Hotel geben, vielleicht ist dieses so schön wie das Erste. Der See ist nicht sichtbar, davor ist Wald, ein Zugang fehlt allerdings – jeder Feldweg mündet in einem Gehöft. Langsam wird es dämmerig, ich schaue im nächsten Ort nach Zimmern, eine Verkäuferin schaut mir aus der offenen Tür eines Skleps heraus sehnsüchtig nach und ich bereue kurz darauf, sie nicht nach Zimmern gefragt zu haben.
    Dann erreiche ich Koszewo und sehe in der Ferne ein wunderschönes, weißes Herrenhaus, aber das Hotel links daneben überzeugt mich aus der Ferne nicht – es scheint zwar ebenfalls ein historisches Gebäude zu sein, aber es wirkt verlassen und nur ein Auto steht vor der Tür.



    Bestimmt ist es auch viel zu teuer. Ich fahre weiter. Ein Schloss strahlt hinter einer Gittertür – eine von vielen Perlen dieser Region.



    Am Ortsausgang sitzen Mädchen auf dem Gras, sie lachen mich an und winken – Umdrehen ist nun unmöglich, man hat ja seinen Stolz.




    Ich fahre eine Sandstrecke entlang, hui macht das Spaß, es ist eine MTB Strecke. Auf der Straße zuvor waren mehrfach Hinweise auf ein MTB Radrennen aufgesprüht. Autos begegnen mir immer noch keine. Langsam reibt meine Radhose unangenehmerweise eine wichtige Stelle wund. Dies bestätigt meinen Verdacht, dass ich den Sitz etwas herunter stellen muss. Die Energie, dieses gleich zu erledigen, fehlt mir leider und bringt mir 3 Tage Schmerzen ein.
    Im verschlafenen Wierzbno entscheide ich mich, nach einem Zimmer zu fragen. Jugendliche reparieren auf der Straße Fahrräder und im Sklep versammeln sich die alten Männer. Ich frage im Sklep nach „pokoje“. Ein alter Mann ohne Zähne schüttelt mitleidig den Kopf und verweist auf das Hotel im Ort zuvor, welches ich vor gut einer halben Stunde verschmäht habe. Oder eben in Pyrzyce, aber das ist noch ziemlich weit. Da ich grundsätzlich nur im Notfall umkehre, radele ich weiter. Ich muss nun eine Stelle für mein Zelt finden oder Pyrzyce erreichen. Ich hadere in Selbstgesprächen mit meiner Zeltwahl: Vielleicht wäre statt des Dragonfly zum Verstecken des Fahrrades ein SL 3 praktischer gewesen. Andererseits hattte mein polnisch Kollege gesagt: „Die klauen das nicht. Die wissen gar nicht, was das ist.“ Das hatte mich doch sehr beruhigt.

    An einer kleinen Kreuzung halte ich und überlege, ob ich den kleinen Weg am See weiterfahre, der vielleicht im Nichts endet oder die Hauptstraße nehme. Mit lautem Surren stürzen alle Stechmücken der Umgebung auf meinen Nacken und mein Gesicht zu, scheinbar völlig ausgehungert. Auf der linken Seite erwische ich einige und sie sinken tot zu Boden, bevor sie zustechen können, aber am nächsten Tag werden Nacken, Stirn und Backen dennoch mit Stichen verziert sein. Es sind einfach zu viele. Sogar mein Ohrläppchen ist nicht sicher.

    Fluchtartig radele ich weiter und weiß: ich muss das Zelt aufbauen. Links und rechts sind Felder und hinter den Alleebäumen bietet sich wenig Schutz. Die Felder selbst sind tabu, viel zu groß die Gefahr, von einem nächtlichen Trecker überrollt zu werden und schließlich ist frisch eingesät. Die Ernte zerstören, das macht man nicht. Ein kleiner Feldweg geht links ab, ich schiebe mein Fahrrad hinein, aber auch hier ist kaum Sichtschutz. Ein Licht leuchtet an der Hauptstraße – ein Hotel? Ich fahre zurück zur Straße, aber es ist eine Tankstelle. Also schnell wieder zurück, ich fahre die Baumreihe ab und der vorletzte Baum ist es: Ein Apfelbaum, der seinen Stamm mit einem Dach von Ästen und Blättern abschirmt.

    Mittlerweile ist es dunkel, ich fluche, weil ich nicht sehen kann, welchen Teil des Zeltes ich in der Hand halte und welcher Gestängebogen in welchen Gestängekanal gehört – die farbliche Markierung nützt mir ohne Lampe nichts. Dann ist das Zelt doch schnell aufgebaut und ich bin erstaunt: Das Zelt passt aufgrund der geschwungenen Form perfekt unter den Baum. So als wäre es dafür gebaut. Der Boden ist pieksig, also kommt die Evazote unter das Zelt. Dann schnell der Apsis zwei Heringe spendiert, der Rest steht so, Semigeodät eben. Den Gestängebogen der Apsis lasse ich weg. In Sekundenschnelle werden die Packtaschen ins Zelt geworfen. Bloß keine Umstände. Ich packe nur den Schlafsack aus und das leuchtend gelbe Fahrrad wird unter dem Tarp versteckt. Die Radklamotten lasse ich an. Die Sitz-Evazote wird zusammen mit der Evazote unter dem Zelt reichen. Im Boden ist eine wunderbare Kuhle, so dass meine Behausung richtig kuschelig ist. Ich mache noch zwei Fotos und kurz darauf bin ich entschlummert.

    Zuletzt geändert von Torres; 01.11.2011, 23:48.
    Oha.
    (Norddeutsche Panikattacke)

  • Torres
    Freak

    Liebt das Forum
    • 16.08.2008
    • 30593
    • Privat

    • Meine Reisen

    #2
    AW: (PL) Polen von seiner schönsten Seite: Radtour Lubuskie

    2. Tag, Mittwoch, den 07.09.2011. Obryta – Drawno (Woj. Zachodniopomorskie). 80 km


    Ich wache früh auf, es ist noch dunkel. Alles ist feucht und ich schlafe noch einmal ein. Dann wird es langsam hell und ich reiße mich hoch. Der zweite Urlaubstag ist immer der Schlimmste. Wenn die Spannung abfällt, will mein Körper eigentlich nur schlafen, schlafen, schlafen.

    Bei Tageslicht wirkt mein Apfelbäumchen richtig gemütlich.



    Der Blick in den Himmel zeigt jedoch, dass es windig und regnerisch ist. Bereits in der Nacht muss es geregnet haben, denn Zelt und Tarp sind nass.



    Also schnell packen und Richtung Drawno weiterradeln. Ich stecke noch vier Äpfel meines Bäumchens als Wegzehrung ein, es sind wunderbar säuerliche Äpfel. Als ich mein Fahrrad unter dem Baum hervor schiebe, stelle ich fest, dass es nicht nieselt, sondern gießt. Der Baum war der perfekte Wetterschutz. Also müssen die Regensachen angezogen werden.

    Als ich auf der Straße bin, kommt mir ein Bus entgegen. Der Fahrer schaunt mich erstaunt an. Ich radele durch tiefe Wasserpfützen zur Landstraße 102 und biege links nach Obryta ab. Autofahrer huschen in den Sklep, es regnet weiter und ich studiere die wenig aussagekräftige Landkarte. Die Straße im Ort führt nach Lubiatowo und ist in gutem Zustand. Das ist ungefähr meine Richtung und ich entscheide mich, sie zu nehmen.



    Ich möchte Nebenstraße fahren und nur wenigen Autos begegnen. Mein Kalkül geht auf. Allerdings schmerzt das Sitzen stärker als gestern, so dass ich erst einmal am Straßenrand anhalte und trotz des Regens den Sattel herunter stelle. Und mich danach ärgere, dass ich das nicht schon gestern erledigt habe. Die letzten beiden Autos überholen mich, vermutlich die Autos vor dem Sklep, dann bin ich alleine. In den nächsten Tagen wird auf den Nebenstraßen jedes Auto, jedes Fahrrad und jeder Fußgänger, der mir begegnet, ein Bild oder eine Erwähnung wert sein. Denn den größten Teil der Zeit habe ich die Straßen und Wege für mich allein.

    Das Wetter ist norddeutsch, der Wind peitscht die Wolken voran und der Regen kommt seitlich aus Westen. Wie schön, dass ich Richtung Osten fahre. Schon bald erreiche ich Lubiatowo.






    Eine Heiligenstatue mitten im Nichts fasziniert mich, sie steht am Ortseingang von Ukiernica.



    Die Landschaft wirkt rauh und heimatlich, ich atme tief durch und genieße die Weite. Ein Feld, das meinen Eindruck besonders gut wieder gibt, fasziniert mich und ich mache ein Foto und stelle leider erst später fest, dass ich einen Fleck auf dem Objektiv hatte.



    Nun beginnt ein längeres Waldstück und ich messe den Wind – er liegt bei um die 20 km/h. Wie schön, dass ich ihn im Rücken habe, denn er schiebt mich spürbar vorwärts. Es riecht nach Bäumen und immer wieder halte ich an und genieße die Geräusche des Windes und des Waldes. Urlaub. Stille. Natur. Welch eine Wohltat für meine Seele.

    Ich erreiche Dolice, einen netten kleinen Ort, der eine erstaunliche Sklep-Dichte auf dem Platz aufweist. Doch hier sind mir zu viele Menschen, um das Fahrrad unbewacht zu lassen (in polnischen Dörfern sind ca. 12 sichtbare Personen schon viele Menschen….). Ich entdecke ein Schild, das eine grobe Landkarte zeigt und entscheide, weiterhin die Nebenstrecke zu fahren.



    Ich quere die Mata Ina



    und weiter geht es durch dichten Wald Richtung Sadów.



    In der Ortsmitte laufen zwei Männer, der eine setzt sich auf die Bank vor einer hohen Mauer, hinter der ich ein Herrenhaus vermute. Leider lassen die Bäume keine Sicht zu. Als der andere aus der Seitenstraße mit einer Flasche zurück kommt, weiß ich, dass sich in einem wenig einladenden Gebäude ein Sklep verbirgt.



    Die Verkäuferin versteht meine Zeichensprache nicht, als ich Brötchen haben will. Kurzerhand bittet sie mich, um den Tresen herum zu kommen und zu zeigen, was ich will. Ich kaufe zwei Brötchen, Joghurt und Schmelzkäse und fülle meinen Wasservorrat auf die üblichen 4,5 Liter auf. Dies entspricht meinem Tagesbedarf beim Fahrradfahren. Als ich vor der Tür die Brötchen aufschneide, bekomme ich feuchte Augen. Brötchen. Echte Brötchen! Dorfbrötchen. Genauso wie die, die es früher in Dorfbäckereien gab. Nicht dieses von der Staubsaugerbeutelindustrie gesponserte Zeug, von dem man die Hälfte wegsaugen muss. Nein, richtige Brötchen mit einem wunderbaren weichen Kern, den man zwischen den Fingern zerdrücken kann. Ich gehe gleich wieder hinein und kaufe noch drei Brötchen für den Abend.

    Am Ortsausgang klart es langsam auf. Dennoch lasse ich die Regensachen an. Man weiß ja nie.



    Ich halte kurz an, um die Fotos zu machen. Eine Frau schimpft lauthals und ein alter Mann verlässt zornig das Haus. Als er neben mir steht, spricht er temperamentvoll auf mich ein. Ich erzähle ihm, dass ich nichts verstehe. Das stört ihn nicht im Geringsten, er redet weiterhin auf mich ein, als hätte ich nichts gesagt. Die Frau taucht auf und schaut, wo er ist und geht dann mit einem Kopfschütteln zurück ins Haus. Es ist vermutlich ihr Vater und er ist verwirrt. Sie wird es nicht leicht haben. Noch ein Foto von der Landschaft, dann geht es weiter.



    Die Strecke wird nun schlechter – innerhalb kürzester Zeit finden sich die gängigen polnischen Straßenbeläge. Asphalt hatten wir ja schon. Nun folgen:

    Kopfsteinpflaster



    Platten



    und Sand.



    Ein Auto kommt mir entgegen, es fährt langsamer als ich. Dem Fahrer scheint das Fahren auf Sand noch schwerer zu fallen, als mir. Die Sonne scheint, plötzlich sieht die Umgebung wunderschön aus, es glänzt und glitzert und ich genieße jeden Moment.
    An einem Feldrand mache ich Rast und telefoniere mit dem Büro. So ganz lässt einen der Alltag nicht los.




    Dann schiebe ich das Fahrrad auf einer tiefen Sandstrecke den Hügel hoch und genieße die Landschaft in vollen Zügen. Ein Traktor macht geschäftigen Lärm – es ist immer noch Erntezeit. Ich fühle mich in eine andere Zeit versetzt: Die Zeit meiner Kindheit und die Sommer der Heuernte auf dem Bauernhof.



    Der dazu gehörige Ort Glezno gefällt mir und ich denke darüber nach, dass es für mich Orte mit positiver und negativer Ausstrahlung gibt. An der Armut der Bewohner kann es nicht liegen, denn die meisten dieser Dörfer sehen arm aus. Und dennoch gibt es Bewohner, die es sich schön machen und andere, die sich ihrem Schicksal ergeben.



    In Polen gibt es auffällig viele bunte Blumen in den Gärten oder auf den Friedhöfen und an den Heiligenbildern. Auch Glezno spart am Orteingang nicht am Blumenschmuck.



    Ein Dorf weiter befindet sich Zamecin, es wird von einer größeren Straße zerschnitten und hier weiß ich nicht mehr weiter. Geradeaus ist eine kleine Straße, doch ich kann weder auf der Karte noch im Navi sehen, wo die hinführt. Die gelbe Landstraße 181 Richtung Choszczno wäre der kürzeste Weg nach Drawno, das hieße jedoch, meinen Weg wieder mit Autos zu teilen. Ich mache ein Sehnsuchtsfoto von der zurückliegenden Straße



    und biege links auf die 181 ab. Da sehe ich rechts eine Tankstelle. Vielleicht kann ich dort eine Karte der Region erwerben. Und tatsächlich. Ich finde die mapa wojewodztwa 1:250 000 von Demart mit der Bezeichnung Lubuskie (region). Die Legende ist sogar auf deutsch. Nun sehe ich auch meine Strecke und stelle fest, dass ich perfekt gefahren bin. Ich entscheide mich, weiter gerade aus zu fahren und dann die gelbe Landstraße 160 südlich zu nehmen, um Drawno durch das Waldgebiet um den Nationalpark herum an zu fahren.

    Es ist nun trocken heiß und ich kann die Regenkleidung verpacken. In der nächsten Ortschaft fasziniert mich ein Garten. Es ist nur schwer zu erkennen, aber im Hintergrund des Bildes ist ein runder Fächer zu sehen: Ein kapitaler Truthahn plustert sich auf und ich mache mehrere Fotos ohne ihn glücklich zu erwischen.


    Dann geht es Richtung 160. Es ist mäßiger Verkehr und die Strecke ist hügelig. Die Landstraße ist gut asphaltiert, aber irgendwie auch langweilig. Die Nebenstrecke war viel schöner. An einem Bauernhaus mache ich Rast und esse noch ein Brötchen, die Sonne brennt. Ich fahre die Landstraße bis nach Zieleniewo, wo ich eine schöne Erntedankszene am Straßenrand fotografiere.



    Auch die nagelneuen Kinderspielplätze in der Dorfmitte fallen auf. EU Fördermittel? Immerhin gibt es in Polen viele Kinder in den Dörfern, aber auf den Spielplätzen habe ich nie welche gesehen. Die meisten Kinder spielen einfach auf der Straße oder hinter dem Haus.

    Ich biege von der Hauptstraße Richtung Brzezny ab, eine nette kleine enge Straße windet sich den Berg hinauf und ich sehe linkerhand dieses:



    Wow! Vermutlich eine Klosteranlage, die von der Straße aus nicht zu sehen war. Natur und Kultur. Eine wunderbare Mischung. Ich atme tief durch.

    Nun verändert sich die Landschaft und wird wilder.



    Der Mistelbaum fasziniert mich – ist tatsächlich bald wieder Weihnachten? Die Zeit der Weihnachtsmärkte?



    Die Antwort ist ja. Denn erinnert mich die Landschaft erst ein wenig an Belgien am Hohen Venn, so komme ich bald an einen bewirtschafteten Teil des Waldes und was steht da: Tannenbäume. Säuberlich markiert. Die guten, geraden Bäume haben ein Band, die krummen Bäume haben kein Band.



    Kurz darauf folgt wieder Mischwald und ein idyllischer Rastplatz lädt zur Pause ein. Am Straßenrand blüht Heidekraut.



    Vor Brzeziny endet der Wald und wieder beginnt ein normaler kleiner Ort und dann sehe ich dieses:







    Ich bin von dem Gebäude so überwältigt, dass ich es wage, ein kleines Stück durch das Eisentor zu rollen, um besser sehen zu können. Sofort schießt eine Dame aus dem Wärterhäuschen hervor und spricht temperamentvoll auf mich ein. Ich frage sie, ob sie Deutsch spricht und sie spricht weiter auf mich ein, holt dann aber eine andere Dame, die ein wenig schmunzelt und mir auf Polnisch oder vielleicht sogar auf Russisch klar macht, dass hier Stopp ist. Weiter darf ich nicht. Sie ist vermutlich die Vorgesetzte. Mit Händen und Füßen mache ich ihr klar, wie wunderschön dieses Gebäude ist und sie lächelt. Vor dem Gebäude stehen Partyzelte und mehrere Menschen laufen eifrig hin und her, um den Garten und die Anlage zu verschönern. Ich kann mich kaum von dem Gebäude los reißen.

    Nebenan dann die Kirche. Wie schlicht und einfach sie neben dem Prachtbau von eben wirkt.



    Ich fahre eine wunderschöne gewundene Landstraße Richtung Kielpino. Das erste Fahrzeug der ganzen Strecke begegnet mir: Ein Fahrradfahrer. Er grüßt mich freundlich und muss im Gegensatz zu mir gegen den Wind ankämpfen.

    In Kielpino ist die Nebenstrecke zu Ende. Kielpino entpuppt sich als reizloserer Ort mit holzverarbeitender Industrie und ich biege auf die 175 ein.



    Die 175 ist vielbefahren und ich trauere meiner Nebenstrecke nach. Allerdings sind alle anderen Straßen nach Drawno nur Feldwege und ich bin heute schon genug gefahren, um mich noch auf diffizile Schiebestrecken ein zu lassen.

    Als ich Drawno erreiche, bin ich voller Vorfreude,




    aber als ich den Ortskern sehe, bin ich entsetzt. Ein, zwei Reisebusse vor einer kleinen Bude, ansonsten Zeichen der Verwahrlosung im Ortskern. Später stelle ich fest, dass dieser Zustand in polnischen Ortschaften direkt an der vielbefahrenen Straße häufiger ist, während die Wohngebiete in den Seitenstraßen netter wirken. Aber erst einmal bin ich doch gedämpfter Stimmung. Ich fahre an verlassenen, verfallenen Glaspalästen Marke Ostblock vorbei, die wohl mal einen Supermarkt und Geschäfte beinhalteten. Auch das Wetter ist wieder schlechter, es fängt an zu nieseln. An einer Straße findet sich ein Hinweis auf einen Biwakplatz,




    aber einen Hinweis auf den offiziellen Campingplatz finde ich nicht. Ich sende ein Stoßgebet in den Himmel: Bitte nicht schon wieder einen Fehlschlag, ich möchte gerne duschen, meine Plastikklamotten entwickeln nach der Wildnacht ungeahnte Duftnoten. Im Kopf spiele ich Alternativen durch. Auf der Brücke über der Drawa ist es sehr stürmisch und ich gebe die Koordinaten des Campingplatzes in das Navi ein. Denn auch die geschnitzte Karte des Nationalparkes am Rande der Straße hilft mir leider nicht weiter. Gibt es diesen Campingplatz vielleicht nicht mehr?



    Mein Navi zeigt die Richtung an und tatsächlich ist der Campingplatz direkt neben der Brücke. Man muss ihn kennen, um ihn zu finden.

    Die Frau an der Rezeption spricht Englisch und erklärt mir, wo ich mein Zelt hinstellen darf. Entweder in die Boxen am Anfang oder an den See hinter dem Kinderspielplatz. Ich brauche lange, um den richtigen Platz zu finden. Beide Stellen sind die am weitesten von den Sanitärräumen entfernten Plätze und die Boxen sind voll Ungeziefer, so dass ich vermute, dass vielen Gästen der Weg zu den Sanis zu weit ist. Als ich die junge Frau darauf anspreche, antwortet sie auf Englisch: „Das will ich alles gar nicht so genau wissen“. Ich wähle den Platz hinter dem Kinderspielplatz, er ist sehr windig, aber das macht mir ja nichts. Allerdings stehe ich nun auf dem Präsentierteller, denn mein Zelt ist meilenweit zu sehen. Und die Chancen stehen gut, dass ich mir auf dem Weg zu den Sanis nachts die Haxen breche.



    Als ich die Frau über meine Platzwahl informiere, empfiehlt sie mir alternativ den Platz neben Hütte Q. Sie hat die Befürchtung, dass der stürmische Wind mein Zelt zerstört. Ich brauche lange, bis ich ihn gefunden habe, er ist auf dem Hügel neben den Sanis und ich nehme diesen, denn außer mir ist auf dem Platz niemand.



    Bei näherem Hinsehen ist der Platz gar nicht schlecht. Überall stehen Grills herum, es gibt Feuerstellen und Holz ist auch genug da. Dagegen sind die Sanis nicht ganz deutscher Standard.



    Die Außentür geht nicht zu, das Licht in der Toilette geht nicht, Staub wischen wäre auch nicht schlecht, die Decke ist völlig verdreckt, jemand hat seine Unterwäsche im Waschraum vergessen, aber immerhin ist Klopapier da. Und da ich das Schild richtig deute:




    (Warmes Wasser zwischen 19.00 und 22.00 Uhr) und es noch nicht 19.00 Uhr ist, gehe ich erst einmal Einkaufen.
    Auf einer neuangelegten Promenade geht es direkt am See zum Sklep.



    Ich habe Hunger auf Gemüse und kaufe Tomaten, Gurke, Champignons, um mit Eiern zusammen ein Omelett zu braten. Auch ein Stück Kasseler Braten darf nicht fehlen, Wurst und Fleisch sind in Polen köstlich. Natürlich habe ich zu Hause das Fläschchen Öl vergessen, ich kaufe eine für polnische Verhältnisse sündhaft teure 0,5 Liter Flasche kaltgepresstes Olivenöl (5 Euro), da es sonst nur große Literkanister gibt. Ein paar original italienische Hartweizengriesnudeln, die nicht so klumpen wie die breiigen polnischen Nudeln werden das Menu abrunden.

    Als ich zurück komme, ist das Duschwasser immer noch nicht geheizt, also beginne ich zu kochen. Ich schneide mein Gemüse, lege alles richtig hin, schraube den Kocher auf die neue Kartusche und drehe ihn auf. Totenstille. Ich drehe den Kocher wieder zu, nehme die Reservekartusche, drehe wieder auf. Totenstille. Nein. Bitte nicht das. Ich schraube den Kocher so weit es geht auseinander. Nichts.

    Ich rufe die ODS Hotline an: Bitte schreib Kocher-Lutz eine PN – was kann das sein? Mein Wunsch wird erfüllt, aber das hilft mir erst einmal nichts. Ich packe den Kasseler Braten auf die restlichen Brötchen und stille den gröbsten Hunger und danach kann ich wieder klar denken. Also Hobofeuer.

    Ich schnappe mir einen Grill und suche Holz zusammen. Das Holz ist nass und mittlerweile regnet es auch wieder kontinuierlich. Ich finde eine polnische Wohnmobil-Zeitschrift zum Anzünden, aber das Papier brennt schlecht und ist feucht. Das verwelkte Gras ist ebenfalls zu feucht und das Klopapier zündet zwar, verpufft aber zu schnell. Endlich finde ich eine geeignete Latte und schneide mit dem Opinel dünne Späne ab. Nun brennt das Feuer und ich brate zumindest das Gemüse an und übergieße es mit den Eiern. Sie brennen beinahe an, die Hitzeregulierung ist halt schwierig. Es wird ein liebloser Mix, der sofort kalt wird, so war das Abendessen nicht gedacht. Das nächste Mal muss also ein Notkocher mit.



    Ich koche die restlichen Eier hart und gehe duschen. Das Wasser ist lauwarm, aber das kann die Stimmung nun auch nicht mehr trüben.

    Gegen 20.00 Uhr schnippelt die junge Frau von der Rezeption die Hecke zurecht – und ich erlaube mir den Gedanken, wenn sie genau soviel Energie in die Reinigung der Sanis aufwenden würde wie in die Pflege der Grünanlage, wäre das ein toller Platz. Aber vermutlich sind die EU Fördermittel schon beantragt und eine Sanierung lohnt sich nicht mehr. Ich frage sie, ob es in dem Ort ein Outdoorgeschäft gibt, wo man einen Kocher kaufen kann. Sie verneint, ruft aber ihren Chef an, der mir anbietet, zu versuchen, den Kocher zu reparieren.

    Also trabe ich zur Rezeption. Ein junger Bursche hängt desinteressiert im Plüschsessel ab. Der Raum ist familiär und rustikal eingerichtet und die Küche und der Wohnbereich gehen davon ab. An der Wand hängen Hirschgeweihe. Der Chef spricht nur polnisch, er ist wortkarg und versucht mit einer Nadel, den Gasfluss wieder herzu stellen , aber das funktioniert nicht und ist vermutlich auch nicht das Richtige. Er konstatiert, dass das Problem im Innenleben der Kochereinheit liegen muss. Er wühlt in seinem Lager, er hatte wohl irgendwann mal einen Kocher dort liegen, findet ihn aber nicht. Ich soll morgen wieder kommen.
    Als ich zum Zelt zurück komme, ist es stockdunkel. Es regnet in Strömen.
    Zuletzt geändert von Torres; 25.09.2011, 07:23.
    Oha.
    (Norddeutsche Panikattacke)

    Kommentar


    • lutz-berlin
      Freak

      Liebt das Forum
      • 08.06.2006
      • 12436
      • Privat

      • Meine Reisen

      #3
      AW: (PL) Polen von seiner schönsten Seite: Radtour Lubuskie

      @torres am Ende des Bahnsteiges in Stettin kann man die Gleise Kreuzen,man braucht nicht über die Übergührung das Fahrrad wuchten
      und es gibt eine Rampe zur Straße

      Kommentar


      • Torres
        Freak

        Liebt das Forum
        • 16.08.2008
        • 30593
        • Privat

        • Meine Reisen

        #4
        AW: (PL) Polen von seiner schönsten Seite: Radtour Lubuskie

        Kannste das nicht vorher sagen? Jetzt nützt das nichts mehr!
        Oha.
        (Norddeutsche Panikattacke)

        Kommentar


        • Torres
          Freak

          Liebt das Forum
          • 16.08.2008
          • 30593
          • Privat

          • Meine Reisen

          #5
          AW: (PL) Polen von seiner schönsten Seite: Radtour Lubuskie

          3. Tag. Donnerstag, den 08.09.2011. Drawno – Glusko (Woj. Zachodniopomorskie, Woj. Lubuskie). 34 km

          Am Morgen wache ich um Punkt 7 Uhr von dem Kreischen einer Motorsäge auf. Arbeiter bauen einen Holzunterstand fertig. Klasse, ist hier ja wie zu Hause. So geht das bei mir zu Hause nämlich schon seit zwei Wochen. Urlaub ist doch etwas Feines!

          Es regnet es weiter in Strömen und ich telefoniere mit Kocher-Lutz, der sich netterweise gemeldet hat. Wir gehen die üblichen Defekte durch, aber das ist es nicht. Er weiß auch keine Lösung, eigentlich ist der Kocher klein, leicht, zuverlässig und einfach. Ich bummele herum, esse Joghurt mit Müsli und brauche etwas, bis ich auf Betriebstemperatur bin. Aber es regnet ja sowieso. Gegen halb zehn wird es heller, ich befreie mein Fahrrad vom Tarp und packe zusammen. Das Öl will ich an der Rezeption als Tausch gegen die Reparaturbemühungen verschenken, aber es ist niemand da. Also ohne Kocher mit einem halben Liter Öl im Gepäck weiter.

          Ich habe gestern auf dem Campingplatz eine Wanderkarte des Drawa Nationalparks erworben und entscheide mich, über Barnimie und Zatom zu fahren. Auf der großen Karte sind das zwar Feldwege, aber sie sind explizit als Radwege ausgewiesen. Also biege ich auf die kleine Landstraße nach Barnimie ein. Die Landschaft ist trostlos, mir ist kalt, es regnet, mein Kocher ist kaputt, heißen Kakao gab es auch nicht. Ich bin grätzig. Immerhin habe ich daran gedacht, die Gamaschen über die Schuhe zu ziehen. Aber meine Stimmung hellt sich sofort auf, als ich in Podegrozie wieder eine Perle finde.








          Unrenoviert zwar, aber der Garten ist bereits wunderschön und wird von einem Landschaftsgärtner bepflanzt.

          In Barnimie wird das Wetter besser und die Männer vor dem Sklep schauen neugierig, wie ich auf den „Radweg“ abbiege. Ich empfehle Nachahmern, geradeaus Richtung Niemiensko zu fahren!
          Immerhin sehe ich in Barnimie den ersten Biwakplatz.





          Er ist mit Mülltonne, Sitzplätzen und Volleyballnetz ausgestattet. Ich fahre weiter und komme an eine Weggabelung mit einem beindruckenden Friedhof.








          Ich bin mir unsicher und sehe einen Mann mit einem Schlittenhund auf die Weggabelung zusteuern. Ich gehe auf ihn zu. Als er mich sieht, erschrickt er sich, Menschen scheint es hier nur wenige zu geben. Ich frage ihn und er erklärt mir etwas auf polnisch. Der Hund schaut mich mit wachen Augen an, ein Bild von einem Hund und als ich in seine Augen schaue, denke ich an Polarlichter, Eis und Arktis. Der Mann klopft auf die Steine und auf den Sand und ich denke, er meint, ich solle auf dem Sand fahren. Er begreift, dass ich ihn nicht verstehe und zeichnet eine Weggabelung auf. Rechts Steine, links Sand. Ich verstehe erst später, was er meint und nicke dennoch. Lautlos verschwindet er im Wald.





          Am Wegesrand warnt ein Schild vor Waldbrandgefahren




          und ich sehe anhand einer Karte, dass ich richtig bin.








          Mühsam kämpfe ich mich auf dem Randstreifen voran und ahne, dass ich besser Straße gefahren wäre. Aber wie heißt es so schön: „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“. Der Boden ist vom Regen völlig aufgeweicht und riesige Wasserlachen hindern mich am Vorkommen. Einige durchfahre ich, aber andere sind mir zu riskant, so dass ich immer wieder schieben muss. Immerhin sieht mein Fahrrad jetzt nicht mehr so sauber aus. Und die Landschaft ist wunderschön. Dann kommt die Weggabelung und ich verstehe, was der Waldläufer gemeint hat. Der besser ausgebaute Kopfsteinpflasterweg biegt rechts ab und ich muss dem Sandweg folgen.





          Der Sandweg ist schlechter als er aussieht, das Fahrrad rutscht immer wieder weg oder die Räder blockieren. Weite Teile muss ich schieben. Immerhin war es eine gute Wahl, ein Fahrrad ohne Federgabel zu nehmen, es fährt sich erheblich besser als mein altes Fahrrad. Auch der breite Lenker hilft enorm. Der Wald ist stellenweise undurchdringlich und Menschen sehe ich keine. Ich bin alleine mit einer überbordenden, vielfältigen, reichen Natur. Welch ein Genuss. Da stört es nicht, wenn ich nur langsam voran komme und die Strecke viel Kraft kostet.

          Dann wird es heller und der Weg besser befahrbar.







          Ich fahre durch Zatom und entscheide mich für den Weg einer höhere Kategorie. Er ist anfangs asphaltiert und ich sehe tatsächlich fünf einzelne Spaziergänger. Welch ein ungewohnter Anblick. Aber meine Streckenwahl ist eine Falle – der Asphalt endet bald und weiter geht es durch Schlamm und Wasser. 3 einzelne Fahrradfahrer kommen mir entgegen oder kreuzen meinen Weg. Ich vermute, dass sie Pilze sammeln. Später geht der Weg in einen Kopfsteinpflasterweg über. Von Gras überwachsen schimmert er grünlich, während links und rechts der Farn leuchtet.





          Dann fahre ich wieder Sandweg und als mich das erste Auto diese Tages überholt und links abbiegt, folge ich. Der Sandweg ist besser befahrbar, aber mehr als Schritttempo ist nicht möglich. Irgendwo im Wald habe ich bereits die Verwaltungsgrenze zur Wojewodztwo Lubuskie überfahren, denn der südliche Teil des Drawa Nationalparks gehört zu Lubuskie.

          Im nächsten Ort begrüßt mich das freilaufende örtliche Empfangskommittee, das sich ansonsten wohl bitter langweilt: 2 Schäferhunde, ein Hund undefinierbarer Rasse, der mit einem Schäferhund schäkert und dieser lautstarke Vertreter seiner Gattung:





          Menschen sehe ich keine.

          Nun geht es auf eine Straße, alle zehn Minuten kommt hier ein Auto, dafür genieße ich den ungewohnten Asphalt, während links und rechts Urwald zu sehen ist. An einer Brücke überquere ich das erste Mal die Drawa





          und kann mich an dem Fluss nicht satt sehen. Leider sind die Fotos trotz mehrerer Versuche nicht so beeindruckend wie das Original.











          Auf der von mir am Morgen verschmähten, gut ausgebauten und autofreien Straße geht es Richtung Glusko, meinem Ziel für heute.





          Es ist wieder sonnig, die Sonnenstrahlen reflektieren sich in den Bäumen, es ist still und am Wegesrand finde ich einen Ameisenhaufen und überlege, wie Ameisen die aerodynamische Form einer Kuppel so perfekt gestalten können. Als Zelt wäre diese Konstruktion garantiert extrem sturmstabil.





          In Glusko gibt es eine Touristeninformation und ich halte an und frage nach einem Campingplatz oder Zimmern. Sie verweist auf ein Hotel in Drezdenko in ca. 35 km Entfernung. Als ich nachhake, zeigt sie auf den Biwakplatz Gluskos, bestätigt aber auf meine Nachfrage, dass es dort keine Dusche gibt. Ich bin völlig verschwitzt und sehne mich nach Wärme, daher hake ich nach und nach Zögern kreuzt sie auf einem Zettel die Zimmer in Glusko an.





          Im benachbarten Sklep fülle ich meine Wasservorräte auf, denn ich habe wieder gut dreieinhalb Liter Wasser verbraucht. Die Häuser haben Schilder am Haus mit dem Wort „noclegi“, das heißt wohl Übernachtung, aber die Häuser gefallen mir nicht und Menschen gibt es nicht zu sehen. Nun kann ich das Zögern der Frau verstehen. Ich überlege, ob ich den Niederländer anspreche, der vor der Tourist Information parkt und die neuerworbene Karte des Nationalparks studiert, aber vielleicht ist er auch Pole. Er guckt ab und zu rüber. Ich entscheide mich, weiter Richtung Drezdenko zu fahren.

          Ein grasgrün überwachsener Fluss hebt meine Laune.





          Dann überlege, was ich mache, wenn es keine Hotels in dem großen Ort gibt. Mein Navi bestätigt zwar die Angaben auf dem Zettel, aber man weiß ja nie. Ich quere wieder die Drawa, steil geht es den Berg hinauf und es fängt wieder an zu regnen. Rechts sehe ich eine Kanuuferstelle, gegenüber muss der Biwakplatz sein. Das ist ein Zeichen (und es war wirklich ein Zeichen, denn die Straße nach Dresdenko wäre fürchterlich gewesen. Wie gut, dass ich mich umentschieden habe!). Ich drehe um und sehe nun auch hinter der Brücke das Hinweisschild zum Biwakplatz. Ich holpere Kopfsteinpflaster entlang und dann kommt ein Schild





          und ich trete auf eine Lichtung. Ein Reh hüpft davon, bevor ich es fotografieren kann.

          Der Platz ist ein Traum. Die Sonne strahlt und um Feuerstellen befinden sich Sitzgruppen. Unübersehbar steht eine Chemietoilette am Waldrand und auf einer höher gelegenen Stelle, eigentlich der schönsten Stelle, befinden sich drei hölzerne Plumpsklos.











          Dieser Platz ist in besserem Zustand als der Campingplatz in Drawno und ich suche mir ein verstecktes Plätzchen unter einer wilden Kirsche.











          Ich packe aus. Das Zelt trocknet in der Sonne schnell, mein Fahrrad wird wieder an einen Baum gekettet und unter dem Tarp versteckt und die nassen Socken hänge ich auf die Wäscheleine am Waldrand. Ich esse Brot mit Käse und genieße die Sonnenstrahlen, die bald hinter den Baumwipfeln verschwunden sein werden. Ab und zu hört man Autos auf der nahen Straße auf der anderen Seite der Drawa fahren, aber es sind wenige. Im Kirschbaum sind Hummeln und Wespen, ich höre sie neben meinem Ohr summen, aber an meinem Zelt oder an mir haben sie kein Interesse. Ein paar Stechmücken verirren sich, aber ich habe mich längst an sie gewöhnt.

          Dann kippt das Wetter und sintflutartige Regenfälle strömen auf den Platz ein.





          Also krieche ich gegen 18.00 Uhr in den Schlafsack und schlafe tief und fest durch.
          Zuletzt geändert von Torres; 25.09.2011, 07:51.
          Oha.
          (Norddeutsche Panikattacke)

          Kommentar


          • Atze1407
            Fuchs
            • 02.07.2009
            • 2425
            • Privat

            • Meine Reisen

            #6
            AW: (PL) Polen von seiner schönsten Seite: Radtour Lubuskie

            Bin ja mal echt gespannt, wie es bis Görlitz weitergeht.

            LG
            Atze1407
            Wenn du den Charakter eines Menschen kennenlernen willst, gib ihm Macht.
            Abraham Lincoln

            Kommentar


            • Torres
              Freak

              Liebt das Forum
              • 16.08.2008
              • 30593
              • Privat

              • Meine Reisen

              #7
              AW: (PL) Polen von seiner schönsten Seite: Radtour Lubuskie

              4. Tag. Freitag, den 09.09.2011. Glusko – Mierzyn (Woj. Lubiskie, Woj. Wielkopolskie). 106 km.

              Am Morgen nieselt es. Zelt und Tarp sind klitschnass. Der Schlafsack ist eingefallen, alles ist feucht. Ich verabschiede mich von der Drawa







              und radele zurück zur Straße. Auf dem Weg steht ein Auto mit 4 polnischen Jugendlichen, sie schauen mich erstaunt an und grüßen höflich.

              Die Straße ist heute viel weniger steil als gestern und es sind kaum Autos unterwegs. An einer Wegkreuzung kommt die Sonne heraus und ich genieße die Ruhe des Waldes und zögere den Weg zur Straße heraus. Schade, dass es mein Zeitfenster nicht zulässt, zu bleiben.





              Dann nähere ich mich der roten 22 und bekomme einen Kulturschock. Ich hatte vor, Richtung Dobiegnew über Drezdenko nach Miedzychod zu fahren, um die Puszcza Notecka zu erkunden. Aber diese Straße halte ich nicht aus. Ich suche eine Alternative und entscheide mich, links abzubiegen und das kurze Stück nach Przesieki zu fahren und dann über die gelbe Straße 123 nach Krzyz. Eine geniale Entscheidung! Die 22 macht mich dennoch fertig, LKW an LKW donnern an mir vorbei. Im Ort mitten an der Straße ein „Campingplatz“, immerhin scheint er sanitäre Anlagen und einen Sklep zu haben, aber das Foto schreckt eher ab, so dass ich nur den eigentlichen Platz zeige.



              Ein Angler lässt sich von dem Lärm nicht stören,





              während ich immer wieder vor den LKW auf den Grasstreifen flüchte. Kurz vor der Weggabelung erneut eine Campingmöglichkeit mit Kanuverleih, die Anlage sieht vielversprechend aus, ist aber viel zu nah an der Straße.






              Direkt hinter der Anlage geht die Straße hoch, sie ist für polnische Verhältnisse in gutem Zustand und die Landschaft ist ein Traum. Ich atme tief durch. Polen ist einfach wunderschön.








              Ich befinde mich nun in der Wojewodztwo Wielkopolski. Wanderwege links und rechts locken und in einer Pause entdecke ich eine kleine Schnecke auf meiner Kapuze. Wie lange die wohl schon mit fährt?





              Dann höre ich aus der Ferne ein Rumpeln, das langsam näher kommt.





              Meine Freunde, die LKWs. Aufgrund des Straßenzustandes können sie nur langsam fahren und es dauert, bis sie nicht mehr zu hören sind. Ich genieße die Strecke und fahre ebenfalls langsam, ich habe keine Eile, ich mache Urlaub. Dann erreiche ich Kuznica Zelichowska und einen kurzen Moment fühle ich mich wie in Südfrankreich. Der Ort ist malerisch und man merkt, dass hier nette, fröhliche Leute wohnen.
              Ich halte vor dem Sklep








              und merke plötzlich, dass ich hungrig bin. Es geht auf Mittag zu und ich habe noch nichts gegessen. Die Dame in dem Sklep spricht deutsch und freut sich, deutsch sprechen zu dürfen. Ich bestelle die Waren auf polnisch und sie übersetzt auf deutsch. Wir lachen. Ich zeige auf den twarog und sie übersetzt mit Quark. Ich sage: Frischkäse, es steht sogar in deutsch auf der Verpackung drauf. Vermutlich haben wir beide recht, aber dieser Käse ist dieser wunderbare kleinkörnige, etwas süßliche polnische Frischkäse, den ich so liebe.





              Dann erwerbe ich 0,2l Brennspiritus „Denaturat“ für das nächste nasse Holzfeuer, ein junger Mann übersetzt, auch er kann deutsch. Ich setze mich an den Holztisch vor dem Laden in die Sonne und kann mich nicht satt sehen. Der Sklep ist der Mittelpunkt des Ortes, es ist ein Kommen und Gehen und alle grüßen mich fröhlich und nett. Das Kind hat ein Plastikauto mit eingebautem Sound und nacheinander ertönen Jingle bells, Old McDonalds has a farm, Frère Jaques und so weiter. Die Welt wächst zusammen. Wieder einmal stelle ich fest, wie entspannt polnische Kinder sein können. Gedankenverloren schaut der Kleine mich an und beschäftigt sich mit sich selbst, während die Mutter nebenan in dem Geschäft Kleider aussucht.

              Dann ein lautes Klappern und endlich erwische ich mit der Kamera einen der Holzlaster, die ich auf der Straße als am Bedrohlichsten empfinde. Leider ist er leer und hat keinen Anhänger.





              Gleich darauf kehrt Ruhe ein und ich esse weiter, als man in der Ferne eine Sirene hört. Ambulanz? Schlagartig ändert sich die Stimmung, alles stürzt aus den Geschäften und den Häusern: Was ist passiert?





              Man merkt förmlich, wie alle den Atem anhalten, die Sirene heult weiter, aber der Ton verändert sich nicht. Was ist passiert? Ein Unfall? Ein Notruf? Dann nähert sich die Sirene, ein Polizeiauto kommt die Dorfstraße hinauf, der Fahrer stellt die Sirene aus und zwei junge Männer rasen an uns vorbei. Alle lachen ein erleichtertes Lachen, schauen mich an und schütteln den Kopf. Ich verstehe nicht, was sie sagen, vermute aber, dass die jungen Polizisten Unsinn gemacht haben.

              Wehmütig nehme ich Abschied und fahre weiter, hier wäre ich gerne länger geblieben. Noch ein Bild von der Madonna vor der Kirche,





              dann hat mich die Straße wieder.

              Nun geht es Richtung Krzyz und die Landschaft verändert ihren Charakter. Waldstücke wechseln sich mit saftigen Wiesen ab, es wird richtig heiß.





              An der Straße befinden sich Alleebäume





              und neben der Straße verläuft eine stillgelegte Bahnlinie.








              Die Straße ist jetzt dichter befahren und es weht ein leichter Wind, der das Vorankommen beeinträchtigt, die Hitze aber nur wenig abmildern kann. Es ist jetzt gegen 13 Uhr, es ist die Zeit, in der es schon im Mai in Polen bisher immer am heißesten wurde.

              An einer Bushaltestelle mache ich Rast und fotografiere ein wenig.











              Ich schaue auf die Uhr: Ich will noch nach Miedzychod und noch nicht einmal die Hälfte des Weges liegt hinter mir. Ich habe zu viel getrödelt. Ich muss einen Zahn zu legen.
              Im nächsten Ort stelle ich fest, dass ich mich auf einem Fernradweg befinde. Er wird mich die nächsten Tage immer wieder begleiten.








              Vor Krzyz biege ich falsch ab, um den Ort zu umgehen – leider ist hier meine Karte zu Ende. Die Straße ist sehr stark befahren und ich ahne, dass das falsch sein muss. Ich wende und fahre über Krzyz weiter, weil das einfacher ist. Krzyz ist ein wunderbarer kleiner Ort, der von Raben oder Krähen bevölkert wird. Fast komme ich mir vor wie in „Die Vögel“ als diese mit lautem Geschrei den Ortskern umkreisen.

              Ich fahre die Straße Richtung Drawsko. Am Bahnhof ist eine Baustelle, aber mittlerweile kenne ich polnische Baustellen so gut, dass ich weiß, dass Fahrräder immer durch kommen. So ist es.








              Auf der Landstraße fahren viele Fahrräder, denn vor allem Schüler sind unterwegs. Ich genieße die autofreie Zone. Aber sogleich folgt die nächste Baustelle





              Nun geht es auf Feldwegen auf eine lange Umleitung, da ein Fluss zu queren ist. Umleitung auf polnisch. Die tiefen Trecker- und Autospuren zeigen, dass dies kein einfaches Unterfangen ist. Ein Junge auf einem Mofa zieht seinen Freund auf dem Fahrrad, ich denke an meine Kindheit, in der noch kaum Autos auf den Straßen gab.

              Drawsko ist ein netter Ort, aber die Dame im Sklep versteht mich nicht und will mich auch nicht verstehen, als ich nach einem Weg nach Sierakow frage. Hier soll es einen offiziellen Campingplatz geben, der von mehreren Quellen bestätigt wird. Es kommt mir vor, als sei sie Russin, denn sie spricht anders als die anderen. Da meine Karte nur Feldwege verzeichnet und ich langsam an die Übernachtung denken muss, entscheide ich mich für die Landstraße, um Sandwegen aus dem Weg zu gehen. Möglicherweise ein Fehler, denn es scheint eine Straße zu geben, die befahrbar ist. Hier widersprechen sich die Karten. Ich fahre also Landstraße 181 Richtung Landstraße 160 nach Miedzychod. Von dort aus kann ich immer noch nach Sierakow fahren. Dass ich mir damit so einiges einbrocke, weiß ich da noch nicht.

              Die Landstraße 181 ist relativ gut befahrbar und der Autoverkehr hält sich in Grenzen. Allerdings bremst der Wind merkbar. In einem Waldstück komme ich an einen Parkplatz und hier wird mir erst bewusst, dass ich tatsächlich anders hätte fahren sollen.





              Das breite Waldstück, das ich eigentlich erkunden wollte, ist ein großes Gebiet mit vielen Tieren, u.a. Bisons und mit mehreren Biwakplätzen. Ich überlege, ob ich das Abenteuer Nebenstrecke wagen soll und einen Biwakplatz suchen soll, aber der Drawno Nationalpark steckt mir noch in den Knochen. Und ich brauche dringend eine Dusche, bei dieser Hitze möchte ich ein wenig Hygiene geniessen. Aus heutiger Sicht wäre es intelligenter gewesen, wenn ich mir in Drawsko ein nettes Zimmer genommen hätte und am nächsten Tag den Park erkundet hätte. So aber fahre ich weiter, nicht ohne vorher noch über das Schild zu lächeln: Gefahr: Pilze. Lösung: Buch.





              Leider endet der Wald irgendwann und die Landstraße wird ungemütlich. Der Wind wird hier nicht mehr abgebremst und die Felder links und rechts haben wenig Charme. Immerhin leuchtet ein Kürbisfeld am Straßenrand und kleine Schmetterling flattern herum. Und der Autoverkehr hält sich in Grenzen. An irgendeiner Stelle überfahre ich mich wieder die Verwaltungsgrenze zur Woj. Lubuskie, aber es ist nur eine Strecke von ca. 20 km, da Miedzychod und Mierzyn wieder zur Woj. Wielkopolskie gehören.








              Die Wege, die in den Wald führen, sind tiefe, unbefahrbare Sandwege. Das beruhigt mein Gewissen etwas, nun Straße zu fahren. Drzedenko kann ich rechts liegen lassen, es gibt einen Nebenweg, der idyllisch ist und den ich genieße. Dann beginnt die sehr gute und nicht ganz so schlimm wie befürchtet befahrene 160 nach Miedrzychod. Der Bodenbelag ist gut und Radfahrer überholen mich. Es ist vermutlich ihre Hausstrecke.





              Bis zum Campingplatz sind es ca. 20 km und die Straße ist schön, aber ich quäle mich. Ich bin müde. Nach diesem verregneten Sommer bin ich so viel Hitze nicht mehr gewöhnt. So mache ich ein Foto von der Karte am Straßenrand. Der Campingplatz in Mierzyn ist eingezeichnet, also gibt es ihn.





              Dann mache ich Rast auf einem Rastplatz. Und hier einen riesigen Fehler. Ich schaue im Garmin nach den Koordinaten des Campingplatzes. Es erscheint ein Campingplatz mit niederländischer Bezeichnung. Aber warum nicht, in Frankreich gibt es viele Campingplätze mit niederländischen Betreiber. Garmin siedelt ihn aber in Wierzbno südlich der Warta an. Das könnte laut Karte aber auch hinkommen. Ich programmiere ihn ein und meine Laune hebt sich.





              Endlich kommt ein der EU Radweg. Ich bin kurz vor dem Ziel. Denke ich.





              Ein paar Radtaschenschredderer (Insider!) stehen an der Straße nach Mierzyn. Kein Campingplatzschild. Aber ich fahre ja sowieso zu einem anderen.




              Ich kreuze die Warta.








              Auf huckeliger Straße und holprigem Radweg geht es durch den Ort. Am Ortsausgang steht wieder das R1 Fernradwegschild.








              Mein Navi zeigt nach rechts und ich fahre auf die rote Landstraße 24. Es ist Berufsverkehr. An der Kreuzung steht eine Art Rasthof, das Zimmer kostet 70 Sloty. Ich schwöre, mir hier ein Zimmer zu nehmen, wenn der Campingplatz nicht existiert. Die Autos fahren Stoßstange an Stoßstange und ich bin froh, den Seitenstreifen zu haben.





              Die Strecke ist hügelig und ich fluche vor mich hin. Immer wenn man müde und abgekämpft ist, kommen die anstrengenden Strecken. Ich schaue auf mein Navi, nur 300 Meter voran gekommen. Wie ein Junkie wird der Klick zur Kilometerangabe immer schneller. Ich bin todmüde. Ich kann nicht mehr. Oh, wie freue ich mich auf mein Zelt. Vor meinem geistigen Augen sehe ich einen netten kleinen Campingplatz mit warmen Duschen und einem kleinen Restaurant. An den Rastbuchten halten die Autos im Minutentakt, die Fahrer rennen an den nächsten Baum und geben wieder Gas. Ein Schild zeigt die Seen der Umgebung und weist auf Fischfang hin. Das Campingplatzschild fehlt. Wieder eine Falle?





              Endlich die Abzweigung.





              Ich fahre in den kleinen Ort. Kein Schild. Ein Bauernhof, ein paar Häuser. Eine kleine, einsame, asphaltierte Straße führt nach Miedzychod. Nebenstrecke. Hier gibt es garantiert keinen Campingplatz. Nur keinen Nervenzusammenbruch bekommen! Ein Transporter kommt aus einer Einfahrt und als ich rufe und winke, hält er. Camping? Er überlegt. Ein schlechtes Zeichen. Hier also nicht. Dann sagt er auf deutsch: „Fünf Kilometer. An Schild rechts. Dann 3 Kilometer.“ Er lacht und zeigt auf die asphaltierte Straße. Und schon ist er wieder fort. Ich fahre die idyllische Straße entlang und plötzlich bin ich wieder wach. Das Schild kommt und dann weiß ich Bescheid: Es ist ein Biwakplatz. Also keine Dusche heute.





              Auf dem Straßenschild steht Goraj. Noch weiß ich nicht, dass dieser Ort morgen eine ungeahnte Bedeutung erhalten wird.
              Die Straße wird zum Sandweg, aber es macht Spaß, ihn zu fahren. Eine Familie geht mit ihren Kindern spazieren, ein Auto wartet am Wegesrand.





              Schnell kommt die Abzweigung zum Biwakplatz und dann sagt mein Verstand: „Nein“. Die Stechmücken surren, mein Zelt ist nass, mein Kocher ist kaputt, ich habe geschwitzt, überall juckt es und die Reservebekleidung ist noch nicht trocken, es ist Wochenende, das Wetter ist schön, der See wird voller Angler und Jugendlicher sein. Kurz: Ich will einen Campingplatz mit Dusche!

              Außerdem bin ich gerade so schön in Fahrt. Eine gute Gelegenheit, einfach mal eine kleine Radtour zu machen. Ich düse durch den Wald, die Strecke ist perfekt, anspruchsvoll aber nicht zu sandig, hügelig und waldig. Einfach schön. Ein Highlight. Rechts liegen stille, tiefe Seen, einige Boote sind zu sehen. Dann endet die Strecke und ich bin kurz vor Miedzychod – es war eine Abkürzung. Um mir die Einfahrt zu merken, mache ich ein Foto – vielleicht muss ich ja doch wieder zurück.





              Ich komme kurz vor der Brücke heraus. Die ganze schreckliche Strecke durch den Ort und auf der Schnellstraße hätte ich mir sparen können!. Zwei Männer haben leichte alkoholbedingte Koordinationsschwierigkeiten auf der engen Brücke, daher fahre ich auf der Straße. An den Pollern biege ich nach Mierzyn, denn Sierakow ist 15 km entfernt und strategisch gesehen in der falschen Richtung.

              Die Straße nach Mierzyn ist recht gut und ich schaue angestrengt, ob ich Wohnmobile sehe. Nichts. Als ich im Ort ankomme, dämmert es schon. Dann hören die Häuser auf. Eine große Zahl an einer Einfahrt lässt mich hoffen, dass vielleicht hier ein Campingplatz ist. Ich fahre die Einfahrt hinein und lande auf einem Bauernhof. Die Bauersfrau lacht und schüttelt den Kopf. Ihre Tochter versucht mir auf polnisch zu erklären, wo der Campingplatz ist. Heute weiß ich, dass er wohl nur im Hochsommer existiert. Also wieder zurück. Vielleicht sollte ich einfach mal nach Zimmern fragen?

              Inzwischen ist es dunkel. Ein Mann steht an der Straße und ich frage ihn nach Camping. Er murmelt wirres Zeug, er scheint Selbstgespräche zu führen. Ich gehe zum Nachbargrundstück 13 und sehe jetzt erst ein kleines Pappschild mit der Aufschrift „pokoje“. Soll ich es wagen? Hunde bellen mich an, als ich näher trete. Auf der Tür steht so etwas wie: Agrotouristik, später vermute ich, dass es sich um eine Art Urlaub auf dem Bauernhof handelt. Ein Mädchen läuft über Straße und Rasen und ich frage nach dem Campinplatz. Sie lächelt und sagt: „Schwester deutsch“ und flitzt durch die Tür. Kurz danach kommt die ältere Schwester. Ich frage sie nach Camping und sie sagt tapfer: „Camping haben wir nicht, aber wir haben Zimmer.“ Sie ist wirklich nett und sicherlich braucht die Familie das Geld. Und da ich keine Lust mehr habe, weiter zu suchen, sage ich zu. Sie freut sich sichtlich, sperrt schnell die Hunde weg, läuft zu ihrer Mutter und holt den Schlüssel für das Zimmer. Ich frage nach einem Platz für mein Fahrrad und sie fordert mich auf, es einfach durch den Flur zu schieben und in die Küche zu stellen. Die Küche gehört zum Zimmer dazu und sie sagt, alle Gäste wären gerade abgereist, ich könne die Lebensmittel essen, die noch da sind. Zahlen kann ich gleich oder morgen. Die Mutter kommt und lässt mich einen Zetttel ausfüllen und überspielt die Enttäuschung, dass ich nur eine Nacht bleiben will. Auf polnisch fragt sie die Tochter nach dem Geld, ich merke, dass sie Angst hat, ihr Geld nicht zu bekommen. Daher zahle ich sofort: 35 Zloty, das sind umgerechnet 9 Euro. Die Mutter legt mir noch zwei Prospekte hin und ich stelle fest, dass die Gegend wirklich schön sein muss. Irgendwie tut es mir leid, dass ich morgen schon weiter muss.





              In Windeseile macht die Tochter mein Bett und fragt, ob ich morgen frische Milch zum Frühstück haben will. „Etwas anderes haben wir nicht“, sagt sie schüchtern. Wir einigen uns auf heiße Milch, da ich nicht weiß, ob ich rohe Milch vertrage. Sie freut sich, dass ich mich freue.





              Die Dusche ist wunderbar. Jeder einzelne Kilometer, der mich an diesen Ort getragen hat, war es wert. Dann hänge ich meine Sachen zum Trocknen aus und mache mir auf dem Herd die Nudeln, die ich in Drawno gekauft habe und eine Tütensuppe Tomate-Mozarella heiß. Ich kann nicht warten, bis das Essen abgekühlt ist, sondern esse mechanisch Löffel um Löffel von der heißen Nahrung. Wärme von innen. Wie wunderbar.
              Kurz darauf liege ich im Bett und schlafe ohne Aufzuwachen durch bis zum Morgengrauen.
              Zuletzt geändert von Torres; 25.09.2011, 17:19.
              Oha.
              (Norddeutsche Panikattacke)

              Kommentar


              • Cervantes
                Dauerbesucher
                • 26.10.2009
                • 502
                • Privat

                • Meine Reisen

                #8
                AW: (PL) Polen von seiner schönsten Seite: Radtour Lubuskie

                Schön, schön!!!
                Und weiter, weiter!!!

                Müßiggang ist besser, als gar nichts zu tun.

                Kommentar


                • Torres
                  Freak

                  Liebt das Forum
                  • 16.08.2008
                  • 30593
                  • Privat

                  • Meine Reisen

                  #9
                  AW: (PL) Polen von seiner schönsten Seite: Radtour Lubuskie

                  5. Tag. Samstag, den 10.09.2011. Mierzyn- Pszczew (Woj. Lubuskie). 78 km

                  Am nächsten Morgen wache ich erst um 8 Uhr auf. Ich habe fast 12 Stunden durchgeschlafen. Schnell packe ich in der Küche. Gegen 9 Uhr klopft es, ein Mädchen stellt mir die Milch hin. Die Milch schmeckt köstlich und sie ist heiß. Ein Wunder. Nie konnte ich so etwas so schätzen, wie in diesem Moment. Joghurt, Müsli und Schokoladenwaffeln runden mein Frühstück ab.




                  An der Tür mache ich schnell ein Foto von der Sitzgruppe für die Gäste. Im Hintergrund rangiert ein Traktor.





                  Mein Ziel für heute ist Zbastzyn, denn dort ist ein Campingplatz verzeichnet. Über Pszczew und Trzciel führt eine Nebenstraße an den Seen entlang, die für einsames Radeln wie geschaffen scheint. Einen Moment lang überlege ich, noch einmal den Sandweg von gestern zu fahren (was eine gute Idee gewesen wäre!), mir den Biwakplatz an zu schauen und dann über Goraj Richtung Pszczew zu fahren, aber mich reizt das Unbekannte. Außerdem habe ich ja meinen Stolz. Ein drittes Mal möchte ich nicht bei Miedzychod die Warta queren.

                  Auf meiner Karte steht, dass es bei Krobielewko eine Brücke in Richtung Goraj gibt. Diese Strecke wäre ideal und ich käme nicht zu weit westlich heraus. Ich bin mir zwar bewusst, dass man polnischen Karten nicht trauen kann, aber ich möchte es riskieren. Daher biege ich links in Richtung Skwierzyna ab. Es ist die einzige durchgehende Straße in diesem Gebiet, denn links befinden sich die Wartaniederungen und rechts wird die Straße durch die Puszcza Notecka begrenzt.





                  Wieder sehe ich Radwegbeschilderung und ich bin mir sicher, dass es dazu eine Karte geben muss. Ich besitze leider keine.





                  Auf der Straße laufen zwei Wanderer mit Rucksack entlang und dann bin ich wieder völlig alleine. Autos fahren keine vorbei. Ich befinde mich jetzt wieder in der Wojewodztwo Lubuskie.





                  In der Nacht hat es wieder geregnet, doch langsam kommt die Sonne heraus. Noch spenden die Bäume Schatten, aber es könnte ein heißer, schwüler Tag werden. Dann sehe ich plötzlich links ein wunderschön renoviertes Stallgebäude und mein Herz macht einen kleinen Sprung.





                  Ich bin fasziniert. Vielleicht eine Gestüt? Dann sehe ich, dass es sich um eine Hotelanlage handelt. Schloss Wiejce. Neue Mittelklassewagen parken im Innenhof der Nebengebäude und eine Familie mit Kindern kommt mir freundlich grüßend entgegen. Ich schiebe mein Fahrrad in Richtung Schloss.





                  Eine wunderschöne Anlage. Ich schließe mein Fahrrad an. 2 Frauen und ein Mann unterhalten sich vor der Tür und ich denke erst, es könnten Franzosen sein. Aber es sind Polen. Grafiker oder Designer möglicherweise. Automatisch beziehen sie mich in ihr Gespräch mit ein. Schade, dass ich sie nicht verstehe.
                  Ich grüße und eile die Treppen hinauf. Der junge Mann am Empfang springt sofort auf, als er mich sieht. Vielleicht hat er meinen entschlossenen Schritt gehört. Auf jeden Fall ist er gut geschult. „Dzien dobry. Do you have some information about this building, please?“ Er reagiert sofort, fragt, ob in deutsch oder englisch und bittet mich dann höflich, mich doch in Ruhe um zu sehen. Ein Punkt für ihn. Ich stehe da in kurzen Radklamotten mit Buff, Helm und staubiger Funktionsjacke und er übersieht es. Ich verzichte auf eine Besichtigung, da ich mein Fahrrad nicht unbeaufsichtigt lassen möchte (die Instinkte eines Großstadtmenschen lassen sich nicht ausschalten....) und besichtige stattdessen die Parkanlage. Das Verhalten des Rezeptionsmitarbeiters war erstklassig. Lag das an meinem Auftreten? Oder an der Tatsache, dass ich mich auf das Gelände getraut habe?





                  Einen kurzen Moment überlege ich, meine Reise ab zu brechen und einfach nur Urlaub zu machen. Ein schönes Hotelzimmer, ein luxuriöses Frühstück, nach dem Frühstück im Park ein Buch lesen und am Nachmittag in dem von Wanderwegen durchzogenen Urwald spazieren gehen. Und am Abend im Kaminzimmer speisen und Cognac trinken.
                  Hätte diese Anlage einen Zeltplatz besessen, wäre ich schwach geworden. ODS Mitgliederversammlung hin oder her. Diese Ruhe, die hier herrscht, hätte ich gerne genossen. Aber ich nehme Abschied.

                  Auf Umwegen verlasse ich die Schlossanlage, schaue mir die Karte an der Straße an und fülle im Sklep gegenüber meine Wasservorräte auf. Und schon holt mich die Realität wieder ein.


                  Die Frau im Sklep ist genervt. Hinter der Bushaltestelle sitzen zwei ältere Männer und schauen mich ausdruckslos an und ein Hund stellt sich vor mein Fahrrad und kläfft.








                  Ich fahre weiter. Die Landschaft ist malerisch und plötzlich irritiert mich ein starker Duft. Tatsächlich: Auf einem Feld blüht der Raps.








                  Dann erreiche ich Krobielewko und suche die Abzweigung nach Goraj. Aber ich sehe kein Schild, das auf eine befahrbare Straße hinweist.





                  Eine Familie sitzt im Garten und grillt und ich gehe an den Zaun und frage nach. Die Männer sind irritiert und sie fragen eine Frau im Haus, die darauf hin temperamentvoll auf sie einredet. Nun erklären mir die Männer den Weg. Ich muss zurück nach Miedzychod. Es gibt keine Brücke. Die Russen. Ich schüttelt den Kopf: „Nje, nein.“ Die Autos. Ich mache das Geräusch der Autos nach: „Djong, djong, djong. Nje.“ Die Männer werden ganz eifrig und rufen: „Takk (Ja), takk, takk. Djong, djong, djong. Takk.“ Ich verstehe ihre Warnung – ich muss zurück.

                  Ich fahre zurück, aber nur bis zur Weggabelung. Ich will mich überzeugen, dass ich die Männer richtig verstanden habe. Eine sandige Straße führt einen Hügel hinauf und ich sehe ein paar ärmliche Hofgebäude. Es ist heiß geworden. Dann geht es den Weg steil bergab und links stehen kleine Häuschen. Ich ahne, dass es keinen Sinn hat, eine Brücke zu suchen, es gibt keine.
                  Im Eingang eines kleinen Häuschens sitzt ein älterer Mann und ich grüße auf polnisch und frage mit meinem geringen Wortschaft noch einmal. Er kommt aus dem Haus und schaut mich merkwürdig an, als wäre er mit den Gedanken ganz woanders. Ich frage noch einmal. Seine Tochter wirft aus der Tür einen kurzen Blick auf mich und ein temperamentvoller Wortschwall geht auf ihn nieder. Er schaut mich wieder ganz merkwürdig an und dann kommt er ganz nahe an mich heran, als wolle er sicher gehen, dass ihn niemand hört und sagt leise und sorgfältig überlegend auf deutsch: „Keine Brücke. Brücke weg von den Russen. Fahren über Miedzychod.“ Ich frage ihn: „Warum über Miedzychod und nicht über Skwierzyna?“. Er sagt: „Ist schneller und besser Strass“. Jetzt habe ich verstanden und ich bedanke mich bei ihm. Seine Tochter ruft laut etwas im Hintergrund und er fragt leise: „Möchten Sie Kaffee?“ Ich bin gerührt und zeige das auch, aber ich schüttele den Kopf. Ich muss leider weiter. Er nickt und ein wenig scheint es, als wäre er erleichtert. Wer weiß, welche Erinnerungen ich bei ihm wach gerufen habe. An manchen Dingen soll man nicht rühren.

                  Zurück an der Hauptstraße überlege ich kurz. Ich weiß, dass ich jetzt einen Fehler mache. Andererseits interessiert es mich, wie die Straße weiter geht. Vermutlich werde ich den ganzen Tag an die Männer denken und es bereuen, nicht zurück gefahren zu sein. Ich biege trotzdem links ab.

                  Im nächsten Ort weiß ich, was mit der schlechten Wegstrecke gemeint ist. Ein holpriges Kopfsteinpflaster. Na, das kann ja heiter werden. Ein Radwegschild rettet mich. Der Radweg verläuft abseits der Straße in einem Waldstückchen und eine verfallene Perle liegt am Wegesrand.





                  Dann erreiche ich Swiniary.




                  Die Straße ist nun besser geworden, aber es ist sehr heiß und ich komme mir ein wenig vor, als wäre ich in Texas, als ich einen alleine an der Straße stehenden Sklep aufsuche. Ich frage nach einer Radwegkarte, aber Karten gibt es in den Lebensmittelgeschäften nicht.

                  Die Straße führt weiterhin durch den Wald, aber ich langweile mich. Sie ist zwar autofrei und bewaldet, aber irgendwann wird sie eintönig. Es zieht sich. Die Männer hatten recht. Es wäre besser gewesen, um zu kehren. Ich fahre einen riesigen Umweg und komme viel zu weit westlich heraus.

                  Nach einer gefühlten Ewigkeit – und ungefähr so lange, wie ich zurück nach Miedzychod gebraucht hätte, - erreiche ich Skwierzyna und quere die Warta. Die Stadt ist voller Autos, denn am zentralen Kreisverkehr treffen sich die roten Schnellstraßen 3 und 24.

                  Ich fahre zu einer Tankstelle. Vor dem Shop stehen zwei Motorradfahrer mit ihren Freundinnen und lachen, als ich mich in Motorradfahrermanier elegant neben sie setze, lässig absteige, das Fahrrad auf den Hauptständer stelle und den Helm absetze. Gelernt ist gelernt. Ich kann den Motorradfahrer nicht verleugnen. Pantomimisch erkläre ich ihnen, dass Motorradfahren dick macht und Fahrradfahren schlank macht. Sie lachen wieder. Dann stellt sich heraus, dass einer der Polen deutsch spricht und wir albern herum. Sie fahren zum Boxkampf Adamek gegen Klitschko in Wroclaw. Es ist das Ereignis des Tages, vielleicht sogar des Jahres. Ich wünsche ihnen Glück, dass ihr Favorit gewinnt. Sie warten noch ab, ob ich in der Tankstelle zu Recht komme und geben dann winkend Gas. Leider hat die Tankstelle die gewünschte Regionalkarte nicht, aber immerhin eine Karte in einem besseren Maßstab, die mir weiter hilft.

                  Ich nehme die stark befahrene rote Landstraße 3, auf der sich Auto an Auto reiht. Ein Seitenstreifen fehlt. Immer wieder springe ich auf den Grasstreifen neben der Straße, um die LKW vorbei zu lassen, die hinter mir den ganzen Verkehr ausbremsen müssen. Die Straße ist hügelig und ich merke, dass ich müde bin. An der nächsten Möglichkeit biege ich links ab – es ist ein unbefestigter Weg, aber alles ist besser als diese Schnellstraße.

                  Ich muss schieben, denn die Traktoren haben den Weg aufgewühlt. Ein Blick in die Karte zeigt mir, dass hier einmal eine Autobahn gebaut werden wird. Dieser Abschnitt wird bald Geschichte sein. Mein Umweg hat also eine historische Note. Ich genieße den Weg vorbei an den Maisfeldern. Dann kommt ein schönes Waldstück, das sich besser befahren lässt und in dem es angenehm kühl ist.





                  Ich fahre durch einen einsamen Ort, Twierdzielewo, und halte mich links.





                  Ein altes Ehepaar sitzt auf einer Bank und schaut mich verwundert an. Vermutlich wissen sie, warum, denn nach der Ortsdurchfahrt wird der Weg völlig unbefahrbar.





                  Dennoch: Der Weg ist wunderschön, links und rechts sind Felder, es ist sehr warm und die Landschaft erinnert mich an die Sommer meiner Kindheit. Ich atme tief durch und denke: Polen ist wunderschön. Leider kann ich nur eine kurze Pause machen, denn ein kleiner See ist das perfekte Brutgebiet für Stechmücken. Schade, ich hätte die Landschaft gerne in Ruhe genossen.





                  Ein Traktor kommt mir entgegen und weicht weitflächig aus, obwohl ich bereits möglichst weit rechts fahre, um ihn nicht zu behindern. So viel Freundlichkeit bin ich von zu Hause her nicht gewöhnt und ich grüße höflich und bedanke mich.
                  Nach einer Weggabelung wird selbst Schieben zur Tortur. Tiefer Sand, der von den Traktoren aufgewühlt wurde, behindert mein Fortkommen. Von allen Seiten höre ich die Geräusche der Motoren. Es ist ein Geräusch aus fernen Tagen, das nichts mit dem gleichmäßigen Summen der riesigen Erntemaschinen auf norddeutschen Feldern zu tun hat. Es ist vielmehr das wohlvertraute Tuckern älterer Motoren und es erinnert mich an wunderbare, unbeschwerte Zeiten meiner Jugend. Dann geraten links und rechts die Traktoren in mein Sichtfeld, Frauen helfen ihren Männern und man sieht ihnen an, wie anstrengend es ist, bei dieser Hitze zu arbeiten. In einer Kurve schiebe ich mit letzter Kraft das Rad durch den noch tieferen Sand. Am Wegrand liegen zwei Kartoffeln, die von einem Erntewagen gefallen sind. Bevor sie von den Reifen zermalmt werden, hebe ich sie lieber auf und werde sie später in Görlitz genüsslich verspeisen.

                  Bei flirrender Hitze geht es durch Kalsko, vereinzelt und ohne dörfliche Struktur stehen Häuser herum und vor jedem Haus steht ein Auto. Wieder erinnert mich die Szenerie an das ländliche Amerika. Ich entscheide mich nun aber, Straße zu fahren, auch wenn es ein Umweg ist.





                  So erreiche ich am Nachmittag Miedrzyrzecz. Der Ort ist sehr schön und ich befinde mich Einzugsbereich Berlins, denn ich sehe das erste Mal deutsche Autokennzeichen.





                  Dann fahre die Landstraße Richtung Pszczew auf komfortabel eingerichteten Radwegen entlang.





                  Am Rande der Straße lockt ein See und die Hinweistafeln erläutern, dass in dieser Gegend ein Kanuparadies ist.





                  Schließlich kommt ein Straßenschild und mich trifft der Schlag.





                  Ich denke an die Männer von heute Morgen. Ich bin fast im Kreis gefahren. Es ist später Nachmittag und ich fahre wieder Richtung Miedzychod. Wäre ich ihren Anweisungen gefolgt, wäre ich jetzt bereits am Ziel in Zbastzyn. So liegen noch ca. 40 km vor mir. Immerhin kenne ich mich ja nun in dieser Gegend ziemlich gut aus. Notfalls könnte ich sogar den Biwakplatz von gestern erreichen.





                  Dafür ist die Straße nun wunderschön. Allein für sie hat es sich gelohnt, diesen Umweg zu fahren. Sie ist gut ausgebaut, abwechslungsreich und weist perfekte Kurven und Steigungen auf. Kein Wunder, dass sie Motorradstrecke ist. Als mich zwei dröhnende Reiskocher in rennfahrtauglicher Schräglage überholen, erschrecke ich so, dass ich aus Versehen auf den Aus-Knopf statt auf den Auslöser drücke. So wird es leider nichts mit einem spektakulären Foto.





                  Als ich Pszczew erreiche, fahre ich zunächst an einem Fußballplatz vorbei. Die Menschen sind fröhlich, lachen und feuern ihre Mannschaften an. Welch ein Unterschied zu der deutschen Verbissenheit, die ich gewohnt bin.

                  Dann kommen die ersten Häuser und rechts sehe ich eine Pizzeria. Es duftet nach Essen und viele Menschen sitzen oder stehen vor dem Haus und genießen fröhlich und gelöst diesen wunderbaren, warmen Sommerabend. Hier hätte ich gerne ein Zimmer gemietet und gegessen, aber es sieht nach einer geschlossenen Gesellschaft aus.

                  Die Straße nach Trzciel geht vor dem Ortskern rechts ab und das erste Mal kommen mir Zweifel, ob ich mein Ziel heute noch erreiche. Es ist noch ganz schön weit. Auf der linken Seite steht ein großes Schild, das auf einen Campingplatz und Freizeitaktivitäten hinweist, doch ich vermute, dass dieses Schild nur im Sommer Gültigkeit hat.

                  Meine Wasservorräte neigen sich dem Ende zu und da Samstag ist, will ich mich nicht darauf verlassen, dass die Skleps auf der Strecke die ganze Nacht auf haben. Daher fahre ich in den Ort hinein. Links und rechts stehen unrenovierte Häuser und versprühen den Charme der Vorwendezeit. Eine Frau geht gerade zu ihrem Auto und ich frage sie nach dem nächsten Sklep. Mit Handzeichen erklärt sie mir, dass ich geradeaus und dann rechts muss. Ich finde den Sklep sofort, es ist ein Lewiathan-Markt.

                  Vor der Tür steht der erste übergewichtige junge Mann, den ich auf meiner Tour sehe und futtert Chips in sich hinein. Ein Stück daneben steht ein protziger Geländewagen, aus dessen Lautsprechern in voller Lautstärke „Cheri Cheri Lady“ von Modern Talking ertönt und die Straße beschallt. Dieter Bohlen in Polen. Ich muss grinsen.
                  Ich betrete den Sklep, und der Hüne hinter der Theke fragt sofort, ob ich aus Deutschland komme. Er spricht fließend deutsch und folgt mir auf die Straße. Wie unterhalten uns ein wenig und er erzählt stolz, dass Pszczew früher deutsch war. Viele Menschen hier sprechen noch deutsch. Es gab sogar einmal eine evangelische Kirche, die wurde von den Russen aber abgerissen. Er erzählt mir, dass er pünklich um 20.00 Uhr Feierabend machen wird, weil er den Boxkampf sehen will. Ich sage „Stimmt, heute boxt ja Klitschko gegen Adamek“ und er lacht und sagt: „Das sagt ihr! Für uns boxt Adamek gegen Klitschko“. Ich frage ihn nach einem Campingplatz und er sagt: „Natürlich haben wir einen, hast Du die Schilder nicht gesehen?“ Er erklärt mir den Weg.

                  Ich fahre an der katholischen Kirche vorbei.





                  An der Schule soll ich mich rechts halten. An der Schule steht auf der linken Seite ein Hinweisschild zum Campingplatz, aber ich folge den Anweisungen des Polen und bin kurz darauf aus dem Ort hinaus. Das kann nicht richtig sein. Ich wende. Ich frage einen Mann, der in seinem Garten steht und er sagt auf polnisch ja, das ist richtig. Ich fahre wieder ein Stück aus dem Ort hinaus und wieder kommen mir Zweifel.

                  Vier Frauen kommen mir auf dem Fahrrad entgegen. Ich halte sie an und habe Glück, denn eine der Frauen spricht deutsch. Verächtlich schüttelt sie den Kopf, nein, ich bin zu weit gefahren und bittet mich, ihr zu folgen. Ich frage sie, warum sie so gut deutsch spricht. Ob sie deutsche Wurzeln habe. Sie schüttelt den Kopf. Fast ihre ganze Familie wohne mittlerweile in Deutschland und auf Familienfesten würde nur noch deutsch gesprochen, da ihre Schwester und deren Familie kein Polnisch mehr kann. Sie klingt bedrückt, als sie das sagt. Da lebt sich eine Familie auseinander. Sie zeigt mir die Straße, die direkt zum Campingplatz führt. Die Männer hatten Recht, sie hatten nur vergessen, dass ein Ortsfremder die Straße nicht finden würde.

                  Der Campingplatz ist existent, die Tür ist offen, der See ist ein Traum, aber die Rezeption hat geschlossen. Ein paar Jungen lungern herum und warten vermutlich auf ihre Mädels, die in einer Gruppe von Menschen vor dem Restaurant feiern. Ich frage nach der Rezeption, ein verlegenes Lächeln, eine kurze Nachfrage beim Gegenüber, dann Kopfschütteln. Ich laufe den Platz entlang, finde aber nur kleine Ferienhäuser und keinen richtigen Zeltplatz.
                  Also verlasse ich den Platz und fahre zur Anfahrtsstraße zurück, in der Hoffnung, es gäbe in der Nähe einen zweiten Zeltplatz. Das ist jedoch nicht der Fall.
                  Also fahre ich wieder zurück und spreche einen Gast an, der einen bunten Container im Bauhausstil bewohnt. Er spricht deutsch und ist ebenfalls ratlos. Der Platz vor dem See, der zelttauglich ist und eine Möglichkeit böte, das Fahrrad an zu schließen, ist Aufenthaltsfläche und Strand. Ich könnte mich vermutlich auf den Sandfleck neben dem Wohnwagen stellen, dort gibt es allerdings keinen sicheren Platz für mein Fahrrad. Er schaut in Richtung Restaurant und wundert sich, dass die Rezeption geschlossen ist. Ich solle mal im Restaurant fragen. Dann empfiehlt er mir, es mal auf dem Platz oben auf dem Hügel zu versuchen. Dort ist ein Hotel, aber dort stehen auch Wohnwagen. Dort kann ich fragen.

                  Ich ahne: Die Rezeption feiert im Restaurant das Ende der Saison. Ich schiebe mein Fahrrad den Hügel hoch, tatsächlich stehen hier Wohnmobile. Das Tor ist verschlossen, aber ich kann mein Fahrrad an der Seite vorbei quetschen und stehe vor einer Rezeption in einem modernen Gebäude.





                  Die junge Mitarbeiterin an der Rezeption spricht ein bisschen Englisch. Ich frage nach Camping. Nein, sagt sie, das ist hier leider nicht möglich. Aber ich könne gerne ein Zimmer mieten. Ich überlege. Eigentlich hätte ich gerne im Zelt geschlafen. Aber nach Zbaszyn brauche ich vermutlich noch 3-4 Stunden. Eigentlich hätte ich jetzt Lust, mich an den See setzen und ein wenig zu entspannen. Ich frage sie nach dem Zimmerpreis. Das Zimmer kostet 50 Zloty, das sind umgerechnet ca. 12.50 Euro. Ich willige ein.

                  Das Zimmer ist im ersten Stock und modern eingerichtet. Sogar ein Wasserkocher steht auf dem Zimmer. Ich bin überrascht.





                  Ich frage nach einer Unterstellmöglichkeit für mein Fahrrad und werde auf einen Fahrradständer verwiesen, der für Leihfahrräder vorgesehen ist. Da es sich bei dem Fahrradständer um das Modell "Felgenbrecher" handelt, trage ich mein Fahrrad nach dem Abladen einfach in mein Zimmer und stelle es auf den Balkon.
                  Dann breite ich das Zelt auf dem Balkon aus, da das Innenzelt noch etwas feucht ist. Ebenso verfahre ich mit dem Tarp, dass immer noch klitschnass ist. Mit dem footprint decke ich das Fahrrad ab.





                  Und dann passiert mir etwas ganz Blödes. Nach der erfrischenden Dusche nehme ich meine Kontaktlinsen heraus und packe sie weg. Viel zu früh eigentlich. Ganz in Gedanken nehme ich den Behälter wieder in die Hand, um den Behälter richtig auszuspülen. Eigentlich eine nachvollziehbare Handlung, da ich meistens morgens dusche und vorher die Kontaktlinsen in die Augen setze. Nun aber völlig falsch. Ich öffne den Behälter, drehe den Wasserhahn auf und spüle den Behälter aus. Als ich meinen Irrtum bemerke, kann ich gerade noch die linke Linse festhalten, doch die rechte Linse ist bereits im Ausfluss verschwunden. Sicherheitshalber zerlege ich noch das Abflussrohr, denn die Hoffnung stirbt zuletzt, aber die Linse befindet sich bereits in der Kanalisation. Grrhhh. Ab morgen muss ich mit Brille fahren.
                  Dass mich dieses Missgeschick dennoch erstaunlich wenig berührt, zeigt mir, wie müde ich wirklich bin. Es war gut, dass ich nicht weitergefahren bin. Wer weiß, was mir sonst noch passiert wäre.

                  Ich entscheide mich, an den See zu gehen und die Anlage zu besichtigen.





                  Die Häuser sind vor allem an Jugendliche vermietet. Es ist Samstag und die Stimmung ist gut. Allerdings bin ich erstaunt, dass sie sich sehr gesittet benehmen. Von Alkoholexzessen ist nichts zu bemerken. Es wirkt eher, als wären sie mit ihren Lehrern in einem Schullandheim.

                  Auf dem Weg zum See gehe ich an einer Kleinfamilie vorbei, die an einem Tisch und grillt. Der Tisch ist festlich eingedeckt, zwei Kerzen spenden Licht und Rotwein steht auf dem Tisch. Ich verspüre Hunger auf eine richtige Mahlzeit und beneide sie.

                  Der See ist ein Traum und ich kann mich nicht satt sehen.








                  In der Ferne liegt der Campingplatz und ich überlege, wie schön es wäre, jetzt in Zelt zu liegen und auf den See zu schauen. Aber die Sicherheit meiner wagabunda (poln.: Landstreicherin) geht vor.





                  Ich mache noch ein paar Fotos und freue mich darauf, mir gleich mit dem Wasserkocher auf meinem Zimmer einen heißen Kakao zu bereiten zu können.











                  Dann überlege ich, ob ich hier morgen noch einen Tag verbringen soll. Lesen, relaxen, schwimmen? Es wäre Zeit für einen Ruhetag und wenn Wasser in der Nähe ist, fühle ich mich immer am wohlsten. Ich verschiebe die Entscheidung auf morgen.

                  Langsam laufe ich zu meinem Zimmer zurück und stelle fest, dass die Freizeitanlage einen Vogelpark hat. Fasziniert schaue ich den Vögeln zu. Und nicht nur ich. Familien sitzen still auf den Bänken und betrachten entspannt das Treiben.











                  Noch ein letztes Foto vom Abendhimmel





                  Dann gehe ich auf mein Zimmer, mache Abendbrot, trinke einen heißen Kakao und schlafe bald darauf ein.
                  Zuletzt geändert von Torres; 25.09.2011, 07:44.
                  Oha.
                  (Norddeutsche Panikattacke)

                  Kommentar


                  • Torres
                    Freak

                    Liebt das Forum
                    • 16.08.2008
                    • 30593
                    • Privat

                    • Meine Reisen

                    #10
                    AW: [PL] Polen von seiner schönsten Seite: Radtour Lubuskie

                    6. Tag. Sonntag, den 11.09.2011. Pszczew - Nowa Sol (Woj. Lubuskie). 116 km.

                    Am Sonntagmorgen bin ich früh auf, aber andere sind noch früher auf. Bereits um 7 Uhr sind viele Nordic-Walker und Jogger unterwegs. Der Himmel ist blau, das wird der heißeste Tag des Jahres.





                    Ich überlege, ob ich noch einen Tag bleiben soll. Nach der Arbeitsbelastung der letzten Wochen könnte ich einen Ruhetag gebrauchen und das schöne Wetter aus nutzen. Ich rechne nach: Am Donnerstag nach Witzenhausen. Davor zwei oder drei Tage Görlitz. Mein Zeitfenster ist sehr eng. Wenn ich Glück habe, ist heute wenig Verkehr und ich komme gut voran. Also packe ich und fahre um 8 Uhr über die Bahnschranke.





                    An der Schule mache ich ein kleines Erinnerungsfoto





                    und fahre Richtung Kirche.











                    Hier war ein Schnitzer am Werk.
                    Nur ungern verlasse ich den Ort, schön ist es hier gewesen.





                    Die Straße ist malerisch und nicht befahren. Ich komme mir vor, als wäre ich in Südfrankreich.








                    Die Vögel zwitschern auf dem Strommast. Polen ist wunderschön.





                    Der letzte Blick zurück.





                    Und dann ein Blick voran: Ich fahre an einem Kanugebiet entlang. Überall sind Hinweise auf Campingplätze oder Biwakstellen.





                    Die Karten am Wegesrand zeigen, dass es in der Nähe mehrere Reservate gibt. Auch hier ist also Naturschutzgebiet. Ich genieße die Fahrt. Schließlich komme ich an eine Brücke, die über die Obra führt.





                    Als ich die Fotos mache, kommt ein Wohnmobil aus OHV des Weges und ich halte das Ehepaar an. Wohnmobilsten sind immer gut informiert und vielleicht kennen sie die Campingplätze auf meinem Weg. Sie waren gerade in Lagow, das leider nicht auf meinem Weg liegt und sind hellauf begeistert. Bei der Touristikinformation haben sie eine Karte erhalten, die sehr detailliert ist und mir weiterhelfen könnte. Ich fotografiere die eingezeichneten Camping- und Biwakplätze ab. Außerdem schenken sie mir eine Karte des deutsch-polnischen Jakobswegs, der bei Berlin beginnt.





                    Ich fotografiere noch einmal die Umgebung und dann geht es weiter.








                    Spaziergänger sind auf der Straße und der Verkehr nimmt etwas zu. In der Nähe ist eine kleine Kirche, die sie erreichen wollen.





                    Als ich ein Foto von der Szenerie machen will, schaut mich der Pfarrer unverwandt an und ich verzichte.

                    In einem kleinen Sklep kaufe ich Wasser und Waffeln, aber der junge Mann ist schlecht gelaunt. Ich vermute, dass Adamek verloren hat (ja, hat er). Ein Nachtpfauenauge lässt sich auf meinem Sattel nieder, aber bevor ich es fotografieren kann, fliegt es davon. Es sind viele Schmetterling hier und sie genießen den Sommertag.

                    Die Strecke bleibt schön und abwechslungsreich.








                    Bald erreiche ich Trzciel.





                    Ich befinde mich nun wieder in der Woj. Wielkopolskie.

                    Eine polnische Baustelle,






                    Landwirtschaft,





                    und dann ohne Vorwarnung das Grauen:








                    Kalt und brutal schneidet die neue Autobahn quer durch die Landschaft. Zur EM in Polen wird die Verkehrsinfrastruktur modernisiert. Ich gebe Gas und flüchte auf meine einsame Strecke zurück.








                    Und immer wieder sehe ich Biwakplätze.





                    Gegen 12.00 Uhr erreiche ich Zbaszyn. Das wäre gestern knapp geworden. Eine gute Entscheidung, das Zimmer zu mieten.

                    An einem schönen See steht das Schild Camping.











                    Aber die Saison ist längst vorbei und es sind kaum Besucher dort. Aus einem Lautsprecher ertönt türkische Musik. Ich trinke einen Apfelsaft und fahre weiter, während in einem Lokal ein alter Mann unter Alkoholeinfluss große Reden schwingt.

                    Als ich in den Ort hineinfahre, sehe ich den Sonntagsmarkt und viele fröhliche Menschen sind in den Straßen.





                    Eine Kirche überstrahlt den Ort und ich genieße den Anblick.





                    Auf einem Stadtplan entdecke ich den Weg zu dem offiziellen Campingplatz. Er heißt Przy Baszcie und ist geöffnet. Die Straße ist nach dem historischen Gebäude auf dem oberen Foto benannt und er macht einen netten Eindruck. Direkt daneben steht ein nettes kleines Hotel.








                    Ich überlege, ob ich campen soll, aber es ist mir zu früh. Ich fahre lieber noch ein Stück Richtung Görlitz.

                    Im Ort staut sich der Verkehr. Da die Fußgänger Vorrang haben und die meisten Fußgänger ältere Leute sind, brauchen sie lange, bis die die Zufahrt zum Markt überquert haben. Ein langer Rückstau ist die Folge, doch niemand hupt.








                    Wieder muss ich an Südfrankreich denken. Ein schöner Ort hier. Ich nehme die Landstraße stadtauswärts und plötzlich erscheint rechts ein wunderbarer Friedhof.





                    Die Namen zeigen, dass hier auch Deutsche gelebt haben und lange schaue ich den Engel an. Zwei alte Menschen pflegen die Gräber ihrer Angehörigen.







                    Ich erhalte eine SMS mit einer Zeltanfrage und bin so abgelenkt, dass ich die Abzweigung verpasse und wieder zurückfahren muss. Ich will auf der Nebenstrecke Richtung Wolsztyn.

                    Leichter Wind kommt auf, der mich zum langsam fahren zwingt und gleichzeitig wird es brütend heiß. Es ist flach hier und ich denke an Norddeutschland und bekomme Heimatgefühle. Und plötzlich fällt mir ein, was hier anders ist: Es fehlen die Windräder. Hier ist noch Natur, grenzenlose Weite. Ein wenig Wehmut befällt mich. In zwanzig Jahren wir es hier vielleicht genauso sein.











                    An der Straße stehen Wegkreuze für die Unfallopfer.





                    Ich flüchte mich in ein kleines Waldstück. Ein wenig Schatten hilft mir.





                    Dann geht es weiter.








                    An einer Bushaltestelle mache ich Rast, aber die Sonne glüht zu stark. Schatten sucht man hier vergebens.





                    Dann komme ich zur Bundesstraße und auf einem idyllischen Radweg geht es Richtung Wolsztyn.





                    Ich fahre in den Ort hinein, denn ich bin müde. Vielleicht gibt es hier ja einen Campingplatz oder eine Touristeninformation. Der Ort ist hübsch und vor dem Rathaus nutzen die Kinder den Springbrunnen zur Abkühlung.








                    Die Touristeninformation ist ausgeschildert, aber nicht im Zentrum. Ich habe Sehnsucht nach einem See und beschließe, weiter zu fahren. Ich werde schon eine Karte finden.





                    Der See findet sich tatsächlich im nächsten Ort.





                    Ein Fahrradfahrer ist schneller am Strand und lehnt sein Fahrrad an den einzigen Baum. Ich quetsche mich daneben und wir kommen ins Gespräch. Er spricht perfekt Deutsch. Ich frage ihn nach Camping und er sagt: „Polen ist kein Land für Camping. Die Campingplätze in Polen sind für die Kinder in den Ferien. Sind die Ferien vorbei, schließen die Campingplätze. In Polen geht man ins Hotel“. Er erzählt von seinen Radtouren und schwärmt vom Nationalpark im Osten Polens. Er fährt weiter, denn er muss zu seiner Familie und ich döse ein wenig vor mich hin. Scheinbar bin ich eingenickt, denn plötzlich ist es 15.00 Uhr und ich muss weiter. Ein polnischer Familienvater schimpft von seinem Motorboot aus lautstark mit seinen Kindern und ich stelle fest, dass es Vorteile hat, nichts zu verstehen. Man schläft besser.





                    Auf dem Fahrradweg an der Straße 315 geht es weiter, aber der Zustand ist schlecht, ich komme langsam voran. Und es bleibt brütend heiß. Zudem macht mir der starke Gegenwind zu schaffen.





                    Trotzdem lasse ich es mir nicht nehmen, in Obra einen kleinen Umweg zu machen, um das 1231 errichtete Zisterzienser Kloster zu fotografieren.








                    Schön kühl ist es hier, aber ich muss weiter. Schon bald hat mich die glühende Sonne wieder. Immer häufiger mache ich Pause, aber auch der Wald bietet wenig Schutz.





                    In Swietno habe ich kaum noch Wasser, in letzter Sekunde betrete ich den Sklep „Ewa“ und kaufe drei Liter Wasser. Der Boden schwankt unter mir und mir ist schwindelig. Bitte keinen Hitzekollaps.
                    Ich fotografiere die Kirche des Ortes.





                    Dann geht es auf glühendem Asphalt weiter und auch der Wind bringt keine Abkühlung. Bald befinde ich mich wieder in der Woj. Lubiskie. In einem Waldstück esse ich ein wenig und es geht mir wieder besser. Dann schiebt sich eine Wolke vor die Sonne, welch eine wunderbare Erlösung.





                    Verkehr kommt auf. Ich vermute, es ist der Rückreiseverkehr vom Besuch bei Verwandten und Freunden. In einem Ort fotografiere ich bei voller Fahrt den imposanten Friedhof, da zu viel Verkehr ist, um an zu halten.





                    Dann erreiche ich endlich Lipiny. Hier gibt es eine ruhige Nebenstrecke. Allerdings ist sie für den Autoverkehr gesperrt, da es eine Baustelle gibt. Ich bin mir sicher, dass Fahrradfahrer wieder passieren können. Dennoch frage ich sicherheitshalber einen Anwohner, der aus dem Auto steigt. Er ist ratlos. Wieder die kurze Rückfrage bei der Ehefrau, diese ruft eine andere Anwohnerin herbei, die informiert den Herren und dieser teilt mir dann mit, dass es kein Problem ist. Takk. Rower takk! Ich schmunzele in mich hinein. In Polen scheinen die Frauen zu wissen und die Männer repräsentieren.

                    Die Straße ist wunderbar und plötzlich habe ich wieder Kraft in den Beinen. Der Wind ist weg, die Sonne brennt nicht mehr und alle Müdigkeit ist verflogen.





                    Die Heuballen auf den Feldern leuchten in der Abendsonne. Ich überlege, wild zu campen, aber es ist noch zu hell. Außerdem ist der Wald sehr licht und bietet wenig Sichtschutz. Die Odra (Oder) ist nicht weit, denn überall wimmelt es von Stechmücken. Zwar bin ich mir sicher, dass es hier in der Nähe Biwakplätze gibt, doch meine Karte zeigt keine an. Tatsächlich ist der Biwakplatz weiter westlich in der Nähe der Hauptstraße. Ich entscheide, das Hotel Odra zu suchen und falls dieses nicht existiert, zurück zu fahren.





                    Nach ca. 8 Kilometern kommt endlich die Baustelle. Sie wird von einem Bauarbeiter bewacht.





                    Als ich das Foto mache, drängelt hinter mir ein Fahrradfahrer im Papageiendress. Er hat es eilig. Das habe ich zwei Sekunden später auch, denn Tausende von Steckmücken stürzen sich auf meine nackten Arme und meinen Sonnenbrand. Als ich ein paar Meter weiter bin, höre ich hinter mir Motorengeräusche, Flüche und lautes Klappern. Ich drehe mich nicht um, denn ich höre am Sound, dass das kein Mofa ist.





                    Da hat doch tatsächlich jemand mit einer Harley-Davidson, der Größe nach zu urteilen mit einer Electra Glide, die Brücke überquert. Ich hätte nicht gedacht, dass die Brücke das aushält.

                    Kurz vor Nowa Sol überholt mich ein älterer Radfahrer auf einem klappernden Dreigangfahrrad und ruft „Dawei, dawei“. Mittlerweile weiß ich von meinem Kollegen, dass das russisch und nicht polnisch ist und mehrfach hintereinander gerufen im Sinne von „voran, voran“ gebraucht wird. Ich winke ihm zu und er freut sich wie ein Schneekönig, dass er schneller ist als ich.

                    Ich passiere die Odra in der Abendsonne.








                    Ich habe mein Ziel, Nowa Sol, erreicht. Auf einer Hauptstraße geht es Richtung Innenstadt. Am Oderufer ist eine Kirmes aufgebaut und Familien mit Kindern strömen auf den Platz. Dicke Flutmauern unter den Häusern begrenzen den Fluss. Leider kann ich keine Fotos machen, da ich mich auf die Straße, die Autos und die Fußgänger konzentrieren muss und am nächsten Tag vergesse ich, es nach zu holen. Mein Garmin lotst mich zu dem Hotel Odra, aber als das Stadtviertel immer finsterer wird, kommen mir Zweifel. Am nächsten Tag sehe ich, dass es an allen Ausfallstraßen des Ortes so aussieht, das liegt wohl am Verkehr. Aber es ist nun rasend schnell dunkel geworden und ich brauche ein Zimmer.

                    Das Hotel liegt etwas abseits der Straße und wird von zwei Damen mittleren Alters betrieben. Ich zahle 75 Zloty für die Nacht, fast 20 Euro, darf aber mein Fahrrad mit auf das Zimmer nehmen.








                    Das Zimmer ist sauber, die Dusche ist wundervoll warm und es gibt sogar Hotelseife. Da ich hungrig bin, frage ich nach einem Restaurant, aber das Polonia auf das sie verweisen, hatte ich schon gesehen und das hatte zu. Sie schütteln mit dem Kopf. Das Hotel hat zu und das Restaurant hat auf. Komisch, ich verstehe polnisch immer besser, obwohl ich es nicht spreche.

                    Als ich auf die Straße trete, ist draußen finstere Nacht, obwohl es gerade 20.00 Uhr ist. Ich versuche ein Nachtbild des Hotels





                    und gehe Richtung Restaurant. Dort sitzt jemand zwar am Empfang, aber das Restaurant sieht immer noch geschlossen aus.

                    Also wandere ich die Straße entlang. Sie ist voller fröhlicher Menschen, es ist immer noch sommerlich warm. Mütter fahren ihre Kinderwagen spazieren, junge Menschen diskutieren und kaufen ein. Ich fühle mich sicher und denke an meine erste Nacht in Leipzig 1984. Das Flair aber auch der Stil der Häuser und die Beleuchtung wecken diese Erinnerungen.

                    Meine Hoffnung, einen Schnellimbiss oder ein Fastfood-Restaurant zu finden, erfüllt sich nicht. Mein polnischer Kollege erzählt mir später, dass der Durchschnittsverdienst in Polen bei ca. 2000,00 Zloty, also bei ca. 500,00 Euro, liegt. Akademiker verdienen um die 5000,00 Zloty. Daher kochen die Polen lieber zu Hause. Außer Haus zu essen ist einfach zu teuer.

                    Ich gehe in den kleinen 24 Stunden-Sklep in der Nähe des Hotels und kaufe Brötchen, Chicken McNuggets, Milch und Chips. Das Geschäft ist voller Jugendlicher, so dass ich instinktiv schaue, ob es einen Wachdienst gibt. Stattdessen arbeiten zwei junge Mädchen in dem Geschäft und die Stimmung ist gut. Statt Bier kaufen die Jugendlichen Bonbons, Saft und Waffeln.
                    Im Hotel merke ich, dass ich den Tag über viel zu wenig gegessen habe. So verschwinden die Brötchen, die Milch, das Fleisch und die Chips auf rätselhafte Weise von meinem Tisch. Das Bett ist bequemer als es aussieht und ich schlafe gut.
                    Zuletzt geändert von Torres; 25.09.2011, 21:33.
                    Oha.
                    (Norddeutsche Panikattacke)

                    Kommentar


                    • luvohh
                      Gerne im Forum
                      • 13.03.2008
                      • 98
                      • Privat

                      • Meine Reisen

                      #11
                      AW: [PL] Polen von seiner schönsten Seite: Radtour Lubuskie

                      Torres,

                      der Bericht liest sich klasse und die Fotos gefallen mir.
                      Freue mich schon auf die nächsten Folgen.

                      Luvo

                      Kommentar


                      • Torres
                        Freak

                        Liebt das Forum
                        • 16.08.2008
                        • 30593
                        • Privat

                        • Meine Reisen

                        #12
                        AW: [PL] Polen von seiner schönsten Seite: Radtour Lubuskie

                        7. Tag. Montag, den 12.09.2011. Nowa Sol - Ilowa (Woj. Lubuskie). 65 km.

                        Es ist Montag und ich will heute Görlitz erreichen. In der Nacht hat es geregnet, denn tiefe Wasserpfützen sind auf der Straße. Es ist empfindlich kalt und ich muss eine lange Hose und einen Merinopulli anziehen. Ich mache noch ein Abschiedsfoto von dem Hotel und seiner Umgebung





                        und fahre durch das Wohngebiet in Richtung Zagan. Es sind viele Schüler unterwegs und sie wirken, als würden sie sich auf die Schule freuen.

                        Ich komme nicht so richtig in Gang. Das liegt selbstverständlich a) an der Tatsache, dass ich den Ortskern suche, aber nicht finde und wieder umdrehe, b) an den Baustellen auf der Zufahrtsstraße, c) an der Verblüffung über eine Radampel,





                        d) an der Bahnschranke,





                        e) an den Radwegen,





                        f) der Doggi Station





                        und wohl auch an mir….


                        So ist es 9 Uhr, als ich Nowa Sol verlasse.




                        An einer Tankstelle frage ich vergeblich nach einer detaillierteren Karte und finde leider erneut nur einen Kompromiss, der mir dennoch weiter hilft.

                        Ich finde auf Anhieb die Nebenstrecke und finde sie wunderschön.





                        Leider hat der Wind aufgefrischt und in einem Waldstück messe ich bereits 13 bis 15 km/h Windgeschwindigkeit. Das ist kein gutes Zeichen, denn der Wind kommt aus Südwest und das ist genau meine Fahrtrichtung. Ich befinde mich wieder auf einer Nebenstraße, die als Radweg ausgeschildert ist und kaufe in einem kleinen Sklep Frischkäse, Brötchen und Wasser. Neben dem Tresen liegen dicke, fette, lecker aussehende geräucherte Makrelen und ich bereue, dass ich sie nicht transportieren kann.





                        Dann geht es auf der idyllischen Straße weiter.

                        Hatte ich übrigens schon einmal erwähnt, dass Polen wunderschön ist?

                        Ich atme tief durch und genieße die Stille. Dann macht mein Herz mal wieder einen Sprung, als ich plötzlich etwas in einem Garten entdecke. Zelte!





                        Es sind die ersten (und einzigen) Zelte, die ich auf dieser Tour sehe und ich erfreue mich an dem Anblick. Gut, sie haben Baumarktqualität. Aber es sind echte Zelte! Vor lauter Rührung fotografiere ich gleich noch ein politisches Plakat, das mich schon länger von Bäumen und Zäunen aus anblickt. Erstaunlich, dass Politiker überall auf der Welt gleich aus sehen.





                        Im nächsten Ort – ich vermute, es ist Mirocin Gorna - beeindruckt mich eine Kirche und der Landkarte auf der anderen Straßenseite entnehme ich, dass ich mich auf dem gelben Radweg „Teufelssteinweg“ befinde.





                        An einer Bushaltestelle mache ich Rast und kippe mir die Molke des Frischkäses über die Hose. Das sieht natürlich hervorragend aus. Egal. Heute abend bin ich in Görlitz bei Bekannten und dort kann ich meine Sachen mit der Waschmaschine waschen.
                        Ich gönne mir eine Flasche Cola zum Wachwerden und stelle fest, dass das nur wenig hilft. Langsam radele ich im 7. Gang durch Landschaft und Dörfer und verfluche den Gegenwind. Es besteht keine Möglichkeit, in den gewohnten Rhythmus zu kommen und die Landschaft richtig zu genießen.

















                        In Marcinow ist es plötzlich ganz windstill.














                        Es macht Spaß, einmal wieder richtig Gas geben zu können und ich genieße es. Mein Fahrrad ist also nicht kaputt. Aber die Freude währt nur kurz. Hinter dem Ort ist wieder Gegenwind.

                        Mein Navi erfindet merkwürdige Linien und ich rufe die ODS Hotline an, um zu fragen, ob ich mit meinem Verdacht richtig liege. Scheint so. Ich gebe Speicherplatz frei und alles funktioniert wie gewohnt.

                        In Karozowka lacht mich die Kirche an und ich muss sie fotografieren.





                        Der Wind ist nun noch stärker geworden und ich messe Windgeschwindigkeiten um die 25 km/h. Das kann ja heiter werden. Ich schwöre mir, dass mein nächstes Fahrrad einen Elektromotor bekommt und weiß, dass das ein Scherz ist. Schon ernsthafter ist die Überlegung, mir in Zagan eine Übernachtungsmöglichkeit zu suchen und zu hoffen, dass der Wind morgen weniger stark ist. Denn hinter Zagan nimmt die Infrastruktur auf dem Weg zur deutschen Grenze laut Karte sichtlich ab. Ich befrage mein Navi und es verweist auf ein Hotel in Ilowa. Ilowa liegt hinter Zagan und wäre auf der Route. Ich speichere die Koordinaten ab.

                        Endlich zeigt sich der Ort Zagan. Ungefähr die Hälfte der Strecke ist geschafft.





                        Als ich den Ortseingang passiere, bemerke ich am Horizont Hügel und mir wird flau im Magen. Starke Steigungen bei diesem Wind sind nicht unbedingt mein Geschmack. Aber ich werde Glück haben.





                        In Zagan ist die Hauptstraße aufgrund einer Baustelle gesperrt, so dass die Autos Ausweichmöglichkeiten in den Seitenstraßen suchen. Daher beschließe ich, nicht lange zu verweilen, sondern weiter zu fahren, obwohl mir der Ort sehr gut gefällt. Es soll hier ein altes Kloster und ein Schloss geben. Das Schloss ist ausgeschildert und liegt in der entgegengesetzten Richtung. Hinweise auf das Kloster finde ich nicht.

                        Die Baustelle betrifft wie immer nur die Autofahrer und ich kann problemlos passieren.





                        Der Bürgersteig ist schmal und an der Kreuzung quere ich in Gedanken die Straße. Links im Schatten steht hinter Bäumen ein Gebäude, nur zufällig streife ich es mit meinem Blick und plötzlich sagt meine innere Stimme: Diese Steine sind alt.





                        Ich schaue genauer hin und trete näher und tatsächlich ist es das Augustinerkloster. Eine Frau läuft vorbei und ich frage sie nach einer Tourist Information. Sie versteht mich nicht richtig und bedeutet mir, um das Gebäude herum zu gehen. Ich bedanke mich. Aber erst mache ich noch zwei Fotos.








                        Dann gehe ich um das Gebäude herum und bin verblüfft. Es handelt sich um eine riesige Anlage.





                        An den langen Seitentrakt aus altem Gemäuer grenzen Wohnhäuser. Ich denke schon, dass hier das Kloster zu Ende ist, als ich die Kirche sehe. Vor ihr ist die Entstehungsgeschichte der Anlage auf Schautafeln dokumentiert. Ich lese mir allerdings nicht alles durch, sondern lasse die Anlage auf mich wirken.






                        Dann betrete ich den Innenhof.










                        Ein Seiteneingang der Kirche hat geöffnet, unter dem Rost findet sich Reis. Amerikanische Bräuche in Polen? Mein polnischer Kollege erklärt mir später, dass es schon immer polnische Tradition ist, das Brautpaar mit Reis und kleinen Geldstücken zu bewerfen.





                        Ein Mann geht in die Kirche. Dann eine Frau. Sie beten. Da ich sie nicht stören möchte, entferne ich mich und erst später gelingt mir in einem unbeobachteten Moment ein Bild des Altars.





                        Ein Nebengebäude dient als Museum und auch der Brunnen ist eine Pracht.





                        Noch einmal nähere ich mich dem Hinterausgang der Kirche und suche eine Spendenbox. Ich finde jedoch keine.

                        Ich setze meinen Weg fort und sehe gegenüber Fußgängerwege, die mich zur Brücke über den Fluß Bobr führen sollen. Ich passiere das Sperrwerk




                        und entdecke am Flussufer eine nagelneue, sicherlich mit EU Fördermitteln errichtete Promenade.







                        Die Anlage ist schön, ohne Zweifel und doch wirkt sie unwirklich, fast surreal.

                        Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, warum. Nicht, weil sie menschenleer ist. Nein. Es fehlt etwas: Graffitis. Vandalismus. Pöbelnde Jugendliche mit großen Hunden, die sich von Bierflaschen umgeben in öffentlichen Anlagen langweilen und die Passanten anbetteln. Ich ertappe mich bei dem politisch völlig unkorrekten Gedanken, dass Polen, wenn es der Staat schafft, das erwirtschaftete Geld nicht in einen überbordenden Sozialstaat zu pumpen, in ein paar Jahren ein reiches Land sein wird.

                        Dann fällt mir auf, dass ich in Polen bisher niemanden mit Alkohol in der Hand in der Öffentlichkeit gesehen habe, obwohl Polen beim Alkoholkonsum zur Weltspitze gehört. Mein polnischer Kollege bestätigt mir später, dass man tatsächlich nicht in der Öffentlichkeit trinkt. Man trinkt in der Familie, bei gesellschaftlichen Anlässen oder beim Essen. Vielleicht ist auch dies der Grund, warum ich mich in Polen so wohl fühle: Bei uns ist es längst zur Selbstverständlichkeit geworden, mit Alkohol in der Hand schoppen zu gehen.

                        An der Brücke muss ich warten. Der Bürgersteig ist schmal und viele Menschen sind unterwegs. Das gibt mir die Gelegenheit, sie genauer an zu schauen. Alle sind in Eile, alle haben zu tun und viele sind gut gekleidet. Es sind junge Menschen und alte Menschen, aber niemand drängelt. Die alten Menschen sind wirklich alt, ihre Gesichter sind von der harten Arbeit gekennzeichnet.

                        Ein junger Mann läuft über die Brücke, ein Durchschnittsgesicht. Als er aufschaut, sehe ich seine Augen und sie spiegeln Durchsetzungsstärke und Entschlossenheit. Und in diesem Moment wird mir klar: Diese Nation strebt auf. Diese Menschen sind hungrig. Sie haben Ziele und wollen in ihrem Leben etwas erreichen.
                        Ich denke an meinen Kollegen, der sich mit harter Arbeit und Fleiß in Deutschland eine neue Existenz aufgebaut hat. Arbeit und der familiärer Zusammenhalt sind der Mittelpunkt des Lebens, denn ein soziales Netz gibt es in Polen nicht. Wer nicht (mehr) arbeiten kann, ist auf die Unterstützung der Familie angewiesen. Wer über siebzig ist, erhält eine kleine staatliche Unterstützung, die kaum zum Leben reicht.

                        Nun erfordert der Verkehr meine volle Konzentration. Hinter der Brücke über den Fluß Bobr befindet sich ein zentraler Kreisverkehr, der den Verkehr in die verschiedenen Richtungen verteilt. Er hat die Form einer Kartoffel und fasziniert mich. Immer wieder staut sich der Verkehr, aber niemand hupt, drängelt sich vor oder wird ungeduldig.





                        Dann bin ich auf der gelben Straße 296. Sie ist in gutem Zustand und nicht so stark befahren wie befürchtet. Außerdem führt sie durch den Wald, so dass der Wind nicht mehr so stark bläst. Er bremst mich zwar weiterhin, aber er weht mich nicht mehr fast vom Fahrrad.





                        Parallel zur Landstraße fließt die Czerna und ich sehe Rastplätze und Kanuplätze und auch ein Biwakplatz ist nicht weit.








                        Dann wieder ein Einschnitt in die Landschaft: Die Autobahn kreuzt die Strecke und ich weiß nun, mit wem Radfahrer auf einer Stufe stehen: Mit Treckern und Pferdekutschen.






                        Polnische Motorradfahrer auf dicken japanischen Choppern überholen mich. Ich kämpfe gegen den Wind und denke darüber nach, ob es einen Unterschied macht, ob ich mit dem Motorrad oder dem Fahrrad unterwegs bin. Ich finde keinen. Egal, mit welchem Verkehrsmittel ich unterwegs bin, ich gehe immer an die persönlichen Grenzen. Nur der Radius ist größer. Aber die Art, den Urlaub zu gestalten, bleibt gleich.

                        Schneller als erwartet erreiche ich gegen 15.00 Uhr Ilowa. Der Ort ist von starkem Verkehr gezeichnet und wirkt unansehnlich. Ich entscheide mich, nach Görlitz weiter zu fahren. Das Hotel wird vermutlich dem Hotel Odra ähneln und das möchte ich mir an meinem letzten Tag nicht an tun. Hinter mir höre ich mehrere LKW und weiche auf den Bürgersteig aus. Im Augenwinkel sehe ich ein kleines Schild „Palast, Park“, aber ich möchte nicht anhalten. Ein vorgebauter Kiosk und eine Bushaltestelle zwingen mich allerdings zum Absteigen. Und da ich schon mal abgestiegen bin, überlege ich, mir den Park doch einmal kurz an zu schauen und eine kleine Pause zu machen. Ich wende das Fahrrad und sehe, dass ich vor einem weißen, renovierten Fachwerkbau stehe, der eine Bibliothek beherbergt.

                        Ich biege in den kleinen Weg ein und mache ein Foto von der Rückfront.





                        Ich quere eine Brücke und stehe vor dem Gebäude.









                        Wieder eine dieser Perlen. Es scheint dort eine Technische Universität ihr Domizil zu haben. Auch der Park gefällt mir.


                        Aber ich habe nicht die Ruhe, Pause zu machen. Ich schiebe mein Fahrrad an der Bushaltestelle vorbei und finde eine Seitenstraße, auf der ich die Strecke zur Abzweigung abkürzen und den LKW ausweichen kann.
                        Ich sehe ein Schild, welches auf das Hotel hinweist, doch das Hotel selbst sehe ich nicht. Die 296 knickt nun mitten im Ort links ab.

                        Die Straße ist schmal und wirkt idyllisch, aber das täuscht. Von vorne kommt ein großer LKW. Gleichzeitig höre ich hinter mir das Bremsen eines anderen LKW und fahre auf den schwarzen Granulatstreifen neben der Straße. Da das Quietschen nicht aufhört, drehe ich mich um und sehe, dass der LKW hinter mir ebenfalls auf dem Granulatstreifen fährt. Der Fahrer schaut konzentriert und rangiert vorsichtig so weit rechts wie möglich. Das wird mir zu viel. Ich gebe Gas und flüchte mich in eine Einfahrt. Mit Millimeterabstand fahren die beiden LKW aneinander vorbei.

                        In diesem Moment frage ich mich, was ich hier eigentlich tue. Ich habe Urlaub. Will ich meinen letzten Tag in Polen wirklich auf einer viel befahrenen Landstraße mit starkem Gegenwind beenden? Die Sonne scheint, ich könnte jetzt im Park sitzen und stattdessen schlucke ich Staub auf einer Landstraße. Ich beschließe, mir das Hotel einmal unverbindlich an zu schauen.

                        Als gerade kein Verkehr ist, wende ich auf der Straße und biege den Hotelschildern folgend links ab. Vor mir sehe ich einen grauen Kasten an der Landstraße 300 stehen und ich vermute, dass dieses Gebäude das Hotel ist.

                        Aber auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht wieder ein Hotelschild. Das Hotel scheint also in der ruhigen Seitenstraße zu sein. Ich werte das als gutes Zeichen. Auf der rechten Seite gerät eine Villa in mein Sichtfeld, aber es ist eine Grundschule.

                        Dann gehe ich weiter und sehe links noch eine Villa.




                        Ich traue meinen Augen nicht. Das kann es nicht sein. Ich gehe näher heran und lese die Aufschrift





                        Doch, das ist das Hotel. Vor der Tür stehen hochwertige Autos, die Sonne funkelt zwischen den Bäumen hindurch und die Anlage strahlt eine gediegene Ruhe aus. Und in dem Moment sagt mein Verstand: Ja. Das mache ich jetzt. Die Hälfte meines Lebens ist herum, ich bin kein Student mehr, das Konto ist gedeckt und ich habe den ganzen Sommer über hart gearbeitet. Egal, was es kostet. Das gönne ich mir jetzt. Ich habe Urlaub!


                        Ich stelle mein Fahrrad vor der Tür ab und steige die Treppe hoch. Das Mädchen am Empfang spricht nur polnisch. Ich frage sie, ob sie ein Zimmer für mich hat und sie bejaht. Dann bitte ich sie um eine Unterstellmöglichkeit für mein Fahrrad, aber sie versteht nicht, was ich will. Ich versuche, meinen polnischen Kollegen zu erreichen, aber er geht nicht ans Telefon. Ich bitte sie pantomimisch, mir zu folgen und zeige ihr mein Fahrrad und dann begreift sie doch. Wenn der Chef kommt, kann ich das Fahrrad einschließen. Gemeinsam schieben wir das Fahrrad am hoteleigenen Lieferwagen vorbei an den Seiteneingang und ich befestige das Fahrrad am Rasentraktor.

                        Dann checke ich ein. Das Zimmer kostet 100 Zloty die Nacht. Umgerechnet 25 Euro. Ich bin sprachlos.

                        Das Zimmer ist im zweiten Stock und ich kämpfe mich mit meinen Packtaschen die Treppen hoch. Es ist klein, aber geschmackvoll eingerichtet, das Badezimmer ist modern saniert und die Sonne strahlt durch das Badfenster. Minutenlang schaue ich in den Park und kann mich nicht satt sehen. Dann sehe ich auf dem Schreibtisch die Landkarte liegen, die mir die Wohnmobilisten an der Obra gezeigt hatten. Die Karte, die ich die ganze Zeit suchte. Ich bin am richtigen Ort.




                        Ich dusche lang und ausgiebig. Dann gehe ich auf Erkundungstour.

                        Das Treppenhaus ist ein Traum







                        und das Restaurant macht einen guten Eindruck.

                        Der Chef ist mittlerweile vor Ort und die Angestellten laden sein Auto, das mit Lebensmitteln gefüllt ist, aus. Er spricht ebenfalls nur polnisch und bedeutet mir, dass er das Fahrrad in den Nebenraum schieben wird, wenn die Waren einsortiert worden sind. Ich öffne das Hauptschloss meines Fahrrades und die Angestellten schauen mich erstaunt an und lachen verblüfft, als ich noch ein zweites Schloss öffne.
                        Mein Kollege hatte Recht: Die wissen gar nicht, was das ist. Hinterher wird er mir erklären, dass in Polen zwischen Fahrrädern und Gorai (Schreibweise?) unterschieden wird. Das Wort leitet sich von gora = Gebirge ab. Gorai sind folglich Fahrräder, mit denen man in den Bergen fahren kann. Die meisten Polen besitzen Fahrräder und keine Gorai. Daher haben sie keinen Bezug dazu und können den Wert dieser Fahrräder nicht einschätzen.

                        Ich entscheide mich, vor dem Essen spazieren zu gehen. Zunächst fotografiere ich die Villa von vorne, merke aber, dass sie gar nicht so einfach zu fotografieren ist. Sie wirkt auf den Fotos unvorteilhaft und ihr spezieller Charme wird nicht sichtbar.





                        Anschließend gehe ich die Straße herunter und finde einen Fußweg zum Schlosspark. Ich betrachte mir die Bäume und die Anlage und genieße die Ruhe und Schönheit dieser durch Menschenhand geschaffenen Natur. Urwald ist schön. Aber eine gepflegte Anlage ich auch schön. Man muss wohl älter werden, um sie wirklich genießen zu können, denn früher hätte ich ihr keine Reiz abgewinnen können.





                        Ich gehe wieder am Schloss vorbei





                        und betrete an der Bibliothek die Hauptstraße.

                        Und nun erscheint mir der Ort in neuem Licht. Der Schwerlastverkehr hat nachgelassen und die Seitenstraße schräg gegenüber weist schöne alte Häuser auf.

                        Eine alte Dame überquert im Schneckentempo auf dem Zebrastreifen die Hauptstraße und fasziniert sehe ich, wie ein riesiger LKW mit quietschenden Bremsen anhält und geduldig wartet, bis sie fertig ist. Kein Fluchen, kein Hupen, kein Drängeln. Es könnte die eigene Mutter sein.





                        Links von mir sehe ich ein Restaurant, das ebenfalls Zimmer vermietet.

                        Als ich ein Foto machen will, kommen aus einer Seitenstraße drei Jungs und warten darauf, die Straße queren zu können.





                        Als der eine bemerkt, dass ich Fotos mache, posiert er für mich. Auf seinem T-Shirt steht "Hasseröder Männer Camp 2010".





                        Langsam schlendere ich durch den Ort. Er ist schöner als gedacht und hat sogar eine Eisdiele. Einen Moment überlege ich, ob ich schwach werden und ein Eis essen soll. Aber dann gehe ich weiter.











                        Ich schlendere die 296 entlang, um ein Foto von der Stelle zu machen, an der ich gewendet habe. Zwei LKW wehen mich fast vom Bürgersteig.





                        Als ich mich an der Abzweigung positioniere, zeigt mir eine Frau, was sie im Park gesammelt hat. Ich bitte sie um ein Foto und darf ihre Hand fotografieren.





                        An der der 296 es ruhig, nur ein paar Autos biegen in die Straße ein. Dann kommt endlich doch noch ein LKW.





                        Nun wandere ich zurück zum Hotel. Lange betrachte ich die Rosen





                        und fotografiere dann vom Garten aus mein Zimmer (ganz links im Dachgeschoss - das geöffnete Fenster).





                        In der Nähe des Grillplatzes setze ich mich hin





                        und beobachte einen Fotografen, der zwei Frauen im Garten und vor dem Hotel fotografiert.





                        Erst jetzt bemerke ich die Freitreppe, die zum Restaurant führt.





                        Und stelle fest, dass ich einen Bärenhunger habe. Ich nehme in der lichtdurchfluteten Loggia Platz








                        und studiere die Speisekarte.

                        Zwei weitere Hotelgäste betreten das Restaurant. Der Mann trägt ein verwaschenes Beatles-T-Shirt und die Frau ist perfekt gestylt. Sie gehört zu dem Typ Frau, der einen Salat bestellt, ein paar Mal in ihm herumpickt und den Rest zurück gehen lässt. Als sie mich sehen, lassen sie sich auf der Terrasse nieder. Als ich später die Terrasse betrete und einen kaum berührten Salat sehe, muss ich grinsen.

                        Ich bestelle Pirogi und Entenbrust. Dazu Rotwein. Die Dame vom Empfang ist gleichzeitig die Kellnerin und es ist nicht einfach, ihr zu erklären, was Rotwein ist. Sie fragt in der Küche nach und berichtet mir, dass sie nur Weißwein haben. Ich studiere die Speisekarte und stelle fest, dass eine Seite Heißgetränke und Softdrinks auflistet und zwei Seiten ein reichhaltiges Angebot hochprozentiger Alkoholika inklusive Whisky und Cognac aufführen. Eine Weinkarte fehlt. Ich entscheide mich für Woda gazowana (Mineralwasser) und Weißwein.

                        Leider sind auch die pirogi nicht erhältlich und ich frage sie nach einer
                        Spezialität aus der Region. Sie empfiehlt mir die Pastete









                        und freut sich, als sie abräumt. Die Pastete hat sehr gut geschmeckt und ich habe sie bis auf den letzten Krümel verzehrt.

                        In der Pause schaue ich den tanzenden Stechmücken im Park zu, die als kleine Lichtpunkte in der angehenden Dämmerung um die Bäume kreisen. Heute bleibe ich von ihnen verschont und ich fühle mich gut dabei.

                        Die Entenbrust ist wunderbar zart und die Knödel und das Rotkraut schmecken selbst gemacht.





                        Anschließend entscheide ich mich für den Eisbecher des Hauses. Es handelt sich um Zitroneneis und dunkles Schokoladeneis, das mit Sahne und Schokoladensoße auf Orangen und Dosenfrüchten serviert wird. Eine interessante Mischung.





                        Das Eis hat meinen Hunger endgültig gestillt. Ich setze mich noch einen Moment auf die Terrasse und genieße den lauen Sommerabend. Dann wanke ich die Treppen hoch. Nicht wegen des Weines, sondern weil ich meine Beine kaum noch bewegen kann. Ich könnte jetzt sicherlich noch 50 km Fahrradfahren, aber Treppen steigen fällt mir schwer. Ich bin müder, als ich gedacht habe.

                        Zufrieden und satt lege ich mich ins Bett und schlafe sofort ein.
                        Zuletzt geändert von Torres; 27.09.2011, 00:06.
                        Oha.
                        (Norddeutsche Panikattacke)

                        Kommentar


                        • Torres
                          Freak

                          Liebt das Forum
                          • 16.08.2008
                          • 30593
                          • Privat

                          • Meine Reisen

                          #13
                          AW: [PL] Polen von seiner schönsten Seite: Radtour Lubuskie

                          8. Tag. Dienstag, den 13.09.2011. Ilowa-Görlitz (Woj. Lubuskie, Woj. Dolnoslaskie, Deutschland)

                          Am Morgen stellt der Gärtner pünklich um 7 Uhr unterhalb meines Fensters das Stromaggregat an, um den Rasentraktor aufzupumpen.

                          Ich packe. Als ich mit den Packtaschen die Treppe herunter gehe, steht im Unterschoß vor dem Kamin eine Dame mittleren Alters, die bei meinem Anblick routiniert lächelt und mit dem Arm nach links weist.
                          Ich vermute, dass sie nicht mich meint, sondern einen anderen Gast. Daher grüße ich freundlich und biege nach rechts ab, um mein Gepäck im Flur zu deponieren. Im Augenwinkel sehe ich, wie ihr Gesicht erstarrt und sie mit hilflosem Blick die Dame ein Rezeption anschaut. Ich schaue sie an und merke: Irgendetwas stimmt hier nicht.
                          Die Besetzung der Rezeption hat gewechselt. Diese Dame spricht Englisch. Ich frage sie und erfahre: Es gibt Frühstück!
                          Ich lächele die Frühstücksdame an und zeige die Treppe hoch und sie lächelt nun zurück. Sie hat verstanden. Ich hole die zweite Hälfte meines Gepäcks und lasse mich von ihr in den Frühstücksraum führen.








                          Welch ein Genuss. Ich esse langsam und freue mich wie ein Kind.

                          Als ich mich an der Rezeption verabschiede, bestätigt mir die Dame mit einem Seufzer, dass Frühstück in polnischen Hotels tatsächlich nicht die Regel ist. Aber dieses Hotel ist eben ein 3 Sterne Hotel.

                          Als ich die Außentreppe herunter gehe, hat ein Angestellter bereits mein Fahrrad vor gefahren. Ich belade mein Fahrrad und nehme Abschied.

                          Die Grundschule hat Pause und ich beobachte die Jungen beim Fußball spielen. Etwas abseits stehen die Mädchen, spielen Fangen und kichern.





                          Als die Lehrerin die Kinder ruft, können sich die Jungen nur mühsam von ihrem Fußball trennen. Immer wieder wird der Ball doch noch einmal gekickt. Erst als die Lehrerin laut schimpft, laufen auch sie zu ihrer Klasse.








                          Ich entscheide mich für eine Nebenstrecke, die ich meiner neuen Karte entnommen habe. Noch einmal fahre ich ein Stück der 296 und biege dann ab.





                          Sofort befinde ich mich in ländlicher Umgebung. Diese Straße ist nach meinem Geschmack.





                          Ein Traktor kommt von vorne und ich weiche aus. Die zahnlosen alten Männer winken mir zu und lachen. Arm, aber glücklich. Wieder denke ich: Polen ist wunderschön.

                          Streckenweise ist der Weg unbefahrbar,





                          aber ich genieße jeden Moment, es ist mein letzter Tag. Ein wunderschöner Wald schließt sich an, der Wind hat etwas abgenommen, ist aber noch spürbar.





                          Ich fahre langsam, trödele herum und kann mich nicht satt sehen. Der Wald ist menschenleer, nur der Wind ist zu hören, der die Baumwipfeln rauschen lässt.









                          Nach einiger Zeit sehe ich einen Holzlaster im Wald, den der Fahrer geschickt belädt. Ich mache eine ganze Fotoserie, bis mir endlich das richtige Bild gelingt.





                          Dann erreiche ich die nächste Ortschaft. Hier hat sich ein landwirtschaftlicher Betrieb angesiedelt, der viele Menschen beschäftigt. Dem Tor nach zu urteilen handelt es sich um eine Putenfarm.

                          In Godznica kaufe ich Brötchen und Kuchen und fotografiere das Schild, um zu wissen, was Brötchen heißt.





                          Der Ort hat eine freundliche Ausstrahlung und die Menschen sind gelöst und fröhlich. Es ist Markttag und viele Menschen erledigen ihre Einkäufe.








                          Der Wind fegt die Blätter über die Straße, es ist Herbst geworden.





                          Der Markt ist klein und das Warenangebot verlockend, aber ich habe zu wenig Platz auf dem Fahrrad.





                          Eine Frau schreit auf, da ihr Kinderwagen mitsamt dem Kind ein paar Meter weggeweht wurde. Eilig rennt sie ihm hinterher. Die Umstehenden lachen, aber es ist kein hämischen Lachen, sondern ein freundliches Lachen. Eine Frau setzt vor mir die schweren Taschen ab und lächelt mich an. Es ist zu windig für sie. Sie muss eine Pause machen.

                          Am Ortsausgang sehe ich das erste Mal Reste einer militärischen Anlage.





                          Wieder fahre ich durch den Wald. Es handelt sich um einen Sandweg, der sehr gut und vor allem breit ausgebaut ist. Ich überlege, ob hier früher russische Militärfahrzeuge ihren Einsatzbereich hatten.








                          Die Blätter färben sich bereits, der Sommer ist vorbei.





                          Eine kleine Ortschaft taucht auf, Polana.













                          Menschen sehe ich keine, aber eine alte Frau kommt mir auf dem Fahrrad von vorne entgegen, lacht mich an und winkt. Daher entscheide ich mich, auf dem gut ausgebauten Weg weiter zu fahren und zu schauen, ob es die Brücke, die in einigen Karten eingezeichnet ist, noch gibt. Ein einsames Haus steht am Wegesrand. Vielleicht idyllisch, vielleicht auch nicht.





                          Etwas später kommt mir ein Auto entgegen und ich hoffe, dass es vielleicht doch eine Brücke gibt. Dann bin ich wieder alleine und genieße die letzten Momente der Einsamkeit.














                          Ich esse meinen Kuchen.





                          Raupen kriechen über den Weg, doch ein gutes Foto glückt mir nicht. So fotografiere ich einen kleinen See.





                          Dann zeigt mir mein Navi, dass die Neiße nicht mehr weit ist. Langsam wird es spannend.





                          Ein Turm ragt in den Himmel – ein Überwachungsturm?





                          Da. Eine Schranke. Es ist nun fast genau 12.00 Uhr.





                          Auf der anderen Seite der Schranke sind Waldwege und gerade aus geht ein Pfad entlang. Ein Auto steht am Rande und ein Mann scheint etwas im Gras aus zu graben.





                          Dann stehe ich an der Grenze.





                          Auf der anderen Seite der Nyza Luzycka ist ein Rastplatz und ich vermute, er gehört zum Oder-Neiße Radweg.





                          Aber die Brücke fehlt.





                          Ich muss wieder zurück. Der Mann ist verschwunden, nur sein Auto steht noch da. Ich schaue mich suchend um und vielleicht bemerke ich daher auf der linken Seite die Bunkeranlage.





                          Ich schlage den Waldweg Nr. 3 ein, der laut Navi der Himmelsrichtung nach ungefähr in Richtung Piensk führt.

                          Er ist idyllisch.





                          Aber leider ist er auch unbefahrbar.





                          Ich bin inmitten einer sandigen Heidelandschaft und muss schieben. Es ist wieder warm geworden und ich schwitze. An einigen Stellen gehe ich zwischen den Bäumen durch, der Sand ist einfach zu tief. Auch die Motorfahrzeuge müssen Schwierigkeiten gehabt habe, es gibt Stellen, die sehen aus, als hätten sich einige festgefahren.

                          Rote Beeren leuchten am Rande, aber ich weiß nicht, was das ist.





                          Mitten im Wald stoße ich auf eine Gedenkstelle in Form eines Grabes.








                          Plötzlich sehe ich unvermittelt vor mir einen Wanderer. Instinktiv lasse ich mich zurückfallen, denn ich möchte gerne alleine bleiben.





                          Das will er auch, denn als der Weg besser wird und ich wieder radeln kann, verliert sich seine Spur im Wald.


                          Der Weg wird nun wieder besser und ich genieße die letzten Kilometer. Hier scheint einmal eine alte Straße gewesen zu sein.





                          Dann sehe ich zu meiner großen Verblüffung Radwegschilder. Ich befinde mich auf dem Biberradweg. Seit wann dies so ist, entzieht sich allerdings meiner Kenntnis.





                          Ein Stein steht am Wegesrand, aber ich kann die Inschrift nicht entziffern.





                          Dann geht es durch ein kleines Dorf





                          und ich stelle fest, dass ich in einem touristisch erschlossenen Gebiet bin. Die Grenzregion kommt mir immer merkwürdiger vor. Das hätte ich nicht erwartet.





                          Ein Hinweisschild weist auf eine Fähre für Fußgänger hin, aber ich schätze die Wahrscheinlichkeit gering ein, dass diese in der Nachsaison an einem Dienstag im September tatsächlich fährt. Dennoch fahre ich einen Schlenker in ihre Richtung, denn aus irgend einem Grund will ich das Betreten deutschen Bodens heraus zögern.








                          Hektor gibt alles.





                          Die Landschaft ist Bibergebiet und am Rande ist ein Rastplatz, der mit Hinweistafeln aufklärt. Das erste Mal seit dieser Woche werde ich mit den Überresten einer Wohlstandsgesellschaft konfrontiert: Müll.








                          Nun geht es noch einen letzten Waldweg entlang und ich ahne, was gleich kommen wird: Die Landstraße zur Grenze. Die Reise durch menschenleere Gebiete ist zu Ende.





                          Ich biege auf die 351 ein. An dem kleinen Fluss Bielawka rätsele ich, ob hier Biber zu Werke waren.





                          Ich halte an einem Sklep an, der der mäßig befahrenen Landstraße liegt und kaufe noch ein wenig Wurst, Frischkäse und Wasser für die nächsten Tage ein. Aber ich fühle mich hier nicht wohl und schließe mein Fahrrad ab. Die Dame hinter dem Tresen ist Russin und versteht mich kaum.
                          Dann erreiche ich Piensk.

                          Der Orteingang wirkt unansehnlich und nur wenige Menschen sind zu sehen. Sie huschen eilig ihrem Ziel zu. Das ist nicht das fröhliche, geschäftige Polen, das ich erlebt habe. Eine Plattenbausiedlung lässt mich frösteln und das erste Mal fühle ich mich in Polen nicht sicher.





                          Vor den Häusern steht eine Karte mit einem Stadtplan.





                          An dem auf meiner Karte ausgewiesene Grenzübergang steht ein Durchfahrt-Verboten-Schild. Ich denke an den Grundsatz: "Radfahrer können immer passieren" und biege in die Straße ein. Nur weg hier. Eine Frau kommt mir auf dem Fahrrad entgegen und sie erschrickt, als ich sie anspreche. Ich frage sie, ob ich auf dieser Straße mit dem Rad nach Deutschland fahren kann und sie nickt und weist in Richtung Grenze. Ich gebe Gas, denn gleich ist es Dreiviertel Vier.

                          Der Grenzpfeiler zeigt sich





                          und ich fotografiere meine Uhr. Letzten Dienstag bin ich um 14.46 Uhr in Stettin angekommen und nun verlasse ich Polen am Dienstag, um 14.45 Uhr

                          Die Brücke ist neu.








                          Die Neiße hat eine schmutzige braune Farbe.








                          Dann steht der deutsche Grenzpfosten vor mir.





                          Ich bin wieder in Deutschland. Ein Schild weist darauf hin, dass der östlichste Punkt Deutschlands 6 km weit entfernt ist.





                          Auf der deutschen Seite begrüßen mich Rasenmähergeräusche. Auch in Polen hat mich dieses Geräusch immer wieder begleitet. Hier scheinen sich Deutsche und Polen sehr ähnlich zu sein.
                          Auf der linken Seite hat ein Eisenbahnfreund sein Häuschen.





                          Da ich keine deutsche Karte habe, bin ich orientierungslos. Und da ich auch ein wenig traurig bin und mich so gar nicht auf deutsche Landstraßen freue, biege ich gleich links in den Uferweg ein.
                          Der asphaltierte Weg geht gleich darauf in einen Feldweg über. Ich freue mich, ihn zu fahren, denn er mutet so polnisch an. Nur die Brennnesseln, die aus dem Maisfeld ragen, stören ein wenig.
                          Der Weg endet an einem Rastplatz. Begrenzt wird der Rastplatz durch einen Hügel, an dem einen Fußpfad zu sehen ist. Ich gehe den Weg hoch und sehe ein großes, langgestrecktes Feld, hinter dem sich die Landstraße nach Görlitz befindet.
                          Ich bin ratlos. Dann fällt mir ein, dass ich ja wieder Schilder lesen kann und schaue mir das Schild auf dem Rastplatz genauer an. Es ist ein Verbotsschild, auf dem steht: "Befahren der Motorcross-Strecke für Unbefugte verboten."

                          Na toll. Das bedeutet, ich muss zurück. Darauf habe ich allerdings keine Lust und so schiebe ich zurück zu dem Maisfeld und biege links ab. Tatsächlich ist dort ein Weg. Er ist allerdings sehr sandig und von Reifenspuren aufgeraut. Ich schiebe mein Fahrrad durch ein kleines Wäldchen und stehe vor einem sandigen Abhang.





                          Da komme ich nicht hoch. Ich lade ab und rutsche immer wieder ab, als ich die schweren Packtaschen den Abhang hoch wuchte. Als ich oben ankomme sehe ich - - - das Feld. Ich bin drei Meter von dem Hügel am Ende des Rastplatzes entfernt. Es ist ein Rundkurs.

                          Dass ich durch den Transport den Deckel des Joghurts in der Fronttasche mit meinem Multitool zerstöre, sehe ich erfreulicherweise erst den nächsten Morgen.

                          Ich entscheide mich, das Feld zu queren. Hinter dem Feld fahren Radfahrer und ich vermute, dass sich neben der Landstraße der Oder-Neiße Radweg befindet. Vorsichtig betrete ich das Feld und schiebe auf den deutlich sichtbaren Traktorspuren mein Fahrrad über das Feld, um keine Pflanzen zu zertreten.

                          Auf dem Oder-Neiße Radweg, der kurz darauf die Landstraße verlässt, fahre ich Richtung Görlitz. Fernradler im Rentenalter und mit Helm begegnen mir, die überforderte Gattin im Schlepptau. Mir fällt auf, dass ich in Polen nie gemustert wurde.

                          Schöne Häuser, Gärten und Bäume säumen den Straßenrand. Frauen schieben Kinderwagen vor sich und eine Polizistin lehrt Kinder einer Grundschule Verkehrserziehung. Ich stelle fest, dass der Unterschied zu den Dörfern in Lubuskie geringer ist als gedacht. Wenn da nicht die zahlreichen Lokale, Restaurants und kleinen Hotels wären, die in den polnischen Ortschaften eine Seltenheit waren. Wer den Oder-Neiße Radweg fährt, muss hier nicht planen, warten, suchen und verzichten. Für jedes Bedürfnis gibt es das entsprechende Angebot, das nötige Kleingeld natürlich vorausgesetzt.


                          Dann sehe ich Felder und muss unwillkürlich an die Arte-Sendung karambolage denken: Stammt dieses Bild aus Polen (Original: Frankreich) oder aus Deutschland. Finden Sie das Indiz, denn es gibt eins.





                          Richtig. Wir befinden uns in Deutschland. Die Windräder sind das Indiz.

                          Ich verlasse den Radweg und fahre auf direktem Weg nach Görlitz weiter. An einer Straße ist eine Baustelle, aber da die Baustelle in Deutschland ist, ist der Verkehr natürlich perfekt geregelt. Die Baustelle für über eine Brücke und bietet einen wunderbaren Ausblick auf Deutschland und Polen zugleich.





                          Mit Nachfragen finde ich den Weg in die Innenstadt und lasse es mir gut gehen.





                          Meine Reise ist zu Ende. Laut Navi bin ich 591 km gefahren, davon 580 km in Polen.

                          Am Abend genieße ich das Beisammensein mit Freunden, die ich seit fast 10 Jahren nicht mehr gesehen habe. Ich erfahre von polnischen Autodiebstählen (mein Kollege sagt später: Das sind die Russen!), von sehr gut ausgebildeten polnischen Grundschullehrern und von Görlitzern, die noch nie im Leben ihren Fuß über die Grenze in der Nähe der Innenstadt gesetzt haben.

                          Am nächsten Tag schaue ich mir Görlitz an, besorge mir Tageslinsen für das rechte Auge und erstehe einen Aufkleber „wagabunda“ für mein Fahrrad. Den Tag darauf fahre ich mit dem Zug über Dresden, Leipzig und Halle zur ODS Mitgliederversammlung nach Witzenhausen zur Burg Ludwigstein.

                          Zurück in meiner Heimatstadt dauert es mehr als eine Woche, bis ich meine Eingewöhnungsschwierigkeiten überwunden habe. Ich werde drei Mal fast von Fahrradfahrern angefahren, die sämtliche Verkehrsregeln außer Kraft gesetzt haben und mich beschimpfen. Ich flüchte vor Schulklassen auf Klassenfahrt, deren Verständnis von einem Miteinander ist, sich zu hänseln, zu veräppeln, zu prügeln und an den Kleidern zu ziehen. Ich registriere, wie viele Menschen hyperaktiv sind und sich ohne Dauerbeschäftigung tödlich langweilen. Ich flüchte vom Kiez, wo Zuhälter, Schüler, Jugendliche, Fußballfans, Geschäftsleute, Intellektuelle, Touristen und Penner durch protzige Autos, auffallende (und aufreizende) Kleidung, Alkoholkonsum, Gedankenlosigkeit, Gegröle, Hysterie, Coolness und Sensationslust aus der Masse der Menschen hervortreten wollen.

                          Und ich frage mich: Wo ist unser Lachen geblieben?! Und wo ist unsere Würde geblieben?!


                          Habe ich schon erwähnt, dass Polen ein wunderbares Land ist?
                          Zuletzt geändert von Torres; 29.09.2011, 20:04.
                          Oha.
                          (Norddeutsche Panikattacke)

                          Kommentar


                          • Cervantes
                            Dauerbesucher
                            • 26.10.2009
                            • 502
                            • Privat

                            • Meine Reisen

                            #14
                            AW: [PL] Polen von seiner schönsten Seite: Radtour Lubuskie

                            Habe ich schon erwähnt, dass dies ein wunderschöner Bericht ist?
                            Du bringst einem das Land und vor allem die Menschen
                            des Landes näher. Vielen Dank!
                            Macht Lust (mal wieder) nach Polen zu fahren.

                            Müßiggang ist besser, als gar nichts zu tun.

                            Kommentar


                            • Torres
                              Freak

                              Liebt das Forum
                              • 16.08.2008
                              • 30593
                              • Privat

                              • Meine Reisen

                              #15
                              AW: [PL] Polen von seiner schönsten Seite: Radtour Lubuskie

                              Danke schön, Cervantes.

                              Danke auch für die anderen Kommentare. Ich wollte den Bericht möglichst zusammen hängend schreiben und habe daher nicht auf alle Beiträge reagiert.
                              Oha.
                              (Norddeutsche Panikattacke)

                              Kommentar


                              • lina
                                Freak

                                Vorstand
                                Liebt das Forum
                                • 12.07.2008
                                • 42853
                                • Privat

                                • Meine Reisen

                                #16
                                AW: [PL] Polen von seiner schönsten Seite: Radtour Lubuskie

                                Jau, superklasse, es war mir völlig unmöglich, vor Ende des Reiseberichts den Platz vor'm Rechner zu verlassen Vielen Dank!!

                                Kommentar


                                • Atze1407
                                  Fuchs
                                  • 02.07.2009
                                  • 2425
                                  • Privat

                                  • Meine Reisen

                                  #17
                                  AW: [PL] Polen von seiner schönsten Seite: Radtour Lubuskie

                                  Oh ja Torres, an manchen Stellen habe ich richtig mitgefühlt, wie Du innerlich auf so einige Wege der Strecke geflucht und gelitten hast.
                                  Eine schöne Tour, ein guter Reisebericht und Fotos.

                                  Danke.

                                  LG
                                  Atze1407
                                  Wenn du den Charakter eines Menschen kennenlernen willst, gib ihm Macht.
                                  Abraham Lincoln

                                  Kommentar


                                  • lina
                                    Freak

                                    Vorstand
                                    Liebt das Forum
                                    • 12.07.2008
                                    • 42853
                                    • Privat

                                    • Meine Reisen

                                    #18
                                    AW: [PL] Polen von seiner schönsten Seite: Radtour Lubuskie

                                    Die roten Beeren sehen nach Preißelbeeren aus.
                                    In ihrer zubereiteten Form wird sie hierzulande meistens in Form eines roten Marmelade-Kleckses in einer halbierten Dosenbirne, serviert zu Wildfleischgerichten, diskriminiert ...
                                    Falsch ist außerdem, dass die Preißn durch diese Beere zu ihrem Namen kamen.

                                    Kommentar


                                    • HUIHUI
                                      Fuchs
                                      • 07.08.2009
                                      • 2140
                                      • Privat

                                      • Meine Reisen

                                      #19
                                      AW: [PL] Polen von seiner schönsten Seite: Radtour Lubuskie

                                      Schöner Bericht. In deiner Etappe um die ehemalige Grenzstadt Tirschtiegel konnte ich praktisch jedes Bild sofort zuordnen, die Ecke ist wirklich sehr schön.
                                      Ich bin ziemlich einfach. Ich trinke guten Wein, das ist konzentrierter Sonnenschein.

                                      Kommentar


                                      • luvohh
                                        Gerne im Forum
                                        • 13.03.2008
                                        • 98
                                        • Privat

                                        • Meine Reisen

                                        #20
                                        AW: [PL] Polen von seiner schönsten Seite: Radtour Lubuskie

                                        Zitat von Torres Beitrag anzeigen
                                        Ich wollte den Bericht möglichst zusammen hängend schreiben und habe daher nicht auf alle Beiträge reagiert.
                                        Moin Torres,

                                        das kann ich gut verstehen. Aber wir wollten dich nicht stören, nur motivieren.
                                        Ich jedenfalls war sehr neugierig. Seit ich im letzten Jahr zum ersten Mal kurz nach Polen reingeschnuppert habe, bin ich von dem Land auch ganz angetan.
                                        Von mir aus hättest du gern noch länger bleiben können :-)

                                        Gruß
                                        Luvo

                                        Kommentar

                                        Lädt...
                                        X