[F] Speed Hiking - Korsika Oktober 2009 – Teil 1

Einklappen

Ankündigung

Einklappen
Keine Ankündigung bisher.
X
 
  • Filter
  • Zeit
  • Anzeigen
Alles löschen
neue Beiträge

  • tah

    Erfahren
    • 25.01.2009
    • 305
    • Privat

    • Meine Reisen

    [F] Speed Hiking - Korsika Oktober 2009 – Teil 1

    Tourentyp
    Lat
    Lon
    Mitreisende
    Land: Frankreich, Korsika
    Reisezeit: 14.10. - 24.10.2009
    Region/Kontinent: Südeuropa

    TEIL 1

    Prolog

    Es ist spät abends. Das Feuer im Kamin ist fast erloschen. Meine Familie schläft bereits und ich starre in die Glut. Ruhe liegt über der Nacht. Dunkelrot glimmt das verbrannte Holz und die Erinnerung setzt langsam ein. Bilder. Geräusche. Sonne. Blau. Unendlich tiefes Blau.



    Es hat lange gedauert, bis ich mich diesmal auf meine Gefühle eingelassen habe. Etwas Unerhörtes war geschehen und ich bin immer noch aufgewühlt, wenn ich zurückblicke. Es sind nicht so sehr die Erlebnisse, es ist viel mehr die Intensität dieses einen Augenblicks. Es ist die fast banale Beiläufigkeit die zu diesem entscheidenden Moment führte, der Moment selbst und wie sich danach doch alles in einen Sinn fügte.

    Wind, Schweiß, der erste Schnee, das Knirschen der Stiefel im Schnee.

    Ich starre in die Glut.

    Selten ergibt sich die Gelegenheit in einem Jahr, in welchem man eine Bergtour unverrichteter Dinge abbrechen musste, diese doch noch einmal gehen zu können. Normalerweise verhindert allein der übliche Lauf der Dinge die Möglichkeit einer zweiten Chance. Auch die bildhaft ausgemalte Vorstellung, ein Stück des anstrengenden Weges nach so kurzer Zeit noch einmal in allen Einzelheiten gehen zu müssen, ist wenig Ansporn, sich in dieser Angelegenheit stärker zu engagieren. Und natürlich hat sich auch der Gram um die kleine Schmach irgendwo eingenistet und versperrt den völlig unbeschwerten Blick. Am besten ist es also, so oder so, die frischen Geschichten etwas ruhen zu lassen, bis die Sehnsucht beginnt, sie wieder von allein heraus zu kramen.

    Ungünstige Bedingungen führten dazu, dass meine Familie den Urlaub dieses Jahr zwar zusammen aber doch getrennt verbringen musste. Mich behinderte ein völlig verhageltes Projekt, meine Familie der sich stetig steigernde Regen am Bodensee.

    Auf die Sonne sehnsüchtig wartend bemühte sich meine Frau die meiste Zeit Regenvarianten auszudenken, während ich im klammen Zelt hockte und mit einer merkwürdigen Anwandlung von Perfektion einen nicht zu rettenden Bericht verfasste. Als sich innerhalb von zwei Wochen das Wetter immer weiter verschlechterte und die Kinder begannen ihr Heimweh lautstark zu äußern, packten wir eines Morgens kommentarlos unsere Sachen wieder ein und fuhren zurück. Einfach so. Es beschwerte sich auch niemand. Zehn Minuten nach unserer Ankunft war der Rest des Urlaubs gerettet.

    Der Sommer verging und etwas fehlte. Eine alte Unruhe trieb mich ab und an hinaus in den Wald, ohne dass mir bewusst wurde, was ich suchte. Sehnsucht legte sich mit den langsam kürzer und kälter werdenden Tagen wie Herbstnebel auf mich. Mit der aufgehenden Sonne verflüchtigten sich normalerweise die Gespinste, bis eines kühlen Morgens der Nebel nicht mehr weichen wollte. Dicht eingepackt lag die Stadt lautlos um mich herum. Der Nebel trennte mich von der Stadt und diese von mir. Es fehlte mir der freie Blick.

    Ich verspürte die Erleichterung der Anderen, als ich mich endlich getraute, diese winzige Bitte vorzubringen. Ich muss noch einmal los.

    14.10.2009 – Ein entspannter Fehlstart
    Arbeit bis zu letzten Minute. Am Abend vor dem Aufbruch komme ich erst ab zehn Uhr dazu, die Ausrüstung und Vorräte zu verpacken.

    Drei Uhr morgens Autobahn. Fünf Uhr Start im Flieger. Schlaf. Sieben Uhr Landung. Es wird gerade hell, als ich als einer der Letzten das Flughafenterminal in Bastia verlasse. Mein Gepäck kam und kam nicht. Eigentlich hatte ich geplant mit einem Taxi direkt nach Casamozza zu fahren, um den einzigen in dieser Jahreszeit noch fahrenden Hochlandbus zu erreichen. Da es nunmehr doch nicht mehr sicher ist, dass ich diesen Bus rechtzeitig erreichen kann, vereinbare ich mit dem Taxifahrer zuerst in Casamozza nach dem Bus zu sehen, um mich im Fall der Fälle bis nach Ponte Lecchia fahren zu lassen. Von dort aus könnte ich notfalls mit dem Zug nach Vizzavona weiterreisen.


    2009-10-14, Panorama auf der Pionte Muratello

    In Casamozza, einem recht überschaubaren Dorf entlang der Straße nach Ponte Lecchia, liegt der Bushalteplatz im Licht der aufgehenden Sonne verlassen da. Kein Mensch weit und breit. Wir haben den Bus um drei Minuten verpasst. Claude der Taxifahrer schlägt mir vor, den Bus mit etwas forscherer Fahrweise einzuholen. Er meint, das könne nicht lange dauern. Als wir mit der Aufholjagd beginnen, hat der Bus, der Zeit nach zu urteilen, etwa fünf Kilometer Vorsprung. Claude setzt alles daran sein Versprechen einzulösen. Selbst für korsische Verhältnisse fährt er schnell. Sehr schnell. Etwas fatalistisch schaue ich in mich hinein.

    Rasend schnell zieht die herbstliche Landschaft an uns vorbei. Am Horizont ist ein Bus auszumachen. Auf den Bergen liegt noch kein Schnee. Das Taxi prescht an langen Baufahrzeugen vorbei, überholt in engen Kurven Traktoren, liefert sich mit langsamen Kleintransportern Hupkonzerte. Die Flüsse und Bäche sind fast alle ausgetrocknet. Auf den Geraden fährt das Taxi in Fahrbahnmitte, rechts und links wild überholend. Die Maronen sind reif und hängen in hellen, grün stacheligen Büscheln in den Bäumen. Ein Pferdegespann biegt unendlich langsam auf die Straße. Pilze wachsen am Straßenrand. Das Taxi wird hin und her geschleudert. Schwarz-braun seidig glänzendes Fell. Das Taxi rutscht durch eine enge Kurve. Taunass glänzende Mauersteine an einer alten Brücke. Der Bus ist nur ein halbvoll besetzter Reisebus.


    2009-10-14, Weg zu den Cascade des Anglais

    Nach verblüffend kurzer Zeit stehe ich mitten in Ponte Lecchia an der am Kreisverkehr zentral gelegenen Tankstelle, welche zugleich als „Busbahnhof“ fungiert. Der Spaß hat achtzig Euro gekostet, meine Reisekasse ist geplündert. Ich betrete den kleinen Laden der Tankstelle. Der Tankwart meint, den Bus noch nicht gesehen zu haben, aber könne sich auch irren. Eine Gaskartusche gibt es bei ihm nicht zu kaufen. Auch der kleine Laden fünfzig Meter in Richtung Corte hat diese bereits aus dem Sortiment genommen. Im Supermarkt in Richtung Calvi das gleiche Bild.

    Zum Ende der Nachsaison hat die Bahngesellschaft CNCF mit der seit Jahren geplanten Erneuerung der Bahngleise zwischen Ponte Lecchia und Ajaccio begonnen, um ab dem kommenden Jahr auch auf diesem Streckenabschnitt neue und schnellere Züge einsetzen zu können. Stromlinienförmige, weiß lackierte, kleine Schmalspur-TGVs sollen dann der wild schönen Insel einen weiteren Anstrich von Zivilisation geben. Ich stelle mir das Ergebnis so vor, als würde man einem alten korsischen, zerfurchten und mit einer aus der Mode gekommenen Hornbrille versehenen Gesicht eine neue Designerbrille aufsetzen. Dieses neue Gesicht wird bestimmt interessant und modern aussehen, eben wie aus unserer heutigen Zeit, aber auch einen Teil seiner charmanten Vergangenheit verloren haben. Und damit wird wieder ein Stück meiner Welt verschwinden.

    Ersatzweise ist eine Busverbindung eingerichtet worden.
    Da der nächste Bus erst gegen Mittag erwartet wird, schlendere ich zur Tankstelle zurück. Vielleicht nimmt mich ja jemand früher mit. An der Tankstelle steht ein kleiner weißer Bus. Ich renne. Gerade als er abfahren will, kann ich noch an eine der hinteren Scheiben klopfen. Es ist der Hochlandbus. Geduldig wartet der Fahrer und verstaut mein Gepäck, während ich ihm die Geschichte mit dem Taxi erzähle. Tja, er habe heute leider dreißig Minuten Verspätung, meint darauf der Fahrer mit einem breiten Grinsen. Aber die könne er wieder aufholen, wenn ich es eilig hätte. Es würde ihm auch keine Mühe vielmehr eine Freude bereiten, mich pünktlich ans Ziel zu bringen. Generös erwidere ich, dass ich gerade jetzt wieder alle Zeit der Welt gefunden hätte. Ich bin der einzige Fahrgast.

    Die Fahrt in einem korsischen Überlandbus ist überraschend interessant. Neben dem Transport von Fahrgästen erfüllt er scheinbar noch eine Vielzahl anderer Funktionen. In kleineren Dörfern warten manchmal ältere Frauen an der Bushaltestelle, steigen aber nicht zu, bekommen stattdessen gegen Quittung Bargeld wie bei einer mobilen Sparkasse ausgezahlt. In Corte werden mehrere Frachtstücke aus- und zugeladen. In Vivario wird Post ausgetauscht. Ich als Fahrgast bin für den Fahrer nur eine kleine, willkommene Abwechslung außerhalb der Saison.

    Mitten in den Bergen, in der Nähe einer der um die vorletzte Jahrhundertwende oberhalb von Vizzavona erbauten Villen, steige ich aus und begebe mich als erstes zum im Tal liegenden Bahnhof. Die Zeiten, als dieser Ort noch ein beliebter und mondäner Ferienort gewesen war, liegen bereits lange zurück. Nach kurzer Blüte ist dieser Ort vor etwa sechzig Jahren wieder eingeschlafen. Seither versinken die alten Prachtbauten Jahr für Jahr tiefer im wieder heranrückenden Wald oder beginnen zu verfallen. Die Köcher zum Aufnehmen der Wappenflaggen rosten vor sich hin. Die Fenster sind blind, Farbe blättert ab. Vor meinen Augen ziehen die fünfziger Jahre in schwarz-weiß vorbei.

    Den Weg hier hinunter ins Tal hätte ich mir ersparen können. Die Station, die Refuge und das Hotel sind geschlossen, weil einerseits die Saison bereits vorbei und andererseits der Bahnbetrieb wegen der Gleisbauarbeiten eingestellt worden ist. Lebensmittel und Gas sind auch hier nicht mehr zu bekommen. Ich werde die Tour demnach ohne Gaskartuschen beginnen. Auf den Hütten wird sich schon etwas finden. Manchmal werden dort halbvolle Kartuschen von Wanderern zurückgelassen.

    Es ist kurz vor elf Uhr, als ich mich auf den Weg begebe. Die Sonne scheint, ein leicht kühler Wind streicht von den Bergen herab. Still liegt der Wald vor mir. Ich breite die Arme aus und umarme die Welt. Im lichtdurchfluteten Dom der Bäume steige ich bergan. Nach etwa einer Stunde erreiche ich die Cascade des Anglais.


    2009-10-14, Cascade des Anglais, oberer Teil

    Unfassbar diese Stille, in welcher nur das Plätschern des Wassers zu hören ist. Schon als Junge konnte ich stundenlang am Ufer sitzend, die Zeit vergessen und dem unbändigen Murmeln lauschen. Im Dunkeln kehrte ich dann glücklich zu meinen erschreckten, mich suchenden Eltern zurück. Die Ängste nicht verstehend, die Belehrungen überhörend, das Abendbrot verschmähend wollte ich dann nur noch eins, in meinem Bett liegend dem Klang des Wassers nachlauschen. Wasser. Es zwingt mir seinen Rhythmus auf, ordnet meine Gedanken, reinigt mich.

    Ich fülle meine Flaschen, kann nicht widerstehen, raste und lasse die Hände durch das Wasser gleiten. Es tastet nach mir. Paralysiert meine Gedanken. Bindet mich am Ufer fest. Das Ziel deiner Reise ist erreicht, flüstert es mir zu. Inzwischen bin ich alt genug den Zauber zu brechen.

    Mit jedem Meter, welchen ich an Höhe gewinne, schneidet sich der Bach l‘Agnone tiefer in das Gestein ein. Auf dem Hochplateau angekommen durchzieht er in steilen, engen Kehren die Felsen. Einige kleine Wasserfälle säumen seinen Weg. Der Hochwald weicht zurück und macht Platz für die niedrige Macchia. In Serpentinen windet sich der Weg hinauf zum höchsten Punkt dieser Tour, zur Pionte Muratello.


    2009-10-14, Aufstieg zur Pionte Muratello

    Auf halber Höhe des letzten Anstiegs auf etwa eintausendneunhundert Metern scheuche ich Unmengen von Krähen auf. Immer wieder fliegen sie in einem riesigen Schwarm eine nicht einsehbare Stelle hinter mehreren großen Felsblöcken an. Sie landen, wenn ich mich entferne und nach jeder Kehre stieben sie wieder davon. Eine abstruse Choreografie. Hinter den Felsen wird vermutlich ein verendetes Tier liegen, welchem ihr Interesse dient. Zwei Raubvögel kreisen in großer Höhe über dem Tal.


    2009-10-14, kurz vor der Pionte Muratello

    Auf der Pionte Muratello angekommen zieht ein eiskalter Wind aus Norden über den Kamm hinweg. Zum ersten Mal an diesem Tag muss ich mir eine dünne Fleecejacke überziehen. Aber es ist immer noch ein traumhaft schönes Wetter. Große Wolkenberge werfen in schneller Folge ihre Schatten und treiben ein wildes Spiel mit der Sonne. Der Nachmittag hat begonnen.

    Soweit ich sehen kann, sind die vor mir liegenden Berge entlang der nächsten Streckenabschnitte noch vollkommen schneefrei. Von rechts stößt die alpine Variante dieser Tour, welche in einem weitläufigen Bogen über den Monte d’Oro verläuft, mit dem von mir begangenen Weg zusammen. Aufgrund der anstrengenden letzten Tage und er fast schlaflos verbrachten Nacht habe ich mir dieses kleine Extra diesmal doch nicht gegönnt. Hier an dieser Stelle, nach knapp neun Kilometern, liegen bereits etwas mehr als eintausenddreihundert Meter Aufstieg hinter mir und noch einmal knapp siebenhundert Meter Abstieg vor mir.

    Von hier oben kann ich die tief unter mir liegende Refuge de l’Onda bereits als kleinen Punkt erkennen. An der noch tiefer gelegenen Bergeries de l’Onda treiben Schäfer mit lauten Rufen und mit Hilfe von Hunden ihre Tiere zusammen. Der Abtrieb hat jetzt auch schon auf den niedriger gelegenen Weideplätzen begonnen und so werden sie die Tiere noch heute ins Tal zu ihrem Winterquartier bei Canaglia führen.

    Zu Beginn des Abstiegs entdecke ich noch die kleine Plakette zu Gedenken von Jean Pierre Etienne, welcher an dieser Stelle im April 2003 bei einer Winterbegehung zusammen mit seinem Hund spurlos verschwand. Der Text gibt mir mehr Rätsel auf, als dass er Fragen beantwortet. In der heutigen Zeit einfach für immer zu verschwinden, grenzt fast an ein Mysterium.


    2009-10-14, Gedenkplakette für Jean Pierre Etienne

    Der Weg hinunter zur Refuge de l’Onda zieht sich über einen platten Kamm mit allerlei Geröll, ist aber schnell und relativ bequem zu gehen. Um zur Hütte zu kommen, führt der Weg noch ein Stück weiter bergab an ihr vorbei, um mit einer anschließenden Kehre wieder zu ihr zurück zu führen. Als ich mich direkt oberhalb der Hütte befinde, sehe ich, dass Rauch aus dem Schornstein aufsteigt. Bis jetzt war ich allein, heute Abend aber werde ich Gesellschaft haben. Auch gut.


    2009-10-14, Abstieg zur Refuge de l’Onda

    In der Nähe der Hütte ist für mein Zelt kein Platz mehr zu finden. Die einzigen freien Stellen sind mit Baumaterial belegt, mit welchem die Hütte winterfest gemacht werden soll. An anderen Stellen türmen sich die Reste des Jahres zu hohen Bergen auf. Metallene Hügel aus mit rotem Band verschnürten blauen Gasflaschen, riesige, randvoll mit Müll gefüllte weiße Säcke aus verstärktem Polyamidfasergewebe, graue Stapel verschlissener Matratzen. Ich müsste bis zur Bergeries de l’Onda absteigen, um einen ebenen Platz finden zu können.

    Ich stoße die Tür zur Hütte auf und das vielfältige Gemurmel von etwa zwanzig Wanderern erstirbt mit einem Schlag. Neugierig mustern sie mich, den Neuen. Ich grüße und sofort setzt das Gemurmel wieder ein. Französisch, Spanisch, Englisch, verschiedene Dialekte. Ich bin erleichtert, dass die Menge mich augenscheinlich ignoriert.

    Obgleich sich in verschiedenen Sprachen unterhaltend, scheint sich die Menge zu kennen. Es scheinen ausschließlich Bergführer zu sein, welche in dieser Hütte zum letzten Mal in diesem Jahr zusammenkommen, ihren Abschied feiern und am nächsten Tag zu ihrer letzten Tour aufbrechen werden.

    Ich setze mich in die äußerste Ecke des Gemeinschaftsraumes und studiere meine aktuellen Wetterkarten. Auf den Bildern kann ich erkennen, dass das über den Alpen stehende Tiefdruckgebiet in den nächsten Tagen langsam nach Süden abgedrängt werden wird. Nachdem in den letzten Tagen in den Alpen bereits der erste Schnee gefallen ist, wird dieses Wetter voraussichtlich auch hier Auswirkungen haben. Und vermutlich wird sich dieses Wetter einmal im Uhrzeigersinn um die Insel drehen, bevor es von einem aus Südwest nachdrängenden Hochdruckgebiet wieder nach Norden verschoben werden wird.

    Eine junge Frau gesellt sich zu mir. Anna-Maria aus Brüssel, Bergführerin, genannt Maria. Tiefblaue Augen, strahlendes Lächeln, aschblondes Haar. Sie hat ein klassisch geradlinig, schönes Gesicht. Wenn ich verlegen bin, schaue ich meinem Gegenüber über die Gläser meiner Brille hinweg direkt ins Gesicht. Das wird mir meist als interessierte Aufmerksamkeit ausgelegt, hilft mir aber dabei, nicht zu viel zu erkennen.

    Sie fragt mich in fünf verschiedenen Sprachen und ohne eine Antwort abzuwarten, woher ich komme. Ich kann erst einmal gar nicht antworten. Ihre Augen. Sie fragt mich auf Englisch, ob ich wirklich keine dieser Sprachen, Französisch, Spanisch, Italienisch, Englisch oder Deutsch verstehen würde. Diese Augen. Ich antworte ihr auf Englisch, ich wäre noch am Überlegen, in welcher Sprache ich ihr am besten antworten könne.

    Sie lacht, überlegt kurz, erkennt meinen Akzent und antwortet fast akzentfrei in Deutsch, dass sie schon so lange kein Deutsch mehr gesprochen hätte und sich deshalb riesig freuen würde, es wieder einmal auszuprobieren. Sie beginnt den Osterspaziergang zu rezitieren, „ Vom Eise befreit sind Strom und Bäche …“. Mir wird bewusst, dass die anderen Bergführer ob der deutschen Sprache jetzt mit einem Mal zu uns herüber sehen. Auch ihnen schenke ich einen Blick über meine Brille hinweg und dazu ein verlegenes Lächeln.

    Maria studiert interessiert meine Wetterkarten und meint lakonisch, dass das Wetter sich halt immer mal wieder ändern würde. Und mit ihrem bezaubernden Lächeln meint sie zu mir, ich würde die Sache etwas zu Deutsch angehen. Recht hat sie ja, ich bin eben ein alter deutscher Angsthase. Da außer mir und Maria keiner Deutsch spricht, schlage ich vor, bei Englisch zu bleiben.

    Beiläufig erfahre ich, dass sie sich heute mit ihrem Freund und weiteren Freunden, alles Bergführer, hier auf der Hütte zum gemeinsamen Saisonabschluss getroffen habe. Einige von ihnen würden ab morgen ein kleines, entspanntes Speed-Hiking in Richtung Norden veranstalten wollen.

    Von diesen Events am Ende einer Saison auf Korsika habe ich schon früher einmal eher zufällig im Internet gelesen. Die Regeln sind denkbar einfach. Es werden nur die Start- und die Ankunftszeit vermerkt. Die Route, die Ausrüstung, die Pausen und eben das ganze Drumherum sind unwichtig. Es zählt nur die Gesamtzeit zwischen zwei Etappen. Dadurch, dass bei gutem Wetter normalerweise ein recht hohes Tempo gegangen wird, versuchen die Teilnehmer meistens noch eine zweite Etappe, ein sogenanntes Double, dranzuhängen. Auch bei einem Double gelten die gleichen Regeln, wichtig ist nur die Gesamtzeit jeder einzelnen Etappe. Wer allerdings am Endziel als Erster ankommt, erhält einen Punkt extra, womit die Doubles für die Gesamtwertung dann doch eine gewisse Bedeutung erlangen.

    Für mich persönlich sind diese Speed-Hiking-Events eher nichts. Einerseits bin ich schon etwas zu alt, um dauerhaft ein so hohes Tempo gehen zu können. Andererseits versuche ich meistens autonom, also ohne Benutzung von Hütten, unterwegs zu sein, und habe deshalb besonders bei Solotouren entsprechend viel Equipment dabei. Auf dieser Tour beträgt das Anfangsgewicht meines Rucksacks ziemlich genau sechzehn Kilogramm und ist damit etwa vier bis sechs Kilogramm schwerer als das der Bergführer. Dankend lehne ich die Einladung, mich an dem Event zu beteiligen, ab.

    Bei der Vorbereitung zum gemeinsamen Abendbrot lerne ich nach und nach die anderen Bergführer kennen. Die meisten von ihnen sind Franzosen und leben auf Korsika, wenngleich kein einziger Korse unter ihnen ist. Vier stammen aus Spanien. Eigentlich sind es sechs, aber zwei von ihnen bestehen darauf, dass sie Basken und keine Spanier sind. Die Gruppe komplettieren zwei Iren und ein Brite. Bis auf zwei fast sechzigjährige Ausnahmen sind die meisten von ihnen in den Zwanzigern oder Anfang der Dreißiger und somit deutlich jünger als ich.

    Neben der heiteren, gelösten Stimmung fällt mir besonders auf, dass sehr aufwändig gekocht wird. In den Rucksäcken der Bergführer scheinen sich fast nur Lebensmittel zu befinden. Ich bin der Einzige, der Instant-Nahrung mit sich führt.

    Da ich in der letzten Nacht fast gar nicht geschlafen habe und die Feier sich noch eine ganze Weile hinziehen wird, verabschiede ich mich als Erster zum Schlafen. Trotz oder gerade wegen der netten Gesellschaft habe ich den festen Vorsatz, am nächsten Morgen als Letzter aufzustehen und die ganze Gruppe vor mir aufbrechen zu lassen. Ihr Vorhaben ist nicht ganz das, was ich mir vorgestellt habe, als ich mich nach langem Ringen zur Wiederholung meiner gescheiterten Frühjahrstour entschlossen habe.

    Kurz vor dem Einschlafen, beim Nachsinnen über den vergangenen Tag, bemerke ich deutlich, dass sich ein Teil von mir zu dieser Gruppe hingezogen fühlt. Eine Solotour bedeutet ja immer auch ein etwas höheres Risiko im Falle von Verletzungen. Und so gerate ich regelmäßig mit mir in Konflikt, wenn es die Möglichkeit gibt, sich für einige Zeit an eine nette Gruppe anhängen zu können. Aber ausgerechnet Speed-Hiking. Ausgeschlossen. Mein Entschluss steht fest.


    2009-10-14, Etappenprofil, Länge 11,3 km, Aufstieg _.___ m, Abstieg ___ m


    15.10.2009 – Über den Berg
    Am nächsten Morgen, noch bevor es hell wird, klappern mich im Schein ihrer Kopflampen die Bergführer beim Verpacken ihrer Ausrüstung wach. Ich bin wohlig ausgeruht, lasse die Augen geschlossen und dämmere noch eine Weile vor mich hin. Nach einiger Zeit verebbt das Klappern und in der Hütte ist es wieder angenehm still. Als ich meine Augen in der fahlen Dämmerung öffne, ist das Erste, was mir auffällt, dass mein Atem als weißer Rauch in die kalte Hüttenluft steigt. In der Nacht muss es einen Temperatursturz gegeben haben. Ein Blick aus dem Fenster zeigt mir leicht verschneite Berge. Ich schäle mich aus dem warmen Schlafsack und verspüre sofort die Minusgrade in der Hütte.

    In kurzer Unterwäsche stehe ich im Halblicht des aufziehenden Tages und werfe beim Anziehen laut polternd meine Trekkingstöcke um. Die Tür zur Küche geht auf und strahlend, wie auch sonst, begrüßt mich Maria und fragt, ob ich auch etwas frisch gebrühten Kaffee trinken möchte. Patrick, ihr Freund, bäckt derweil frische Pfannkuchen mit dunkelroten Beeren. Schon wieder verlegen setze ich mich zu ihnen an den Tisch. Mit uns prallen so verschiedene Lebensentwürfe aufeinander. Auf der einen Seite mein dehydriertes, blasses Essen als Zeichen äußersten Verzichts und auf der anderen Seite die farbenfrohe, frische französische Küche, aus dem Hut gezaubert zwischen Schnee und Stein.

    Den dampfenden Kaffee in den Händen frage ich die Beiden, warum sie nicht bereits mit den Anderen aufgebrochen sind. Patrick erklärt mir darauf, dass sie wegen des Schneefalls heute kein Double gehen werden. Es wäre heute vor allem auf dem zweiten Abschnitt zwischen der Refuge de Petra Piana und der Refuge de Manganu etwas zu riskant noch in einen Schneesturm zu geraten. Aus diesem Grund würden sie auch die Talvariante über die Bergeries de Tolla und die Bergeries de Gialgo zur Refuge de Petra Piana und nicht die alpine Variante gehen. Die Talvariante wäre zwar etwas länger dafür aber weitgehend schneefrei. Bis auf den britischen Bergführer mit seiner französischen Partnerin würden auch die Anderen, die beiden Basken, den Talweg vorziehen. Der Rest der Gesellschaft ist in Richtung Süden aufgebrochen.

    Hubschrauberlärm schreckt uns auf. Donnernd schwebt eine dieser wendigen Maschinen das Tal hinauf und bleibt etwa fünf Meter über der Hütte stehen. Ein Mann seilt sich ab und erklärt uns, dass sie jetzt die Hütte winterfest machen würden. Solange der Hubschrauber in der Nähe der Hütte wäre, dürften wir diese auch nicht mehr verlassen, da das Ein- und Abhängen der Lasten bei dem Wind sehr risikoreich sei. Wir schauen uns das kostenlose Schauspiel aus dem Fenster an und ziehen unwillkürlich den Kopf ein, als eine der Lasten beim Anflug leicht gegen das Dach prallt. Die Verladefläche an dieser Hütte ist so eng, dass der Pilot alle Mühe hat, die im Wind pendelnden Lasten sicher auf den Boden zu bekommen.


    2009-10-15, Heli an der Refuge de l'Onda

    Während draußen hektisch die Arbeiten beginnen, packen wir unsere Ausrüstung zusammen und machen uns abmarschbereit. Zwischen zwei Flügen, es ist jetzt fünfzehn Minuten vor neun Uhr, brechen wir auf und genießen das Schauspiel aus sicherer Entfernung noch eine kleine Weile. Kurz nach der Hütte trennen sich unsere Wege. Maria und Patrick gehen weiter hinab in das Tal, während ich beginne, den Anstieg zur Punta di l’Altore zu erklimmen. Wie geplant werde auch ich die alpine Variante gehen.

    Auf halber Höhe drehe ich mich noch einmal um. Meine Augen blinken silbern im schneidenden Wind. Wie im Frühjahr gibt es auch im Herbst diesen einen Tag, an welchem du merkst, dass die Jahreszeiten wechseln. Und heute hat für mich der Winter begonnen. An eben diesem, meinem ersten Wintertag ist es unverkennbar kalt. Raureif und kalt verbackener Schnee überzuckert das Land. Die Rinnsale sind gefroren. Und es ist völlig egal, ob noch einmal wärmere Tage den Herbst wiederbringen werden, heute hat für mich der Winter begonnen.


    2009-10-15, Aufbruch an der Refuge de l'Onda

    Der erste Teil der heutigen Tour ist relativ einfach zu gehen. Über einen mit kleineren Felsbrocken übersäten Hang geht es hinauf bis zur Punta di l’Altore, einer Art Plateau vor dem eigentlichen Gipfel, der Capu a Meta, welcher den Beginn einer etwa drei Kilometer langen Gratwanderung markiert. Auf dem Hang liegen etwa fünf Zentimeter feinkörniger Neuschnee. Die Temperatur beträgt minus fünf Grad Celsius und die Sonne scheint. Den ganzen Vormittag werden ständig weitere Schneemengen aus Nordwest durch tief fliegende, schmale Wolkenbänder herangetragen, welche sich an den Hängen in Höhen ab eintausendfünfhundert Metern ablagern. Die Wegemarkierungen sind mittlerweile weitgehend von Schnee bedeckt, aber der Weg ist durch die Spuren der vor mir gehenden Bergführer noch gut zu erkennen. Nach etwa einer dreiviertel Stunde habe ich das erste Plateau erreicht.


    2009-10-15, Punta di l’Altore

    Der weitere Weg hinauf zur Capu a Meta wird inzwischen von einem kleineren Schneesturm verdeckt. Ungefähr einhundert Höhenmeter oberhalb von mir kann ich, als die Wolken aufreißen und für Sekunden einen Blick auf den Gipfel freigeben, den britischen Bergführer mit seiner französischen Partnerin erkennen, wie sie sich meines Erachtens deutlich zu weit rechts den Weg durch die ersten tieferen Schneewehen hinauf bahnen. Ich vertraue meinem GPS und steige weitgehend blind im Schneegestöber auf einer weiter links führenden Route hinterher.

    In früheren Zeiten, also noch vor der Einführung der ersten privat nutzbaren GPS-Geräte, wäre ich als Solo-Geher in der gleichen Situation bestimmt nicht in dieses Wetter eingestiegen. Inzwischen stellt die mangelnde Sicht in einem einfacheren Gelände aber kein so großes Problem mehr dar, wenn eine insgesamt für dieses Wetter ausreichende Ausrüstung vorhanden ist. Unangenehm bleiben mir aber weiterhin das blinde Technikvertrauen und die Ungewissheit vor den folgenden Situationen. Ich mag es einfach nicht, blind in den Bergen herumzustapfen, auch wenn es inzwischen technisch funktioniert.

    Das stürmische Wetter verkrustet immer wieder meine Gletscherbrille und das GPS-Gerät, so dass ich regelmäßig anhalten muss, um beides zu reinigen. Ich beeile mich, so gut es geht, diesem Wetter zu entfliehen. Auf der Capu a Meta angekommen bin ich etwas außer Atem wegen des schnellen Aufstiegs. Ich mache eine kurze Rast und bin sehr erstaunt, dass plötzlich die beiden Bergführer, Christopher und Barbara, zu mir aufschließen. Sie sind ebenfalls sichtlich erschöpft, da die Schneeverwehungen auf ihrem Umweg noch tiefer als bei mir gewesen sein müssen. Beide sind ohne GPS unterwegs und verlassen sich auf ihrer Hausstrecke ausschließlich auf ihre Erfahrung, ihr Gespür und einen Kompass.

    Da die Sicht weiter sehr schlecht ist, führe ich nunmehr auf dem anschließenden Wegstück, dem Gipfelgrat Serra di Tenda, unsere kleine, neu gebildete Gruppe an. Auf halber Strecke zum höchsten Punkt der heutigen Tour, der Pointe de Pinzi Corbini, muss in einen Felskessel etwa achtzig bis einhundert Meter abgestiegen werden, um in diesem anschließend bis zum Sattel Bocca a Meta zu queren. Ich bin mir nicht wirklich sicher, ob ich den richtigen Punkt für den Abstieg gefunden habe, da der Schnee den im Sommer gut sichtbaren Pfad vollständig bedeckt und auch sonst die Landschaft in kürzester Zeit umgestaltet hat. Ich wähle in Ermangelung besserer Alternativen einfach die für mich offensichtlichste Stelle für einen Abstieg aus. Immerhin hat mittlerweile das Schneetreiben nachgelassen, so dass uns die Sicht in den scharf gezackten Felskessel und auf die umliegenden Berge ermöglicht wird.


    2009-10-15, Gipfelgrat Serra di Tenda

    Die Schwierigkeit beim Abstieg besteht nunmehr darin, dass die eigentlich einfachen und deshalb ungesicherten Kletterstellen vollständig mit einer zu Schneenadeln verkrusteten Schicht überzogen sind. Dies ist zwar wunderschön anzuschauen aber leider auch höllisch glatt. Wir beschließen, untereinander jeweils einen größeren Abstand einzuhalten und uns nicht gegenseitig zu helfen, da wegen mangelnder Sicherungsmöglichkeiten jeder diesen Abstieg allein meistern muss. Ich steige als Erster ein.


    2009-10-15, Zugang zur Kletterstelle

    Schon auf den ersten Metern merke ich, dass die freistehenden Felsbrocken wie mit einer dünnen glasartigen Schicht überzogen sind. Der erste Schnee muss an den noch warmen Felsen geschmolzen und direkt danach durch den kalten Wind gefroren sein. Auf dieser dünnen Eisschicht sind anschließend weitere Schneeflocken auskristallisiert und haben sich wie bei einem Igel als ein Stachelkleid um den Fels geschmiegt. In konzentrischen Wirbeln angeordnet, geben sie dem Granit ein wahrhaft lebendiges und zugleich majestätisches Aussehen. Ich sträube mich, mit meinen profanen Bewegungen, Tritten und Griffen diese Schönheit zu zerstören. Ich muss innehalten, um wenigstens etwas davon zu fotografieren. Vergänglichkeit.


    2009-10-15, Oberhalb der Kletterstelle

    Bei meinem Abstieg versuche ich mich so konzentriert und gespannt wie nur möglich zu bewegen, um diese Glätte wenigstens etwas zu beherrschen. Ich muss gestehen, dass ich bisher selten so wenig Gefühl zum Fels hatte, wie an diesem Morgen. Es ist quasi gar kein Vertrauen mehr zum Untergrund vorhanden. Als heimlicher Vertreter einer dynamischen Ein- bis Zweipunkttechnik beim Klettern versuche ich nunmehr die hochgelobte Dreipunkttechnik in eine Vierpunkttechnik umzuinterpretieren. Schieben der Hände und Füße statt Klettern. An manchen Stellen bin ich so ratlos, dass ich sogar kleinere Sprünge als das geringere Übel ansehe, um mir hinterher die Dummheit dieser Idee für immer in das Gedächtnis einzubrennen. Steigeisen oder ein Seil wären jetzt nicht schlecht.


    2009-10-15, Mitten in der Kletterstelle

    Von weiter oben muss sich meine Art der Fortbewegung als ziemlich unorthodoxe Methode dargestellt haben. Zumindest ernte ich aufmunternde Zurufe und meine beiden Begleiter versuchen sich in einer Adaption derselben. Ich möchte jetzt nicht behaupten, dass wir grazil und elfengleich den Berg hinabgewandelt sind, aber wir haben es letztlich ohne Blessuren geschafft. Und wir sind uns einig, von einem Beherrschen der Situation war hier nicht mehr viel übrig geblieben. Glück gehabt.


    2009-10-15, Unterhalb der Kletterstelle

    Die anschließende Querung ist dafür völlig unproblematisch. Der Schnee hat zwar an einigen Stellen, vor allem zwischen den Blocksteinen, eine Höhe von zwanzig bis vierzig Zentimeter erreicht, aber gleichzeitig haben sich inzwischen die Schneeverwehungen zu einer weitgehend stabilen Decke verfestigt. Ich sinke kaum noch ein und komme sehr schnell voran. An dem Sattel Bocca a Meta angekommen raste ich kurz. Kurz darauf stoßen auch Christopher und Barbara zu mir. Da die Beiden an dieser Stelle ebenfalls rasten möchten und sich das Wetter mit strahlendem Sonnenschein jetzt von seiner besten Seite zeigt, verabschiede ich mich, um allein weiter zu gehen.


    2009-10-15, Querung zum Sattel Bocca a Meta

    Schnell erklimme ich den einhundertsechzig Meter über uns liegenden Gipfel Pointe de Pinzi Corbini. Oben angekommen lasse ich den Blick noch einmal schweifen, winke den beiden Bergführern zu und bin mir bewusst, dass ich die Herausforderung angenommen habe. Entgegen zu meinem abends zuvor gefassten Vorsatz treiben mich meine beiden Begleiten nunmehr unwissentlich und unsichtbar vor sich her. Ich spüre, dass ich mich nur noch ungern einholen lassen möchte. Ich spüre, wie dieser kleine Wettbewerb von mir Besitz ergreift, mein Denken verändert, mich assimiliert. Es ist jetzt schon etwas weniger meine eigene Tour, aber es macht auch Spaß. Der Versuch herauszufinden, wie lange ich mit der Gruppe mithalten kann, übt einen unwiderstehlichen Reiz auf mich aus. Es noch einmal zu probieren, wie in alten Zeiten.

    Da nach dem Gipfel die restlichen dreieinhalb Kilometer der heutigen Tour fast ausschließlich horizontal oder bergab verlaufen, schlage ich jetzt probeweise ein für mich ungewöhnlich hohes Tempo ein. Nun ich renne nicht gerade, aber ich gehe straff. Trotz dessen gelingt es mir nicht, meine beiden „Verfolger“ auf Distanz zu halten. Etwa dreihundert Meter vor dem Ziel kommen sie mich freundlich grüßend und sich ständig unterhaltend an mir vorbei gerauscht. Nach wenigen Minuten geselle ich mich an der Refuge de Petra Piana zu ihnen und kurz darauf treffen auch Maria und Patrick ein. Die beiden Basken Joshua und Elias waren die Ersten an der Hütte und haben bereits den Ofen vorgeheizt, um zum Mittagessen die von ihnen unterwegs frisch gesammelte Maronen rösten zu können. Als wir ankamen, lagen sie bereits auf der Veranda in der Sonne und haben uns aus der Ferne beobachtet.


    2009-10-15, Blick zurück von der Pointe de Pinzi Corbini (unterhalb die beiden Bergführer)

    Überaschenderweise stellt sich beim Vergleich der einzelnen Zeiten heraus, dass ich mit vier Stunden und achtunddreißig Minuten Gesamtzeit knapp vier Minuten Vorsprung auf die beiden Basken herausgelaufen bin. Fairerweise muss dazu aber angemerkt werden, dass sowohl die beiden Basken als auch Maria und Patrick im Wald nicht unerhebliche Mengen Maronen für uns alle gesammelt haben. Aber so sind sie nun einmal, die Regeln. Und das Wichtigste auf dieser Tour ist allemal das gute Essen.

    Durch diesen kleinen Achtungserfolg, welcher mich fast an die Grenze meiner Leistungsfähigkeit gebracht hat, muss ich jetzt natürlich allen versprechen, auch an den nächsten Tagen nicht zu kneifen. Ich ziere mich zwar noch etwas, lasse mir die ein oder andere verbale Hintertür offen, weis insgeheim aber schon, dass ich es versuchen werde. Es scheint ein bisschen möglich zu sein, mithalten zu können.

    Nach dem Mittagessen, kurz vor zwei Uhr nachmittags, beschließen Christopher und Barbara trotz der schlechten Wetterprognosen mit Sturm, Schnee und tiefen Temperaturen ein Double zu versuchen. Zu dieser Jahreszeit ist dieser Zeitpunkt die späteste mögliche Uhrzeit, um noch eine Tour beginnen zu können. Eigentlich ist es sogar schon zu spät, da der Sonnenuntergang etwa eine halbe Stunde nach sechs Uhr erfolgen wird. Das Tageslicht erlischt in den Bergen demzufolge je nach Wolkenstand kurz nach sechs Uhr. Vier Stunden bis zur Dunkelheit für eine Tour, welche regulär mit sechseinhalb Stunden angegeben wird, ist mir eindeutig zu riskant. Noch dazu führt die folgende Route gerade im zweiten Teil an einigen bei Schnee und Eis nicht ganz ungefährlichen Stellen im Bereich der Breche de Capitello vorbei. Ich winke ab, dass ist eindeutig nichts für mich. Ebenso entscheiden sich die Anderen zum Verbleib an der Hütte, auch wenn das für sie einigen ungewohnten Müßiggang bedeutet.

    Während Christopher und Barbara ihr Double versuchen, nutzen wir die Gelegenheit, uns näher miteinander bekannt zu machen. Ein völlig entspannter Nachmittag beginnt für uns, welchen wir mit allerlei kulinarischen Versuchen zu füllen gedenken. Einige der Kochpausen kann ich zudem nutzen, um die nähere Umgebung zu erkunden und Fotos zu machen.

    Im Laufe des Nachmittags fällt die Temperatur von etwa plus fünf auf minus fünf Grad Celsius. Der Wind frischt auf, aber in diesem Tal fällt heute kein Neuschnee mehr. Die mit einem Steinbecken eingefasste Quelle in der Nähe der Hütte beginnt einzufrieren, bis nur noch ein kleines Rinnsal an den Eiszapfen hinabfließt. Es ist der eisige Wind, der hier alles auszukühlen beginnt. Wir verkriechen uns früh in den Schlafsäcken.

    Wie immer nutze ich die ersten Minuten der Nacht, den Tag etwas nachzuschmecken, die Bilder zu fangen, das Glück zu begreifen. Heute muss ich aber vorher noch einige Dinge mit mir regeln. In dem Augenblick, in dem ich mich auf das Speed-Hiking eingelassen habe, also in dem Augenblick, als ich akzeptierte, mehr als eine einzelne Tour schnell gehen zu wollen, akzeptierte ich zugleich, dass ich die Idee meiner eigenen Tour aufgab. Die Konsequenz daraus ist recht einfach. Es geht nur ganz oder gar nicht. Das Handicap der schwereren Ausrüstung kann ich nicht noch durch den Nachteil einer Zeltübernachtung vergrößern. Demzufolge werde ich ab jetzt auf dieser Tour ausschließlich in den Hütten übernachten. Und die Vorteile sind nicht zu verachten. Es gibt dank der Solarstromanlagen Licht. Es gibt mehrere Kochplatten, wodurch sich das Kochen deutlich vereinfacht. Es gibt einen Holzofen, was die Regeneration des ausgelaugten Körpers in einem warmen Raum befördert. Und der Zeltabbau in der Nacht entfällt, wodurch sich die Erholungsphasen verlängern. Und wie so immer, mein Entschluss steht auch jetzt wieder fest.


    2009-10-15, Etappenprofil, Länge 7,9 km, Aufstieg _.___ m, Abstieg ___ m

    ... weiter gehts im Teil 2 weiter unten in diesem Thread
    Zuletzt geändert von Sandmanfive; 06.11.2011, 18:46. Grund: Reisecharakter eingestellt
    Schnee ist auch nur schick aufgemachtes Wasser.

  • Gast-Avatar

    #2
    AW: Speed Hiking - Korsika Oktober 2009 – Teil 1

    Danke, macht so viel Freude das zu lesen! Auch wenns unfair ist Korsika doch wieder in ein Will-hin zu rücken.

    Kommentar


    • Atze1407
      Fuchs
      • 02.07.2009
      • 2425
      • Privat

      • Meine Reisen

      #3
      AW: Speed Hiking - Korsika Oktober 2009 – Teil 1

      Wann kommt der zweite Teil ? Ich hoffe nicht allzu lange warten zu müssen.

      Atze 1407
      Wenn du den Charakter eines Menschen kennenlernen willst, gib ihm Macht.
      Abraham Lincoln

      Kommentar


      • loopzero
        Erfahren
        • 23.06.2006
        • 391
        • Privat

        • Meine Reisen

        #4
        AW: Speed Hiking - Korsika Oktober 2009 – Teil 1

        ....es bleibt spannend.....

        Kommentar


        • Sinister
          Erfahren
          • 20.01.2009
          • 109
          • Privat

          • Meine Reisen

          #5
          AW: Speed Hiking - Korsika Oktober 2009 – Teil 1

          wahnsinnig toll geschrieben Ich freue mich auf die Fortsetzung!
          [Bilder & Tourenbericht Berchtesgadener Alpen ] [WHW Schottland März 09]

          Spiegel-Blick.de

          Kommentar


          • Rainer Duesmann
            Fuchs
            • 31.12.2005
            • 1642
            • Privat

            • Meine Reisen

            #6
            AW: Speed Hiking - Korsika Oktober 2009 – Teil 1

            Großartiger Bericht!
            Vielen Dank.

            Rainer
            radioRAW - Der gesellige Fotopodcast

            Kommentar


            • tah

              Erfahren
              • 25.01.2009
              • 305
              • Privat

              • Meine Reisen

              #7
              AW: Speed Hiking - Korsika Oktober 2009 – Teil 1

              Hallo Leute,

              wie bei vielen anderen Dingen bin ich auch beim Schreiben nicht der Schnellste. Ich gebe mir aber Mühe, die Tour so schnell es eben geht zu erzählen. Danke euch natürlich für Euer Interesse.

              Habe heute (im ersten Beitrag) den zweiten Tag eingefügt und beginne gleich mit dem dritten Tag.

              Viele Grüße, Tom.

              PS: ... von Sinister habe ich in einem amderen Thread gelesen, dass er im kommenden September auf die Insel möchte. Mit etwas Glück ist der Bericht vorher fertig:-)
              Schnee ist auch nur schick aufgemachtes Wasser.

              Kommentar


              • sejoko
                Erfahren
                • 23.12.2009
                • 492
                • Privat

                • Meine Reisen

                #8
                AW: Speed Hiking - Korsika Oktober 2009 – Teil 1

                Hallo

                Wirklich ein toller Bericht den ich mit großem Interesse gelesen habe. Kann die Fortsetzung kaum erwarten.

                Gruß
                Sebastian
                TRAVLRS.COM
                ein Fenster zur Welt

                Kommentar


                • Gast-Avatar

                  #9
                  AW: Speed Hiking - Korsika Oktober 2009 – Teil 1

                  Sehr grandios

                  Kommentar


                  • Gast-Avatar

                    #10
                    AW: [F] Speed Hiking - Korsika Oktober 2009 – Teil 1

                    Möp!

                    Kommentar


                    • tah

                      Erfahren
                      • 25.01.2009
                      • 305
                      • Privat

                      • Meine Reisen

                      #11
                      AW: [F] Speed Hiking - Korsika Oktober 2009 – Teil 1

                      TEIL 2

                      16.10.2009 – Eis
                      Durch die Ritzen der vom Schlafraum ins Freie führenden Tür strömt eiskalte Luft. Es ist noch stockdunkel und meine Nase fröstelt. Es ist deutlich kälter als in der Nacht zuvor. Im klaren Mondlicht kann ich erkennen, dass das Thermometer in der Hütte minus zehn Grad anzeigt.

                      Die Schlafsäcke meiner Begleiter rascheln leicht. Ich nehme an, dass sie ebenfalls nicht mehr schlafen können. Stetig drückt der Wind die Kälte mit einem hohen Pfeifton in die Hütte hinein. Es stürmt. Mit Schaudern male ich mir aus, was passiert sein könnte, wenn Christopher und Barbara ihr Double nicht geschafft haben sollten. Das Aufstehen kostet Überwindung.

                      Der Ofen in der Küche ist kalt und das am Abend zuvor geholte Wasser ist gefroren. Ich mache mich auf, um an der Quelle neues Wasser zu holen. Sie ist vollständig gefroren. Ein großer blanker Eisspiegel glitzert in der heraufziehenden Dämmerung am Boden und macht das Herantreten an die Quelle zu einem rutschigen Erlebnis. Die Quelle ist zu vollkommen durchsichtigem Blankeis gefroren.


                      2009-10-16, Klareis an der Quelle

                      An der Hütte vorbei gehe ich zum nah gelegenen Bach. Auch dieser ist über Nacht zugefroren. Mit einem Stein versuche ich das Eis zu zerschlagen, um Wasser schöpfen zu können. Erstaunlicherweise ist auch der Bach bis zum Grund gefroren.

                      In der Küche hat derweil Patrick den Topf mit dem vereisten Wasser etwas angeschmolzen. Er ist weniger überrascht als ich und erklärt mir, dass dieses Phänomen hier zwar sehr selten aber dennoch regelmäßig zu beobachten sei. Immerhin läge die Hütte auf über eintausendachthundert Metern Höhe und in einer wolkenfreien Nacht im Spätherbst mit starkem, sehr kaltem Wind aus Nord oder Ost wäre es letztlich kein Wunder. Vermutlich würden wir heute auf unserer Tour noch die eine oder andere Überraschung erleben, meint er. Ich schüttele immer noch etwas ungläubig den Kopf, schließlich haben wir erst Mitte Oktober und unten in den Tälern tragen die Leute noch T-Shirts. Maria verrät mir darauf lachend, dass sie und Joshua gewettet hätten, ob ich doch noch Wasser finden würde. Sie hätte letztlich auf mich gesetzt, so überzeugend sei ich aus der Tür gestürmt, aber so sei eben das Leben.

                      Ihr Lachen vergoldet den Morgen und lässt die Hütte wärmer werden. Die Stimmung ist gut. Zum Frühstück gibt es mit korsischem Schinken angebratenen Toast, Kaffee und zum Nachtisch eine Portion Schokomilchnussmüsli. Draußen bricht die Sonne breit flutend in das Tal.

                      Halb Acht brechen Patrick und Maria auf, eine viertel Stunde später ich und eine weitere viertel Stunde später Joshua und Elias. Es ist kalt. Der eisige Wind zieht den Hang hinab und lässt mich trotz der Anstrengung frösteln. Direkt nach der Hütte geht es zweihundert Höhenmeter hinauf.

                      Zu Beginn der Traverse im Südhang des Berges A Maniccia habe ich Patrick und Maria eingeholt, welche an dieser Stelle die grandiose Aussicht genießen. Wir machen Fotos und Patrick zeigt mir weit, weit hinten im Südwesten, hinter den sieben Bergen ihre Heimatstadt Ajaccio. In dem Moment als wir aufbrechen, erreichen auch Joshua und Elias das Plateau.

                      Gemeinsam mit meinen französischen Begleitern steige ich die Traverse zum Col de la Haute Route hinauf, welcher auf etwa zweitausendzweihundert Metern Höhe liegt. Alle Pfützen und Rinnsale sind gefroren, auch wenn auf dieser Seite der Berge kaum Schnee liegt. Meine Begleiter legen ein beachtliches Tempo vor, welchem ich nur mit Mühe folgen kann.

                      Vom Pass aus geht es zunächst auf den fünfzig Meter unterhalb liegenden Col de Rinoso und von dort aus nördlich der Pointe Mozello über steile, verschneite Serpentinen hinab in Richtung des Lac de Rinoso, welcher auf zweitausendfünfzig Metern Höhe etwa einhundert Meter oberhalb des Sees gequert wird. Auf dem Weg hinab sind entlang des beeindruckenden Talkessels links die oberen Spitzen der Punta Alle Porte, mittig der Monte di Giovan Paolo und rechts die etwa zweitausendsechshundert Meter hohe Spitze des Monte Rotondo zu sehen. Der uns zu Füßen liegende Lac de Rinoso, einer der schönsten korsischen Bergseen, ist von einer dünnen Eisschicht vollständig bedeckt, in welcher sich matt der Monte di Giovan Paolo spiegelt. Uns beflügeln die traumhaft klare Luft und das Licht- und Schattenspiel der frühmorgendlichen Sonne auf den gegenüber liegenden Felswänden.


                      2009-10-16, Patrick im Abstieg zum Lac de Rinoso

                      Auf dem Weg zur Bocca a Soglia, kurz vor Erreichen der Querung des Zuflusses zum Lac de Melo, bekommen wir ein weiteres, absolut seltenes Wetterphänomen zu sehen. Eigentlich wären wir fast darüber gestolpert und hätten es damit unweigerlich zerstört. Aber gerade noch rechtzeitig wird unser Blick auf den rutschigen von Eis überzogenen Boden gelenkt. Aus gefrorenen Pfützen ragen uns, wie korsische Dolche der Vendetta, etwa zehn bis fünfzehn Zentimeter lange Eisnadeln entgegen. Wir beugen uns nieder, um diese seltsamen Objekte aus nächster Nähe studieren zu können. Unwirklich. Vergessen ist das Rennen durch die Berge. Die Märchenwelt hat uns eingefangen. Aufgeregt zeigen wir uns ein um das andere Mal neue Entdeckungen, an welchen wir uns kaum satt sehen können.


                      2009-10-16, Vertikale Eisdolche

                      Die auf den ersten Blick unerklärlichen Eisnadeln, welche aus dem Wasser in die Höhe gewachsen sind, können nur auf einem Weg entstanden sein. Der Wind, welcher auch den ganzen Morgen über noch mit eisiger Kälte durch die Berge weht, muss in der vergangenen Nacht das Wasser kurz vor der Eiswerdung plastisch formbar ausgekühlt und zugleich durch seine Stärke nach oben in Form der Eisnadeln getrieben haben. Entgegen der Schwerkraft. Etwas erinnert mich diese Szenerie an ein lang zurück liegendes Erlebnis in einem frischen isländischen Aschefeld, aus welchem unversehens scharfe, schmalklingige Obsidiandolche beim durch das Auftreten hervorgerufenen Zusammensinken der Vulkanasche auftauchten. Traumhaft und unverstanden. Und wenn die Zeit jetzt zu Ende ginge, ich wäre glücklich.


                      2009-10-16, Nadeln aus vereistem Schnee

                      Die anschließende Strecke ist nicht minder interessant. Aus dem Fels sind dreidimensionale Eisblumen gewachsen, welche uns ob ihrer Schönheit und Unberührtheit zu kleineren Umwegen zwingen. Der hoch oben an der Pointe Mozzello beginnende Bach, welcher weiter unten den Lac de Melo speist, ist plastisch gefroren. In Form von großformatigen, klareisigen Treppenstufen versperrt er uns den Weg und erfordert beim Überqueren höchste Konzentration. Es lässt sich dabei nicht verhindern, wie wackelige Enten unbeholfen nach Balance suchend, in direkter Nähe zum Boden und teils auf allen Vieren das Eis zu queren.


                      2009-10-16, Plastisch vereister Abfluss des Wasserfalls

                      Einige Meter weiter entdecken wir einen kleinen Wasserfall, welcher, als hätte jemand die Zeit angehalten, direkt im Fallen erstarrt scheint. Wir verwenden viel Zeit darauf, die Eindrücke in uns aufzunehmen und für karge Zeiten zu speichern.

                      Über ein verschneites Blockfeld geht es schließlich weiter zur nah gelegenen Bocca a Soglia, auf welcher wir eine kurze Rast einlegen und uns gegenseitig unserer Eindrücke versichern. Nach wenigen Minuten erreichen uns Joshua und Elias. Weil uns das Rennen an diesem Tag inzwischen etwas weniger wichtig erscheint, beschließen wir, die restliche Strecke bis zur Refuge de Manganu gemeinsam zurückzulegen. Die aufgekratzte und gelöste Frühstücksstimmung hat uns wieder erfasst.

                      Von der Bocca a Soglia auf zweitausendfünfzig Metern Höhe führt der Weg zunächst auf der Südseite des Grates nach Westen zur Punta Alle Porta, einem schartigen, steil aufragenden und aus mehreren Felstürmen bestehenden Gebilde. An einer der höher gelegenen Scharten, einem relativ schmalen Durchschlupf, wechseln wir auf die Nordseite des Grates, um im gleichen Augenblick den Lac de Capitello tief unter uns zu sehen. An dieser Stelle führt auch ein recht steiler Abzweig hinunter zum Lac de Capitello, von dort zum Lac de Melo und von diesem durch das Restonica Tal bis nach Corte. Wir aber orientieren uns weiter nach Westen hinauf zur verschneiten und vereisten Breche de Capitello auf etwa zweitausendzweihundert Metern Höhe.


                      2009-10-16, Lac de Capitello (links) und Lac de Melo

                      Kurz vor dem Erreichen der Breche de Capitello gibt es noch eine kleine Kletterstelle zu überwinden, welche mit Ketten gesichert erst etwa fünf bis sieben Meter hinauf und anschließend durch einen Felsdurchschlupf hindurch führt. Die Kletterstelle erweist sich als vereist und leicht eingeschneit. Den dadurch entstehenden Stau umgehen Maria und ich links in einer Kombination aus Piaz- und Risskletterei. Hoch oben im Fels ist diese Variante zwar nicht technisch schwer, aber eben ungesichert und unter den gegebenen Verhältnissen mit Gepäck und Eis moralisch etwas anspruchsvoller.

                      Der Kletterstil von Maria ist beeindruckend grazil. Während ich manchmal dazu tendiere, weit auseinander liegende Griffe und Tritte durch einen kontrolliert dynamischen Bewegungsablauf zu überwinden, bewegt sich Maria ohne Unterbrechung ihrer Bewegungen in einem stetigen Fluss. Stiltechnisch sieht dies unweit eleganter und souveräner aus. Und sie ist dabei schnell. Während ich mir bisher noch eingebildet habe, dass ich wenigstens auf diesem Gebiet einige Vorteile haben dürfte, muss ich mir eingestehen, dass dem wahrscheinlich nicht so ist.

                      Von der Breche de Capitello aus geht es anschließend über ein verschneites und etwas instabiles Blockfeld hinab zum Beginn einer Hochebene, welche sich in Form von drei Terrassen bis zur Refuge de Manganu hinzieht. Am Ende des Blockfeldes queren wir einen kleinen nur im Frühjahr und Spätherbst existierenden Wasserfall, welcher in der steil aufragenden Südwand der Capu a i Sorbi im wahrsten Sinne des Wortes über unseren Köpfen hinabfällt. Auch dieser Wasserfall ist gefroren, wird aber in der windgeschützten Südseite durch die Mittagssonne aufgeschmolzen, so dass meterlange Eiszapfen an uns vorbei ins Tal stürzen.

                      Es ist etwa zwölf Uhr mittags, als wir am Beginn der Hochebene einen kleinen, bis zum Grund zugefrorenen See erreichen, an welchem wir Christopher und Barbara beim Verpacken ihrer Ausrüstung entdecken. Sie haben offensichtlich das Double nicht vollenden können und mussten hier am See biwakieren. Neugierig gesellen wir uns zu ihnen, um uns von ihrem Versuch berichten zu lassen.


                      2009-10-16, Vereister See auf der Hochebene

                      Wie wir vermutet hatten, mussten sich beide durch die am Nachmittag des Vortages aus Nordosten aufziehende Kaltwetterfront, den mit etwa achtzig bis einhundert Stundenkilometern beginnenden Starkwind und die immer stärker vereisende Landschaft kämpfen, welche wir heute in ihrer erstarrten Pracht so ausgiebig bewundern durften. Durch den Wind, die Kälte und das Eis waren sie nicht annähernd so schnell, wie sie es sich vorgenommen hatten. Die Breche de Capitello erreichten sie erst deutlich nach Einbruch der Dunkelheit und mussten im Licht ihrer Stirnlampen das verschneite, instabile Blockfeld absteigen. Da ihnen das anschließende Terrain mit dem von Minute zu Minute mehr zufrierenden Hochmoor zu riskant erschien, trafen sie schließlich die Entscheidung, am See zu biwakieren. Und offensichtlich hatten sie die gleichen Schwierigkeiten wie ich gehabt, fließendes Wasser zu finden. Die anschließende Nacht im eiskalten Wind muss dann in etwa so kalt gewesen sein, wie wir uns das in unseren kühnsten Versionen ausgemalt hatten. Viel geschlafen haben die Beiden offensichtlich nicht. Durch die heute am späten Vormittag in der Windstille durchbrechende Mittagssonne konnten sie sich zumindest aber wieder auftauen und mit einem leichten Schaudern auf ihr kleines Abenteuer zurückblicken.

                      Nach einigen Minuten ziehen wir alle gemeinsam weiter, um entsprechend meiner Zeitmessung nach etwas über fünf Stunden die auf eintausendsechshundert Metern Höhe liegende Hütte zu erreichen. An der Hütte angekommen, erwartet uns die nächste Überraschung. Bekannte von Patrick, Gardians der Parkverwaltung, haben das beginnende Wochenende dazu genutzt, sich mit reichlich Spezialitäten der korsischen Küche und etlichen Flaschen Wein auf der Hütte gemütlich einzurichten. Wir werden eingeladen und verzichten auf die erste Möglichkeit eines Doubles. Es ist dieser ausgeprägte Sinn für die wichtigen Dinge des Lebens, welcher mich bei meinen Begleitern so begeistert. Die Chance auf ein erstes Double gegen einen entspannten Nachmittag und ein kleines Festmahl ohne Reue eintauschen zu können, ist für sie somit nur folgerichtig.


                      2009-10-16, Etappenprofil, Länge 9,4 km, Aufstieg _.___ m, Abstieg ___ m

                      17.10.2009 – Vermisst
                      Obwohl die kleine Feier bis spät in die Nacht angedauert hat, gelingt uns wieder ein früher Start. Wir stehen wie tags zuvor in der Dunkelheit auf und bereiten uns zielstrebig auf unser erstes Double vor. Wir sind uns sicher, dass es heute gelingen wird. Die Strecke ist bis auf den letzten Teil relativ eben und somit schnell zu gehen. Nichtsdestotrotz warten bei diesem Double mit einer Gesamtlänge von knapp vierundzwanzig Kilometern etwa eintausendzweihundertfünfzig Meter bergauf und achthundertneunzig Meter bergab auf uns.

                      Da das Abendbrot gestern etwas reichlich ausgefallen war, können wir auf ein opulentes Frühstück verzichten. Ein klein wenig macht sich Nervosität unter uns breit. Schweigsam sitzen wir an dem großen Tisch vor dem kalten Ofen. Es ist fast so, wie kurz vor dem Start eines echten Wettkampfes. Christopher und Barbara entscheiden sich schließlich als Erste, die Tour zu beginnen. Sie stehen plötzlich laut polternd auf, verstauen den Rest ihrer Ausrüstung und ziehen sich an. Fünfzehn Minuten nach sieben Uhr brechen sie mit einem aufmunternden Gruß auf. Als sie die Hütte verlassen, stieben Schneeflocken in den Gemeinschaftsraum. Über Nacht ist es auch in diesem Tal kalt geworden.

                      Fünfzehn Minuten später brechen Joshua und Elias auf, in weiteren Fünfzehnminutenabständen ich und als Letzte Patrick und Maria. Ich will die heutige Tour auf jeden Fall allein laufen, da ich mir sicher bin, auf dem bergarmen ersten Abschnitt das Tempo der Bergführer nicht mithalten zu können. Aber ich hoffe schon, sie abends wiedertreffen zu können.

                      Als ich die Hütte verlasse, bemerke ich als Erstes, dass das gesamte Tal von tief hängenden Wolken ausgefüllt ist, welche sich langsam abschneien. Wenn ich mich ausstrecke, glaube ich fast die Wolkenunterkante berühren zu können. Es ist weniger kalt als erwartet, so etwa plus fünf Grad Celsius. Der Schnee bleibt nur vereinzelt liegen, der Weg ist frei und gut erkennbar.


                      2009-10-17, ... der Himmel ganz nah an der Bergeries de Vaccaghia

                      Der Unterschied zum Laufen in Gesellschaft ist, dass meine Wahrnehmung wieder völlig auf sich allein gestellt ist. Dadurch vertrödele ich mit meinem introvertierten Daherwandern eine Menge der bildhaften Eindrücke, auf welche sich eine Gruppe immer hinzuweisen pflegt. Die Erinnerungen an Gruppentouren sind bei mir dann auch eher eine Summe sehr intensiver, aber letztlich einzelner Bilder, Gespräche und Emotionen. Beim Alleinwandern entsteht bei mir dagegen mehr eine Erinnerung der Stimmung des Tages als ein vollständiges Bild seiner selbst. Es ist weniger die Reportage der Ereignisse als mehr die Melodie des Weges.

                      Es beginnt ganz banal, dass sich erst mein Körper in dem mir eigenen Tempo obgleich der monotonen Bewegungen einzuschwingen beginnt und nach und nach meinen Geist im stetigen Zwiegespräch hinzuzieht und von der Einzigartigkeit des Tages zu überzeugen beginnt. Es ist dabei vollkommen egal, wie reizend sich eine Umgebung präsentiert. Es sind ja letztlich nicht vorrangig die Bilder, welche ich in mir aufnehme. Gedanken, Vergangenheit und Zukunft säumen den Weg. Und je nachdem, von welchem Punkt ich mich gerade beobachten würde, könnte ich mich trefflich mit mir selber darüber streiten, ob jetzt gerade die Gegenwart oder doch das Drumherum wichtiger wäre.

                      Was mich am meisten fasziniert, ist die Energie eines Weges. Das mag unverständlich klingen und wäre, da viel zu privat, unnötig hier an dieser Stelle auszubreiten. Um aber die nachfolgenden Ereignisse und meine Entscheidungen überhaupt vor mir selbst rechtfertigen zu können, muss ich an dieser Stelle etwas weiter ausholen.

                      Energie. Meine Einbildung suggeriert mir regelmäßig, und mir ist bewusst, dass dies meinem bisherigen Werdegang diametral entgegensteht, das Vorhandensein energetischer Flüsse. Diese sind für mich nicht direkt sichtbar, aber manchmal in meiner Einbildung spürbar. Ich stelle mir diese wie Korridore vor, welche durch eine Landschaft durch die Gedanken, Erinnerungen, Erfahrungen, eben dem Wissen der auf den Wegen laufenden Wesen, Menschen, Tiere, was auch immer, gespannt werden. Ihr Denken an ihre Ziele errichtet entlang ihrer Wege Barrieren, welche die Landschaft rechts und links von ihnen abschotten. Diese Barrieren verbieten ihnen dadurch mehr oder weniger ein Abweichen von den Wegen, so dass sich in die Landschaft eingeschnittene, gut sichtbare Pfade entwickeln. Erkenntlich sind diese Wanderwege oder Tierpfade letztlich an den hinterlassenen Spuren, wie beispielsweise abgetretenem Stein, Markierungen oder Wegezeichen. Natürlich laufen vor allem Tiere auch jenseits ihrer üblichen Trampelpfade und sind somit freier in der Natur unterwegs als viele Menschen, aber es gibt auch die relativ fest definierten Tierpfade.

                      Ich unterstelle diesen Korridoren das Vorhandensein von Energie, gerade weil sie regelmäßig, wieder und wieder, begangen werden. Und ich bilde mir ein, dass diese Energie sehr viel mit visuellem Erkennen zu tun hat, weil sie in sichtbaren Zeichen oder in der visuellen Erinnerung gespeichert ist, bei Tieren vielleicht manchmal auch als magnetische Landmarke. Letztlich bedeutet das Vorhandensein dieser Energie in ihr sublimierte Erfahrung. Dieser Pfad war schon immer gut und gefahrlos und wird deshalb begangen. Jenseits dieser Pfade laueren Gefahren. Vielleicht. Oder Neues. Vielleicht.

                      In bestimmten Situationen oder zu bestimmten Zeiten aber kann diese Energie auch verblassen. Sie diffundiert dann, beispielsweise außerhalb der Saison, an den Rändern aus. Die Pfade verlieren ihre Eindeutigkeit, die Natur verwischt die Spuren, deckt sie mit Laub oder Schnee zu. In der Nacht auf einer einsamen Straße finde ich es immer äußerst beruhigend, die Rücklichter eines vorausfahrenden Fahrzeugs zu sehen, wohl wissend, dass es mich auch vom Wege weg führen kann, wohl hoffend, dass es mir immer den richtigen Weg weisen wird.


                      2009-10-17, Baum auf der Hochebene vor dem Lac de Nino

                      Unser Wandertag beginnt also mit tief fliegenden Wolken. Weit vor mir, im Schleier des leichten Schneefalls kann ich noch die beiden Basken erkennen und mich an ihnen ohne weitere Hilfen orientieren. Beim Zurückblicken kann ich ebenfalls Patrick und Maria noch als Schemen im Dunst der Wolken erkennen. Eingepackt in diesen Kokon lasse ich mich ziehen und zugleich schieben. So habe ich mehr Freiraum für meine Gedanken.

                      Ich komme gut voran und der Nebel nimmt zu. Tiefer und tiefer werden die Wolken in die Ebene hineingedrückt, bis nur noch ein Umkreis von vielleicht hundert Metern um mich herum sichtbar ist. Es ist wunderbar beruhigend. Der Kokon ist etwas enger und somit heimischer geworden, auch wenn ich jetzt die Orientierung selbst übernehmen muss. Stille liegt über der verborgenen Landschaft. Die Punta di a Fernina Morta, die Bocca d‘ Acqua Ciarnente, die Bergerie de Vaccaghia und das obere, flache Tavignano Tal ziehen vorüber. Irgendwo in den Wolken verborgen, nördlich vor mir, muss sich die Punta Artica befinden. So habe ich mir die Tage hier vorgestellt.

                      In einem lockeren Waldgebiet entlang des Le Tavignano, welcher dem Lac de Nino entspringt, entdecke ich durch einen Brand bizarr verformte Bäume. Teils bis auf die noch erhaltenen Außenhüllen hat sich das Feuer im Innern, vermutlich durch Blitzschlag ausgelöst, von den Kronen bis zu den Wurzeln hinab durch die Bäume gefressen. Teils hat der Brand die Bäume explodieren lassen, so dass deren zerborstene Überreste weit verstreut im Umkreis um die verkohlten Stümpfe herum liegen. Epische Bilder der Vergänglichkeit und des Neuanfangs, wenn zwischen den Trümmern bereits die ersten neuen Schösslinge zu entdecken sind.


                      2009-10-17, Baumleiche auf der Hochebene vor dem Lac de Nino

                      Ich lasse mich von Bauminsel zu Bauminsel treiben und versuche deren Sprache zu verstehen. Dies ist weniger abwegig, als es hier klingen mag, aber eine ganz, ganz andere Geschichte.

                      Kurz vor dem Lac de Nino setzt ein Rauschen ein, schwillt an, wird stärker und stärker. Anfangs vom raschelnden Wind in den hochgewachsenen Sträuchern hervorgerufen, setzen nach und nach die fauchenden Stimmen der Felsen im Wind ein, bis schließlich das Getöse durch das Aufprallen der Windböen auf dem nackten Untergrund vervollständigt wird. Schnee wird umhergewirbelt. Ein Blizzard zieht aus Westen herauf.

                      Weit vor mir, etwa auf Höhe des Lac de Nino, kann ich die beiden Basken gerade noch erkennen, wie sie nach wenigen Minuten im Schneetreiben verschwinden. Hinter mir kann ich Patrick und Maria sehen, welche ein gutes Stück zu mir aufgeschlossen haben. Nach wenigen Minuten verschwinden auch sie im Schneesturm.


                      2009-10-17, ... die ersten zwanzig Minuten des Blizzards

                      Jetzt ist der Weg am Lac de Nino vorbei in Richtung Col de Vergio nicht besonders schwierig zu finden, vor allem, wenn man ihn bereits mehrmals gegangen ist. Am Ende des Lac de Nino biegt der Weg nach Westen auf eine langgestreckte Anhöhe ab, um nach der Bocca a Reta entlang eines Grates zur U Tritore und von dort in nördwestlicher Richtung zum Col de St. Pierre zu führen. Von dort aus erfolgt eigentlich nur noch der Abstieg in die Wälder des Foret Domaniale de Valdu Niellu, um schließlich das erste Etappenziel, das Castellu di Vergio, zu erreichen.

                      Binnen weniger Minuten hat der Blizzard aus der Ebene rund um den Lac de Nino eine weiße Einöde geformt, in welcher die Spuren der beiden Basken auf immer verloren sind. Der Wind peitscht so stark durch die Landschaft, dass mein GPS-Gerät fast waagerecht vor mir in der Luft baumelt, als ich den Anstieg zur Bocca a Reta hinaufsteige. Der Schnee wirbelt um mich herum und vereist in steter Ausdauer meine Gletscherbrille und das GPS-Gerät. Aller paar Minuten muss ich Beides freikratzen, um überhaupt ansatzweise noch etwas erkennen zu können. In dem dichten Treiben und dem weißen Untergrund verliere ich ohne das GPS-Gerät jedes Gefühl für Entfernungen, Landschaft, Zeit und Weg. Ohne diese Hilfe, wäre ich jetzt vollkommen hilflos und hätte mich mehrmals für andere Richtungen entschieden, und das, obwohl ich diesen Weg recht gut kenne. Ich beschleunige, so gut es in dem Sturm geht, um einen mir bekannten größeren Steinhaufen zu erreichen, welcher normalerweise der Orientierung in dieser Einöde dient. Dort möchte ich etwas ausruhen und auf Patrick und Maria warten, welche ich kurz hinter mir vermute.


                      2009-10-17, Blizzard auf der Bocca a Reta

                      An dem Steinhaufen angekommen, setze ich den Rucksack ab und schichte einen kleinen Windschutzwall auf, um mich vor dem Auskühlen besser schützen zu können. Es stürmt inzwischen wahrhaft fürchterlich und ich bin froh, etwas heißen Tee aus meiner Thermoskanne trinken zu können. Etwa fünfzehn Minuten harre ich aus, bevor ich mich das erste Mal aus dem Windschutz begebe und in die Richtung des zuvor begangenen Weges starre. Nichts. Nur eine weiße Wand peitscht mir unbarmherzig entgegen und vereist meine Brille, so dass ich mich sofort wieder in die Deckung des Steinhaufens begebe.

                      Die Entfernung zwischen mir und den beiden Franzosen hatte ich auf etwa zehn Minuten geschätzt, so dass ich beginne, mir etwas Sorgen zu machen. Wie sich in den vorangegangenen Tagen herausgestellt hat, bin ich der Einzige dieser illustren Gruppe, welcher ein GPS-Gerät dabei hat. Und ich habe es eigentlich auch nur zum Loggen der einzelnen Tracks und nicht zur Orientierung mitgenommen.

                      Um meine Gedanken etwas zu beruhigen, schließlich sind die Beiden erfahrene Bergführer, benutze ich meine am Rucksack befestigte Signalpfeife und gebe pro Minute drei schrille Signale in den laut tosenden Sturm. Nach weiteren zehn Minuten bin ich so ausgekühlt, dass ich für mich eine Entscheidung treffen muss. Hier auszuharren funktioniert nicht ohne weiteren Schutz. Ich muss mich entscheiden, hier entweder ein Biwak aufzuschlagen oder aber, so schnell es geht, zum Col de St. Pierre zu gehen, auf dessen Plateau ich eine kleine Schutzhütte in Erinnerung habe. Ich entscheide mich zur Flucht und komme mir wie ein Verräter vor.

                      Mit einem hohen Tempo starte ich aus meinem Windschutz und werde nach kurzer Zeit wieder warm. Um meine Entscheidung für mich etwas erträglicher zu machen, baue ich an jeder noch so kleinen Abzweigung neue Steinmänner auf, da alle anderen Wegezeichen verschwunden sind. Aber ich habe keine große Hoffnung, dass diese Zeichen in dem Schneetreiben lange sichtbar bleiben werden. Der Pfad entlang des Grates und später hinab zum Col de St. Pierre ist von kniehohen Schneeverwehungen bedeckt, welche ein Vorankommen zur Qual werden lassen.


                      2009-10-17, ... auf dem Col de St. Pierre

                      Auf Höhe des Col de St. Pierre lässt das Schneetreiben plötzlich genauso nach, wie es begonnen hat, und versiegt schließlich ganz. Ich mache mir jetzt etwas weniger Sorgen, da Patrick und Maria den Weg in dem aufklarenden Wetter wieder problemlos finden können. Den Schrecken noch in den Gliedern laufe ich schnellen Schrittes in Richtung Castellu di Vergio. Bald hüllt mich der hochstämmige Wald ein, bunt gefärbtes Laub liegt am Boden, von Schnee hier unten keine Spur.

                      Zwölf Uhr erreiche ich das Castellu di Vergio, auf dessen sonnenbestrahlener Terrasse ich Joshua und Elias beim Kaffeetrinken entdecke. Ich geselle mich zu ihnen und erfahre, dass sie hier bereits seit einer Stunde auf mich und die beiden Franzosen warten. Christopher und Barbara sind dagegen bereits zum nächsten Etappenziel, der Refuge Ciuttulu di i Mori, aufgebrochen und wollen eventuell sogar ein Tripple versuchen.

                      Ich erzähle den Beiden von dem immer stärker gewordenen Schneesturm, von dem sie, nach eigenem Bekunden, gar nicht so viel mitbekommen haben, da sie sich beim ersten Anzeichen in einem wahrhaft schnellen Lauf in sicheres Terrain gerettet haben. Wir beschließen, auf Patrick und Maria zu warten, um gemeinsam den zweiten Teil des heutigen Tages zu laufen.

                      Nach etwa einer Stunde werden wir ungeduldig. Die beiden Franzosen kommen und kommen nicht. Mich hält es, ob meines Verrats, wie ich mir immer wieder einrede, nicht auf dem Sitz und ich laufe etwa eine viertel Stunde des Weges zurück. Ich rufe. Nichts. Sonnige Stille.

                      Nach meiner Rückkehr beraten wir gemeinsam mit dem Wirt, welche Optionen jetzt die Sinnvollsten wären. Da er ebenfalls Patrick und Maria als erfahrene Bergführer kennt, rät er noch zu etwas Wartezeit, bevor er die Bergwacht verständigen wird. Von der Terrasse aus können wir gut erkennen, dass um die Punta Artica weiterhin der Sturm tobt.


                      2009-10-17, ... Schicksal?

                      Etwa eine halbe Stunde vor drei Uhr beschließe ich, an den Lac de Nino zurückzukehren. Alle überflüssigen Dinge lasse ich bei Joshua und Elias zurück, welche spätestens ab drei Uhr die Bergwacht verständigen werden. Sofern ich Patrick und Maria vorher oder kurz danach treffen sollte, wäre ich noch im Bereich einer Mobilfunkstation und könnte das Hotel anrufen, um die Rettungsaktion wieder abzubrechen.

                      Mit leichtem Gepäck sprinte ich los. Der Weg geht im Wald zuerst einen kurzen, steilen Hang hinab und führt anschließend in einem langgestreckten Bogen unterhalb der Capu di Vergio und später an der Capu a Rughia vorbei zum Col de St. Pierre hinauf. Soweit muss ich glücklicherweise nicht laufen. Auf Höhe der Capu a Rughia kommt mir sichtlich erschöpft Patrick entgegen. Einige Meter hinter ihm biegt kurz darauf Maria in mein Blickfeld. Die Beiden sind etwas erstaunt aber auch froh, mich in ihre Richtung unterwegs zu sehen. Wir liegen uns in den Armen.

                      Ich rufe noch kurz im Hotel an und gebe Entwarnung, bevor wir uns auf den Weg zum Castellu di Vergio machen. Auf dem Weg zurück erzählen mir die Beiden, dass sie der Schneesturm mit voller Wucht erwischt hat und sie tatsächlich eine Zeitlang die Orientierung verloren haben. Und da sie keine Ausrüstung für ein Notbiwak im Schnee dabei haben, mussten sie notgedrungenermaßen immer weiter laufen, um sicheres Gelände erreichen zu können. Anfangs haben sie sogar noch ab und an auf ihrem Zickzackkurs meine Steinmänner gefunden und sich sehr darüber gefreut, bis ihnen die Orientierung kurz Erreichen des Hochgrats völlig verlorenging. Auf dem wiedergefundenen Grat war zwar letztlich die Orientierung recht einfach, aber die Schneeverwehungen haben den Durchstieg zu einem nicht ungefährlichen und somit zeitraubenden Erlebnis werden lassen. Nachdem sie bereits die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hatten, haben sie auf der zweiten Hälfte drei Stunden mehr, bezogen auf mich, und vier Stunden mehr, bezogen auf Joshua und Elias, benötigt.


                      2009-10-17, Rückweg zum Castellu di Vergio

                      Am Castellu di Vergio angekommen, beschließen wir als Erstes, für uns das heutige Double abzublasen. Der kritische Zeitpunkt ist bereits deutlich überschritten und der Wirt lädt uns auf eine kleine Wiedersehensfeier ein. Wir sind nicht traurig, eine warme Dusche und ein bequemes Bett für eine Nacht zu bekommen.

                      Den Abend verbringen wir gemeinsam mit dem Wirt und seiner Frau bei einem Vier-Gänge-Menü und den gesammelten Gruselgeschichten der korsischen Berge.


                      2009-10-17, Etappenprofil, Länge 16,0 km, Aufstieg ___ m, Abstieg ___ m

                      ... im Blizzard begann das GPS-Gerät die Höhenwerte mit extrem großer Schwankungsbreite zu protokollieren. Der Aufstieg hätte ca. 930 m und der Abstieg ca. 970 m geringer ausfallen müssen. Aus dem Grund habe ich die kummulierten Werte zwischenzeitlich rausgenommen, bis ich den Fehler bereinigt habe. Die dargestellten Profile sollten bereits fehlerbereinigt sein.

                      18.10.2009 – Erstes Double
                      Die Dämmerung setzt gerade ein, als wir uns vom Wirt des Castellu di Vergio und seiner Frau verabschieden, um über die Refuge Ciuttulu di i Mori zu unserem Tagesziel, die Refuge de Tighiettu, zu wandern. Knapp fünfzehn Kilometer Länge mit eintausenddreihundert Meter Aufstieg und eintausend Meter Abstieg stehen heute auf dem Programm. Bereits zum Abendbrot haben wir uns darauf verständigt, dass wir bis zum ersten Etappenziel möglichst gemeinsam laufen wollen. Joshua hat mir zudem angeboten, meine Lauftechnik etwas zu beobachten, um mir den ein oder anderen Tipp für einen energiesparenden und zugleich schnelleren Laufstil geben zu können. Sie wollen mich notfalls bis zur ersten Hütte gehörig antreiben, damit auch ich einmal in den Genuss wirklich schnellen Wanderns kommen kann. Sie meinen, dass sei eigentlich alles nur eine Frage der Erfahrung. Ich vermute, dass uns das gestrige Erlebnis ziemlich zusammengeschweißt hat.


                      2009-10-18, Baumdetail an der Bergeries de Radule

                      Die Luft ist klar und frühwinterlich kalt. Es liegt eine hauchdünne Schneedecke über der Landschaft. Im Schlepptau meiner Begleiter geht es zügig die ersten dreieinhalb Kilometer auf etwa gleicher Höhe, immer kurz vor der oberen Waldgrenze des Foret Domaniale de Valdu Niellu, entlang zur Bergeries de Radule. Auf dem Weg dahin queren wir mehrere kleine Bäche, unter anderem den Rau de Becchittacci, den Rau de Catamalzi und den Zusammenfluss der Quellen Latuca und Spiscia.


                      2009-10-18, Blick zurück im Golo-Tal

                      Kurz nach der Bergerie erreichen wir die Cascade de Radule, über welche sich der Fluss Le Golo in das Niellu-Tal ergießt. Nach der Brücke geht es stetig bergauf, bis wir nach ziemlich genau zweieinhalb Stunden die Refuge Ciuttulu di i Mori auf zweitausend Meter Höhe erreichen. Es ist noch früh am Tag und so beschließen wir, in der Hütte unser Frühstück nachzuholen, auf welches wir am Morgen wegen des reichhaltigen Abendmahls verzichtet hatten.


                      2009-10-18, Aufstieg zur Refuge Ciuttulu di i Mori

                      Ich muss gestehen, dass mir nach diesem kleinen Gewaltmarsch beim Eintreten in die Hütte etwas die Knie zittern, auch wenn sich die Ratschläge von Joshua als sehr sinnvoll herausgestellt haben. Vermutlich wäre ich ansonsten mit großem Rückstand zur Gruppe an der Hütte eingetroffen. So aber haben mich meine Begleiter immer wieder angespornt, ihr Tempo durchzuhalten.

                      In der Hütte stellen wir fest, dass der Holzofen noch warm ist. Christopher und Barbara müssen demnach hier übernachtet haben. Schnell haben wir Wasser für Tee aufgesetzt und bereiten uns ein kleines Frühstück zu. Die Beine auf einer der Bänke ausgestreckt, sitze ich am Fenster und genieße den strahlend blauen Himmel, in welchen sich aus Südosten riesige Wolkengebirge drängen.

                      Unterwegs hatte ich ausreichend Gelegenheit meine Begleiter beim Laufen zu beobachten. Die Bergqualitäten meiner Begleiter verteilen sich nach meiner ersten Einschätzung wie folgt. Joshua und Elias sind unbestritten die Schnellsten. Sie benötigen weder Pausen noch Unterbrechungen, müssen weder Essen noch Trinken. Ihr Laufstil ist dabei nicht so sehr von hektisch schnellen Bewegungen geprägt, wie sie manchmal beim Trailrunning zu beobachten sind. Vielmehr ist ihr Laufen ein pausenfreier stetiger Fluss, ob bergauf oder bergab. Und obwohl beide ein eingespieltes Team sind und stundenlang ohne Worte auskommen, scheint mir die Kondition von Joshua noch einmal eine Klasse oberhalb von allen Anderen zu sein.

                      Obgleich ich Letzteres nicht wirklich einschätzen kann, denn Patrick verbirgt seine Möglichkeiten so gut er kann vor dem Rest der Gruppe. Er legt es nie darauf an, etwas von seinem Können herauszustellen, zu erklären oder zu demonstrieren. Seine Fähigkeiten kann ich nur dadurch etwas erahnen, dass ihm zu jedem Zeitpunkt, an den schwierigsten Stellen oder am steilsten Anstieg nie die geringste Anstrengung anzumerken ist und er in einem lustigen Wasserfall, ohne Luft holen zu müssen, mit unzähligen Anekdoten die korsische Mentalität zum Besten gibt. Während ich mehr der Erde und dem Schweiß verhaftet bin, fühlt es sich bei ihm so ausgesprochen schwerelos an.
                      Christopher und Barbara liegen mit ihrer Geschwindigkeit nur unwesentlich hinter den Anderen und gleichen dies mit ihrer exzellenten Kondition und mit ihrem unerschütterlichen Optimismus aus. Während bei den Anderen in einigen Situationen bereits eine Risikoabwägung beginnt, verlassen sie sich auf ihre gesammelten Erfahrungen und sind längst wieder unterwegs.

                      Bleibt Maria. Sie dürfte etwa im Mittelfeld liegen. Im Aufstieg und an technischen Stellen ist sie atemberaubend schnell. Jede Bewegung ist unweigerlich die Richtige und es sind keinerlei Unsicherheiten zu spüren. Einzig auf langen Abstiegen scheint sie ein kleineres Handicap zu haben, weshalb sie dann deutlich überlegter ihre Bewegungen wählt. Als würde sie sich gern Schmerzen ersparen.


                      2009-10-18, Blick von der Refuge Ciuttulu di i Mori

                      Nach einer Stunde Pause brechen wir wieder auf. Es ist immer noch später Vormittag, so dass meinen Begleitern der zweite Teil bis zur Refuge de Tighiettu bis etwa zwei Uhr möglich erscheint. Sollten wir es wirklich bis zu dieser Uhrzeit zu unserem eigentlichen Tagesziel schaffen, wäre für uns, vorausgesetzt die Kondition würde noch ausreichen, ein Tripple bis zur Refuge Asco-Stagnu möglich.

                      Da mir vor kurzem noch die Knie gezittert haben, gehe ich diese Aussicht allerdings etwas nüchterner an. Von hier aus in zweieinhalb Stunden bis zur Refuge de Tighiettu gehen zu können, wäre für mich schon eine mehr als grenzwertige Leistung, an deren Gelingen ich nicht wirklich glauben kann.


                      2009-10-18, Bocca di Foggialle

                      Nach nur wenigen Metern auf dem Weg zur Bocca di Foggialle setzen sich Joshua und Elias mit einem erstaunlich hohen Tempo vom Rest der Gruppe ab. Eigentlich sieht es nicht wirklich schnell aus, wie sie da vor mir herwandern. Ich kann ihnen nur nicht folgen. Maria tröstet mich ein wenig, indem sie mir verrät, dass sie Niemanden kennt, welcher den Beiden auf solchen kletterfreien Touren das Wasser reichen kann. Sie selbst hätte auch nur auf richtigen alpinen Touren mit ausreichend Klettereinlagen eine gewisse Chance gegen die Beiden. Aber manchmal kämen die Beiden auch auf etwas ausgefallene Ideen, so dass dann selbst ihr riesiger Vorsprung nicht mehr für einen Tagessieg ausreichen würde.

                      Von der Bocca di Foggialle führt der anschließende Wege in engen Serpentinen über teils loses Gestein hinab in den Foret Communale d’Albertacce. Auf halber Höhe kann ich Joshua erkennen, wie er auf einen Stein sitzend seinen rechten Fuß untersucht. Er wird sich doch nicht etwa verletzt haben? Als wir ihn erreichen, können wir das Drama erkennen. An seinen uralten Bergstiefeln hat sich auf voller Länge die Sohle gelöst. Die Witterung der letzten Tage muss seinen Schuhen den Rest gegeben haben.


                      2009-10-18, Joshuas alte Schuhe

                      Da der Versuch einer Reparatur aussichtslos ist, beschließt er, die restlichen Tage mit Trailrunning-Schuhen zu wandern, welche er plötzlich aus seinem Rucksack unter all dem Essen hervorzaubert. Er hätte ja schon so etwas geahnt, brummelt er noch vor sich hin. Mit diesen Schuhen ist er zwar nicht mehr ganz so stabil aber umso schneller unterwegs. Minuten später ist er wieder gemeinsam mit Elias im nahen Wald verschwunden.


                      2009-10-18, Joshuas neue Schuhe

                      Nach dem langwierigen Abstieg, wir haben inzwischen wieder alle am Morgen gewonnenen Höhenmeter verloren, geht es anschließend in einem langgestreckten Bogen in erst östlicher und später nördlicher Richtung auf annähernd gleicher Höhe weiter durch einen unbewirtschafteten, naturbelassenen Urwald mit teils riesigen Baumleichen. Das Wandern ist hier ein vollkommener Genuss. Das Wetter ist warm, der Boden trocken und vom Schnee ist seit der Bocca di Foggialle keine Spur mehr zu sehen.


                      2009-10-18, Blick nach Calacuccia

                      Auf den letzten zwei Kilometern geht es schließlich an der Bergerie de Ballone vorbei immer steiler bergan hoch zur Refuge de Tighiettu auf eintausendsiebenhundert Meter Höhe. Die letzten Meter haben es in sich und ich bin froh, die Hütte zu erreichen. Wie zu erwarten gewesen, haben es Joshua und Elias bis kurz vor zwei Uhr geschafft, die Hütte in nur zweieinhalb Stunden zu erreichen. Wir anderen drei haben für die gleiche Strecke eine halbe Stunde länger benötigt, wobei Patrick und Maria nur aus lauter Freundlichkeit zu mir ihr Tempo gedrosselt haben.

                      Was dem Ganzen aber die Krone aufsetzt, ist, dass Joshua und Elias nebenbei noch eine Menge Pilze gesammelt haben, um daraus für uns alle eine große Pilzpfanne zubereiten zu können. Nun gut, ich muss das nicht verstehen, wie man so schnell und souverän mit Gepäck durch die Berge rennen kann.


                      2009-10-18, Urwald im Foret d'Albertacce

                      Da wir die Startzeit für ein Tripple durch meine Langsamkeit bereits überschritten haben, beschließen wir, uns in der Hütte häuslich niederzulassen, um am nächsten Tag den direkten Höhenweg zur Refuge de Carrozzu zu gehen. Mir ist diese Entscheidung mehr als recht, da meine Beine und Füße momentan unbarmherzig brennen.

                      Auf der Hütte sind neben uns noch vierzehn ältere Korsen, welche das Wochenende mit einer Geburtstagsfeier hier oben verbracht haben und sich langsam auf ihren Abstieg in Tal vorbereiten. Sie bestätigen uns, dass etwa zwei Stunden zuvor Christopher und Barbara nach einer kurzen Pause von hier aus aufgebrochen sind, um ihrerseits ebenfalls ein Double zu laufen. Nach Aussage der Korsen werden sie nach Haut Asco wandern, um in Anbetracht der fortgeschrittenen Tageszeit kein allzu großes Risiko mehr eingehen zu müssen. Für die direkte Variante zur Refuge de Carrozzu ist es definitiv zu spät gewesen.

                      Dichte Wolken und eine deutliche Kühle ziehen langsam aus Süden in das Tal hinauf und verhüllen die Hütte wie in Watte. Die Korsen packen schließlich ihre Sachen und verabschieden sich überschwänglich von uns. Zum Abschied überlassen sie uns noch die nicht genutzten Reste ihrer Feier, korsischen Wein, Baguette und Wurst. In Verbindung mit den Pilzen zaubert Patrick daraus ein opulentes Mahl. Zum dritten Mal in Folge müssen meine Vorräte im Rucksack verbleiben. Ich werde wahrscheinlich die Hälfte meiner Verpflegung wieder mit nach Deutschland nehmen.


                      2009-10-18, Refuge de Tighuettu

                      Kurz nachdem die Korsen aufgebrochen sind, klappert es erneut an der Tür. Drei hochgewachsene Korsen, völlig schwarz gekleidet, treten ein. Patrick erkennt in ihnen sofort Bekannte von der korsischen Bergwacht, welche aus Haut Asco kommend, den Zustand der Tour zum Saisonende noch einmal kontrollieren. Sie berichten uns, dass sie Christopher und Barbara im Cirque de la Solitude umfangreiche Hilfestellung geben mussten, da sie mangels ausreichender Winterausrüstung deutliche Probleme hatten, die drei zu völlig vereisten Wasserfällen gefrorenen Bäche zu queren. Es entspinnt sich daraufhin ein lebhafter Disput zwischen den Bergführern und den Leuten von der Bergwacht. Da ich dem Durcheinander jetzt gar nicht mehr folgen kann, übersetzt mir ansatzweise Maria die Diskussion. Fazit des ganzen Lamentierens ist, dass die Leute von der Bergwacht diesen Streckenabschnitt sperren werden für Leute, welche keine Winterausrüstung bei sich führen. Auf dem Schild, welches sie aus einem Nebenraum holen, ist es deutlich zu lesen. Verboten für Leute ohne Steigeisen, Eispickel und ausreichende Erfahrung. Den ihnen bekannten Bergführern lassen sie es aber frei zu entscheiden, ob sie sich diese Stelle ohne Ausrüstung noch zutrauen.

                      Maria, welche die umfangreichste Klettererfahrung, auch im Eis, von uns allen hat, bespricht abschließend noch einmal im Detail jede einzelne der kritischen Stellen mit den Leuten von der Bergwacht. Die beiden Älteren tendieren noch zu der Meinung, dass es mit etwas Glück gehen könnte, wenngleich ohne Seil das Risiko schon sehr hoch sei. Eigentlich müsste jeder von uns, um die Anderen nicht zu gefährden, jede der Stellen völlig allein durchklettern. Andererseits gäbe es bereits zwei Stellen, an welchen Christopher und Barbara ohne fremde Hilfe nicht mehr weiter gekonnt hätten. Es sei schließlich reiner Zufall gewesen, dass sie mit voller Ausrüstung heute auf dieser Strecke unterwegs gewesen seien.

                      Der Jüngere gibt zudem zu bedenken, dass auch sie zuerst ohne angelegtes Equipment in das Steilstück eingestiegen wären und dabei mehrfach überlegt hätten, dass es gerade noch so ginge. Bis sie eine Stelle überwunden hätten, von welcher aus sie ohne Steigeisen und Eispickel nicht mehr zurück gekonnt hätten. Genau an so einer Stelle hätten auch Christopher und Barbara festgesessen und wären ohne fremde Hilfe nicht mehr weitergekommen. Ihre eindeutige Empfehlung lautet also, es lieber bleiben zu lassen.

                      Die vier Bergführer beschließen daraufhin, ihre Tour hier zu beenden und stattdessen nach Corte zurückzuwandern. Nur ich kann mich noch nicht von der Tour lösen und beharre darauf, bei gutem Wetter es zumindest einmal versuchen zu wollen, den vereisten Cirque de la Solitude zu überwinden. Im Gegensatz zu den Bergführern habe ich für mich auch ein minimales Ausrüstungsset dabei, bestehend aus Hüftgurt, zwei Meter langer Dynema-Schlinge, zwei Karabinern und zwei Klemmkeilen. Gut, ich weis auch, dass dies bei Blankeis nicht gerade ausreichend ist. Aber im Frühjahr musste ich an fast genau der gleichen Stelle, nur eben auf der anderen Seite des Höhenzuges, meine Tour trotz voller Ausrüstung bereits abbrechen. Ich bin noch nicht bereit dazu, dies in diesem Moment nochmals zu akzeptieren.

                      Was soll ich sagen, das Abendessen und der restliche Abend vergehen mit einer sehr, sehr emotionalen Diskussion, mit welcher meine vier Begleiter mich vorsichtig umzustimmen versuchen. Da es ihnen nicht direkt gelingt, verabreden wir zumindest ein Szenario, mit welchem ich mich nach spätestens zwei Tagen bei ihnen melden kann. Sollte dies nicht möglich sein, würden sie einen Rettungseinsatz anfordern. In diesem Augenblick gerate ich wirklich ins Grübeln, da mich die Ernsthaftigkeit und Professionalität ihrer Argumente an meine frühere Tätigkeit bei der Bergwacht erinnert. „Wenn das Risiko zu hoch erscheint, muss nur im Notfall alles möglich sein.“, ist einer meiner persönlichen Leitsätze. Ich bete mir Bedenkzeit bis zum nächsten Morgen aus. Nur bei absolut perfektem Wetter, Sonne, kein Sturm und kein Niederschlag, so lege ich es jetzt für mich fest, werde ich hinaufsteigen, um mir die Situation aus sicherer Entfernung vor Ort anzusehen. So ganz kampflos will ich hier nicht schon wieder aufgeben. Gleichzeitig werde ich aber durch meine momentane Sturheit bestimmt nicht eine Rettungsaktion auslösen lassen. Ich musste noch nie gerettet werden. Und so soll es auch bleiben. Vorher drehe ich lieber um und hänge den nächsten Sack in die Berge, wie man früher bei uns so sagte.


                      2009-10-18, Etappenprofil, Länge 14,5 km, Aufstieg _.___ m, Abstieg _.___ m

                      ... weiter gehts im Teil 3 weiter unten in diesem Thread
                      Zuletzt geändert von tah; 17.01.2010, 00:27. Grund: Höhenangaben müssen geprüft werden
                      Schnee ist auch nur schick aufgemachtes Wasser.

                      Kommentar


                      • Scrat79
                        Freak
                        Liebt das Forum
                        • 11.07.2008
                        • 12533
                        • Privat

                        • Meine Reisen

                        #12
                        AW: [F] Speed Hiking - Korsika Oktober 2009 – Teil 1

                        @tah:
                        Pfeif auf die Nacht und schreib fleisig weiter!
                        Der Mensch wurde nicht zum Denken geschaffen.
                        Wenn viele Menschen wenige Menschen kontrollieren können, stirbt die Freiheit.

                        Kommentar


                        • tah

                          Erfahren
                          • 25.01.2009
                          • 305
                          • Privat

                          • Meine Reisen

                          #13
                          AW: [F] Speed Hiking - Korsika Oktober 2009 – Teil 1

                          @scrat 79: ... mach ich doch :-)

                          Der nächste Tag wird aber leider trotzdem noch etwas dauern, da ich erst wieder am Wochenende Zeit dafür haben werde.

                          Guten Nachtflug, Tom.
                          Schnee ist auch nur schick aufgemachtes Wasser.

                          Kommentar


                          • Scrat79
                            Freak
                            Liebt das Forum
                            • 11.07.2008
                            • 12533
                            • Privat

                            • Meine Reisen

                            #14
                            AW: [F] Speed Hiking - Korsika Oktober 2009 – Teil 1

                            Gut.
                            Sei auch dir ein wenig Ruhe für nen weiterhin super Bericht gegönnt!
                            Der Mensch wurde nicht zum Denken geschaffen.
                            Wenn viele Menschen wenige Menschen kontrollieren können, stirbt die Freiheit.

                            Kommentar


                            • Sinister
                              Erfahren
                              • 20.01.2009
                              • 109
                              • Privat

                              • Meine Reisen

                              #15
                              AW: [F] Speed Hiking - Korsika Oktober 2009 – Teil 1

                              eben, lieber 1-2 Tage mehr Zeit lassen und dafür weiterhin sowas geniales zu "papier" bringen!
                              [Bilder & Tourenbericht Berchtesgadener Alpen ] [WHW Schottland März 09]

                              Spiegel-Blick.de

                              Kommentar


                              • heinze
                                Gerne im Forum
                                • 12.12.2008
                                • 99
                                • Privat

                                • Meine Reisen

                                #16
                                AW: [F] Speed Hiking - Korsika Oktober 2009 – Teil 1

                                Da kommt Abenteurerstimmung auf! Bin gespannt wies weitergeht
                                Danke! Macht richtig Spass zum lesen

                                Kommentar


                                • tah

                                  Erfahren
                                  • 25.01.2009
                                  • 305
                                  • Privat

                                  • Meine Reisen

                                  #17
                                  AW: [F] Speed Hiking - Korsika Oktober 2009 – Teil 1

                                  ... im 11. Beitrag dieses Threads den Abschnitt vom 17.10. eingefügt. Der 18.10. ist in Arbeit.

                                  Viel Spass beim Lesen, Tom.
                                  Schnee ist auch nur schick aufgemachtes Wasser.

                                  Kommentar


                                  • tah

                                    Erfahren
                                    • 25.01.2009
                                    • 305
                                    • Privat

                                    • Meine Reisen

                                    #18
                                    AW: [F] Speed Hiking - Korsika Oktober 2009 – Teil 1

                                    ... jetzt habe ich auch den 18.10. fertigbekommen (im 11. Beitrag dieses Threads).

                                    Weiterhin viel Spass beim Lesen. Gruss Tom.
                                    Schnee ist auch nur schick aufgemachtes Wasser.

                                    Kommentar


                                    • Flachlandtiroler
                                      Freak
                                      Moderator
                                      Liebt das Forum
                                      • 14.03.2003
                                      • 29033
                                      • Privat

                                      • Meine Reisen

                                      #19
                                      AW: [F] Speed Hiking - Korsika Oktober 2009 – Teil 1

                                      Es bleibt spannend... (wobei da ja schon ein "Zweites Double" angekündigt ist)
                                      Da hat sich das Warten auf den Reisebericht wirklich gelohnt

                                      Bin gespannt wie bei Euch die Sturmnacht (21./22.) verlaufen ist.

                                      Sehr unterhaltsam ist auch dass im Bericht mal Bewunderung durchscheint, mal sowas wie Konkurrenz (oder sagen wir mal: Du vergleichst --selbstkritisch-- Deine Fähigkeiten und Einschätzungen mit denen der BF).

                                      Schade dass sich keine Gelegenheit mehr ergab für ein Treffen.

                                      Gruß, Martin
                                      Meine Reisen (Karte)

                                      Kommentar


                                      • Ahnender
                                        Fuchs
                                        • 17.08.2004
                                        • 1354
                                        • Privat

                                        • Meine Reisen

                                        #20
                                        AW: [F] Speed Hiking - Korsika Oktober 2009 – Teil 1

                                        @tah:

                                        Irgendwas stimmt mit deinem GPS nicht - deine Auf- und Abstiegswerte sind
                                        viel zu hoch, km sind ok. Ich denke auch, dass die Standardwerte des PRNC
                                        und zB vom van der Perre zu gering sind, aber deine sind zT 100% oder mehr
                                        - das ist zu hoch.

                                        Beispiel:

                                        Pietra Piana - Manganu

                                        tah: 2009-10-16, Etappenprofil, Länge 9,4 km, Aufstieg 1.597 m, Abstieg 1726 m
                                        PNCR: Auf: 590 m, Ab: 830 m
                                        van de Perre: Länge: 9,5 km, Auf 600 m, Ab 850 m
                                        ich (X6): Auf 680 m, Ab 920 m


                                        Auf der Seite des PNRC hab ich gesehen, dass die jetzt nen netten Blog
                                        haben mit aktuellen (Schnee)-Fotos und Filmchen vom GR20 und dem Parc.
                                        Tom

                                        >>Ohne Philosophie wagen heute nur noch Verbrecher, anderen Menschen zu schaden.<<
                                        Robert Musil - Der Mann ohne Eigenschaften

                                        Kommentar

                                        Lädt...
                                        X