[LV][EE] ... aber mein Fahrrad das rollt

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    Liebt das Forum
    • 17.11.2006
    • 11083
    • Privat

    • Meine Reisen

    [LV][EE] ... aber mein Fahrrad das rollt

    Tourentyp
    Lat
    Lon
    Mitreisende
    Land: Lettland, Estland
    Reisezeit: Sommer 2009
    Region/Kontinent: Osteuropa




    Vor der Reise

    Nachdem ich spontan mein langjähriges Skandinavienabo gekündigt habe, suchen meine Augen die Karte mit der großen weiten Welt nach einem neuen Ziel aus. Osteuropa soll es nach vielen Jahren wieder einmal sein und da ich ja dem Norden doch sehr anhänge, fällt meine Wahl recht schnell auf die baltischen Staaten. Über diesen Namen habe ich mich schon immer ein wenig gewundert, liegen doch nicht nur diese drei, sondern noch einige andere Länder am Baltischen Meer.

    Anders soll diesmal auch die Art der Fortbewegung sein; nach Jahren des Wanderns ist wieder einmal das Fahrrad an der Reihe – für das Baltikum ohnehin das Mittel der Wahl schlechthin. Nach ein paar intensiveren Blicken auf die Karte ist auch klar, daß ich maximal zwei Länder „schaffen“ kann. Litauen habe ich schnell gestrichen. Es gehört für mich von der Geschichte und Kultur her eher zu Polen als zu seinen nordöstlichen Nachbarn und so stehen Lettland und Estland als diesjährige Urlaubsziele fest.

    Vorbereitet habe ich mich auf diese Reise nur wenig. Die Hin- und Rückfahrt auf der Fähre und zwei Übernachtungen in Tallin habe ich gebucht, einiges zur Geschichte der Länder gelesen und ein paar Vokabeln gelernt. Außerdem gibt es einige sehr wenige Plätze, die ich unbedingt sehen will, der Rest muß sich vor Ort ergeben. Nicht einmal mit den zu bewältigenden Entfernungen habe ich mich beschäftigt – wird schon irgendwie klappen.


    Hier ein Link auf meine Reiseroute , damit ihr in etwa nachvollziehen könnt, wo ich langgefahren bin.
    dunkelblau: per Rad, hellblau: per Bus und Bahn
    (Da es mit der direkten Einbindung der Quickmap-Karte Probleme gibt, hab eich jetzt nur den Link gesetzt.)


    Abfahrt

    Sonnabend, 15. August



    Bereits früh um 5 Uhr sitze ich mit meinem Rad in der Bahn nach Norden. Über Elsterwerda, Berlin und Stralsund fahre ich nach Lancken, eine Station vor Saßnitz. Hier beginnt meine erste Etappe von etwa 4 km zum Fährhafen Mukran. Nach dem üblichen Warten darf ich endlich auf die Fähre; Abfahrt 16 Uhr.

    Das Wetter ist prächtig, warm und sonnig, alles andere wäre auch eine mittlere Katastrophe. Das Schiff ist alt, der Raum mit den Pullmannsitzen winzig und drückend, die Luft auf dem ganzen Schiff stickig. Einen Aufenthaltsraum außer dem ebenfalls leicht miefigen Restaurant gibt es nicht; nirgendwo ein Fleck, um meine Isomatte auszurollen.

    Doch bei diesem Wetter spielt sich alles auf Deck ab. Die Sonne brennt, ich lese in meinem Reiseführer (Michael Müller Verlag: Baltische Länder), esse mein Abendrot und baue später an einer windgeschützten Ecke mein Nachtlager auf. Aus dem Schlafsack heraus beobachte ich einen wundervollen Sonnenuntergang.



    Sonntag, 16. August
    Klaipeda – Nida (79 km)

    Im Vergleich mit anderen Linien ist diese Fährfahrt billig, so billig, daß ich mir noch einen Platz am üppigen Frühstücksbüfett gönne. Damit kommt auch ein Hauch osteuropäische, russische Exotik auf: neben den üblichen Speisen und Getränken gibt es Blinis mit saurer Sahne und quietschsüße Törtchen. Osteuropäisch ist nun auch die Zeit, die Uhr wird eine Stunde vorgestellt.



    Am Vormittag schippert unsere Fähre durchs Kurische Haff, auf der rechten Seite die Nehrung, auf der linken der riesige Hafen von Klaipeda.
    Um 12 Uhr Ankunft einige km südlich der Stadt. Ich verirre mich ein wenig im Hafengelände, will jemanden vom Personal nach dem Weg fragen und bin im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos. Der gute Mann kann außer litauisch nur russisch. Kein Problem, ich auch – dachte ich zumindest. Mir fallen die einfachsten Wörter nicht mehr ein. Ich stehe da wie ein Häufchen Unglück. Da habe ich nun Jahre lang russisch gelernt und jetzt kann ich nicht mal mehr nach dem Weg fragen.
    Um es vorwegzunehmen: es wird besser, viel besser. Während der Tour tauchen die verrücktesten Wörter wieder auf, ich konjugiere und dekliniere ohne darüber nachdenken zu müssen – kurz: von perfekt bin ich weit entfernt, aber ich kann mich prima verständigen.

    Der Rest des Tages ist schnell zusammengefaßt: In Klaipeda habe keinerlei Lust und keinerlei Ruhe, mir die Stadt anzusehen. Sie paßt nicht auf meine Tour, liegt noch zum falschen Land.
    Also nur schnell Trinkwasser auffüllen und weiter, immer Richtung Norden, fast immer auf dem erstaunlich gut ausgebauten Küstenradweg. Noch etwa 50 km sind es bis zu lettischen Grenze – und dort will ich heute noch hin. Litauen gehört nicht zum Urlaub, ich tausche kein litauisches Geld, mache keine Photos in Litauen, sondern brause einfach nur hindurch.

    Und dann ist es soweit: Am Abend stehe ich an der Grenze. Ein altes, Abfertigungsgebäude steht verlassen und halb verfallen auf der Straßenmitte. Ich rolle über die imaginäre Linie und bin in ...
    Zuletzt geändert von November; 01.11.2011, 20:07. Grund: Karte geändert
    Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um.

  • November
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    Liebt das Forum
    • 17.11.2006
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    • Meine Reisen

    #2
    AW: [LV][EE] ... aber mein Fahrrad das rollt

    Latvias Republika – Latvia – Lettland

    Ich fahre noch ein kleines Stück auf der fast autoleeren Schnellstraße, bevor ich auf einem kleinen Weg nach Westen abbiege.

    Bevor ich sie sehe, kann ich sie hören – die Ostsee, die baltische See. Ein menschenleerer Sandstrand, kleine Dünen und dahinter eine karge Heidelandschaft. Ganz ohne Alkohol oder andere Drogen bin ich irgendwie high. Da der Abend jedoch zügig weiter fortschreitet bleibt mir nur wenig Zeit, das alles zu genießen. Sogleich entledige ich mich meiner Sachen und gehe zum Wasser. Die Wellen sind hier so hoch, daß schwimmen unmöglich ist; nur hüpfen, mich von den Wellen heben und wieder fallen lassen, ein Stück hineinlaufen und mich wieder zurücktragen lassen. Ich mag gar nicht aufhören, aber die Dämmerung „droht“.

    Heute Abend mache ich etwas, was ich schon lange Zeit nicht mehr gemacht habe: ich rolle meine Matte und meinen Schlafsack einfach auf der Wiese aus; ein Zelt brauche ich heute Nacht nicht.







    Montag, 17. August
    Nida – Liepaja (83 km)

    Nun habe ich die Wahl, zur Straße zurückzufahren und „km zu machen“. Das hatte ich ursprünglich auch vor, aber weil es hier doch so schön ist und der gestrige Abend so kurz war, versuche ich, mich auf diversen Wegen unterschiedlicher Qualität nach Norden durchzuschlagen. Bis zum Dorf bzw. der Streusiedlung Pape ist auch alles bestens; langsam aber stetig rolle ich nach Norden. Kleine, teils sandige Wege inmitten von Heide und Wacholder, links von mir immer die Ostsee.

    Kurz nach Pape habe ich dann den ersten und einzigen (!) Platten dieser Tour. Alles kein Problem; der Schlauch wird gegen einen neuen getauscht, der alte wird abends geflickt. Da ich gerade beim basteln bin und auch mit der Schaltung was nicht stimmt, versuche ich mich noch daran und kann es auch wieder einigermaßen einstellen. Da hält ein Auto neben mir, ein Mann und eine Frau steigen aus, fragen ob ich Hilfe brauche. Eigentlich nicht, aber sie bieten mir an, mit zu ihrem Dauercamperwohnwagen gleich nebenan zu kommen und mir dort die Hände zu waschen. Dagegen ist nichts einzuwenden, nur bleibt es natürlich nicht dabei.

    Ein opulentes Mahl wird aufgetischt: Weißrot, Tomaten, Gurken, Zwiebeln, Mettwurstscheiben (ich esse eigentlich keine Wurst, traue mich aber nicht, nein zu sagen), heftig süßer Kuchen und andere Leckerein. Nachdem ich dann auch noch zwei Gläser Kognak nicht abschlagen konnte, verabschiede ich mich dann doch; schließlich ist es erst bzw. schon später Vormittag.

    Und nun mache ich den Fehler des Tages. Anstatt jetzt zur nur wenige km von hier parallel verlaufenden Straße abzubiegen, fahre ich weiter auf diesem Weg Richtung Norden. Es hat ja bisher alles so gut geklappt und ab jetzt ist sogar ein Radweg ausgeschildert. Pustekuchen – das erste Schild war auch das letzte und ich verheddere mich gnadenlos in dem Wirrwarr von Waldwegen. Lediglich die Richtung kann ich halten, gewiesen vom Rauschen der Ostsee. Das ist aber auch schon alles. Erstaunlicherweise gibt es immer wieder Autospuren, die mir zeigen, daß diese Wege tatsächlich irgendwohin führen. Teilweise bleibt mir nichts anderes übrig, als mein Rad zu schieben und selbst das fällt auf diesem Sandboden oft schwer. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin und von der Anstrengung und der Wärme bin ich völlig durchgeschwitzt. Erstaunlicherweise gerate ich nicht in Panik, sondern bleibe ziemlich ruhig. Immerhin habe ich mir in Pape mein Trinkwasser aufgefüllt (ich muß wohl eine dunkle Vorahnung gehabt haben) und kann notfalls die Nacht hier verbringen.

    Soweit kommt es aber nicht. Plötzlich sehe ich durch die Bäume einen roten Bauwagen schimmern und halte darauf zu. Es sind tatsächlich Waldarbeiter dort und ich lasse mir von ihnen erklären und aufmalen, wo ich nun am besten langfahren soll. Der Weg wird besser und ich treffe auf die versprochene Straße. Es ist zwar nur eine unasphaltierte Schotterpiste, aber ich bin wieder in der „Zivilisation“, fahre bis zum nächsten Dorf und von dort zur großen Asphaltsraße A11 und auf ihr weiter nach Liepaja.

    Als ich dort endlich ankomme, kann ich zwar mein erstes lettisches Geld von einem Bankautomaten abheben (bisher ging es auch ohne), aber für das Kaufen einer vernünftigen Radkarte ist es zu spät, die Läden haben längst zu. Zu Hause habe ich mir eine Karte von Michelin geholt, Maßstab 1:500.000. Zur Grobplanung völlig ausreichend, aber hier versagt sie eben doch.
    Ich fahre noch ein kleines Stück nach Norden und stelle an der Ostsee mein Zelt auf. Hier hat die Küste einen ganz anderen Charakter als gestern Abend: Kiefernwald und Steilküste. Natürlich gibt es auch heute das obligatorische Bad, der Schweiß muß schließlich abgespült werden.


    Dienstag, 18. August
    Liepaja – Edole (101 km)

    Heute früh passiert etwas gänzlich ungewohntes: es regnet. Ich bleibe einfach liegen und warte bis es aufhört. Erst gegen Mittag fahre ich los.
    Anstatt aus dem Schlamassel von gestern etwas gelernt zu haben, versteife ich mich darauf, auf einer winzigen, teilweise unasphaltierten Straße, weiterfahren zu wollen. Mit einer vernünftigen Karte wäre das vielleicht möglich gewesen, aber mit meiner konnte ich das getrost vergessen. So verfranse ich mich mal wieder mal im Dickicht der lettischen Wälder und komme überraschend an einem Dorf raus, in dem ich mich nie und nimmer vermutet hätte. Einen Kompaß, der diesmal recht hilfreich gewesen wäre, habe ich natürlich zuhause gelassen. Wozu brauche ich bei einer Radtour in einem zivilisierten europäischen Land auch einen Kompaß?

    Für den Rest des Tages halte ich mich dann an echte asphaltierte Straßen, fahre noch ein Stück an der Küste entlang, bevor ich nach Osten ins Landesinnere abbiege.

    Obwohl ich völlig unmusikalisch bin, summe ich immer wieder mal ein paar Melodien vor mich hin; hier hört mich ja niemand. Und heute Nachmittag schleicht sich wie von selbst ein Ohrwurm ein, den ich die ganze Tour über nicht mehr loswerde: "Ich wäre ja so gerne noch geblieben, aber mein Fahrrad das rollt, ..."

    Heute bin ich noch lange unterwegs. Ich habe das Gefühl, etwas aufholen zu müssen. Erst kurz vor Edole, es ist inzwischen 8 Uhr abends, schlage ich mein Zelt hinter einem kleinen Hügel nahe der Straße auf.

    Als ich schon im Schlafsack liege hält dann noch ein Traktor vor meinem Zelt, etwas irritiert schaue ich heraus. Ein freundlicher Bauer fragt besorgt, warum ich nicht bei ihm am Haus zelte (ich kann es durch die Bäume hindurchschimmern sehen), sondern hier draußen in der Wildnis. Ich erkläre ihm, daß es mir nichts ausmacht und er zieht wieder von dannen.


    Mittwoch, 19. August
    Edole – Oviši (58 km)

    Durch Edole radele ich hindurch, geradewegs auf Kuldiga zu. Genau dieses Kuldiga ist nämlich der Grund, warum ich von der Küste ins Landesinnere abgebogen bin. Ich habe vorher von einem hübschen alten Städtchen gelesen, von den Städteplaneren lange Zeit übersehen, noch mit mittelalterlicher Stadtaufteilung, teils mit viel Charme vor sich hin bröckelnd, teils schmuck herausgeputzt. Bekannter als die Stadt selbst ist aber die alte Backsteinbrücke über die Venta, angeblich die längste mit dem Auto befahrbare Europas und vor allem der Wasserfall einige hundert Meter stromauf.
    Aber kann man das Wasserfall nennen? Er bringt es nur auf etwa einen halben Meter Höhe, dafür aber auf 245 Meter Breite und darf sich damit der breiteste Wasserfall Europas nennen. So viele Rekorde auf so engem Raum, aber genaugenommen ist das völlig egal; beides ist nämlich einfach nur wunderschön anzusehen.

    Schon kommt wieder leichte Unruhe in mir auf. Es ist fast Mittag, ich will eigentlich noch bis Ventspils – eigentlich, denn genaugenommen ist es nicht zu schaffen. Ich bin immer noch so weit im Südwesten Lettlands, zwar habe ich kein konkretes Ziel, habe mir das aber trotzdem irgendwie anders vorgestellt. Wieder zurück vor der Touristinformation, dem alten Rathaus, wo ich mein Rad abgestellt habe, trifft mich sozusagen die Erleuchtung.

    Draußen hängt ein Fahrplan für die Überlandbusse, u.a. auch nach Ventspils, um 14 Uhr soll einer fahren. Ich frage in der Information, ob ich mein Fahrrad dorthin im Bus mitnehmen kann. Die nette Frau scheut keine Mühe, telephoniert mit der Buszentrale in Riga, läßt mir ausrichten, daß das in Ordnung geht. Falls der Fahrer Ärger macht, soll ich ruhig mit der Zentrale drohen (was aber letztlich nicht nötig ist).

    Auf einmal sieht vieles anders aus. Ich schlendere noch einmal und viel entspannter durch die kleine Stadt und hinunter zur Venta, beobachte die Angler und halte ein ausgiebiges Picknick.
    Übrigens habe ich mir in Kuldiga endlich eine brauchbare Karte gekauft.

    Später bringt mich der Bus in einem für mich inzwischen ungewohnten Tempo zurück an die Küste, zur Hafenstadt Ventspils. Hafenstadt mag sich gewaltig anhören, aber Ventspils ist klein, dafür für lettische Verhältnisse relativ reich und schick wiederhergerichtet. Ich spaziere über die Hafenpromenade, fülle mir an einem Brunnen Trinkwasser auf und mache mich auf die Weiterfahrt.

    Von nun an geht es wieder immer parallel an der Küste entlang Richtung Nordosten, zunächst auf asphaltierter, später unasphaltierter Straße. Mal sehen, wie weit ich heute noch komme.

    Letztlich ist es Oviši, wohin ich am Abend abbiege. Hier steht der älteste Leuchtturm Lettlands, verrät mir mein Reiseführer. Aber er ist eingezäunt, kein rankommen möglich, durch die Kiefern sogar schlecht zu sehen. Aber egal, wegen des Turmes bin ich schließlich nicht hier. Es wieder mal die Ostsee, wegen der ich heute Abend noch die zwei Extrakilometer auf furchtbar holperiger Piste fahre – und morgen wieder zurück. Dieser Platz ist es allemal wert. Oviši ist kein wirklicher Ort, hier stehen nur der Turm und ein paar verstreut liegende Wochenendhäuschen.
    Zwischen den Kiefern baue ich mein Zelt auf. Außer mir ist hier niemand. Den Wald, die Dünen, das Meer habe ich wieder für mich allein.






    Donnerstag, 20. August
    Oviši – Roja (106 km)

    Morgens fahre ich erst wieder das Stück zurück, von der Nebenpiste zurück auf die Hauptpiste. Piste nenne ich es. Es ist eine breite Sandstraße, auf die in Abständen immer wieder frischer Split aufgetragen und befestigt wird. Dadurch entstehen Bodenwellen in verdammt kurzen Abständen, so daß es holpert und einen durchschüttelt, wenn man darüber hinwegfährt. Langsam bewege ich mich vorwärts, versuche schmale Streifen zu finden, auf denen es sich erträglicher fährt. Nebenher mache ich mir Sorgen, ob mein Rad das viele Gepolter durchhält – aber es hält.
    Dazu kommt noch die Belastung durch die Autos. Viele sind es nicht, einige immerhin schon. Die grobe Herkunft der Fahrzeuge ist leicht auszumachen. Westeuropäer fahren langsam, schleichen um ihr Auto besorgt nur so dahin. Einheimische brettern hindurch als wäre es glatter Asphalt. Die Westeuropäer sind mir deutlich lieber – sie hinterlassen die kleinere Staubwolke.

    Einige Autos sind es also schon.
    Schließlich beginnt hier mitten im Nichts der Slitere Nationalpark. Tiefe Wälder, eine unberührte Küste – alles nicht zu verachten, aber das gäbe es auch anderswo. Slitere bedeutet wohl vor allem das Kap Kolka. Hier am Kap, am nördlichsten Punkt Lettlands, treffen die offene Ostsee und die Rigaer Bucht aufeinander. Von oben läßt sich ausmachen, wie sich das eher blaugraue Wasser der See und das grünliche Wasser der Bucht aneinander reiben.
    Slitere ist aber auch das letzte Rückzugsgebiet der Liven, einem nur noch winzigem finno-ugrischen Volk. In ganz Lettland sind es noch knapp Tausend, die Zahlenangaben dazu sind widersprüchlich. Die meisten leben hier in den Fischerdörfern um das Kap Kolka herum.

    Ich biege ab zum Dorf Mazirbe, schaue mir im livischen Kulturzentrum eine Photoausstellung über die alte Zeit hier in der Gegend an und spaziere runter ans Meer. Obwohl ich das alles nun schon oft gesehen habe, bin ich immer wieder aufs neue überwältigt. An dieser Küste könnte ich mich stundenlang aufhalten – und kann es doch wieder nicht; eine innere Unruhe treibt mich immer weiter.

    Wieder zurück auf der Straße passiert etwas völlig überraschendes. Der Straßenbelag wechselt von Sand zu Asphalt. Ein riesiges Schild informiert über eine Finanzspritze der EU. Und es ist nicht irgend ein minderwertiger Belag, wie ich ihn bisher gewohnt war; hier ist allerfeinste Qualität verarbeitet worden.

    Mein Rad schießt nur so dahin. Nach gut 15 km ist der Spuk ebenso plötzlich wieder vorbei – man darf die Leute ja nicht zu sehr verwöhnen.

    Jetzt ist es aber auch nicht mehr weit bis zum Kap. Ein Parkplatz, ein Imbiß, eine Andenkenbude. Ich parke mein Rad und sehe mich um. Das Rauschen des Meeres wird anfangs noch von einem anderen Geräusch übertönt: etwas abseits sitzen zwei Frauen vor ihren Zittern und spielen livische Melodien, begleitet von ihrem Gesang. Anfangs bin ich noch genervt, finde aber immer mehr Gefallen daran und kaufe auf dem Rückweg sogar eine CD.

    Von den Farbspielen der beiden Meere ist von hier kaum etwas zu sehen, ein Aussichtsturm (meinetwegen auch mit Eintritt) für einen Rundblick über Kolkarags wäre eine prima Sache. Hier bleibe ich eine ganze Weile, verliere meine Digiknipse, finde sie wieder und mache mich schließlich auf den Weg entlang der Rigaer Bucht gegen Süden.

    Heute hätte ich gegen einen Zeltplatz nichts einzuwenden, eine Dusche ist nach all der Zeit nicht zu verachten. Schließlich bewege ich mich diesmal nicht in einsamem Fjäll. Doch es ist erst Nachmittag und mich treibt es noch weiter. Als ich mich zu passender Zeit danach umsehe, ist aber nichts dergleichen zu finden.

    So habe ich heute noch einmal die Ostsee, genauer die Rigaer Bucht, für mich alleine. Wie üblich, steht mein Zelt wieder zwischen duftenden Kiefern, vor mir der Strand und das Wasser. Ein bißchen wehmütig ist mir schon, bin ich doch heute für längere Zeit zum letzten mal an der See.

    Denn inzwischen habe ich sogar konkrete Pläne für die nächsten Tage. Wenn ich nicht nur in Lettland festhängen, sondern auch noch etwas von Estland sehen will, ist wieder einmal motorisierter Transport angesagt.


    Freitag, 21. August
    Roja – Riga – Cēsis (10 km)

    Bereits gestern Abend habe ich mir an der Busstation im Fischerdorf Roja die Abfahrtszeiten angesehen und punkt 8 Uhr sitzen ich und mein Fahrrad im Bus nach Riga.
    Riga, die lettische Hauptstadt und Metropole des Baltikums – eigentlich ein Muß, aber auf mich wirkt sie nicht im geringsten anziehend. Ich will radfahren, mich bewegen und nicht in einem solchen Moloch jeglichen Elan verlieren. Na gut, bewegt werde ich im Moment auch nur durch den Bus, aber darüber sehe ich jetzt großzügig hinweg.

    Von Riga sehe ich so nur den zentralen Busbahnhof, die gegenüberliegenden Markthallen, das kurze Stück bis zum Bahnhof und natürlich den Bahnhof selbst. Dort kaufe ich mir eine Fahrkarte nach Cēsis und sitze eine Weile später im Zug dorthin. Die Linie ist für lettische Verhältnisse relativ stark befahren, was noch lange nicht heißt, daß die Technik auf dem allerneuesten Stand ist. Aber schließlich bin ich ja nicht hier, um die selben Bedingungen vorzufinden wie zu Hause.

    Nachmittags bin ich in Cēsis. Dieses Cēsis liegt mitten im Gauja Nationalpark und dieser Gauja Nationalpark ist ein touristisches Vorzeigestück Lettlands. Eine sicherlich schöne, bewahrenswerte Natur in einer lieblichen Landschaft, geprägt durch den Fluß Gauja. Ebenso aber auch alte Städte, bedeutende Burgen, Freilichtmuseen, alles mit einer perfekten touristischen Infrastruktur.

    Das Wort Park trifft es wohl recht gut: Naturpark, Kulturpark, Vergnügungspark. Im Grunde wollte ich mich von diesem Gauja Park fernhalten, aber die Burgruine in Cēsis hat es mir doch angetan.

    Also radele ich vom Bahnhof in Cēsis direkt zur Burg und lasse mir viel Zeit. Ich liebe Ruinen. Na gut, diese hier ist ganz passabel erhalten bzw. wieder hergerichtet und auch der Rasen drumherum ein bißchen zu sehr gepflegt. Aber was solls, beeindruckend ist sie allemal.
    Im Burggarten wird als touristische Attraktion (ich bin schließlich im Gauja Park) Bogenschießen angeboten. In diesem Fall bin ich gerne mal der typische Tourist; Bogenschießen wollte ich schon immer mal ausprobieren.

    So, genug gesehen und geschossen. Ich kaufe mir noch eine neue Karte für Gegend, die mich in den nächsten Tagen erwarten wird und radele ein paar km hinunter zum Zeltplatz. Es ist eine riesige Rasenfläche direkt am Fluß mit ein paar alten Bäumen; nur sehr wenige Zelte stehen hier, Wohnmobile und Autos gar nicht. Für die ist abseits weiter oben ein kleiner Fleck vorgesehen, abgeschoben wie anderswo die Zelte – feiner Platz hier.

    Heute ist es nicht mehr die Ostsee, sondern der Fluß Gauja, in dem ich bade; schön ist es trotzdem. Obwohl der Fluß so friedlich aussieht, ist die Strömung so stark, daß ich kaum dagegen ankomme.
    Hinterher folgt der Programmpunkt, dessentwegen ich auf diesem Platz bin: ich dusche mich und wasche mir die Haare, welch Wohltat!

    Abends und auch schon wieder am nächsten Morgen treiben einige Schlauchboote mit (feucht)fröhlicher Besatzung die Gauja hinunter. Da will ich mir lieber nicht vorstellen, was hier tagsüber und dann auch noch zur Hauptsaison los ist.


    Sonnabend, 22. August
    Cēsis – Sinole (105 km)

    Irgendwie komme ich heute nicht so recht aus dem Knick und es ist bereits später Vormittag, als ich Cēsis Richtung Nordosten verlasse.
    Von heute ab fahre ich durch eine ganz andere Landschaft als bisher. Nicht nur die Ostsee, die mich bisher begleitet hat, fehlt, auch die Kiefernwälder werden durch Mischwälder abgelöst. Der Boden ist ertragreicher, die Landwirtschaft dominiert.

    Gute 15 km hinter Cēsis liegt das Städtchen Rauna. Mein Reiseführer widmet ihm keine Zeile, zu unbedeutend. Aber in einem der in den Touristeninformationen ausliegenden Faltblätter wird es wenigstens mit einem Satz erwähnt: „... castle at 16th centurie, only main blocks still stying.“ – Das ist doch was für mich. Still steht sie auf einem Hügel am Rande der Stadt, von Buschwerk umwachsen, der Hof voller Brennesseln. Ich bin begeistert, das ist wenigstens eine echte Ruine. Doch selbst hier kann ich nicht ewig bleiben.

    Immer weiter rolle ich auf kleinen Straßen, vorbei an Getreidefeldern, an stillen Dörfern, an kleinen Seen. Immer wieder begegne ich den aus dem Baltikum nicht wegzudenkenden Weißstörchen.

    Abends fahre ich so lange wie möglich, nicht nur um weit zu kommen, sondern einfach, weil ich mich wohlfühle. Ich könnte ewig so fahren, bilde ich mir wenigstens ein. Als es dämmert, wird die Situation aber kritisch. Wegen der vielen Landwirtschaft finde ich keinen passenden Platz. Alle abzweigenden Wege führen zu Gehöften, sonst überall Felder und Weideland. Letztlich finde ich hinter dem Dorfchen Sinole noch eine nicht mehr genutzte Kuhweide und baue mein Zelt auf einem kleinen Hügel auf; drum herum nasses Gras, auf meinem Fleckchen trockenes Heidekraut.


    Sonntag, 23. August
    Sinole – Nursi (113 km)

    Morgens in aller Frühe werde ich durch wütendes, klagendes Brüllen und laute antreibende Rufe geweckt. Ich ahne schreckliches. Ein vorsichtiger Blick aus dem Zelt bestätigt meine Ahnung – die Rinder werden auf die nun doch nicht ungenutzte Weide getrieben. Was jetzt zu tun ist, ist klar. Möglichst schnell und dabei möglichst ohne Hektik meine Sachen zusammenpacken und hier verschwinden. Inzwischen stehen einige der braunen Tiere bei meinem Zelt und staunen über das unbekannte Etwas. Die meisten ziehen aber teilnahmslos weiter; auf meinem Platz steht nur trockenes Kraut, das saftige Gras wächst woanders.
    Als ich erst mein Rad und dann mein Gepäck über den Zaun hebe, um dann selbst drüber zu klettern, schaut mich eine Bäuerin verwundert an und erklärt, daß ein paar Meter weiter ein Tor ist. Schön, wenn ich das nächste mal wieder hier zelte, weiß ich bescheid.

    Auf diese Weise ist es erst kurz vor ½ 8 Uhr, als ich startklar endlich auf der Straße stehe.
    Solche belanglosen Dinge wie Frühstück und Zähneputzen mußten der besonderen Situation wegen verschoben werden; das Frühstück auf kurze Zeit später, das Zähneputzen auf heute Abend.

    Ansonsten beginnt der Tag wie der gestrige geendet hat, auf kleinen Straßen fahre ich immer weiter nach Nordosten. Noch heute will ich rüber nach Estland, den Grenzübergang Ape habe ich mir dafür ausgekuckt. Der ist aber auf manchen Karten gar nicht erst eingezeichnet.

    Das nehme ich als Anlaß, vorher noch nach Alūksne reinzufahren, die Stadt wird als sehenswert beschrieben. Doch ich bin enttäuscht, alles ist recht weitläufig und ein wenig verwahrlost. Ich weiß nicht so recht, was ich hier eigentlich verloren habe. Die Touristeninformation ist in einem riesigen alten Gebäude untergebracht, auch hier bröckelt der Putz ab. Verärgert stelle ich fest, daß sie geschlossen ist; na prima. Doch das Provinzmuseum eine Etage höher hat geöffnet. Da die freundliche Dame sonst nichts zu tun hat, Besucher sind keine da, erklärt sie mir ausführlich, daß der Grenzübergang Ape existiert und ich ihn nutzen kann, sofern ich kein Visum, Zollerklärung oder ähnliches brauche, denn er besteht nur aus einem Schild am Straßenrand.

    Also los, nach einer Essenspause am zugegeben schönen See von Alūksne mache ich mich auf den Weg, schließlich sind es noch einige km bis Ape.
    Noch bevor ich richtig da bin, begrüßt mich ein Schild: Ape 1928. Eine recht junge Stadt also, gegründet während der kurzen Zeit der lettischen Unabhängigkeit. Ich bin neugierig, was da kommen mag und dann total überrascht, positiv überrascht. Ape ist von der Anlage her eine Art Gartenstadt, so würde man das hier wohl bezeichnen. Für die damalige Zeit moderne große öffentliche Gebäude, die Wohngebäude zwischendrin verstreut; sowohl kleine Häuschen mit einem Garten dazu als auch kleine Wohnblocks, natürlich ebenfalls mit Garten.

    Was mir auch auffällt: die Stadt scheint einen Gärtner angestellt zu haben, der die Berufsbezeichnung verdient. Überall sind Beete angelegt, aber nicht so wie die oft langweiligen Blumenrabatten hierzulande, sondern wirklich einfallsreich, originell bis witzig. Die gärtnerische Gestaltung kann mit einer hiesigen BUGA locker mithalten und das in einer winzigen unbedeutenden Kleinstadt.

    Auch hier gibt es eine Touristeninformation, wie fast überall in Lettland, nur hat sie heute, am Sonntag, ebenfalls geschlossen. Das finde ich besonders schade, hätte ich doch gerne mehr über diese Stadt gewußt. Im Reiseführer ist Ape mit keinem Wort erwähnt. Auch zu Hause finde ich lediglich heraus, daß der Ort bereits im 15. Jahrhundert gegründet wurde, damals Hoppenhof hieß, 1928 das Stadtrecht und wohl auch seine jetzige Gestaltung erhielt. Der Rest bleibt meiner Phantasie überlassen.
    In Ape gebe ich gerne meine letzten lettischen Münzen für Leckereien wie Joghurt, Tomaten und Schokolade aus, fülle mein Trinkwasser auf und fahre die letzten paar hundert Meter bis zur Grenze.

    Ein bißchen wehmütig bin ich schon, aber nur ein bißchen, schließlich geht es neuen Erlebnissen entgegen; Zeit für Rückblicke ist später.

    Ein großes Schild zeigt an, wo ich ab jetzt weiterfahre:


    (Fortsetzung folgt)
    Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um.

    Kommentar


    • Ari
      Alter Hase
      • 29.08.2006
      • 2555
      • Privat

      • Meine Reisen

      #3
      AW: [LV][EE] ... aber mein Fahrrad das rollt

      Ein sehr schöner Bericht mit stimmungsvollen Fotos. Von mir .

      Kommentar


      • Gast-Avatar

        #4
        AW: [LV][EE] ... aber mein Fahrrad das rollt

        ja, das gefällt mir auch ausgesprochen gut. Sehr schön und interessant geschrieben. Vor allem die Möglichkeit einsam an der Ostsee zu zelten, lockt mich schon ungemein. Möchte schon lange da hin und bin vor einigen Jahren ja auch losgeradelt ab Berlin, aber wegen Zeitknappheit nur bis etwa Slupsk gekommen. Kommt jetzt auf Punkt 3 meiner to-do-list, die ich gerade mal wieder umgestalte. ;)

        Auch die Fotos gefallen mir sehr. Hab Dank, dass du mal so eine selten beschriebene Gegend vorstellst, november.
        Ich bin schon gespannt, was noch kommt.

        Kommentar


        • thueringer
          Erfahren
          • 30.06.2009
          • 208
          • Privat

          • Meine Reisen

          #5
          AW: [LV][EE] ... aber mein Fahrrad das rollt

          Da habe ich nun Jahre lang russisch gelernt und jetzt kann ich nicht mal mehr nach dem Weg fragen.
          Geht mir auch so. Außer "много достопримечательность" (oder so ähnlich)
          ist da nicht viel hängen geblieben

          Ansonsten klasse Bericht! Irgendwie vergisst man immer das die Welt,
          östlich der Oder, auch so einiges zu bieten hat.

          Kommentar


          • flosi79
            Erfahren
            • 19.10.2005
            • 299
            • Privat

            • Meine Reisen

            #6
            AW: [LV][EE] ... aber mein Fahrrad das rollt

            ganz ganz toll!
            merci diesen schönen bericht... in den letzten jahren ist das baltikum in meiner zu-bereisen-liste leider wieder etwas nach unten gerückt, aber dank deines berichts wäre es definitv mal eine überlegung für nächstes jahr wert.
            Vor Klugheit bläht sich zum Platzen der Blöde.

            Kommentar


            • ulfs
              Erfahren
              • 28.01.2008
              • 367

              • Meine Reisen

              #7
              AW: [LV][EE] ... aber mein Fahrrad das rollt

              OT: Ich wäre dankbar, wenn du diesen Quickmaps-Kram vielleicht nur verlinken könntest, denn irgendwie kommt mein Mac mit sämtlichen Browsern damit nicht klar

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              • November
                Freak

                Liebt das Forum
                • 17.11.2006
                • 11083
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                • Meine Reisen

                #8
                AW: [LV][EE] ... aber mein Fahrrad das rollt

                Schön, daß es euch gefällt.
                Mit meinem Estlandbericht bin ich auch schon ein gutes Stück vorangekommen, will ihn aber erst einstellen, wenn er fertig ist. Ich hoffe, Anfang der Woche ist alles komplett.

                Ulf: ich denke, ein Mac kann alles?
                Habe aber jetzt nur einen Link gesetzt. Das Anzeigen hat zwar bei mir geklappt, hat aber ziemlich lange gedauert und alles hat eine Weile festgehangen; war auch nicht schön.
                Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um.

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                • ulfs
                  Erfahren
                  • 28.01.2008
                  • 367

                  • Meine Reisen

                  #9
                  AW: [LV][EE] ... aber mein Fahrrad das rollt

                  OT: Natürlich kann ein Mac alles, nur können die heldenhaften Appleprogrammierer ja nicht jede Dummheit von jenen von MS und Google ausgleichen, so sehr sie es auch versuchen
                  Freue mich den Bericht jetzt lesen zu können! Wirklich sehr schön! Hätte ich nicht eine latente Abneigung gegen Drahtesel, wäre es glatt einen Gedanken wert. Vielleicht sollte ich es mal mit dem Longboard versuchen...

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                  • Dogeared
                    Erfahren
                    • 22.05.2009
                    • 306
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                    • Meine Reisen

                    #10
                    AW: [LV][EE] ... aber mein Fahrrad das rollt

                    Hej !


                    Ein wirklich schöner Bericht! Macht gleich Lust, hinzufahren! Ein Freund von mir hat ein Semester in Estland verbracht und erzählt immer ganz begeistert.
                    So eine Tour kommt auf jeden Fall auf meine Liste!

                    Von mir !

                    Freue mich schon auf den "Estland-Teil"
                    Bis dahin Dir ein schönes Restwochenende
                    Hike My Hike, Damn it!
                    Meine Reiseberichte

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                    • Prachttaucher
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                      • 21.01.2008
                      • 11905
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                      • Meine Reisen

                      #11
                      AW: [LV][EE] ... aber mein Fahrrad das rollt

                      Seht interressanter Bericht von einer mal ganz anderen Tour mit stimmungsvollen Bildern. Dank des Links auf die Karte geht´s bei mir nun auch.

                      Da ich die Ostsee sehr liebe, würde mich so etwas auch reizen... Vor allem das einsame Zelten in Strandnähe. Meinst Du, man käme ohne Russischkenntnisse auch klar ?

                      "Nachdem ich spontan mein langjähriges Skandinavienabo gekündigt habe"

                      Wie geht das ? Das gilt doch lebenslang, die einzige Möglichkeit : statt Norwegen/ Schweden mal nach Finnland.

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                      • Gast-Avatar

                        #12
                        AW: [LV][EE] ... aber mein Fahrrad das rollt

                        Super Bericht! Das macht direkt Bock auf selber hinfahren.

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                        • November
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                          • 17.11.2006
                          • 11083
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                          • Meine Reisen

                          #13
                          AW: [LV][EE] ... aber mein Fahrrad das rollt

                          Ja, das zelten direkt an der Ostsee gehört wirklich zu den schönsten Erinnerungen.

                          Zitat von Prachttaucher Beitrag anzeigen
                          Meinst Du, man käme ohne Russischkenntnisse auch klar ?
                          Klar, vor allem, wenn du noch 10 Jahre wartest.
                          Die Sache ist so: die Jüngeren können fast alle prima englisch sprechen. Bei offiziellen Angelegenheiten (Touristinformation, Banken, Fährgesellschften, ...) klappt das ohnehin (Ausnahmen gibt es immer). Die Älteren Leute (also etwa so wie ich und aufwärts) sprechen in der Regel kein englisch, aber russisch.
                          Da du das vermutlich nicht kannst, fällt es bei dir sowieso weg, aber für die anderen kann ich sagen: Bei einer Begrüßung in der Landessprache und einer freundlichen Frage, sind alle gerne bereit gewesen, russisch zu sprechen (obwohles da oft andere Informationen gibt).
                          kurz: man verpaßt vielleicht manches, kommt aber auch ohne russich prima durchs Land.

                          Zitat von Prachttaucher Beitrag anzeigen
                          "Nachdem ich spontan mein langjähriges Skandinavienabo gekündigt habe"Wie geht das ? Das gilt doch lebenslang, die einzige Möglichkeit : statt Norwegen/ Schweden mal nach Finnland.
                          Na ja, es ist mir echt schwer gefallen, aber Abo kündigen heißt ja nicht, daß ich dort nie mehr kann oder hin will, im Gegenteil. Für nächstes Jahr habe ich schon so einige skandinavische Ideen.


                          Ich bastele gerade am Estlandbericht, komme aber nicht so recht vorwärts; dauert also noch ein wenig. Habt Geduld!
                          Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um.

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                          • Gast-Avatar

                            #14
                            AW: [LV][EE] ... aber mein Fahrrad das rollt

                            Zitat von Prachttaucher Beitrag anzeigen
                            ..... Meinst Du, man käme ohne Russischkenntnisse auch klar ?
                            .....
                            OT: Zu novembers Antwort vielleicht eine kurze Ergänzung:
                            Es hat sich ganz offensichtlich sehr viel dort verändert.
                            Ich war vor 20 Jahren in Vilnius, Riga und damals noch Leningrad.
                            In Riga und Vilnius wurden wir sehr schief angesehen, wenn wir versuchten, mit unseren Russisch-Schulkenntnissen uns zu unterhalten oder was einzukaufen.
                            In Vilnius bekamen wir sogar zur Antwort: "Warum sprechen Sie nicht Deutsch mit uns, das ist besser!"

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                            • Prachttaucher
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                              • 21.01.2008
                              • 11905
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                              #15
                              AW: [LV][EE] ... aber mein Fahrrad das rollt

                              ... das Feld für Änderungsgrund ist ja weg - in dem Fall : Lexikon
                              Zuletzt geändert von Prachttaucher; 10.10.2009, 17:41.

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                              • Fjaellraev
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                                • 21.12.2003
                                • 13981
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                                #16
                                AW: [LV][EE] ... aber mein Fahrrad das rollt

                                Zitat von Prachttaucher Beitrag anzeigen
                                OT: Kenne mich da garnicht aus, aber ist russisch mal offizielle Landessprache gewesen und unbeliebt ??

                                Vielleicht ähnlich : Habe in Finnland vergeblich versucht mit meinen kümmerlichen Schwedischkenntnissen weiterzukommen, obwohl´s offiziell zweite Landessprache ist.
                                Zum ersten Punkt: Schau dir mal die jüngere Geschichte der baltischen Staaten an, dann dürfte dir einiges klar werden. Die Sprache der ehemaligen Besatzungsmacht ist selten beliebt...
                                Zum zweiten Punkt: Dann warst du in der falschen Region Schwedisch ist zwar zweite Landessprache, wird aber natürlich hauptsächlich in den Regionen verstanden und gesprochen die eine starke schwedischsprachige Bevölkerungsgruppe haben. Und wenn man es selber nur so halbwegs kann ist die Verständigung mit Leuten die es auch nicht wirklich können halt schwierig...

                                Gruss
                                Henning
                                Es gibt kein schlechtes Wetter,
                                nur unpassende Kleidung.

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                                • November
                                  Freak

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                                  • 17.11.2006
                                  • 11083
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                                  #17
                                  AW: [LV][EE] ... aber mein Fahrrad das rollt

                                  Eesti Vabariik – Estnische Republik

                                  Die Straße verläuft mitten durch den Wald, außer den Landesschildern und den jeweiligen Verkehrsregeln ist nichts zu sehen, keinerlei Abfertigungsgebäude. Und doch ist hüben nicht gleich drüben. Die Straßenränder haben von nun an weiße Begrenzungslinien, der Asphalt ist besser. Estland ist der wohlhabendste der drei baltischen Staaten.

                                  In den nachfolgenden Dörfern ist davon jedoch nichts zu spüren, ein Unterschied zum Nachbarland kaum zu erkennen. Der Südosten Estlands, durch den ich jetzt fahre, ist der ärmste Teil des Landes, schon immer gewesen, schon seit Jahrhunderten. Daran hat sich auch während der sozialistischen Zeit innerhalb der Sowjetunion und während der kurzen Zeit der estnischen Unabhängigkeit nichts geändert und daran wird sich vermutlich auch in näherer Zukunft nichts ändern.

                                  Ich fahre noch bis die Dämmerung anbricht, biege in einen Feldweg ein und stelle mein Zelt zwischen Feldern auf einem kleinen Wiesenstück auf. Morgen früh wird das Zelt sicher naß sein vom Tau.


                                  Montag, 24. August
                                  Nursi – Väägvere 105 km

                                  Als ich heute früh aus dem Zelt schaue, ist alles milchig weiß. Der Nebel hängt dicht über Feld und Wald, mein Zelt ist klitschnaß. So packe ich alles zusammen und radele los. Es dauert noch eine ganze Weile, bis der Nebel sich endlich auflöst.

                                  Mein erstes Ziel ist die Kleinstadt Võru. Hier tausche ich mein übriggebliebenes lettisches Geld, hebe estnisches ab und kaufe mir eine brauchbare Karte von der Umgebung.
                                  Hatte ich mir in den letzten Tagen die wichtigsten lettischen Redewendungen eingeprägt, so ist dies Wissen nun wieder umsonst. Estnisch ist dem finnischen recht ähnlich und hört sich mir noch verquerer an als lettisch. Lediglich die Begrüßung klingt super einfach : Tere!

                                  Von der alten Ordensburg nördlich der Stadt stehen nur noch ein paar klägliche Reste, so daß nicht einmal ich diese Bruchstücke noch Ruine nennen mag. Offensichtlich wollten die Einwohner Võrus einen akzeptablen Ersatz schaffen.



                                  Am Himmel hängen weiße Federwolken, die Sonne scheint, ich fühle mich wohl. Das läßt mich übermütig werden und eine unasphaltierte Abkürzung nehmen. Es holpert und poltert ein wenig, aber ich fahre wie in einem Rausch; es ist wunderschön hier. Getreidefelder, teils schon abgeerntet, Wiesen, kleine Bachläufe und dazwischen immer wieder einzelne Gehöfte. Ich sollte mehr Photos machen, aber dazu müßte ich ja anhalten und das will ich jetzt am allerwenigsten und einfangen kann ich meine Stimmung damit ohnehin nicht.

                                  Tartu, das ehemalige Dorpat, alte Universitätsstadt, sehr bedeutend und sicher auch sehr schön, lasse ich im wörtlichen Sinne links liegen. Kurze Zeit später quere ich den Emajõgi, einen der größeren Flüsse Estlands.
                                  Bei diesem Anblick denke ich sofort an eine mögliche Paddeltour, vom Quellgebiet durch Wiesen, Wälder und letztlich durch das große Sumpfgebiet bis zur Mündung. Aber das sind jetzt alles nur Phantasien, vielleicht ergibt sich später mehr.

                                  Ich fahre solange es einigermaßen hell ist, um möglichst weit zu kommen, denn morgen habe ich ein großes Ziel. An der Straße liegt eine Art Anglercamp. Ich frage, ob ich hier mein Zelt aufstellen kann. Hier ist eben, dazu kurzgeschorener zeltfreundlicher Rasen.

                                  Sobald ich abends im Zelt liege, stört mich der Autolärm. Nicht nur heute, sondern immer, wenn ich in der Nähe einer Straße zelte. So oft kommt das nicht vor und so viele Autos sind es auch nicht, die spätabends vorüberrollen, aber mir fehlt die Stille. Ich mag nichts hören außer dem Wind oder dem Wasser. Tagsüber bin ich ein Teil der Straße, nehme die wenigen Autos nicht als lästig war, ich gehöre dazu. Auch morgens beim frühstücken und Zelt abbauen stört mich der Verkehr nicht, da habe ich schon die Aufbruchstimmung in mir. Nur abends in Straßennähe vermisse ich die Stille des Fjälls.


                                  Dienstag, 25. August
                                  Väägvere – Kodavere 69 km

                                  Heute früh kann ich es kaum erwarten wieder loszukommen. Zwar hängt wie gestern eine dicke Nebelsuppe über der Landschaft, aber das ist mir im Moment egal. Noch ein Stück Asphaltstraße, dann Abbiegen auf eine Sandstraße, die wieder mal die Bezeichnung Piste verdient. Der Straßenzustand rät mir, möglichst langsam zu fahren, meine Ungeduld treibt mich zur Eile.

                                  Irgendwann bin da, im Dorf Varnja. Um das Dorf selbst geht es mir erst einmal nicht, entscheidend ist das Wasser dahinter, das große Wasser. Nein, es nicht die Ostsee, obwohl auf der anderen Seite kein Ufer zu erkennen ist. Es ist ein See, der Peipussee. Alleine schon wegen dieses Namens bin ich hier. Peipussee – das klingt nach fernem Osten, nach Abgeschiedenheit, nach Rußland. Daß kaum etwas davon zutrifft, ist mir klar. Aber was macht das schon? Und dieser Film: Alexander Newski – Die Schlacht auf dem Peipussee. Habt ihr das gesehen? Das Besondere am Peipussee ist sein Mythos.

                                  Der erste Blick auf den See ist dann doch recht bescheiden, ein breiter Schilfgürtel schützt den See vor allzu großer Zudringlichkeit – und doch bin ich glücklich.
                                  Die Einwohner ziehen kleine Kanäle vom See bis zu den Dörfern, so daß sie es mit ihren Fischerbooten bequemer haben. Weiter im Süden ist der See noch unzugänglicher; südlich von Varnja breiten sich die Sumpfgebiete des Emajõgideltas aus (Der Emajõgi – das war der Fluß, den ich gestern gequert habe und der so zum paddeln eingeladen hat).

                                  Und es gibt doch eine Besonderheit hier: die russischen Altgläubigen. Sie haben sich von der orthodoxen Mutterkirche abgespalten und leben bereits seit Ende des 17. Jahrhunderts hier an diesem Seeufer. Die Unterschiede zu den estnischen Streusiedlungen sind nicht zu übersehen. Es sind reine Straßendörfer; die Häuser sind größtenteils bunt gestrichen. Die Altgläubigen sprechen im Alltag russisch, aber im Gegensatz zu den in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts im Land angesiedelten Russen auch recht gut estnisch, so daß in der Vergangenheit kaum Konflikte zur einheimischen Bevölkerung auftraten.

                                  Mein Reiseführer erzählt mir, daß die Leute hier auch einfach Zwiebelrussen genannt werden, habe mir aber nichts weiter dabei gedacht. Russen essen nun mal gerne Zwiebeln und Punkt.
                                  Aber was ich hier sehe, haut mich um: Zwiebeln über Zwiebeln, bei jedem Haus, in allen Lagerungsformen und allen Verkaufspräsentationen. Denn obwohl das Gerücht umgeht, die Altgläubigen würden sich von morgens bis abends nur von Zwiebeln in allen möglichen Varianten ernähren, versuchen sie sie doch auch zu Geld zu machen. Oft sitzen die Alten vorm Haus und flechten Zwiebelzöpfe und bieten nebenbei noch anderes Gemüse mit an.

                                  Als Nebeneffekt wirkt der See gleich weniger estnisch, sondern russisch, so wie er auf der anderen Uferseite auch ist und wie er in meine Phantasie paßt.

                                  Ich rolle möglichst langsam durch die Dörfer hier am See, kaufe an verschiedenen Häusern reichlich Tomaten, Paprika und Äpfel und decke mich natürlich mit einem Zwiebelvorrat für den Rest des Urlaubs ein. Daß ich dabei an dem einem oder anderen Haus etwas übers Ohr gehauen werde, stört mich nicht weiter; mir scheint es trotzdem noch viel zu billig. Als jedoch jemand von mir einen Preis verlangt, der locker die Tomatenpreise auf einem deutschen Markt erreicht, kriegt er von mir doch ein paar unfreundliche russische Worte zu hören. Hätte er die Hälfte verlangt, wäre das zwar immer noch zu viel gewesen, aber ich hätte es ihm gerne gegeben. Ich mag zwar gutgläubig sein, aber nicht blöd. Gier führt eben nicht immer zum Erfolg.



                                  Bald ändert sich die Uferbeschaffenheit, das Schilf wird durch Sand- und Kiesstrände abgelöst, teils als Flach-, teils Steilküste.

                                  Inzwischen ist es später Nachmittag und ich würde gerne hier in der Nähe bleiben, um den See noch in Ruhe zu genießen. Durch die Besiedlungsdichte, und sei es nur mit Wochenendhäusern von neureichen Tartuern, und die angrenzende Landwirtschaft wird es allerdings schwierig. Da sehe ich unweit der Straße einen recht großen und komfortablen Biwakplatz liegen und lasse mich für den Rest des Tages und die Nacht hier nieder.
                                  Und natürlich wird heute wieder gebadet.




                                  Mittwoch, 26. August
                                  Kodavere – Agusalu (108 km)

                                  Voller Freude auf einen weiteren Tag an diesem See bin ich schon relativ früh startklar. Gestern Abend habe ich noch versucht, Informationen über eine für mich als Radfahrer doch recht große ausgeschilderte Umleitung zu bekommen. „Was ist da los? Komme ich da durch?“ Genaues weiß man zwar nicht, aber mit dem Rad sollte es gehen.
                                  Nun denn, ich bin guten Mutes und versuche es. Immer am Ufer entlang radele ich nach Norden bis zur Baustelle. Eine Brücke über einen der zahlreichen Zuflüsse zum Peipussee wird repariert. Als die Bauarbeiter mich bemerken, stellen sie ihre Arbeiten ein und ich darf hinüberschieben. Uff. Danke.

                                  Zum Nordufer des Sees hin wird die offene Landschaft mit Wiesen und Feldern durch Kiefernwald abgelöst, der Schilfgürtel bzw. der schmale Uferstreifen durch einen breiten Sandstrand. Hier ist die Urlaubsseite des Sees, die Ferienlager, die Sanatorien, die Gewerkschaftsheime, bzw. das was von dieser sozialistischen Sommerferienindustrie noch übrig ist. Alles macht einen etwas heruntergekommenen nostalgischen Eindruck. Teilweise abgerissen, teilweise weiter genutzt, teilweise wartend vor sich hin vegetierend. Auch kleine Dörfer gibt es hier, nur daß sie inzwischen längst nicht mehr so klein sind wie noch vor einigen Jahren. Die Dörfer wachsen, hier wird gebaut. Erfreulicherweise nicht nur Sommerhäuschen, sondern echte Wohnhäuser. Und ebenso erfreulich kaum geschmacklose Neureichenklitschen, sondern solide und stilvolle, zur Umgebung passende Holzhäuser in traditioneller Bauweise (so weit ich das erkennen kann).

                                  Doch zwischen all den alten Bettenburgen und neuen Siedlungen gibt es lange unberührte Abschnitte, Moore, Sanddünen, Kiefernwald. Das ich nicht weiß, ob ich heute Abend noch einmal am See übernachte werde, lege ich mitten am Tag eine Badepause ein. Steilküste, Dünen, Sandstrand und natürlich vor allem der scheinbar endlose Horizont – es erinnert so verwirrend an die Ostsee. Um jeden Zweifel zu beseitigen, müßte man schon das Wasser kosten (was ich mir aber erspare).

                                  Nun habe ich die Wahl, den See zu verlassen und nach Norden abzubiegen. Irgendwann muß ich das sowieso tun, aber noch nicht, noch fehlt mir etwas entscheidendes. Nämlich der einzige Abfluß aus dem Peipussee, der Beginn des Flusses Narva ganz am östlichen Ende Estlands. Also fahre ich immer weiter am Ufer entlang, nehme den Wechsel von Asphalt zu einer wirklich widerlich zu fahrenden Schotterpiste in Kauf, um endlich am letzten Zipfel anzukommen, im Dorf Vasknarva.

                                  Als der Wald sich lichtet, öffnet sich der Blick auf ein riesiges und anscheinend neues Kloster. Ich stelle mein Rad dort ab und erkunde den Ort.

                                  Hinter den üblichen Holzhäusern sehe ich die Narva zum ersten mal hindurchschimmern. Gar nicht weit weg, aber wegen der Grundstücke eben nicht so einfach ranzukommen.

                                  Außerdem sollen hier noch die spärlichen Reste der alten Ordensburg aus dem 15. Jahrhundert stehen. Dieser Platz hier hat schon in vergangener Zeit eine Rolle gespielt. Letztlich finde ich die Mauerreste, gleich dahinter das Flußufer.

                                  Breit und scheinbar träge fließt er dahin. Auf der anderen Seite liegt Rußland. Vor einigen Jahren noch zum gleichen Land gehörend, liegt es jetzt beinahe in einer anderen Welt; später soll das noch deutlicher werden. Ich bin begeistert, von den spärlichen Burgresten, den russischen anmutenden Holzhäusern (letztlich sind es wirklich hauptsächlich Russen, die hier wohnen) und natürlich der Stimmung am Fluß.

                                  Doch weiterfahren kann ich noch nicht, etwas entscheidenden fehlt noch, nämlich der Abfluß selbst. Ich verwende eine enorme, für Außenstehende sicher nicht nachvollziehbare Energie darauf, ihn zu finden. Im sumpfigen Gelände muß ich leider aufgeben, finde dann aber ein Stück zurück einen abbiegenden Weg in die richtige Richtung. Um es kurz zu machen: nach umhertapsen über Trampelfade durch Sumpf, Dickicht und Dünen stehe ich am Ausfluß der Narva aus dem Peipussee. Die Kratzer, Mückenstiche und nassen Füße haben sich gelohnt.

                                  (In Natura ist der Unterschied See – Fluß deutlich zu sehen, auf den Bildern kaum, deshalb erspare ich sie euch.)

                                  Hier irgendwo in der Nähe das Nachtlager aufzuschlagen wäre schwierig. Und mit dem Anfang der Narva habe ich mich vom Peipussee innerlich bereits verabschiedet, ich mag es nicht noch hinauszögern. Also fahre ich die Piste wieder ein Stück zurück, um endlich nach Norden abzuzweigen. Der Sandbelag wechselt wieder zu Asphalt, die Dämmerung beginnt, rechts und links der Straße liegen dichte Wälder und Sümpfe. Also biege ich ab nach Agasulu, in das einzige Dorf auf weiter Strecke, fahre hindurch und stelle am Ende des Dorfes mein Zelt auf.


                                  Donnerstag, 27. August
                                  Agusalu – Narvajõesuu (59 km)

                                  Die Narva liegt nun einige km östlich von mir und für die nächsten Stunden bekomme ich sie nicht zu sehen. Ich radele durch lichte Wälder, die Herbstfärbung beginnt ganz zaghaft. Kurz bin ich etwas wehmütig, weil ich dafür zwei, drei Wochen zu früh hier bin, aber ich habe mich ja bewußt für einen Sommerurlaub entschieden – und den habe ich bis jetzt gehabt. Jeden Tag Sonne und angenehme Temperaturen. Nie so heiß, daß ich Sonnenhut oder Sonnencreme gebraucht hätte, aber nur ganz selten so kühl, um etwas langärmliges anziehen zu müssen, bestes T-Shirt-Wetter eben. Von Regen mal ganz zu schweigen; die Regensachen bleiben bis jetzt ungenutzt verstaut, erst in der letzten Woche ändert sich das etwas.

                                  Ich komme nach Kuremäe, einem kleinen und trotzdem recht bekannten Ort. Das orthodoxe Nonnenkloster hier gilt als eine Sehenswürdigkeit und wird viel besucht. Wenn ich schon mal hier bin, fahre ich auch kurz zum Kloster, bleibe aber draußen stehen, mache zwei Photos und radele weiter. Es ist mir zu dumm, hineinzugehen und zu glotzen.

                                  Von hier ist es nicht mehr allzu weit bis Jõhvi, einer russisch geprägten Industriestadt nahe der Küste. Schon von weitem sehe ich die riesigen Halden, hier wurde Ölschiefer zur Urangewinnung gewonnen.
                                  Wo kommen nur auf einmal all die Autos her? Bis jetzt war es so ruhig und plötzlich lasse ich mich vom Verkehr ins Stadtzentrum schieben und finde erstaunlich schnell den Busbahnhof. Heute will ich noch nach Narva, in die Stadt Narva. Zum einen sind das noch etliche km und zum anderen ist die Schellstraße Narva – Tallin für Radfahrer ganz sicher kein Vergnügen; eine brauchbare Alternative gibt es nicht.

                                  Im Trubel des Busbahnhofs stehe ich, noch bevor ich die Fahrpläne studieren kann, vor einem Bus mit der Aufschrift Narva. Wann fährt er los? Jetzt, sofort. Prima, ich und mein Fahrrad wollen mit.

                                  Die Stadt Narva. Ich habe zu wissen gemeint, was mich hier erwartet und bin doch überrumpelt von der Wirklichkeit. Die ehemals barocke, schwedisch geprägte Stadt wurde im Krieg fast vollständig zerstört und im sozialistischen Stil wieder aufgebaut. Sie liegt in Estland und ist doch komplett russisch. Für die Sprache freut es mich, vieles um mich herum kann ich lesen und verstehen. Ich komme mir fast vor, als wäre ich an einem anderen Land. Hier im Nordosten wurde durch die Sowjetunion viel Industrie geschaffen und die dafür notwendigen Arbeiter aus Rußland angesiedelt. Heute ist der Großteil der Industriebetriebe stillgelegt. Die meisten Russen leben trotzdem noch hier und sprechen nach wie vor kaum estnisch. Die Situation ist schwierig.

                                  Vieles ist verwahrlost, marode und dreckig. Der triste Eindruck wird zugegeben noch durch den ersten trüben Tag verstärkt, zeitweilig nieselt es sogar. Ich war schon in Rußland, kenne also ähnliche Städte. Auf einer Rußlandreise hätte ich all diesen Verfall ganz anders wahrgenommen, weniger störend, eher abenteuerlich. Aber hier ist es der Kontrast zu Restestland, der mich verwirrt.
                                  Ich möchte mir gerne die Stadt ansehen, traue mich zum ersten mal aber nicht, mein Rad irgendwo unbeaufsichtigt, wenn auch angeschlossen, stehenzulassen. Also taste ich mich mit dem Rad über Schlaglöcher und astronomisch hohe Bordsteinkanten. Ich will zur Burg und verzettele mich anfangs ständig im Chaos des winzigen Zentrums. Denn mittendrin befindet sich eine mit Maschendraht eingezäunte Straße – der Grenzübergang zu Rußland und damit auch die Außengrenze der EU. Die Straße führt zu den Grenzkontrollposten und anschließend über die Brücke über die Narva auf die andere Seite nach Iwanogrod. Der Übertritt ist nicht so einfach möglich und streng reglementiert, trotzdem wartet eine geduldige Menschenschlange auf die Abfertigung. Dieser Anblick ist beklemmend.

                                  Neben ein paar wenigen Gebäuden hat lediglich die Burg, genauer die Herrmannsfeste, den Krieg einigermaßen überstanden und wurde später wieder aufgebaut. Sie diente im Laufe der Jahrhunderte bereits den Dänen, dem Livländischen Orden und den Schweden als Festung und prägt das gesamte Stadtbild.
                                  Da es ohnehin nieselt, besuche ich in der Burg das gut ausgestattete und wirklich sehenswerte Museum zur Stadtgeschichte. Im Burghof steht trotzig das vermutlich letzte Lenindenkmal Estlands.

                                  Heute ist mal wieder eine Dusche fällig. In der Stadt möchte ich jedoch nicht bleiben, also frage ich in der Touristeninformation nach Zeltmöglichkeiten in Narvajõesuu an der Ostsee, nur weinige km von hier. Einen Zeltplatz gibt es wie erwartet nicht, aber bei einem Gästehaus kann man im Garten sein Zelt aufstellen; also los.

                                  Ich nehme die restlichen 15 km bis zur Küste in Angriff. Rechts neben der Straße fließt träge die Narva dahin, jetzt habe ich sie wieder. Am Straßenrand ragen alte rostige Kreuze und Grabmahnmale aus dem kniehohen Gras; ein alter Friedhof. Ebenso wie Ruinen liebe ich alte Friedhöfe, die Nostalgie des Verfalls. Ich halte an und schaue mich um. Auf den Kreuzen sind hauptsächlich deutsche Namen zu finden, gelebt und gestorben Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in Narva und Hungerburg, dem heutigen Narvajõesuu. Ich erkunde den Platz, lese die Namen, die Orte. Durch das nasse hohe Gras ist es jedoch recht unangenehm, vor allem aber gefährlich, denn mit meinen bloßen Füßen in den Sandalen trete ich immer wieder auf rostige Metallreste, die hier vor sich hin gammeln.

                                  Nur wenig weiter steht der letzen Panzer, der an den Übertritt der Roten Armee über den Fluß Narva erinnert.

                                  Wenig später komme ich in Narvajõesuu an, fahre zum Gästehaus, stelle mein Zelt auf, dusche, esse was und fahre durch den Ort. Da ist sie wieder, meine Ostsee. Diesmal kein einsamer Flecken, sondern ein Kurort, ein recht alter immerhin. Hungerburg hieß er früher und war besonders beliebt bei Künstlern und Intellektuellen aus St. Petersburg. Von den alten Holzvillen und vom alten Charme ist wenig geblieben, zu viel wurde verändert, abgerissen und gebrandschatzt, noch in den 90iger Jahren. Das heutige Narvajõesuu ist eine Mischung aus alt, sozialistisch und modern. Ein wenig marode und vor allem recht russisch.

                                  Ich laufe am Strand entlang, auf dem weichen Sand. Heute ist es kühl, außer mir ist kaum jemand hier. Aber ich spaziere nicht einfach, ich habe ein Ziel, ich suche etwas ganz bestimmtes. Das Wasser aus dem Peipussee nämlich. Hier mündet die Narva in die Ostsee. Aber ich muß mich beeilen, es wird dunkel. Glücklich stehe ich an der Mündung. Breit ergießt sich der Fluß ins Meer. Durch den Wind wird er jedoch stark zurückgedrängt. Man könnte meinen, die Ostsee strebt zum Peipussee.

                                  Als es dunkel ist, fahre ich noch ein bißchen mit dem Rad durch den Ort, kaufe mir noch ein Eis und fahre schließlich zurück zu meinem Zelt.


                                  Freitag, 28. August
                                  Narvajõesuu – Eisma (33 km)

                                  Wenn ich von hier weiter nach Westen will, bleibt eigentlich nur die Küstenstraße. Schön und gut, nur ist das eben auch die Schnellstraße Narva – Tallin und darauf habe ich nun gar keine Lust. Zumal auch die Gegend hier wegen der sowjetischen Industrialisierung und der heutzutage verwahrloste Sattelitenstädte nicht sehr reizvoll ist. Auch vom Baden in der Ostsee wird wegen des früheren Ölschieferabbaus zur Urangewinnung und der damit verbundenen Verseuchung von Boden und Wasser noch abgeraten; die Einwohner selbst halten sich allerdings nicht daran.
                                  Das alles und die knapper werdende Zeit ist ein Argument für den Bus. Also fahre ich von Narvajõesuu über Narva nach Rakvere. Einen Teil der Strecke kenne ich ja schon von gestern. Und auch wie gestern wartet wieder bzw. immer noch die kilometerlange LKW-Schlange geduldig am Straßenrand auf die Einreise nach Russland.

                                  Mittags bin ich in Rakvere. Kleine Stadt, große Burg. Ja, Rakvere wird von vielen, so auch von mir, mit der Burg gleichgesetzt. Die Ruine einer alten Ordensburg ist es wieder einmal, die hier recht gut erhalten ist. Auf dem Hof wird ein wenig Pseudomittelalterspektakel feilgeboten, aber darüber kann man hinwegsehen; mich stört es nicht weiter. Es gibt viel zu sehen und ich schaue mir alles genau an: dicke Mauern, muffige Keller, schmale Wandelgänge, kleine und große Fensterlöcher, ...

                                  Nun aber, nachdem ich heute bisher nur Bus gefahren bin und ein wenig sightseeing betrieben habe, schwinge ich mich endlich wieder auf mein Rad. Zur Ostsee natürlich, da will ich heute noch hin. Über kleine und kleinste Straßen rolle ich stetig nach Norden. Ich versuche mich an dem Paradoxon, gleichzeitig möglichst schnell und möglichst langsam zu fahren. Schnell, um die Geschwindigkeit zu spüren, langsam, um all die Eindrücke dieser Landschaft möglichst intensiv in mich aufnehmen zu können. Ein Wechsel von Wald, Wiesen, winzigen Dörfern, eher Streusiedlungen, mit Gehöften weitab voneinander.

                                  So komme ich bis zu dem wunderbaren Dorf Eisma. Es ist mir unmöglich, die Atmosphäre dieses Dorfes mit dem Photoapparat festzuhalten, wie schon so oft vorher in irgendwelchen kleinen Siedlungen. Ein Stück dahinter suche ich mir meinen Lagerplatz für heute Nacht. Es ist einer der schönsten Plätze, die ich auf dieser Reise hatte. Der Wald, davor der Strand und das Meer. Ich und sonst niemand.

                                  Anders als sonst sind die vielen Gesteinsbrocken, die hier im Wasser liegen; Findlinge, zurückgeblieben seit der letzten Eiszeit. Das Wasser ist hier flach, ich muß weiter als sonst hineinlaufen, um schwimmen zu können. Dafür ist es ganz ruhig, keine einzige Welle.
                                  Ich stelle mir vor, wie es hier im Winter aussehen mag, wenn das Meer zugefroren und die Steinblöcke mir Eis überzogen sind.
                                  Der Waldboden ist voller Moos und Flechten, hier laufe ich nur Barfuß und bleibe, solange es nur geht draußen.

                                  Erst als ich längst wieder zu Hause bin, fällt mir ein Lied ein, kein baltisches, sondern ein schwedisches (und damit ja letztlich doch baltisch): Öppna landskap. Dieses Lied paßt so wunderbar auf meine Stimmungen an diesen Lagerplätzen an der Ostsee.


                                  Sonnabend, 29. August
                                  Eisma – Pärispea (74 km)

                                  Nur einige km von meinem Lagerplatz entfernt beginnt der Lahemaa Nationalpark, Estlands größter und ältester. Schmale Straßen führen durch Wälder und Wiesen, vorbei an alten Gutshöfen und Herrenhäusern (teils neu saniert und zu Hotels, Museen und anderem umgebaut) und noch recht ursprünglichen Fischerdörfern. Es gibt hier an der Küste ungeheuer viele Buchten und Landzungen, so daß beim radeln schon einige km zusammenkommen, wenn man sie voll ausfahren möchte.

                                  Auch hier liegen wieder überall Findlinge umher, sowohl auf dem Land als auch im flachen Ostseewasser, teils mehrere Meter hoch. Besonders kurios ist eine Geschichte dazu. Hier in Nordestland werden die Babys nämlich nicht vom Storch gebracht, sondern schlüpfen unter solch einem Riesenstein hervor und damit die Zuordnung leichter fällt, hat hier jedes Dorf seinen eigenen Babystein. Schon geschickter so, denn bei den vielen Störchen die es hier gibt, käme es sonst sicher zur Überbevölkerung.

                                  Was mache ich hier alles? Einige Fischerdörfer anschauen, zwei große Gutshöfe besichtigen, Riesensteine bewundern, an der Ostsee sitzen und es mir gut gehen lassen.

                                  Da ich hier im Nationalpark bin, kann ich einmal nicht zelten, wo mir gerade danach zumute ist. Aber es gibt etliche ausgewiesene Plätze, auch kostenlose. Einen solchen ganz an der Nordspitze einer Landzunge habe ich mir ausgesucht und so mache ich mich auf den Weg dorthin.

                                  Kurz vorher, in Viinstu einem winzigen Dorf gibt es noch ein Kunstmuseum. So weit so gut, Kunstmuseen gibt es viele. Dieses hier aber ist ein Projekt vom ehemaligen ABBA-Manager und kurzzeitigem estnischen Außenminister. Schon von außen sieht es recht skurril aus und auf den Freiflächen davor stehen einige Installationen, wie die „100 Koffer des John Smith“. Finde ich recht originell gemacht, an jedem Beton“koffer“ hängt ein Namensschild „John Smith“ mit einem beliebigen Städtenamen aus der ganzen Welt.

                                  Es ist Sonnabend und der Zeltplatz, besser Biwakplatz ist gut besucht. Aber es ist ein so weitläufiges Gelände, daß sich alle gut verteilen. Überhaupt erinnert hier nichts an einen typischen Zeltplatz, es ist wie sonst auch an der Küste: Kiefernwald, Strand und dahinter die Ostsee. Alles so gut versteckt, daß ich von meinem Platz aus kein anderes Zelt sehen kann. Daran, daß ich hier nicht mitten in der Wildnis stehe, erinnern lediglich die Toilettenhäuschen, Müllbehälter und Grillplätze.


                                  Sonntag, 30. August
                                  Pärispea – Viskla (90 km)

                                  Heute fahre ich zunächst mal weiter durch den Lahemaa NP. Während der Sowjetzeit war hier Sowjetarmee stationiert. Auf der anderen Seite der Landzunge, die ich jetzt wieder Richtung Süden fahre, ist davon noch einiges zu sehen. Am Straßenrand stehen die Reste alter Kasernen und sonstiger militärischer Anlagen und warten auf ihren Abriß. Eine alte Inschrift verkündet weiterhin tapfer: „Ruhm den befreundeten Ländern der UDSSR“

                                  Nachdem ich gestern schon zwei wirklich schön wieder hergerichtete alte Herrenhöfe angeschaut habe und heute ein dritter am Wege liegt, nehme ich den auch noch mit. Als der Hof in Sichtweite kommt, hauts mich erst mal um. Obwohl mein Reiseführer etwas von Sanierung schrieb, ist an Ort und Stelle davon nicht zu erkennen. Gut, das Dach scheint erneuert zu sein und vielleicht ein paar Kleinigkeiten, das war es dann aber auch schon. Schade für Haupt- und Nebengebäude sowie die Stallungen; schön für mich, zumindest als Kontrast zu den gestrigen Höfen.

                                  Das Gut Kolga gehört wieder einer schwedischen Familie, die aber kein Geld für die Sanierung hat. Der estnische Statt wiederum hat kein Geld, es zu kaufen. So wartet eine ungewisse Zukunft auf das Gut. (Wer also ein paar Millionen Estnische Kronen übrig hat, kann das Gut samt seinen Länderein in einmalig schöner Lage gerne erwerden). Ich streune durch den herrlich verwilderten Park und gehe schließlich noch das kleine Museum. Ich bin einziger Besucher und die junge Frau dort erzählt mir viel über die Gegend, das Gut und die Vergangenheit hier. Wir schwatzen wirklich ziemlich lange miteinander und zum Abschied bekomme ich noch eine große Tüte Mirabellen geschenkt.

                                  Auf eine Wanderung, besser einen Spaziergang über präparierte Bohlenwege durch ein Moor verzichte ich. Hier kommt mir das zu künstlich vor. Da warte ich lieber wieder auf nächstes Jahr, wenn die Bretter wieder auf einer echten Wanderung durch ein skandinavisches Moor führen.

                                  Kurz bevor ich den NP verlasse, gibt es noch etwas besonderes zu sehen. Mitten in einer Wiese zwischen Wacholdersträuchern liegen über 80 Steinkistengräber aus der Eisenzeit versteckt. Etliche sind inzwischen freigelegt und können besichtigt werden. Wirklich sehr interessant.

                                  Nun aber raus hier aus dem Park. Am Mittwoch will ich in Tallin sein. Von der Strecke her könnte ich es schon morgen schaffen, aber das bringt ja nichts. So suche ich mir eine schöne große Kurve, einfach so und quer durch die Landschaft. Als ich auf Nachfrage meine groben Reisepläne kundtue, wird mir mehrfach abgeraten: Dort ist es nicht schön. Was wollen Sie denn dort? Fahren Sie lieber ... !
                                  Nun gerade! Ich rolle über kleine Straßen durch den Wald, vorbei an Feldern und kleinen Seen, durch nichtssagende Dörfer und völlig unbedeutende Kleinstädte. Mir gefällts. Nebeneffekt: ich kann einfach nur fahren, immer weiter und weiter, ohne ständig an irgendwelchen Sehenswürdigkeiten anhakten zu „müssen“.

                                  Abends finde ich eine kleine Waldlichtung und lasse mich dort nieder.


                                  Montag, 31. August
                                  Viskla – Padise (85 km)

                                  Was gibt es zum heutigen Tag schon groß zu sagen? Nicht viel. Er ist so herrlich unspektakulär wir der Abschluß des gestrigen. Ich hänge meinen Gedanken nach und rolle einfach durch die Landschaft. Dörfer, Kirchen, Felder, kleine Steinmauern.

                                  Erst am späten Nachmittag gibt es wieder etwas erwähnenswertes: das ehemalige Zisterzienserkloster Padise, das zeitweilig auch als Festung genutzt wurde und jetzt nur noch eine Ruine ist. Die fast burgartige Anlage wirkt trutzig und ist ganz nach meinem Geschmack: dicke Mauern, verwinkelte Gänge, kleine Kammern und ein großartiges Kirchenschiff, in das durch die wenigen Fensteröffnungen ein gedämpftes Licht hineinstrahlt. Hier bleibe ich lange.

                                  Eher verärgert aber noch nicht sehr beunruhigt bin ich vom zeitweiligen Aussetzten meines Photoapparates. So kann ich nur wenige und dazu auch noch schlechte Bilder vom Kloster Padise machen, aber die Atmosphäre dort bleibt auch so in meiner Erinnerung erhalten.


                                  Dienstag, 1. September
                                  Padise – Vääna-Jõesuu (74 km)

                                  Ich sehe zu, so schnell wie möglich loszukommen. Nicht, daß der Platz hier nicht schön wäre, im Gegenteil, aber heute lockt zum letzten mal die Ostsee und damit kann meine Waldlichtung dann doch mithalten.
                                  Von hier fahre ich wieder Richtung Norden zur Halbinsel Pakri. Auf meiner Karte ist die Straße noch als Schotterpiste verzeichnet, aber in Natura bereits frisch asphaltiert. Wunderbar leicht und schnell rolle ich dahin. Zwischendurch fahre ich rauf zu einer auf einer Anhöhe stehenden Kirche. Von hier habe ich für heute den ersten Blick aufs Meer; weit und grau liegt es vor mir.

                                  Die Pakri-Halbinsel: früher militärisches Sperrgebiet mit einem Flottenstützpunkt, U-Booten, Nuklearwaffen. Bis 1994 waren hier über 16 000 sowjetische Soldaten stationiert. Heute wohnen hier nur noch weniger als 4000 Menschen.
                                  Schon von weitem schon sehe ich den riesigen Hafen liegen, heute Fähr- und Frachthafen. Dahinter liegt der einzige Ort der Halbinsel: Paldiski. Dieses Paldiski will ich unbedingt sehen. Solch einen Ort finde ich ungeheuer faszinierend in seiner Trostlosigkeit. Überall stehen reihenweise leere Wohnblocks, dabei sind bereits etliche abgerissen. Die wenigen bewohnten laden auch nicht unbedingt zum wohnen ein. Es gibt zwei große Kirchen, während der Sowjetzeit als Lagerhallen genutzt und entsprechend sehen sie auch heute noch aus. Auf dem Kinderspielplatz vor dem Kaufhaus sitzen alte Leute in warmen Wintersachen, obwohl es zwar nicht gerade sonnig, aber keinesfalls kalt draußen ist.

                                  Es gibt einen kleinen Bahnhof, noch ein schönes altes Holzgebäude. Von hier verkehren fast stündlich Züge ins nicht weit entfernte Tallin. Das scheint das einzig hoffnungsvolle an Paldiski zu sein.
                                  Und an genau diesem Bahnhof funktioniert vorerst das letzte mal mein Photoapparat. Es ist nicht nur ein kurzer Aussetzer wie gestern am Kloster, sondern es ist gänzlich vorbei. Keine Bilder von Paldiski und auch keine Bilder von der Halbinsel, die ich jetzt umrunden will.

                                  Paldiski - dieser Name wird mich bis zum Schluß begleiten. Es ist der Name der Straße, die mich bis ins Talliner Zentrum bringen wird und es ist der Name des Schiffes, mit dem ich wieder nach dem heimatlichen Rostock ablegen werde.

                                  Abgesehen von einigen wenigen Militärbaracken liegt die Halbinsel völlig verlassen da. Bis zur Spitze mit zwei alten Leuchttürmen führt eine Asphaltstraße immer die Steilküste entlang. Schon hier ist es wild und wunderschön. Noch eine Zugabe an landschaftlicher Schönheit gibt es auf dem Rückweg an der Ostküste der Halbinsel entlang Richtung Süden. Einsame verwilderte Strände, blühendes Heidekraut und dahinter der Wald. Der Wehrmutstropfen besteht darin, daß es hier keinen vernünftig befahrbaren Weg mehr gibt. Asphalt muß es ja gar nicht unbedingt sein, aber fahren satt schieben wäre schon schön, aber das muß wegen des losen Sandes leider zu oft sein.

                                  Ich vermute, es gibt einen auch mit dem Fahrrad recht gut befahrbaren Weg. Die Tourismuszentrale bemüht sich nämlich schon, es gibt eine Karte mit der entsprechenden Infrastruktur. Nur vor Ort ist davon fast nichts zu merken, keine Beschilderung weit und breit. Einerseits ärgerlich, andererseits aber auch eine Rückerinnerung an meine ersten „Walderkundungen“ in Lettland und ein langsamer und wehmutsvoller Abschied von meiner Ostsee. Der vorgesehene Weg wäre wohl etwas weiter im Landesinneren verlaufen, gut zu fahren, aber ohne Meeresblick. Nein, dann arbeite ich mich lieber am Ufer entlang und erlebe eine Küste, wie es sie bei uns in Deutschland nicht mehr gibt, sowohl von der Wildheit und Vielfalt der Natur, als auch von ihrer Einsamkeit her.
                                  Die Bilder muß ich nur in meinem Kopf abspeichern, mein Photoapparat verweigert sich weiterhin.

                                  Nachdem ich wieder die Asphaltstraße erreicht habe, fahre ich in Küstennähe Richtung Tallin. Soweit wie möglich will ich heute noch kommen, aber trotzdem noch außerhalb des Einzugsgebietes der Großstadt einen letzten schönen Zeltplatz finden. Hier gibt es jetzt viele Schutzgebiete, ob Landschaft oder Natur, weiß ich nicht so genau, mir ist es letztlich egal. Ich finde es sehr sinnvoll. Auf diese Weise wird die Häuschenbauerdrang der Talliner eingeschränkt du die Küste bleibt auch hier noch relativ unbebaut erhalten, von den historisch gewachsenen Orten natürlich abgesehen.
                                  Nur ist in diesen Schutzgebieten auch das freie Zelten nicht einfach so erlaubt, es gibt aber einige wunderbar gelegene Biwakplätze.

                                  An einem solchen direkt an der Ostsee lasse ich mich nieder. Mein Zelt ist das einzige, das hier mitten im Kiefernwald mit Blick aufs Meer steht, so wie schon so oft in den vergangenen Wochen. Es ist erst Nachmittag und ich habe genügend Zeit, den Platz zu genießen, zu schwimmen, am Strand entlang zu laufen und einfach draußen zu sitzen und zu lesen. Und welch Wunder: aus ebenso unerklärlich Gründen, wie der Apparat ausgesetzt hat, funktioniert er jetzt wieder. So mache ich hier noch etliche Photos.
                                  Heute habe ich zum letzten mal mein Zelt aufgebaut und mir ist es recht wehmütig.


                                  Mittwoch, 2. September
                                  Vääna-Jõesuu – Tallin

                                  Es ist nicht mehr weit bis Tallin. Ich lasse mir also Zeit, schwimme ein letztes mal in der Ostssee und schlendere am Strand umher, der Abschied fällt mir sehr schwer.

                                  Nachdem ich aber endlich losgekommen bin, will ich keine Zeit mehr verlieren und fahre in einem Zug durch. Ich komme von einer günstigen Seite nach Tallin hinein, der Vorstadtbereich ist hier nicht allzu groß. Trotzdem wird es zunehmend verkehrsreicher, der theoretisch vorhandene Radweg ist identisch mit dem sehr breiten Fußweg und in einem vorsichtig formuliert recht bescheidenem Zustand. Vor allem die hohen Bordsteinkanten sind nervig. Auf der Straße mag ich hier aber lieber nicht fahren. Für Einwohner sicher in Ordnung, aber da ich mich auch immer noch orientieren muß, wäre es doch zu chaotisch.

                                  Der Paldiskiprospekt führt mich fast direkt auf den Rathausplatz. Hier im Stadtzentrum habe ich für zwei Nächte in einem Hostel ein Bett gebucht. Duschen, Klamotten waschen, essen und raus in die Stadt.

                                  Tallin ist alt, Tallin ist wunderschön, Tallin ist größtenteils sorgsam restauriert, Tallin ist einfach wunderbar. Zwei Tage Großstadtflair zum Abschluß der Tour waren genau richtig.





                                  Mittwoch, 2. September
                                  Tallin

                                  Heute wie gestern: Tallin.
                                  Am Nachmittag fahre ich mit meinem Rad noch einmal in die Richtung, aus der ich gestern gekommen bin. Ein Stück außerhalb vom Stadtzentrum befindet sich ein Freilichtmuseum, daß einen Überblick über die ländliche Bebauung in ganz Estland gibt. Da ich nicht mehr so viel Zeit habe und das Gelände doch sehr weitläufig ist, konzentriere ich mich auf die Gegenden, die ich auch mit dem Fahrrad durchfahren habe: den Südosten und den Norden des Landes.

                                  Vieles kommt mir bekannt vor, die kleinen wie größeren und oft doch recht ärmlichen Gehöfte, selbstverständlich alles in traditioneller Holzbauweise. Die Bauern- wie Fisscherhäuser, die Windmühlen und Riesenschaukeln. Im Vorbeigehen ist deutlich zu sehen: die Gegenden im Osten und vor allem auf den großen Inseln waren deutlich wohlhabender.

                                  Ein alter Dorfkrug darf natürlich auch nicht fehlen. Ich gehe hinein, esse ein Stück Kuchen, trinke meinen Tee. Aus dem benachbarten Saal klingt Musik, haben Dorfkrüge ja oft so an sich. Immer aufmerksamer höre ich hin und gehe schließlich hinüber. Nein, keine Livemusik, der CD-Spieler ist voll aufgedreht, einige Menschen tanzen zur Musik. Es ist mehr ein Hüpfen und Springen was hier abgeht und auch ich kann mich nicht mehr länger zurückhalten. Diese Musik läßt niemanden stillhalten. Es ist wie ein Radfahrrausch durch die estnische Landschaft, schneller, schneller und nie mehr aufhören zu rollen.

                                  Schon fast wie ein Einheimischer rolle ich die mir nun schon recht bekannte Strecke mit dieser Musik im Ohr zurück ins Zentrum. In einem enormen Tempo umfahre ich Bordsteinkanten und andere Hindernisse. Die Kaufhäuser haben lange auf, in den Musikabteilungen suche und finde ich was ich suche: die Band Untsakad (natürlich nur deren CD’s). Volksmusik aus Estland und anderen Ländern, aber mit estnischen Texten versehen und zum tanzen und mithüpfen aufgepeppt.

                                  Wollt ihr es hören?: Saara (auf "play" klicken und gaaaanz laut drehen)
                                  Zuletzt geändert von November; 01.11.2011, 20:06.
                                  Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um.

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                                  • Fjaellripan
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                                    • 19.01.2008
                                    • 149
                                    • Privat

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                                    #18
                                    AW: [LV][EE] ... aber mein Fahrrad das rollt

                                    Schön, auch mal was über eine solche Gegend zu lesen. Das Wildcampen ist dort überall erlaubt?
                                    Längtan - ein Filmprojekt im Fjäll

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                                    • Goettergatte
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                                      • 13.01.2009
                                      • 27465
                                      • Privat

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                                      #19
                                      AW: [LV][EE] ... aber mein Fahrrad das rollt

                                      Vielen Dank für den schönen Bericht.
                                      Der Estland-Teil hat mich dazu veranlaßt zunächst nach dem "Burgenlexikon für Alt-Livland" von Karl von Löwis of Menar zu greifen (1922 erschienen).
                                      Die Fotos der Bauernhäuser haben mich tatsächlich an Jaan Kross "Das Leben des Balthasar Rüssow" erinnert.
                                      Schöne Übernachtungsplätze hast Du gefunden, wenn ich mal ins Baltikum fahren sollte werd ich bei Dir bestimmt einige Infos aushorchen.

                                      Gruß Göga
                                      "Wärme wünscht/ der vom Wege kommt----------------------
                                      Mit erkaltetem Knie;------------------------------
                                      Mit Kost und Kleidern/ erquicke den Wandrer,-----------------
                                      Der über Felsen fuhr."________havamal
                                      --------

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                                      • November
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                                        AW: [LV][EE] ... aber mein Fahrrad das rollt

                                        Zitat von Fjaellripan Beitrag anzeigen
                                        Das Wildcampen ist dort überall erlaubt?
                                        Gute Frage. Genaue Informationen dazu habe ich leider trotz intensiver Suche nicht gefunden. Anscheinend ist es nicht offiziell erlaubt, verboten ist es mit ziemlicher Sicherheit aber auch nicht. Die gängige Praxis ist, daß es allgemein toleriert wird; das wird auch von anderen Berichten im Internet immer wieder bestätigt.
                                        Ich habe mich nirgendwo unsicher gefühlt, weder in Bezug auf die Bevölkerung noch auf die gesetzlichen Ordnungshüter. Oft ist es ohnehin so einsam, daß einfach niemand vorbeikommt.

                                        Wo das wilde Zelten offiziell verboten ist (diverse Schutgebiete und Nationalparks) wird auch unübersehbar darauf hingewiesen. Und wenn diese Gebiete nicht zu winzig sind, gibt es dort allermeistens kostenlose Biwakplätze, so daß das auch kein Problem ist.
                                        Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um.

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