[FR] Korsika - GR20 - Schöner Scheitern

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    [FR] Korsika - GR20 - Schöner Scheitern

    Tourentyp
    Lat
    Lon
    Mitreisende
    Land: Frankreich, Korsika
    Reisezeit: 25.04.- 06.05.2009
    Region/Kontinent: Südeuropa

    Schöner Scheitern - Korsika Frühjahr 2009 – Teil 1


    Calenzana - Ankunft am 25.04.2009, mittags

    25.04.2009 – Ankunft oder ein unfreiwilliger Trödeltag
    Aufgekratzt schnatternde Reisegruppen versperren mir am Eingang zum Flughafenterminal Köln-Bonn den Weg und zwingen mich zu ausgesuchter Freundlichkeit. Dürfte ich bitte einmal, vielen Dank auch, sehr zuvorkommend, ja aber sicher, mein Gepäck ist schwer, wenn es ihnen nichts ausmacht, würde ich jetzt gern durch diese Tür gehen. Es ist Samstag frühmorgens um sieben Uhr.

    Ich bin selbst etwas aufgeregt. Etwa sechs Monate mehr oder minder konsequenten Trainings liegen hinter mir, um heute eine meiner Wunschtouren beginnen zu können. Obwohl minutiös geplant flattert auch auf meinem Haupt die Flagge der Unsicherheit. Es gibt noch eine Menge Schwierigkeiten, welche vor mir liegen können. Könnten.

    Der Anfang ist einfach. Am Check-in versuche ich den alten Trick, setze gerade rechtzeitig die Gletscherbrille ab und strahle mein sonnigsten „Guten Morgen“. Ich verwickele die junge Frau nach fünf höflichen Sekunden in ein beiläufiges Fachgespräch, meine Ausrüstung betreffend, und erreiche, dass sie mir weder Übergepäck- noch Spezialgerätezuschlag aufbrummt. Als Gegenleistung gebe ich ihr das aufrichtig gemeinte Gefühl, mir einen entscheidenden Teil meiner logistischen Probleme abgenommen zu haben. Wir sind uns einig, der Tag fängt jetzt so richtig gut an.

    Wie erwartet muss mein Rucksack wegen der außen befestigten Schneeschuhe und des Eispickels als Sperrgepäck abgefertigt werden. Auch hier hilft mir die beiläufig angedeutete Professionalität, ohne große Fragen, stattdessen mit ein paar aufmunternden Ratschlägen ausgestattet, ungehindert und schnell die Gepäckkontrolle hinter mich bringen.

    An der Sicherheitskontrolle erwarte ich die übliche Unfreundlichkeit und stelle mich darauf ein, neben einem Großteil meiner Bekleidung auch die Schuhe ausziehen zu dürfen. Es gibt scheinbar ein Raster, welches verhindert, dass Menschen mit auffälliger Funktionsbekleidung diese Barriere unkontrolliert überwinden können. Und natürlich ist es vollkommen verdächtig, wie ich da so in, neutral ausgedrückt, schwarzer funktionaler Unterwäsche mit klobigen Stiefeln an den Füßen durch die Torsonde schleiche und nichts passiert. Kein Pieps, kein Ausschlag der Messgeräte, kein Nichts. Sehr verdächtig. Also dann Schuhe ausziehen. Und unter dem Rest ist wirklich nichts weiter verborgen? Wenigstens brauche ich jetzt nicht den Bauch einzuziehen. Vor einem halben Jahr sah das noch ganz anders aus. Fast andächtig reicht mir ein älterer Kontrolleur meine Bergstiefel zurück und flüstert mir verschwörerisch zu, „Das sind die Besten, habe ich auch schon seit zwanzig Jahren“. Sieh an, sieh an.

    Es lief wieder einmal viel zu glatt. Die halbe Stunde Diskussionsreserve habe ich nicht benötigt und so stehe ich viel zu früh inmitten der mit ausgesucht kräftigen Frühlingsfarben angezogenen Reisegruppen. Vor denen gibt es heute kein Entrinnen mehr, denke ich mir. Sobald die Reiseveranstalter zum ersten richtigen Vorsaisonrabatt läuten, stürmen die urlaubswütigen Menschenmassen heran und besetzen die Flugzeuge bis auf den letzten Platz, mit mir als allseits begafften Exoten dazwischen.

    Mein Stoßgebet wird erhört. Ich sitze nicht zwischen zwei schwerhörigen Rentnern, welche sich in ihrer Vorfreude zwei Stunden lang ausführlich alle groß- und kleingedruckten Programmpunkte der kommenden zwei Wochen zubrüllen werden. Es kommt viel schlimmer. Ich sitze zwischen zwei wie auch immer ausgiebig vorgebräunten Ruhrpott-Schönheiten, etwas zu jung, sich dafür umso dreister über meine möglichen Qualitäten unterhaltend. Wenn ich die Traute hätte, würde ich an dieser Stelle anmerken, dass ich immer noch zwischen ihnen sitze. Zwecklos. Ich setze die Gletscherbrille wieder auf und stelle mich nicht wirklich überzeugend schlafend.

    Pünktlich zehn Minuten vor der Landung erwache ich aus meinem Scheinschlaf und bekomme gerade noch das atemberaubende Landemanöver mit. Da der Wind relativ stark aus Nordwesten weht, sind die Piloten gezwungen von Norden kommend nach Süden in die Bergketten der Insel hineinzufliegen und eine Hundertachtziggradkehre vor der Capu a u Manganu zu vollführen. Zum ersten Mal unterbrechen meine Sitznachbarinnen ihre gepflegten Lästereien und sind still. In den wenigen Sekunden, in welchen das Flugzeug sich in aufregender Nähe zu den verschneiten Bergketten befindet, kann ich jedes einzelne meiner Ziele entdecken. So greifbar nah und so wunderschön.

    Kaum gelandet setzt das entsetzliche Geplapper neben mir wieder ein. Und allen Ernstes wird mir auch noch angeboten, in den nächsten Tagen mal auf ein gemeinsames Kennenlernen vorbeizuschauen. Habe ich irgendetwas verpasst? Wir hatten bisher nur ein zwangshöfliches Hallo ausgetauscht. Konsterniert beginne ich meine Ausrüstung zusammenzusuchen.

    Wenn auch klein, so wird der Flughafen in Calenzana doch ziemlich professionell gemanagt. Nach nur zehn Minuten halte ich meine vollständige Ausrüstung in den Händen und kann aufbrechen. Die etwas zu frühe Landung möchte ich nutzen, um noch heute bei strahlendem Sonnenschein die erste Etappe hinauf zur Refuge de l‘Ortu di u Piobbu gehen zu können. Etwa zwei Uhr Nachmittags könnte ich in die Tour einsteigen und spätestens nach fünf bis sechs Stunden das Ziel erreichen. Das Einzige was ich noch benötige, ist eine Gaskartusche.

    Am Taxistand gibt es die erste schlechte Nachricht. Der Intersport am Ortseingang zu Calvi hat wider Erwarten doch mittags geschlossen, was den sofortigen Tourstart gefährdet. Statt nun einen kleinen Umweg von zehn Minuten zum Casino-Supermarkt in Calvi zu fahren, vertraue ich dem Taxifahrer, welcher meint, dass der Supermarkt in Calenzana Gaskartuschen mit Klickverschluss verkauft und garantiert über Mittag geöffnet habe. Früher, ja da wäre er mittags noch geschlossen gewesen, aber jetzt ist es auch ein richtig großer Supermarkt geworden, meint er. Zumindest habe ich dies mit meinen rudimentären Französischkenntnissen so verstanden.

    Der Supermarkt und auch die Tankstelle in Calenzana haben mittags geschlossen.

    Der Taxifahrer hat es plötzlich sehr eilig. Noch bevor ich wirksam protestieren kann, ist er auf und davon. Damit habe ich jetzt genug Zeit mir das Städtchen wieder einmal genauer anzusehen. Es hat sich seit meinem letzten Besuch einiges verändert. Etliche Häuser wurden inzwischen restauriert und am Rand des Städtchens auch einige neue hinzu gebaut. Bullige Sonnenkollektoren an den Dächern sind jetzt allgegenwärtig. Das Städtchen hatte ich abgeschiedener, farbloser und entrückter in Erinnerung, mehr wie die Städtchen der in den sechziger, siebziger Jahren gedrehten Filme, wie zum Beispiel in „Christus kam nur bis Eboli“. Ich bin noch unentschlossen, ob mir das aufgemotzte Calenzana besser gefällt als das alte.

    Das nördliche Einstiegscamp zum GR20 war früher einmal, so in den achtziger, neunziger Jahren, nicht viel mehr als ein steiniger, mit Bruchsteinmauern umzäunter Lehmplatz gewesen, welcher weitgehend ohne schattenspendende Bäume der Sonne ausgesetzt war. Von diesem ursprünglichen Camp ist inzwischen nichts mehr wiederzuerkennen. Eine schmucke Gite de Etappe rahmt seit einigen Jahren einen kleinen Hof ein, in welchem sich im Sommer die Wanderer zum abendlichen Kochen und Schaulaufen versammeln können. Ein nach drei Seiten zu öffnender Speisesaal grenzt den Hof zum nah gelegenen Bach ab. Für die Zelte wurde ein neues Areal direkt am Bach mit Wiesen und Bäumen angelegt. Keine Frage, dieses Camp entspricht mehr dem neuen als dem alten Calenzana.


    Calenzana - Zeltplatz an der Gite de Etape

    Ich bin gern hier, fällt mir auf. Dieser letzte Hort vor den Bergen verdankt seine Ausstrahlung neben den neuen Gebäuden vor allem der freundlichen Ausstrahlung der jungen Familie, welche die Anlage betreibt. Da ich momentan der einzige Gast bin, entspinnt sich langsam ein längeres Gespräch nach dem woher und wohin, nach dem warum und wieso. Meine Ausrüstung wird kritisch beäugt und als gerade ausreichend eingestuft. Es sei noch viel Schnee in der Tour, wie viel wisse man nicht genau, da sich das Wetter weiter oben noch täglich ändere. Schließlich hat sich das Gespräch erschöpft, ich bedanke mich und beginne mein Zelt aufzubauen. Anschließend lege ich mich auf einer Bank im Hof in die Sonne und beobachte den Zug der Wolken. Ein schläfriger Spätnachmittag beginnt.

    Zwischen den Wirtsleuten und einem inzwischen hinzugekommenen Gardien der Parkverwaltung setzt eine kleine Diskussion ein, welcher ich von meinem Platz aus nur schwer folgen kann. Es geht wohl um Information, Schnee und Lawinen. Da ich vermute, dass diese Diskussion auch wegen mir geführt wird, geselle ich mich hinzu. Vom Gardien werde ich gefragt, ob ich die Wetterdaten kennen würde. Für die nächsten Tage werden einige Gewitter für den nördlichen Teil Korsikas vorausgesagt. Er zeigt mir den gerade aktualisierten Lawinenlagebericht und sieht mich erwartungsvoll an. Darauf erläutere ich ihm kurz an einem Beispiel, wie ich auch in den Bergen an genau diese Informationen per SMS kommen kann. Als der Gardien das von mir mitgeführte Satfon erkennt, klopft er mir entspannt auf die Schulter und wünscht mir viel Glück für die Tour. Seine anfängliche Besorgnis hat wiederum bei mir ein erstes Nachdenken ausgelöst. Was erwartet mich eigentlich da oben?


    26.04.2009 – Ein anstrengender Tag oder wie schwach darf man sich eigentlich fühlen
    Es wird gerade hell, als mich meine Suunto um 06:00 Uhr aus dem traumlosen Schlaf reißt. Ein leichtes regelmäßiges Trommeln auf dem Zelt zeigt das aktuelle Wetter an. Etwas resigniert baue ich im trüben Licht mein Nachtlager in Calenzana ab und versuche dabei den größten Teil der Ausrüstung trocken zu halten. Die regennassen Teile des Zelts kann ich in der nahen und noch menschenleeren Refuge ausbreiten und später weitgehend trocken verpacken. Nach einem kurzen, intensiven Frühstück geht es los. Von dem Sonnenschein des vorherigen Tages ist nichts mehr übrig geblieben. Der Regen hüllt die Insel bis hinab zur Küste in einen dunstigen Schleier.

    Nach einem kurzen Weg bergan durch Calenzana erreiche ich am Ortsende eine kleine Kapelle. Ich trete ein und setze mich in die letzte Bank. Das gleichmäßige Rauschen des Regens hüllt die Kapelle in unbedingtes Schweigen. Ich bin kein gläubiger Mensch, überhaupt nicht. Ich bin hier, um vor dem Aufbruch Ruhe zu finden. Angst ist ein mächtiger Faktor und die Berge scheinen manchmal besonders hoch.

    Die Geräusche des erwachenden Städtchens treiben mich hinaus in den Regen. Hunde bellen. Der Weg liegt eingezwängt zwischen der blühenden Macchia vor mir. Gelb. Eine Zeitlang begleitet mich diese Farbe die Hügel hinauf. Regentropfen perlen an den Blüten ab. Grün. Die erst vor wenigen Jahren verbrannten Hügel oberhalb der letzten Häuser und Stallungen sind wieder von mannshohen Büschen überzogen. Nur die Gerippe der silbern schimmernden Baumleichen ragen über diese hinaus.


    Calenzana - Wald oberhalb der Ortschaft

    Auf der ersten Anhöhe versperren mir freilaufende Kühe und verwilderte Schweine den Weg, welche der Kälte wegen aus den Bergen hinab ins Tal drängen. Ungelenk versuchen wir uns aus dem Weg zu gehen. Einen Moment herrscht ein seltsames Gleichgewicht der Unentschlossenheit, bis wir uns schließlich unsere Wege aneinander vorbei bahnen.

    Es wird kalt. Gestern noch war der Schatten der Bäume eine willkommene Erlösung und Einladung zum Müßiggang. Heute treiben mich der kalte Regen und der aufkommende Wind in einem zunehmenden Tempo den Berg hinauf. Nach etwa achthundert Höhenmetern verschwindet Schritt für Schritt das Gebirge in den Wolken. Die Sicht beträgt etwa zehn Meter. Durch den Regen ist der Pfad überschwemmt und zeigt nur noch als Rinnsal seinen ursprünglichen Verlauf an. Der Pfad endet schließlich vor einer Felswand, über welche sich der Weg noch weiter nach oben zieht. Auch hier spült sich das Wasser in neu gefundenen Bächen den Berg hinab. An sich kein sportliches Problem ist diese Felswand durch die jungen Flechten und Moose im Regen fast unbegehbar geworden. Die Hände greifen und packen fest zu, aber die Stiefel rutschen über den seifigen Stein. Das schwächste Glied, die Arme, müssen nunmehr die ganze Last nach oben ziehen und stemmen, während die Füße fast vollständig versagen. Wie ein Anfänger und ohne eine Chance auf eine Sicherung fluche ich mich den Berg hinauf, unter mir eine große Tiefe mehr ahnend als sehend. Ein Feuersalamander, welchen ich unter einem Stein in der Felswand aufscheuche, bewegt sich starr vor Kälte im Zeitlupentempo an mir vorbei auf der Suche nach einem neuen Unterschlupf. Die Zeit, welche ich der Kälte zum Aufwärmen zuvor abgenommen habe, zahle ich ihr nunmehr mit Zinseszins zurück. Es ist undenkbar, aber für die letzten einhundert Höhenmeter habe ich deutlich mehr als eine Stunde benötigt.


    Calenzana - Wald bei Arghioa

    Endlich auf dem Grat angekommen erwartet mich dort Sturm. Wetterleuchten setzt ein, aber das Gewitter ist noch fern. Etwas konsterniert mache ich im Dauerregen Pause, prüfe per SMS die aktuelle Wetterprognose und erfreue mich an einer heißen Tasse Tee. Etwa die Hälfte der Strecke und zwei Drittel der Tageshöhe liegen inzwischen hinter mir. Von Entspannung keine Spur. Der inzwischen eisige Gegenwind behindert das Fortkommen und zerrt an den Nerven. Das hatte ich mir anders vorgestellt. Zumindest der erste Tag sollte ein mehr lockeres Einlaufen in frühlingshaften Temperaturen werden, danach konnte es ruhig rauer werden. Statt dessen Schneeregen auf 1.200 m Höhe. Der Wind drückt das Wasser in die kleinsten Ritzen der Ausrüstung hinein, welche von Stunde zu Stunde schwerer wird. Es ist frustrierend, aber es gibt kein richtiges Fortkommen. Die Euphorie und der Überfluss an Energie der letzten Trainingswochen ist wie verflogen. Das ist die Realität und die aufkommende Schwäche ist alles andere als erbaulich.

    Am späten Nachmittag geht der Regen in ein leichtes Nieseln über. Es stürmt immer noch und es ist kalt, vielleicht fünf Grad. Die Wolken reißen auf und werden über die Berge getrieben. Ich bin etwa eine Stunde von meinem Tagesziel entfernt und kann auf der anderen Seite des Tals in der Nachmittagssonne die Refuge de l‘Ortu di u Piobbu glitzern sehen. Etwas oberhalb der Hütte beginnt die geschlossene Schneedecke.

    Der Zugang zur Hütte erfolgt über einen kurzen Abstieg zum Bach Ruisseau de Melaghia, welcher aufgrund der Regenfälle und der begonnenen Schneeschmelze bereits bedrohlich angewachsen ist. Der an dieser Stelle eigentlich noch recht kleine Bach ist eine gute Vorausschau auf die nächsten Tage, welche durch weitaus größere Bäche führen werden. Das ist noch nicht beunruhigend aber eben eine Tatsache, mit welcher ich fest gerechnet hatte. Das erste Abbruchkriterium, zu viel Wasser, ist fast erfüllt. Die letzten Meter zur Hütte hinauf führen über ein oberflächlich verharschtes aber im Kern morsches Schneefeld. Auch dies ist nichts Unerwartetes.


    Refuge de l Ortu di u Piobbu - Ankunft am 26.04.

    Verlassen liegt die Hütte in der untergehenden Sonne. Die letzten Stunden habe ich dick verpackt auf der Veranda der Hütte zugebracht, die Beine hochgelegt langsam meine Gedanken sortierend und um eine Entscheidung ringend. Die aktuelle Wetterprognose sagt für die kommende Nacht den nächsten Sturm mit Gewitter voraus. Die Lawinenwarnstufe steht noch auf drei. Die nächsten zwei Tage soll es dann aber etwas schlimmer kommen, auch Neuschnee. In der Ferne, weit im Westen, kann ich ein harmloses, dünnes Wolkenband erkennen. Das wird es sein, das zukünftige Unwetter. Und als Ergebnis dieses Tages beschließe ich, von meinem ursprünglichen Plan abweichend, die Hütte zur Übernachtung zu nutzen. Auf der Veranda koche ich das Abendessen und versuche bis Einbruch der Dunkelheit die mich umgebenden Berge zu lesen.


    Refuge de l Ortu di u Piobbu - Blick von der Veranda am 26.04.2009, abends

    Die schnell heraneilenden Wolken vertreiben schließlich die letzten Sonnenstrahlen und füllen das Tal bis zum Rand aus. Wieder ist alles um mich herum in Watte gepackt. Still auf einer der Pritschen liegend versuche ich Ruhe zu finden und meine Bereitschaft auszuloten, die nächste Tour am Morgen gehen zu wollen. Wie immer gehe ich dabei stoisch meine Auf- und Abbruchkriterien durch, um diese Entscheidung vorzubereiten. Seit ich einmal vor etwa fünfzehn Jahren eine grandiose Fehlentscheidung getroffen habe, welche in ein mehr gut als schlecht ausgehendes Fiasko mündete, ist es mir inzwischen eigen, argwöhnisch alle äußeren und inneren Zeichen zu belauern. Ich finde nichts.

    Ein Klappern an der Tür schreckt mich in absoluter Dunkelheit auf. Der Sturm tobt. Ich vermeine Schritte und knarzende Balken im Vorraum der Hütte zu vernehmen. Mein Puls jagt. Die Uhr zeigt kurz vor drei Uhr an. Das kann jetzt nicht wahr sein. In dieser Nacht, auf diesem Berg, bei diesem Wetter kann niemand mehr unterwegs sein. Die Schritte und das Knarzen werden lauter und deutlicher und verstummen. Etwas steht jetzt direkt vor der Tür zu meinem Schlafraum. Die Schritte entfernen sich und kommen nach einiger Zeit wieder näher. Ich werde fast wahnsinnig. Halb schläfrige Angst ist etwas Dämliches. Ich bin überzeugt, nein ich weis es, da draußen kann niemand sein. Aber ich bin mir nicht mehr absolut sicher. Und so nagt die Angst an meinem Schlaf. Minute um Minute.

    Es ist närrisch und so kindisch. Ich sollte jetzt aufstehen um nachzusehen und mich so vor mir selbst zum Affen machen. Die Schritte kreisen im Nachbarraum und kalte Schauer laufen mir den Rücken runter. Minute um Minute.

    Ich nehme mir vor zu meditieren und dabei einzuschlafen. Mit meinen Händen errichte ich einen Wall aus Energie um mich herum, baue eine Wand um die Schritte, das Klappern, Knarzen und Räuspern. Sperre alle Geräusche bis auf den Wind darin ein. Schlafe mein Kind, schlaf ein.

    27.04.2009 – Wasser oder wenn die Schleusen geöffnet werden
    Es ist immer noch dunkel, als mich die Suunto um 06:00 Uhr aus dem Schlaf reißt. Der Sturm zerrt an der Hütte. Benommen versuche ich durch das kleine Fenster etwas zu erkennen. Nebel, nein Wolken. Ich blicke in eine amorphe Wolkenmasse, welche sich um mich herum abregnet. Die Sicht beträgt zehn Meter. Der längst begonnene Sonnenaufgang ist nur eine fahle Ahnung von Licht. Von den umliegenden Bergen ist rein gar nichts zu erkennen.

    Bis zur Entscheidung bezüglich des heutigen Aufbruchs ist noch etwas Zeit, welche mit dem immer gleichen Ritual ausgefüllt wird, Aufstehen, Packen, Frühstücken. In einem jahrelang konditionierten Ablauf führe ich die Tätigkeiten durch, ohne Hast und Eile, und bin trotzdem nach nur kurzer Zeit abmarschbereit. Jetzt ist der Zeitpunkt der Entscheidung gekommen. Oder auch nicht. Das Grau ist nicht eine winzige Spur heller geworden. Verunsichert sehe ich nach der Uhr, prüfe die Uhr, schaue wieder aus dem Fenster, sehe zur Uhr. Eine Entscheidung wird jetzt gebraucht. Ich entscheide jetzt nichts zu entscheiden. Koche stattdessen eine weitere Kanne Tee und warte auf einen besseren Zeitpunkt für eine Entscheidung. Ich würde jetzt gern meine Auf- oder Abbruchkriterien anwenden, aber ich kann immer noch nichts erkennen. Pattsituation würde ich sagen.


    Refuge de l Ortu di u Piobbu - Aufbruch am 27.04.2009, morgens

    Vor der Hüttentür gibt es ebenfalls nichts Neues zu entdecken. Wolke und Sturm. Ich entdecke stattdessen den nächtlichen Schrittmacher. Über der Tür hängt an einem knarzenden Ast so eine Art riesiger indianischer Traumfänger, wie ich ihn in einer kleinen Ausführung meinen Söhnen einmal geschenkt habe. Die lederummantelten Ringe schlagen ab und an gegen die Hüttenwand und vertreiben so scheinbar böse Geister. Ganz tolle Idee.

    Während einer Kanne Tee lässt sich gut beobachten, wie sich ganz dunkles Grau in weniger ganz dunkles Grau verwandelt. Manchmal sieht es auch so aus, als würde sich dieser Vorgang wieder umkehren, aber das ist bestimmt nur eine böswillige Erscheinung, um mich zu verunsichern. Eine Konstante gibt es allerdings bei diesem grauen Pulsieren, die Berge bleiben verschwunden.

    Eine weitere Kanne Tee später treffe ich die Entscheidung zum Aufbruch. Draußen hat sich nichts geändert. Dunkles Grau und böiger Regen. Es hat sich aber auch nichts verschlechtert. Es wird jetzt eben der Versuch einer Tour statt einer Tour. Umkehren kann ich bis kurz vor dem Grat am Capu Ladroncellu. Erst dort oben auf etwa zweitausend Meter Höhe werden das Wetter und der Schnee wirklich entscheidend. Die Strecke auf dem Grat dauert zwischen zwei bis drei Stunden. Bei Gewitter oder Schneesturm ist dort nichts zu erreichen. Die Null Grad Isochrone liegt angeblich noch auf dreitausend Meter, das sollte reichen. Ich verschiebe also die Entscheidung in die Tour hinein und breche auf.

    Es ist ein wenig wie eine kleine Flucht. Die Aussicht einen ganzen Tag an diesem trostlosen Ort verbringen zu müssen, treibt mich hinaus in den Regen. Auch wenn die Tour nicht gelingen sollte, wäre es wenigstens ein willkommenes Schlechtwettertraining. Zwei Stunden hin, zwei Stunden zurück. Immer noch besser als bewegungslos herumzusitzen und auf den nächsten Tag warten zu müssen.

    Direkt hinter der Hütte ist ein Seitenarm des Bachs über die Ufer getreten und überschwemmt den Hang. Der Weg führt leicht bergan über regennasse Blockfelder. Das Terrain ist einfach. An der verfallenen la Mandriaccia Bergerie angekommen treibt ein kalter Wind die Wolkenmasse das Tal hinauf zum Capu Ladroncellu und reißt den Himmel etwas auf. Das Wetter bleibt aber weiterhin unklar, da sich bereits das nächste Wolkenband schnell heranschiebt. Die Furt durch den Bach Rau de Mandriaccia etwa fünfzig Meter unterhalb der Bergerie ist stark überflutet. Mit einem einfachen Durchwaten ist das andere Ufer nicht mehr zu erreichen. Die Strömung ist stark und schnell, so dass ich weiter oberhalb eine bessere Stelle suche. Mit etwas Kletterei an einem kleinen Wasserfall gelingt es mir den Bach trockenen Fußes zu queren. Für den Fall der Fälle präge ich mir die Stelle genau ein. In einigen Stunden dürfte sich der Wasserstand noch weiter erhöht haben.

    Nach dem Bach geht es anfangs durch ein kleines Wäldchen und anschließend durch ein langgestrecktes Couloir stetig bergauf. Nach einigen Metern erreiche ich die geschlossene Schneedecke, welche sich als von vielen kleinen Bächen ausgehöhlter, leicht glasierter und teils morscher Untergrund herausstellt. Auf dem tauenden und vom Regen durchnässten Altschnee läuft es sich aber immer noch deutlich besser als auf den glitschigen Felsen der sich nach links hinaufziehenden Steilwand. Es sind keine Spuren vorangegangener Wanderer zu entdecken. Den Weg auf den Schneefeldern sorgfältig auswählend breche ich kaum ein. Noch benötige ich die Schneeschuhe nicht. Endlich erreiche ich mein gewohntes Tempo und trotz neu einsetzendem Nieselregen beginnt die Tour etwas Spaß zu machen.

    Kurz vor dem Grat prüfe ich bei einer kurzen Rast die aktuellen Wetterdaten, um die aufgeschobene Entscheidung treffen zu können. Das Barometer und das Thermometer zeigen für die letzte Stunde stark fallende Werte an. Durch den kalt strömenden Wind sind es inzwischen nur noch fünf Grad Celsius. Andererseits wirkt sich inzwischen auch die zusätzliche Höhe auf die Werte aus, denke ich. Nach Gewitter sieht die Wolkenlage derzeit nicht aus. Mein Vater pflegt in solchen Situationen zu sagen, dass noch genügend Struktur zu sehen sei. Wie dem auch sei, ich habe die notwendigen Geräte dabei, eine aktuelle Wetterprognose des Gebietes zu bekommen und wähle mich bei Iridium ein. Per SMS erhalte ich die wichtigsten Vorhersagen und ahne, was hinter den Wolken verdeckt auf mich zukommt. Die Null Grad Isochrone soll in kürzester Zeit von dreitausend auf zweitausend Meter sinken. Die Windgeschwindigkeit soll auf achtzig Kilometer pro Stunde steigen. Die Niederschlagswahrscheinlichkeit liegt bei neunzig Prozent. Das bedeutet Gewittergefahr, Hagel und Schnee oder in der milderen Form Schneeregen. Ich beschließe noch bis zum Grat hinauf zu steigen, ein paar Fotos zu machen und umzukehren.

    Ich befinde mich auf etwa eintausendneunhundert Meter Höhe als der erste Blitz hinter mir durch das Tal jagt. Zwischen Blitz und Donner lag kein zeitlicher Abstand. Gleich werde ich mittendrin sein, denke ich. So schnell kann das gehen. In den Minuten zuvor hatte sich das neue Wolkenband in das Tal gezwängt und füllt es nunmehr vollständig aus. Die nachdrängenden Wolken weichen nach oben und nach unten aus. In kürzester Zeit stecke ich wieder in einer grauen Wolkenmasse, welche sich schnell verdichtet. Hier gibt es heute kein Durchkommen mehr.

    Ich mache mich sofort auf den Rückweg und versuche so schnell es geht an Höhe zu verlieren. Der von mir gespurte Weg zeigt mir die Richtung ins Tal hinab. In der Eile setze ich aber die Füße weniger vorsichtig auf dem Schnee auf und breche immer wieder bis zum Bauch ein. Der Regen ist inzwischen in Hagel übergegangen, welcher auf meinen Helm prasselt. Wetterleuchten und Blitze erhellen in kurzen Abständen das Tal, welches dunkel vor mir liegt. Das Unwetter presst das Eis, den Schnee und den Regen in den Berg hinein. Das Wasser ist jetzt überall. Die Felsen sind von einem geschlossenen Wasserfilm bedeckt, welcher sich am Übergang von Fels zu Schnee unter die Schneedecke schiebt. Auf den Schneefeldern fließen kleine Rinnsale und verschwinden in dunklen Brüchen. Die Bäche unter der Schneedecke sind jetzt deutlich rauschend zu hören.

    Rechtzeitig genug erreiche ich die etwas schützende Baumgrenze, bevor das Wetter in völlige Anarchie umschlägt. Noch zwei Stunden Wanderung und ich werde wieder im Trockenen sein, muntere ich mich auf. Zuvor aber gilt es die Furt unterhalb der Bergerie zu überwinden. Mit Regen vermischter Hagel prasselt auf mich ein. Daumennagelgroße Eiskörner überziehen den Boden in kürzester Zeit mit einer geschlossenen Eisschicht. Ich liebe dieses Wetter, bilde ich mir sarkastisch ein.

    Die Furt rauscht schon von weitem bedrohlich. Sie ist viel lauter als noch auf dem Hinweg. Wie zu erwarten gewesen, ist das Wasser nunmehr deutlich höher gestiegen. Warum soll es auch mal etwas einfacher werden. Wenn die Summe aller Schwierigkeiten immer gleich bliebe, müsste ich jetzt eine kleine Hängebrücke vorfinden.

    Die Furt ist wie zuvor unpassierbar, die Kletterstelle an dem weiter oben gelegenen, kleinen Wasserfall eigentlich auch. Ich setze mich in dem Unwetter an den Bach und mache eine kleine Teepause, wohl wissend, dass eigentlich jede Minute zählt. Ich beobachte den Wasserfall, gehe meine Optionen durch. Die Furt zu durchschreiten würde bedeuten, mindestens bis zum Bauch durch das Wasser gehen zu müssen. Dazu ist die Geschwindigkeit des Baches aber eindeutig zu schnell. Selbst mit einem Seil zur Unterstützung stünde die Chance nicht gut, das andere Ufer wohlbehalten zu erreichen. Und die zwanzig Meter Halbseil benötige ich wahrscheinlich an anderen Stellen der Tour noch genauso dringend. Ich kann es heute noch nicht verlieren.

    Ich gehe noch einmal meine Checkliste für solche Fälle durch. Zelt aufbauen - geht in diesem Gelände nicht. Biwak - das Wetter ist zu grenzwertig und es ist wahrscheinlich, dass es noch schlimmer werden wird. Furten mit Seilunterstützung – schlecht einzuschätzen, ob dies inzwischen nicht gefährlicher ist als ohne Seil, wenngleich ich die volle Ausrüstung dabei habe. Furten an der Kletterstelle – geht vielleicht gerade noch, wenn es nicht zu einem Ausrutscher kommt. Nass werde ich auf jeden Fall.


    Rau de Mandriaccia - kleiner Wasserfall

    Die einzig verbliebene Stelle für eine Querung ist genau hier oberhalb des kleinen Wasserfalls. Ich müsste etwa knietief über große Blocksteine balancieren, welche in dem klaren Wasser gut zu erkennen sind. Die Steine sind rutschig. Gebannt schaue ich mir das Wellenmuster an, es sind keine Unterschiede auszumachen. Auch Steine poltern nicht durch den Bach. Wenn ich abrutsche, werde ich entweder den kleinen Wasserfall hinabfallen oder in das stark schäumende und recht tiefe Becken vor dem Wasserfall stürzen. Beides nicht gerade erstrebenswert.

    Bevor ich an der Kletterstelle mit dem Queren des Baches beginne, kontrolliere ich noch einmal die Ausrüstung. Alle Gegenstände mit Ausnahme der Kletterausrüstung sind wasserdicht verpackt. Ich ziehe noch die nicht absolut benötigten Kleidungsstücke aus und verpacke Unterwäsche, Handschuhe, Mütze, Strümpfe und Fleecejacke wasserdicht im Rucksack. Die Trekkingstöcke verschnüre ich außen. Ich trage jetzt nur noch die dritte Bekleidungsschicht. Wenn ich schon im Bach landen sollte, dann würde wenigstens die wärmende Kleidung trocken bleiben. Die Chance hier oben steht vielleicht siebzig zu dreißig für mich, wenn ich die Nerven nicht verliere und mir keinen Fehler leiste. Sie steht aber auch sechzig zu vierzig gegen mich, wenn ich mich dämlich anstelle. In Gedanken gehe ich die Kletterstelle, welche ich am Morgen schon einmal in entgegengesetzter Richtung gemeistert habe, nochmals durch. Dann setze ich den Rucksack auf und lasse die Verschlüsse des Hüft- und Brustgurts geöffnet. Schneeregen.


    Rau de Mandriaccia - Querung oberhalb vom kleinen Wasserfall

    Schritt für Schritt und Griff für Griff begehe ich die Kletterstelle oberhalb des kleinen Wasserfalls. Das Wasser fließt mir trotz angelegter Gamaschen in die Stiefel, da ich nicht schnell genug durch den Bach komme. Die Tritte sind rutschig und die Griffe werden vom eiskalten Wasser überspült. Ich spüre langsam die Kälte aber die Querung ist fast geschafft. Alles kein Problem, wie geplant, fast am Ziel, denke ich. Am Ende der Kletterstelle stehe ich schließlich knöcheltief auf einem tischgroßen, rundgeschliffenen Blockstein, welcher von allen Seiten vom tosenden Wasser umgeben ist. Am Morgen trennte mich an dieser Stelle nur ein beherzter Schritt von Ufer. Jetzt trennt mich nur ein beherzter Sprung. Ich stehe inzwischen fünf Minuten auf diesem Stein, spanne die Muskeln an, lockere sie wieder, konzentriere mich, spanne mich wieder. Es wird nichts. Ich weis, dass ich diese Stelle mit dem Gewicht des Rucksacks nicht sicher springen kann. Es ist da dieses Gefühl, welchem ich bisher immer hätte vertrauen sollen, denn es bewahrte mich, wenn ich darauf achtete, immer vor dem größten Unheil. Und die wenigen anderen Fälle, gut schweigen wir lieber darüber. Es gibt also Momente, an denen es gerade nicht mehr funktioniert. Und das hier ist so einer.

    Springen geht nicht, pulsiert es in meinem Kopf. Fieberhaft sortiere ich meine Optionen. Vom Stein in das Becken absteigen und die letzten zwei Meter durchwaten – aber ich sehe an dieser Stelle den Grund nicht. Ich prüfe die Tiefe mit einem Trekkingstock, etwas über ein Meter, könnte schon gehen – aber das Ufer ist schwer zu erklimmen. Ich setze den Rucksack ab und wiege ihn prüfend in meinen Armen, in dem regennassen Zustand vielleicht dreißig Kilo. Am Ufer wäre die Landestelle bei einem Sprung mitten in einem dichten, noch blattlosen Busch gewesen. Wenn ich den Rucksack dort hineinwerfe, müsste er sich eigentlich verhaken und hängenbleiben. Dann könnte ich hinterherspringen. Ohne groß nachzudenken prüfe ich nochmals das Gewicht, hole aus und werfe den Rucksack mit aller Kraft ans Ufer. Wie gedacht schlägt er mitten in dem Busch ein, sogar etwas weiter oben als ich es mir zugetraute. Perfekt. Bis sich der unbeugsame Strauch wieder Millimeter um Millimeter aufrichtet. Gebannt schaue ich dem Ereignis zu. Würde ich jetzt springen, würde alles perfekt bleiben, denke ich noch. So aber verpasse ich den Zeitpunkt und sehe, wie der Strauch den Rucksack aus seinem fragilen Gleichgewicht hebelt. Noch eine kleine Ewigkeit verharrt der Rucksack zwischen Schwanken und Kippen, und kippt. Der Rucksack fällt ins Wasser, wird von einer Welle unter Wasser gedrückt und verkeilt sich zwischen Ufer und Blockstein. Im gleichen Moment springe ich hinterher und lande hinter dem Rucksack, welcher an der Kante des kleinen Wasserfalls hängt. Der Regenschutz bläht sich wie ein rotes Segel unter Wasser.

    Das Wasser schiebt den Rucksack in den Wasserfall, ich zerre den Rucksack zurück. Es ist wie beim kaukasischen Kreidekreis. Es wird solange gezerrt, bis etwas zerreißt. Als erstes gibt das Segel nach und eine besonders große Welle schießt über den Rand des kleinen Wasserfalls in die Tiefe. Der Druck auf den Rucksack lässt urplötzlich nach, ist aber immer noch so groß, dass ich den Rucksack nicht stromaufwärts bewegt bekomme. Das Deckelfach hat sich als zweites Segel aufgebläht und dessen Riemen lockern sich langsam. Und damit nicht genug. Weil die wasserdicht zu einem kleinen Kissen verpackte Fleecejacke nicht mehr in den Rucksack hineingepasst hat, wird sie jetzt Stück für Stück unter dem Deckelfach nach außen gespült. Langsam sehe ich die rote Verpackung herausragen. Ich zerre so stark ich noch kann. Der Rucksack bewegt sich nicht. Mit einem zweiten Knall springen die Riemen des Deckelfachs auf und das rote Kissen springt wie ein Gummiball in den Wasserfall hinein.

    Mittlerweile knie ich verkeilt zwischen Ufer und Blockstein und werde vom Wasser überspült. Erst jetzt bekomme ich den Rucksack langsam zu mir bewegt. Er ist unendlich schwer. An den Ästen des störrischen Strauchs ziehe ich mich nach oben. Es dauert noch etliche Flüche und Vaterunser bis ich den randvollgesogenen Rucksack zu mir hoch auf das rettende Ufer gezogen bekomme. Erschöpft falle ich um.

    Mir ist kalt, aber ich kann alle Gliedmaßen bewegen. Ich verspüre nicht den kleinsten Schmerz außer einer vollkommenen, tiefen Mattigkeit aller Muskeln, welche sich wie zerrissen aber gleichzeitig auch schmerzfrei anfühlen. Ansonsten nichts. Keine Schramme, kein Riss in Jacke oder Hose und auch der Rucksack ist unbeschädigt. Dieses Abenteuer ist vollkommen spurlos vorbeigegangen. Einzig zwei Teile meiner Ausrüstung habe ich verloren.

    Wie ich so halbnackt, durchnässt und frierend am Ufer liege, muss ich lauthals loslachen. Das Ergebnis hätte ich auch einfacher haben können. Ich hätte einfach nur das Becken oberhalb des kleinen Wasserfalls durchwaten und anschließend einen Teil meiner Ausrüstung als Dankesopfer in die Fluten werfen müssen.

    Der trommelnde Schneeregen ist inzwischen einem leisen, dichten Weihnachtsschneefall gewichen und überzieht binnen Minuten die Landschaft mit einem besänftigenden Weiß. Ohne mich umzuziehen renne ich den restlichen Weg bis zur Hütte. Dort angekommen wechsel ich die Kleidung und hülle mich in wärmendes Fleece. Als nächstes geh ich nach draußen und hacke etwas Holz, um den kleinen gusseisernen Ofen im Gemeinschaftsraum der Hütte anfeuern zu können. Nach etwa einer Stunde ist die Hütte warm und ich kann meine Regenschutzkleidung, die Kletterausrüstung und den Rucksack trocknen. Die restliche Ausrüstung ist unversehrt. Draußen hat der Sturm das Tal erreicht und wütet ohnegleichen.

    28.04.2009 – Ein Hüttentag oder minimalistisch Leben
    Am nächsten Morgen tobt draußen immer noch der Sturm und ich erwache wieder in einem fahlen, bleigrauen Licht. Die ganze Nacht hindurch hat die Hütte geklappert und geächzt und ich wäre froh gewesen, wenn mich nur die Schritte und das Knarzen der vorherigen Nacht wach gehalten hätten. Stattdessen prasselten abwechselnd mächtige Hagelschauer und Schneeregen an das kleine Fenster, welches sich gegen Morgen langsam mit Schneegries überzog. Ich muss es erst öffnen und vom Eis befreien, bevor ich etwas erkennen kann. Böiger Schnee weht in die Hütte. Das wird heute nichts, bin ich überzeugt, denn das Gewitter sitzt fest.

    Auf der Veranda liegt eine geschlossene, von Nässe grau gefärbte Schneeschicht. Das Gelände um die Hütte herum ist von dem über die Ufer getretenen Bach, obgleich dieser sich in etwa einhundert Meter Entfernung befindet, vollends überschwemmt worden. An den Kanten der steinernen Terrassen um die Hütte herum haben sich kleine Wasserfälle gebildet. Die Hütte scheint jetzt auf einem morastigen Tümpel zu schwimmen, in welchem etliche kleine und große Schneeinseln den einzigen festen Untergrund bilden. Ich wünsche mir, mit der Hütte langsam den Berg hinabgleiten zu können, um irgendwann bei strahlendem Sonnenschein am Golfe de Calvi anzulanden. Tristesse begleitet diesen Morgen, welcher nicht hell werden will. Nichts deprimiert mich mehr, als untätig in einer dunklen Hütte zum Warten auf besseres Wetter verdammt zu sein.

    Es ist kalt in der Hütte. Irgendwann in der Nacht ist das letzte Holzscheit niedergebrannt, so dass ich mich bequemen muss, im Schneeregen Holz zu hacken. Bei normalem Wetter an sich eine schöne Aufgabe ist sie auf dieser Hütte etwas speziell. Es gibt hier keine Axt. Es gibt eine Art Machete mit einer hakenförmigen, stumpfen Klinge. Das Holz der Korsischen Schwarzkiefer ist sehr hart. Ich stelle eines der an der Hütte aufgeschichteten Baumstücke auf einen Felsen, umklammere das Werkzeug mit beiden Händen, hole weit aus und schlage mit aller Kraft zu. Der Stahl dringt nicht tief in das Holz ein. Gestern hatte ich noch das Glück, die letzten drei in der Hütte lagernden Baumstücke zerhacken zu können. Diese waren beim Trocknen bereits mehrfach eingerissen und ließen sich vergleichsweise einfach zerteilen. Heute muss ich mit den durchnässten und noch intakten Holzstücken vorliebnehmen.

    Da das Werkzeug immer wieder federnd von dem Baumstück abprallt, stelle ich die Strategie etwas um. Unter der Veranda habe ich noch eine rostige Säge gefunden, mit welcher ich in handtellerbreiten Abständen daumennageltiefe, parallele Schnitte in das mächtige, etwa einen halben Meter dicke und kniehohe Holzstück säge. In diesen Sägeschnitten setze ich die Machete an, verkeile sie mit Holzresten und lasse ein weiteres Baumstück von oben auf die Klinge niedersausen. Zentimeter für Zentimeter dringt die Klinge in das Holz ein und verkeilt sich. Um die Klinge wieder aus dem Baumstück herausschlagen zu können, muss ich die Machete mitsamt dem Holzklotz weit ausholend gegen einen Felsen schlagen, so dass sich die Klinge Schritt für Schritt wieder heraushebelt. Es dauert eine Weile bis ich das erste Holzscheit von dem Baumstück abgeschlagen habe. Zwei Holzscheite und etwas Späne benötige ich, um das Feuer wieder anfachen zu können.

    Da das nasse Holz erwartungsgemäß nicht brennen will, opfere ich eine Kerze und beträufele die Späne und die beiden Holzscheite auf einer Seite vollflächig mit Wachs. Einige unwichtige Seiten meiner Lektüre - Impressum, Danksagung und Nachwort - helfen mir die Späne anzuzünden. Unter ständigem Nachschub weiterer Späne gelingt es mir schließlich die Holzscheite in Brand zu setzen.

    Die in der Hütte aufgehängte Kletterausrüstung und der Rucksack sind noch weitgehend nass. Unter ihnen hat sich eine große Pfütze gebildet, in welche noch ab und an ein weiterer Tropfen mit einem schnalzenden Geräusch fällt. Mit dem Halbseil baue ich oberhalb des Ofens eine Hängekonstruktion, an welcher ich die feuchten Ausrüstungsgegenstände kreisförmig um den Ofen aufhängen kann. Danach bereite ich das Frühstück, Müsli mit ausreichend Tee, und gönne mir eine kleine Pause. Auch wenn ich eigentlich nichts zu tun habe, kann ich mir mit etwas Arbeit das Leben hier oben deutlich angenehmer gestalten.

    Nach dem Frühstück gehe ich die nächsten Holzscheite abspalten. Am späten Vormittag sind meine Arme ausgelaugt und mit der Machete bekomme ich keine weiteren Baumstücke mehr zerteilt. Da die Menge der Holzscheite noch nicht ausreichend ist, um über den Tag und die nächste Nacht zu kommen, fange ich an, die Baumstücke längs mit der Säge zu durchtrennen. Eine zähe und für Baum und Mensch etwas unwürdige Art Holzscheite zu produzieren. Aber aus dem dabei entstehenden Sägemehl kann ich mit etwas Kerzenwachs kleine, wunderbar brennende Pellets formen.

    Am frühen Nachmittag ist der Rucksack wieder einsatzbereit und die Kletterausrüstung ist in einen tropffreien Zustand übergegangen. Draußen bricht mit einem Mal die Sonne durch. Der Sturm zerfetzt die entleerten Wolken und treibt sie über die Berge. Urplötzlich beginnt der Schnee zu tauen und nach einer halben Stunde ist die Veranda abgetrocknet und warm. Ich hänge die Kletterausrüstung in die Sonne, setze mich auf die Veranda, prüfe den Wetterbericht und beobachte die Umgebung durch das Fernglas auf der ewig erfolglosen Suche nach den korsischen Mufflons.

    Am anderen Ende des Tals aus Richtung Calenzana blitzt kurz eine Reflektion auf. Ich bin mir sofort sicher, nicht mehr allein hier oben zu sein. Trotz des schlechten Wetters hatte ich irgendwie erwartet, Besuch zu bekommen. Mit dem Fernglas taste ich langsam die Umgebung ab. Noch ist nichts zu sehen.

    Da sich das Wetter laut Meteo France für die nächsten fünf, sechs Stunden vorläufig stabilisieren wird, plane ich für den Nachmittag einen Aufstieg auf den Monte Corona. Dieser Berg schirmt das Tal nach Osten ab und befindet sich direkt hinter der Hütte. Weil der frisch gefallene Schnee etwas weiter oberhalb noch nicht getaut ist und sich zudem jede Menge Altschnee auf dem Berg befindet, packe ich das volle Ausrüstungsset zusammen. Schneeschuhe, Eispickel, Steigeisen, Helm und so weiter.

    Ich bin gerade am Verschnüren des Rucksacks, da spricht mich unvermittelt hinter mir eine Stimme an. Etwas überrascht drehe ich mich um und da steht er, „mein Besuch“. Ein Mann, Südländer, mittleres Alter, dauerhaft gebräunt, etwas verwegener Gesichtsausdruck. Als er seine Frage wiederholt, fällt mir der starke spanische oder portugiesische Akzent auf. Und, er hat mich auf Englisch gefragt, ob die Hütte geöffnet sei. Sehe ich so deutsch aus? Ich antworte ihm in holperigem Französisch, dass die Hütte nicht bewirtschaftet aber geöffnet sei. Er gibt mir radebrechend auf Englisch zu verstehen, dass er kein Französisch könne und sich lieber in Spanisch oder notfalls in Englisch verständigen möchte. Ich wiederhole meine Antwort auf Englisch. Anhand seiner Reaktion merke ich, dass er mich nicht richtig verstanden hat. Die Ausrüstung an meinem Rucksack muss ihn verwirrt haben, er denkt ich sei der Hüttenwirt. Ich versuche ihm das Ganze noch einmal zu erklären, ohne Erfolg. Da er von mir aber offenkundig Anweisungen erwartet, wie das Leben hier auf der Hütte funktioniert, zeige ich ihm leicht kopfschüttelnd die Räume. In Anbetracht der Preise, welche außen an der Hütte angeschlagen sind, zieht er es vor, sein Zelt in einem der schützenden Steinkreise aufzubauen. Mich drängt inzwischen etwas die Zeit und so verabschiede ich mich von ihm und wandere in Richtung des Monte Corona. Für eine gepflegte Unterhaltung ist am Abend noch genug Zeit, denke ich mir.

    Eigentlich führt der Weg in langen Serpentinen direkt hinter der Hütte bergan. Da ich mich aber ausgeruht fühle, wähle ich weiter nördlich einen fast direkten Aufstieg zur Bocca di Tartagine durch ein Wäldchen aus Birken und Krüppelkiefern. Obwohl durch die Bäume nur teilweise verfestigt komme ich auf dem schotterigen Hang gut voran. Nach etwa einhundert Höhenmetern beginnt die Schneegrenze mit größeren Schneeflecken. Nach weiteren einhundert Höhenmetern beginnt die geschlossene Schneedecke. Der Untergrund lässt sich recht gut einschätzen und birgt keine technischen Probleme. Ich sinke selbst ohne Schneeschuhe nur etwa knöcheltief ein. Es ist kalt hier oben. Ein steter Westwind kühlt mich trotz des schnellen Aufstiegs aus, so dass ich gezwungen bin, eine dünne Fleccejacke überzuziehen.

    Auf der Bocca di Tartagine angekommen habe ich einen atemberaubenden Blick auf den Osten der Insel. An dieser Stelle beginnt im Sommer ein schöner Weg hinab zum Maison Forestiere de Tartagine-Melaja und anschließend wieder hinauf nach San Guiseppe. Bei dem klaren Wetter meine ich sogar beide Orte gut erkennen zu können. Aber der Weg hinab ins Tal liegt vollständig unter einer meterdicken Schneeschicht begraben. Ich bin etwas erstaunt über die Schneemenge, welche sich an dieser Stelle auf etwa eintausendneunhundert Meter Höhe noch befindet. Das war dem aktuellen Lawinen-Bulletin in dieser Form nicht zu entnehmen gewesen.


    Blick vom Monte Corona nach Osten (Cima di a Statoghia und Monte Padru), nachmittags

    Durch die Schneefälle der letzten zwei Tage haben sich die Hänge teilweise wieder aufgeladen, vor allem aber scheinen die nach Osten zeigenden Hänge noch weitgehend unbereinigt zu sein. Ich sehe mir diese Entdeckung etwas genauer an, da sie schließlich der erste ernstzunehmende Hinweis für die Durchführbarkeit meiner geplanten Tour nach Vizzavona ist. Mächtige nach Osten ragende Wächten begrenzen den Übergang des Sattels in das Tal und des zum Monte Corona ansteigenden Kamms. Die Wächten am Sattel sind nicht direkt auf den ersten Blick zu erkennen, da sie sich als steil abbrechender Verlauf des Hanges getarnt haben. Erst weiter oben auf dem Monte Corona kann ich deren Ausmaß erahnen. Ich muss gestehen, dass ich inzwischen ziemlichen Respekt vor der noch vor mir liegenden Tour habe. Da muss das Wetter in den nächsten Tagen schon gut mitspielen, damit mir diese gelingen kann. Und selbst bei dem guten Wetter der letzten Stunden benötige ich in dem zunehmend schwierigen Gelände wegen der Schneeverhältnisse mehr Zeit als gedacht.


    Monte Corona - die letzen Meter

    Gegen siebzehn Uhr befinde ich mich auf dem Gipfel des Monte Corona. Die letzten Höhenmeter waren eine üble Plackerei und nur mit Hilfe der Schneeschuhe zu gehen gewesen. Der teils pappige, noch recht frische Schnee ließ sich ohne diese Unterstützung nicht überwinden. Das ist für mich als ausgewiesenem Kletterer schon eine etwas skurrile Situation, mit Schneeschuhen auf dem mit Felsstufen und allerlei Blöcken durchsetzten Gipfel herumstapfen zu müssen. Was soll‘s, geschafft ist geschafft. Ich bleibe etwa eine Stunde auf dem Gipfel und mache einige Panoramafotografien.


    Blick vom Monte Corona nach Westen (Golfe de Calvi), nachmittags

    Beim Abstieg grabe ich noch ein Schneeprofil aus, um die Festigkeit der Schneedecke und deren Beschaffenheit besser abschätzen zu können. Ich kann drei Schichten erkennen. Auf einer über einen Meter dicken, voll verfestigten Altschneeschicht liegen auf einem jeweils verharschten Schichtübergang durchfeuchtete Neuschneeschichten. Die mittlere Schneeschicht ist etwa einen halben Meter dick und recht kompakt, die jüngste ist etwa einen viertel Meter dick. Beide Schichten geraten mit einem geringen Anstoß ins Rutschen. Nicht gerade unerwartet aber eben auch eine etwas andere Klarheit als der nüchterne Lawinenlagebericht.


    Monte Corona - Wächte am Abstieg

    Langsam beginnt die Sonne im Westen zu sinken und die Wolken in ein schmutziges, später triefendes Rot zu tauchen. Da ist er wieder, der Schlechtwetterbote. Wie angekündigt zieht aus Westen das nächste schmale Wolkenband heran. In ein bis zwei Stunden wird es die Berge erreicht haben, sich wieder zu einem Wolkengebirge auftürmen und sich über die Bergkette des Punta Pinzalone in das Melaghia-Tal ergießen. Das bedeutet für die Nacht und den morgigen Tag den inzwischen allseits bekannten Dreiklang aus Gewitter, Schnee und Regen.

    Der Abend an der Hütte vergeht ausgesprochen ruhig. „Mein Gast“, ein Argentinier wie sich herausstellt, besucht mich nach meiner Rückkehr noch einmal auf der Veranda der Hütte. Gemeinsam kochen wir unser Abendbrot und teilen uns ein großes Stück aus seinem Parmesan-Vorrat. Als Dank dafür statte ich ihn mit allen aktuellen Wetter- und Wegeinformationen aus. Da die Sprachbarriere doch etwas hinderlich ist, verstehen wir uns auch ohne große Worte gut. Nur so viel erfahre ich – dass er mehrere Monate auf Europa-Tour ist, dass der GR20 selbst in Argentinien bekannt ist, dass er von dem Wetter total überrascht ist, dass er morgen auf den Mare e Monti ausweichen wird. Die Beine hochgelegt genießen wir das Farbenspiel der untergehenden Sonne und des langsam heraufziehenden Unwetters.


    Refuge de l Ortu di u Piobbu - Blick von der Veranda am 29.04.2009 abends

    Die Nacht ist genauso unruhig und stürmig wie die vorangegangene. Schneeregen. Ich bereue nicht, wieder in der Hütte zu übernachten.

    Ende – Teil 1
    Zuletzt geändert von Sandmanfive; 06.11.2011, 18:45. Grund: Reisecharakter eingestellt
    Schnee ist auch nur schick aufgemachtes Wasser.

  • Raphael O.
    Erfahren
    • 05.03.2008
    • 175
    • Privat

    • Meine Reisen

    #2
    AW: [FR] Korsika - GR20 - Schöner Scheitern

    Wow, das erinnert mich an unsere Tour letztes Jahr Anfang April...
    allerdings von Süden. Bis zum Bauch in den Schnee einbrechen, 5m Sichtweite gehörte aber auch da fast täglich dazu...

    Nur hat bei uns der Sprung über einen Fluss geklappt. Da wir zu zweit waren, ist erst einer gesprungen, dann kamen die Rucksäcke und dann der zweite ^^

    Die Berge schienen definitiv etwas dagegen zu haben, dass wir uns zu dieser Zeit über sie bewegten... (während wir die letzte Woche am Meer super Wetter hatten, aber an den Graten hielten sich die Wolken...)

    Freu mich auf den weiteren Bericht!

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    • Gast-Avatar

      #3
      AW: [FR] Korsika - GR20 - Schöner Scheitern

      Worst Case Wie unbarmherzig doch die "Schöne" sein kann.

      Ich entsinne mich,daß wir vor 5Jahren im Mai Temperaturen bis zu 38C° hatten.Auf dem Col de Bavella waren es trotzdem noch um die 15C° mit entsprechendem Wind.Klimawandel...?

      Kann nur hoffen,daß es mich im November nicht so kalt erwischt,obwohl es die Klimatabelle eigentlich prognostiziert.

      Übrigens sehr poetisch geschrieben.Danke,für diesen sehr mitreisenden Bericht!

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      • ArminiusF
        Erfahren
        • 19.07.2009
        • 137
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        • Meine Reisen

        #4
        AW: [FR] Korsika - GR20 - Schöner Scheitern

        Wow, sehr spannender Bericht! Freue mich wirklich auf die Fortsetzung(en)! Danke!

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        • Tie_Fish
          Alter Hase
          • 03.01.2008
          • 3550
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          • Meine Reisen

          #5
          AW: [FR] Korsika - GR20 - Schöner Scheitern

          Gibts eigentlich keine Bilder von der Bachszene?

          Sorry! Sehr schöner Bericht - bitte weiter!!!!
          Grüße, Tie »

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          • Sinister
            Erfahren
            • 20.01.2009
            • 109
            • Privat

            • Meine Reisen

            #6
            AW: [FR] Korsika - GR20 - Schöner Scheitern

            Excellent geschrieben! Viel Spannung, wollte gar nicht aufhören zu lesen. Aber auch beängstigend - die Gewalt der Natur der man mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert sein kann. Natürlich schade um deine Tour. Schicke Panoramen (Equipment?). Ich freue mich auf die Fortsetzung! ;)

            Deine Abbruchkriterien würden mich noch stark interssieren...
            [Bilder & Tourenbericht Berchtesgadener Alpen ] [WHW Schottland März 09]

            Spiegel-Blick.de

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            • xe3tec
              Fuchs
              • 24.11.2008
              • 2342
              • Privat

              • Meine Reisen

              #7
              AW: [FR] Korsika - GR20 - Schöner Scheitern

              boa die bachszene brrrr kalt *gänsehaut*
              "You still hope that this war will end with your honor intact? Stand in the ashes of a trillion dead souls and ask the ghosts if honor matters. The silence is your answer."

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              • hosentreger
                Fuchs
                • 04.04.2003
                • 1406

                • Meine Reisen

                #8
                AW: [FR] Korsika - GR20 - Schöner Scheitern

                Dein Bericht gefällt mir sehr gut - ich habe Deine Szenen wie in einem Film vor Augen und vollziehe die Vorgänge, aber auch die Gefühle nach.

                Prima gemacht!!!

                Bin auf die Fortsetzung gespannt.

                hosentreger
                Neues Motto: Der Teufel ist ein Eichhörnchen...

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                • Rainer Duesmann
                  Fuchs
                  • 31.12.2005
                  • 1642
                  • Privat

                  • Meine Reisen

                  #9
                  AW: [FR] Korsika - GR20 - Schöner Scheitern

                  Respekt für die offene Schilderung Deiner Gefühle und auch Ängste!
                  Toll geschrieben.
                  Ich finds sehr gut wenn hier auch mal ehrlich über die Risiken und Gefahren von Wetter und Natur berichtet wird. Recht häufig lese ich eher von unterschätzenden Beschreibungen.

                  Angst, Respekt und auch Vorsicht sind lebensnotwendige Bestandteile jeder Trekkingausrüstung!

                  Beste Grüße,
                  Rainer
                  radioRAW - Der gesellige Fotopodcast

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                  • Mr.Sunrise
                    Fuchs
                    • 01.02.2007
                    • 1230
                    • Privat

                    • Meine Reisen

                    #10
                    AW: [FR] Korsika - GR20 - Schöner Scheitern

                    Sehr schön geschriebener Bericht, da kann man vor Spannung die Fortsetzung kaum erwarten.

                    Ein Bericht der nicht nur die Sonnenseiten einer Tour beleuchtet!

                    Gruß,
                    Daniel
                    Mr.Sunrise`s Outdoor Blog
                    Gründungsmitglied der ABF - Autonome Buff Fraktion

                    Da ist Purpur drin - Purpur ist auch ein Obst!

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                    • utor
                      Erfahren
                      • 30.06.2006
                      • 288
                      • Privat

                      • Meine Reisen

                      #11
                      AW: [FR] Korsika - GR20 - Schöner Scheitern

                      superspannd! bitte weiterschreiben
                      "Dinge, die wie Dinge aussehen wollen, sehen manchmal mehr wie Dinge aus, als Dinge." TP
                      ----
                      fotos vom draussen.

                      Kommentar


                      • tah

                        Erfahren
                        • 25.01.2009
                        • 305
                        • Privat

                        • Meine Reisen

                        #12
                        AW: [FR] Korsika - GR20 - Schöner Scheitern

                        Hallo zusammen.

                        Ich bin total (angenehm) überrascht über das schnelle, positive Feedback zu der Geschichte, in der ich mir auch ein wenig den kleinen Frust herunterschreibe und meine Emotionen "verarbeite".
                        Leider habe ich unter der Woche nur wenig Zeit - frühestens am Wochenende wird es wohl ein Update geben können.

                        Bis dahin viele Grüße und Danke für die aufmunternden Worte, Tom.
                        Schnee ist auch nur schick aufgemachtes Wasser.

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                        • ulfs
                          Erfahren
                          • 28.01.2008
                          • 367

                          • Meine Reisen

                          #13
                          AW: [FR] Korsika - GR20 - Schöner Scheitern

                          Danke für den Bericht! Schön mal einen so ehrlichen Blick jenseits der Lagerfeuer-Romatik werfen zu können. Macht einem dann gleich wieder klar wo man sich da immer bewegt und warum einem die meisten einen Vogel zeigen, wenn man erzählt was man macht.
                          Grüße

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                          • blauloke

                            Lebt im Forum
                            • 22.08.2008
                            • 8315
                            • Privat

                            • Meine Reisen

                            #14
                            AW: [FR] Korsika - GR20 - Schöner Scheitern

                            Toll geschrieben!

                            Wo bleibt die Fortsetzung?
                            Du kannst reisen so weit du willst, dich selber nimmst du immer mit.

                            Kommentar


                            • Scrat79
                              Freak
                              Liebt das Forum
                              • 11.07.2008
                              • 12532
                              • Privat

                              • Meine Reisen

                              #15
                              AW: [FR] Korsika - GR20 - Schöner Scheitern

                              Als einer, der die Insel bei 45° im Schatten kennengelernt hat, steht mir immer noch der Mund offen.
                              Wow!
                              Super geschrieben!

                              Und ich schließ mich mal den anderen an:

                              WILL MEHR LESEN!!!!
                              Der Mensch wurde nicht zum Denken geschaffen.
                              Wenn viele Menschen wenige Menschen kontrollieren können, stirbt die Freiheit.

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                              • J.page
                                Erfahren
                                • 09.05.2008
                                • 451
                                • Privat

                                • Meine Reisen

                                #16
                                AW: [FR] Korsika - GR20 - Schöner Scheitern

                                Toll geschrieben ich fühle mit dir in diesem Fluss

                                BITTE schnell weiterschreiben....kann es kaum erwarten!!!

                                gruss Jonas
                                ...NICHTS GEHT IM LEBEN DER STERBLICHEN AUCH NUR EIN STÜCK WEIT OHNE UNHEIL...

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                                • tah

                                  Erfahren
                                  • 25.01.2009
                                  • 305
                                  • Privat

                                  • Meine Reisen

                                  #17
                                  AW: [FR] Korsika - GR20 - Schöner Scheitern

                                  TEIL-2

                                  29.04.2009 - Etwas Sturm und eitel Sonnenschein
                                  Die Nacht hat „Meinem Besuch“ mit seiner Sommerausrüstung übel mitgespielt. Durchgefroren und durchnässt steht er im leichten Schneeregen missmutig im Steinkreis seines Lagers und packt das Zelt zusammen. Ich kann ihn nicht wirklich aufmuntern, da die Wetteraussichten auf dieser Höhe noch bis zum frühen Nachmittag sehr schlecht sind. Ein weiteres großes Gewitter ist angekündigt und formiert sich für uns noch unsichtbar hinter der westlichen Bergkette. Frühestens nach dieser Wetterfront kann es zu einer Besserung kommen.

                                  Meine neutral gute Laune scheint ihn nicht gerade anzustecken. Er beschließt, fast schon trotzig, auf direktem Wege an Calenzana vorbei zum Meer zurückzuwandern, um etwas Wärme aufzutanken. Mir scheint es, dass er diese Wetterkapriolen etwas zu persönlich nimmt. Etwas unschlüssig und verlegen stehe ich vor ihm. Ich kann ihm seine Verbitterung nachfühlen, meine Tour ist ja genauso davon betroffen. Was soll‘s, da er fast fluchtartig aufbricht, verabschiede ich mich noch schnell und wünsche ihm eine gute Reise. Minuten später ist er im Dunst der Wolken verschwunden. Ich bin wieder mit dem Dreckswetter allein und fühle mich natürlich nach diesem spröden Abschied etwas verlorener als zuvor.

                                  Wie auch die letzten Tage wasche ich mich am Bach und fülle die Flaschen mit frischem Wasser auf. Die steten Rituale des frühmorgendlichen Beginnens helfen mir auch an diesem Tag die Nerven nicht zu verlieren und den Überblick zu behalten. Mit diesen Ritualen erarbeite ich mir wenigstens etwas Kontrolle über den Tag.

                                  Nach dem Frühstück bin ich unschlüssig, wie es jetzt weiter gehen soll. Hier an dieser Stelle verliere ich Stunde um Stunde von der Reservezeit meiner Tour. Ich muss mich entscheiden. Wenn ich hier das bessere Wetter abwarte und erst morgen zur Refuge de Carrozzu aufbrechen kann, ist die Tour nicht mehr zu schaffen. Dann fehlt mir genau dieser eine Tag. Und bei der Schneemenge auf den Pässen eine Doppeltour schaffen zu wollen, ist geradewegs aussichtslos. Ich muss noch heute aufbrechen.

                                  Die Entscheidung ist einfach zu fällen. Neun Uhr werde ich wieder in Richtung der Refuge de Carrozzu starten, da als Alternative immer noch der recht kurze Abstieg nach Bonifatu zur Verfügung steht. Von dort aus kann ich im Fall der Fälle bei gutem Wetter eine Doppeltour direkt nach Haut Asco gehen, da der Weg bis zur Refuge de Carrozzu recht kurz ist und unterhalb der Schneegrenze verläuft. Einen weiteren Versuch von hier aus kann ich mir demzufolge jetzt noch gönnen. Das Wetter hat sich bisher nicht verschlechtert und irgendwie kommt mir die Situation bekannt vor.

                                  Was soll ich sagen, der Weg bis zur verfallenen la Mandriaccia Bergerie gleicht einem steten Déjà-vu. Als wäre ich vor nicht allzu langer Zeit schon einmal hier gewesen. Das Wetter, das Licht, die Geräusche gleichen bis ins Detail meinem abgebrochenen Versuch. Etwas fatalistisch stelle ich mich schon darauf ein, erneut im Bach Baden gehen zu müssen. „Und täglich grüßt das Murmeltier“ wäre für mich in dem Fall die angenehmere Variante.

                                  Es gibt einen Unterschied. Mit Erreichen der aufgegebenen Bergerie höre ich unerwartete Geräusche. Ein Scharren, ein Schmatzen und Grunzen nicht weit von mir. Wildschweine. Letztlich kann ich nur eins von ihnen entdecken, wie es in der Einfriedung der Bergerie nach etwas Essbarem den Boden umgräbt. Da ich von dem Tier weder Anhang noch Frischlinge sehe, bin ich so dreist, es fotografieren zu wollen. Bisher unentdeckt, wird es dadurch auf mich aufmerksam und beginnt mich zu verfolgen.


                                  la Mandriaccia Bergerie - Entdeckung des Wildschweins

                                  Zum ersten Mal auf dieser Tour zeige ich wirklich Nerven. Nein, es ist mir nicht egal, wenn mir ein korsisches Wildschwein auf der Suche nach Futter nachläuft. Dazu habe ich auf dieser Insel bereits zu viel erlebt. Habe nachts schlaflos mit angehört und am Morgen darauf gesehen, wie diese viertel-, halb- oder ganz und gar wilden Tiere ein Nachbarzelt zerlegt haben, dessen Bewohner sich nur mit Mühe in eine Art steinernes Plumpsklo flüchten konnten. Nein, ich habe nicht Respekt, ich habe schlichtweg Angst. Und nebenbei bemerkt ist diese Begegnung ein ganz, ganz schlechtes Ohmen, durch die verschneiten Berge gehen zu wollen. Und überhaupt, was habe ich hier oben verloren. Den Rückweg kenne ich ja inzwischen auch ganz gut.

                                  Jetzt ist es das Eine, ein Wildschwein zu entdecken. Aber es ist eben auch das Andere, es wieder los zu werden. Schnelligkeit hilft nicht, es ist schneller. Abkürzungen helfen nicht, es kennt kürzere Abkürzungen. Und es mit einem forsch geschwungenen Pickel oder als Flintenimitat angelegten Trekkingstock schrecken zu wollen, gilt nicht. Da beschleunigt es nur noch umso mehr. Ich frage mich, welch schlimmen Erlebnisse es in der vergangenen Jagdsaison erleben musste, um jetzt so überzureagieren.

                                  Das sich das Wetter inzwischen deutlich verschlechtert hat, scheint weder mir noch ihm etwas auszumachen. Natürlich bemühe ich mich nach Kräften, den anfangs noch großen und inzwischen arg zusammengeschmolzenen Abstand halten zu können. Ich werfe etwas Ballast und Ablenkungsmaterial in Form eines ausgepackten Müsliriegels ab, wohl wissend, dass ich dadurch nur ganz wenig Zeit gewinne, den Feind stärke und ihn zudem noch anlocke. Ich weiß mir aber sonst nicht mehr zu helfen. Nun ja, auf die Art und Weise rette ich mich wenigstens in die Hütte zurück.

                                  Das Viech belagert die Hütte. Es ist inzwischen kurz vor Mittag, mich drückt die Blase vom vielen Teetrinken - ich bin übrigens kein bisschen ruhiger - und das Biest stromert in steten Kreisen über das Plateau. Da ich nur nach einer Seite aus dem Fenster sehen kann, schöpfe ich jedes Mal Hoffnung, wenn das Schwein für eine halbe Stunde außer Sichtweite ist. Und bin am Boden zerstört, wenn es dann doch wieder mit einem gehässigen Grinsen um die Ecke biegt. Ich nehme mir vor, das nächste Mal einen ausgewachsenen irischen Wolfshund auf Reisen mitzunehmen.

                                  Endlich ist Ruhe. Es ist deutlich nach Mittag und von dem Schwein habe ich seit geraumer Zeit nichts mehr entdecken können. Vorsichtig schleiche ich mich ohne Gepäck aus der Hütte und erkunde die Umgebung, immer darauf gefasst, gleich von spitzen Hauern gejagt zu werden. Nichts. Es ist weg. Ein Triumpf der überlegenen Menschheit.

                                  Ich schultere mein Gepäck, verschließe die Hüttentür und schleiche storchenbeinig auf leisen Sohlen den Weg hinab ins Tal nach Bonifatu. Das Schwein ist weg, es ist wirklich weg.

                                  Wie weiter oben sind auch die Hänge talabwärts von dem vielen Wasser der letzten Tage überflutet, so dass ich nur mühselig vorankomme. Aber ich habe ein neues Ziel und schon allein das muntert mich auf. Mit Unbehagen male ich mir zwar den Wasserstand der Bäche im Tal aus, wo sich Bach für Bach ineinandergeflossen aufeinandertürmen, zugleich beruhigt mich aber die vage Erinnerung, dass es inzwischen eine alternative, weiter nordwestlich gelegene Route nach Bonifatu mit nur einer echten Bachdurchquerung geben solle. Die gilt es zu finden.

                                  Nach etwa einer halben Stunde, ich bin inzwischen in einem Hochwald angelangt, welcher das herabziehende Tal des Bachs Ruisseau de Melaghia ausfüllt, finde ich unübersehbare Mengen von Wildschweinspuren. Der ganze Boden zwischen den Bäumen ist relativ frisch umgepflügt worden. Diese Spuren stammen unmöglich von einem einzelnen Tier. Und als wären die Spuren nicht genug, so naht von etwas unterhalb mein ungeliebter Begleiter. Hier wohnt es also, das Schwein.


                                  Flucht vor dem Wildschwein

                                  Mir bleibt nur die Flucht nach vorn, hinein in das Tal. Das Rennen bergauf zur Hütte würde ich garantiert verlieren. Irgendwer hat mir bei einem meiner letzten Besuche auf der Insel erzählt, dass die Schweine manchmal die Bäche als Reviergrenze akzeptieren würden. Wenn die Bäche im Frühjahr zu tief sind oder wenn auf der anderen Seite ein noch furchtbareres Schwein haust. Vor Begeisterung weiß ich gerade nicht, welche der beiden Optionen mir verlockender erscheint.

                                  Ich habe inzwischen meine Taktik dem perfiden Wesen der schweinischen Fressmaschine angepasst. Um das Tier wenigsten etwas zu ermüden, werfe ich einige wenige, weitgehend kalorienbefreite Fruchtschnitten weit bergauf. Und siehe da, das Hol-das-Stöckchen-Spiel funktioniert sogar mit einem Wildschwein. Wer hier aber wen gerade domestiziert hat, bleibt weiterhin fraglich. Kann schon gut sein, dass nach dem erfolgreichen Training dieses Schwein in Zukunft sein Brot mit allgemeiner Wegelagerei verdienen möchte. Mit seinen Gefährten wird es dann aus umgestürzten Bäumen Barrikaden errichten und Wegezoll von allen vorbeiziehenden Wanderern verlangen. Und wenn ich es richtig bedenke, bedrückt mich das auch ein bisschen. Ein unschuldiges Schwein mit denaturiertem Futter auf die schiefe Bahn gebracht zu haben, ist bestimmt ein schweres Vergehen.

                                  Ich erreiche die Furt vor dem wilden Tier. Natürlich stürze ich mich ohne Zögern, vollkommen hemmungslos und furchtbefreit durch die beachtlichen Fluten. Wenn schon nichts anderes, so sollte zumindest dies dem Schwein etwas Respekt vor mir einflössen. Und siehe da, es zögert. Es bleibt zum ersten Mal etwas verhalten stehen, guckt, schnüffelt und trollt sich. Vermutlich wird es noch in Jahrzehnten von dieser beispiellosen Hatz seinen Enkelschweinen erzählen und sich dabei halb tot grunzen. Aber auch ich habe meinen kleinen Erfolg. Ich bin ohne Kletterkokolores und aufwändige Grübelei an das andere Ufer gelangt, wie zu erwarten nass bis zum Bauch aber auch aufrichtig glücklich.


                                  ... wieder in Sicherheit

                                  An diesem Ufer sind keine Spuren von Wildschweinen mehr zu entdecken und so ziehe ich nach einer kurzen Rast weiter. Wie bereits zuvor bahnt sich auch auf diesem Weg eine Flut aus Schmelz- und Regenwasser eine neue Route ins Tal hinab. Jeder Weg ist nunmehr auch ein neuer Bach. Manchmal führt dieses Ereignis zu bizarren Anblicken, vor allem dann, wenn der überspülte Weg auf einer steinernen Brücke über einen echten Bach führt. Wie auf den Autobahnen einer Großstadt stauen sich dann die Wassertropfen Fahrzeugen gleich, drängeln links wie rechts aneinander vorbei, schupsen sich gegenseitig von der Brücke. Der eigentliche Bach wird derweil tiefer und breiter.

                                  Einige Zeit nach der Furt finde ich rechts eine Stelle, an welcher vermutlich der ominöse Abzweig auf die bachfreie Umgehungsroute beginnt. Eine Kennzeichnung ist an dieser Stelle zwar nicht zu finden, dafür stimmt aber in etwa die Höhe der Abzweigung mit meiner Erinnerung überein. Einen richtigen Weg kann ich an dieser Stelle noch nicht erkennen. Ich folge meiner Intuition und richtig, etwa zwanzig Meter oberhalb des normalen Weges beginnt ein teils ausgebauter Pfad sich auf gleicher Höhe den Berg entlang zu schmiegen. Ein Stück auf diesem Pfad und ich kann von dem alten Weg nichts mehr erkennen. Ich habe neues Gelände erreicht.

                                  Ein gewaltiger Donner lässt mich aus meinem gedankenverlorenen Dahinwandern aufschrecken. Das Gewitter hat endlich die westlichen Berge des Cirque de Bonifatu überwunden und drängt unbändig in das Tal hinab. Wenn ich jetzt noch auf Kammhöhe wäre, müsste ich mir ernstlich Gedanken machen. So aber kann ich mir das Schauspiel der dunklen Wolken, Blitze und Schneeschauer aus sicherer Entfernung, sprich, aus der bereits wohltuenden Tiefe des Tals ansehen. Es ist schon fast voyeuristisch, wie sich von meinem Aussichtspunkt aus die Gewalten des Wetters in allen Einzelheiten beobachten lassen. Wie sich der Wind zwischen die spärlichen Bäume drängt, sie niederbeugt, sie brutal schüttelt. Wie der Schnee in kürzester Zeit wieder die frisch abgetauten Flächen bedeckt. Wie die Wolken einen Vorhang vor diese schiere Gewalt ziehen, um nichts davon nach draußen dringen zu lassen. Regungslos bleibe ich noch eine Weile sitzen und freue mich nun wirklich auf Bonifatu.


                                  Cirque de Bonifatu - Lieblingswetter

                                  Wie in einem unübersehbar von Menschenhand geschaffenen Stein- und Kräutergarten zieht sich der anschließende Weg am Profil des Berges entlang ohne merklich an Höhe zu verlieren. Gräser, Farne und mit Blüten übersäte Sträucher säumen seinen Rand. In launischen Mustern versetzte Steinplatten bedecken den Boden. Es ist, ja auch schön, aber ganz und gar nicht natürlich. Pittoresk. Das ist das einzige Wort was mir hierzu einfällt. Als hätte sich meine Mutter einmal ungehindert aller stalinistischen Regeln ihrer Kleingartenkolonie mit ihren beiden grünen Daumen austoben dürfen. Wer aber hat den Elan auf einer absolut unbegangenen Nebenstrecke ein derartiges Kleinod anzulegen. Sollte es doch natürlich gewachsen sein? Nie und nimmer. Wer auch immer hier seine Hände im Spiel hatte, war fantasievoll wie geschickt genug, um mal eben ein kleines unentdecktes Meisterwerk zu schaffen.


                                  ... im Blütenmeer

                                  Etwa vierhundert Meter oberhalb des Forestiere de Bonifatu endet der Pfad schließlich auf einem kleinen Plateau, der Punta di Ficghiola. Die restliche Strecke zieht sich in engen Kehren den Berg hinab ins Tal. Auch wenn vom Plateau aus das Ziel greifbar nah zu liegen scheint, sind vierhundert Höhenmeter eben vierhundert Höhenmeter und benötigen etwas Zeit. Am Fuße des Berges angekommen endet der Pfad an einer neu errichteten stählernen Hängebrücke, über welche ich trockenen Fußes über die schäumenden Fluten des Rau de Lamitu gelange. Ich bin sehr erfreut, mir die ungewöhnlich großen Wassermengen dieses Bachs ersparen zu können.

                                  Auf der Brücke zieht mich ein kleines Schauspiel in seinen Bann. Da der Bach kurzzeitig derart viel Wasser führt, hat er einige Kajakfahrer angelockt, welche oberhalb der Brücke ihre Boote zu Wasser gelassen haben und sich durch die schwierigen Stromschnellen kämpfen. Angestrengt arbeitend gleiten, springen und fallen sie zwischen den großen Blocksteinen umher, kollidieren brüllend aneinander und scheinen mächtig viel Spaß zu haben. Das Leben kann so leichtfüßig sein.


                                  ... am Wegesrand

                                  Da das Camp leer ist und sich nach einiger Zeit auch die Kajakfahrer wieder auf den Heimweg machen, senkt sich eine wohltuende Ruhe über das Tal. Das Gewitter ist inzwischen weitergezogen und die Sonnenstrahlen füllen mit einem goldenen Flimmern die Luft. Gutes und stabiles Wetter kündigt sich an. Etwas oberhalb am Hang baue ich das Zelt auf, koche mein Abendbrot und gehe anschließend zurück zum Bach. In die Abendsonne gehüllt genieße ich die beginnende Dämmerung und den heraufziehenden Nebel. Morgen wird bestimmt ein guter Tag.


                                  30.04.2009 - Südwärts oder viel zu viel Schnee
                                  06:00 Uhr wecken und sofort wird mir klar, dass dieser Tag etwas Besonderes wird. Es ist das ungewohnt helle, unverstellte Licht, welches ihn von den vorangegangenen Tagen unterscheidet. Noch liegt eine absolute Stille über dem Tal und noch wird die Sonne durch den östlichen Rand des Cirque de Bonifatu verdeckt. Es ist der Moment zwischen der frühnebligen Dämmerung und dem Durchbrechen der ersten Sonnenstrahlen hoch oben auf dem Kamm, welche sich wie warme Fühler auf dem gegenüberliegenden Fels unendlich langsam hinabtasten.


                                  Cirque de Bonifatu - 06:00 Uhr morgens

                                  Ich habe es nun eilig. Das ist der Tag, welchen ich im Kopf hatte, als ich mir die Tour vor einem halben Jahr zurechtträumte. Und gleichzeitig ist es die letzte Chance die Tour wie geplant gehen zu können, denn die Reservetage sind nunmehr vollständig aufgebraucht. Dadurch sind meine Möglichkeiten inzwischen zwar stark begrenzt, aber durch die Erlebnisse der vorangegangenen Tage hat sich eine fatalistisch humoristisch gelöste Stimmung über mich gelegt. Es ist ein wenig unwichtiger geworden, bis nach Vizzavona kommen zu wollen. Corte würde reichen. Ach was, es geht südwärts, es geht aufwärts, das reicht.

                                  Die Ausrüstung – verpackt. Das Frühstück – gegessen. Das Camp – verlassen. Man hätte mit den Fingern schnippen können und ich bin fertig. Stehe unten auf dem menschenleeren Weg. Hinter mir schläfrige Ruhe, vor mir das aufkommende Licht. Es ist immer wieder faszinierend, wenn es gelingt, selten genug, den richtigen Augenblick für den Start einer Tour zu erwischen. Ich kenne den Weg in- und auswendig, aber an diesem Morgen ist es, als entdecke ich ihn neu.

                                  Ich bin schnell. Der Frust der vergangenen Tage und die Lust auf diesen Tag treiben mich den Berg hinauf. Erst jetzt bemerke ich, wie stark das viele Training über den Winter meine Kondition verbessert hat. Mühelos, das Wort geistert mir durch den Kopf. Es ist ein unfairer Vergleich mit den vergangenen Tagen, als mir der Sturm, der Schneeregen und die Kälte fast alle Energie geraubt haben. Als ich mich unendlich alt gefühlt habe. Mühelos. Es ist ein Rausch. Da ist er endlich, der Geruch der frühlingshaften Macchia, der dich in die Kindheit zurückversetzt. Der die Erinnerung an die Speisekammer der Großeltern weckt, in welcher getrocknete, auf Schnüren aufgehängte Kräuter, Pilze und Apfelscheiben einen unvergleichlich würzigen und heilsamen Geruch verbreiteten und das unbedingte Gefühl des Aufgehobenseins. Glück.


                                  Muvrella - Aufstieg durch das Spasimata-Tal

                                  Nach nur ein und einer dreiviertel Stunde erreiche ich bereits die Refuge de Carrozzu. Die Sonne ragt jetzt gerade so über die Berge im Osten und fängt an das Hochplateau zu erwärmen. In einem Anflug von Übermut entscheide ich mich, noch einen kleinen Abstecher in Richtung Punta Ghialla zu gehen. Es reizt mich zu sehr, die Tour zu sehen, welche mir durch die Gewitter versperrt worden war. Vor allem aber interessieren mich die Menge und die Höhe des Schnees auf dem Kamm. Letztlich hatte ich bei der Vorbereitung der Tour die ausgesetzte Querung auf der Ostseite des Col d Avartoli als eine der Schlüsselstellen bei Schnee im Kopf.

                                  Nach einer weiteren Stunde erreiche ich den Kamm westlich unterhalb der Punta Ghialla und beginne langsam die diesjährigen Schneeverhältnisse richtig zu interprtieren. Auf der Süd- und Westseite der Berge, über welche ich mich dem Kamm genähert habe, ist trotz der Schneefälle der letzten Tage in steileren Lagen nur wenig Schnee verblieben. Die Sonne ist, sofern sie scheint, bereits so stark, dass der Schnee sehr schnell wieder abzutauen beginnt. Dadurch sind die Felsen teils trocken, manchmal nass und rutschig aber in sonnengeschützten Lagen auch glasig verharscht. Etwas oberhalb von eintausendsiebenhundert Meter Höhe beginnt somit auf der Süd- und Westseite der Berge leicht kombiniertes Gelände mit dem Hang zur Schneefreiheit – nicht schwierig aber leicht zeitraubend. Auf dem Kamm selbst, welcher in etwa eintausendneunhundert Meter Höhe verläuft, liegt noch die erwartete meterhohe Schneedecke mit neuen Wächten nach Osten hin. Es ist genau die Situation, vor welcher ich auf diesem Wegabschnitt gehörigen Respekt habe. Steil, ausgesetzt, nicht zu sichern, verschneit und überwächtet. Bei dem heutigen Wetter und einer gehörigen Portion Mut ist die Querung zu gehen, bei dem Wetter der vergangenen Tage ist sie der blanke Horror.

                                  Ich bin mir nicht sicher, ob die alte, in den Neunzigern abgestürzte Traverse auf der Westseite des Kamms inzwischen wieder gangbar ist, finde bei den Schneeverhältnissen aber auch den möglichen Einstieg nicht. Dieser Weg war zumindest bis zu seinem Zusammenbruch weniger ausgesetzt und gefährlich gewesen.

                                  Ich habe genug gesehen, um zu wissen, wie die Schlüsselstellen der nächsten Tage aussehen werden – etwas schwieriger als gedacht, aber mit etwas Glück nicht unmöglich. Einzig die neu eingeschneiten und überwächteten Osthänge, welche noch oder wieder stark lawinengefährdet sind, machen mir wirklich Sorgen. Der Osthang an der Bocca di Tartagine, welchen ich mir bei der Besteigung des Monte Corona näher angesehen hatte, war nur suizidwilligen Personen zu empfehlen gewesen, denn das frisch gegrabene Schneeprofil kam mir schon beim schiefen Hinsehen entgegen. Andererseits ist das auch schon wieder zwei Tage her. Der Schnee sollte sich inzwischen verfestigt haben.

                                  Laut Meteo France pendelt die Lawinenstufe für dieses Gebiet in kritischen Lagen zwischen drei und vier. Ich muss also besonders vorsichtig sein.

                                  Auf dem Weg zurück zur Refuge de Carrozzu kommt mir ein bärtiger Franzose mit Leichtgepäck entgegen, welcher mich ob der frühen Uhrzeit etwas entgeistert fragt, ob ich gerade von der Piobbu-Hütte komme. Vorsichtshalber schüttele ich verneinend und bejahend den Kopf und lege mir mühsam einige Brocken Französisch zurecht, um ihm antworten zu können. Ohne dies aber abzuwarten stürmt er kopfschüttelnd an mir vorbei. Wenn er wüsste …

                                  An der Refuge de Carrozzu lege ich eine Rast ein und fülle die Wasserflasche wieder auf, denn anschließend soll der Ernst des Tages beginnen. Bis zur Brücke über die Spasimata sind es nur wenige Meter. Der Weg ist vollständig abgetrocknet und die Felsplatten warm. Die mit Seilen gesicherte Passage hinab zur Brücke ist kein Problem und die Seilversicherung scheint auch eher für die entgegengesetzte Richtung gedacht zu sein.

                                  In Anbetracht der Unwetter der letzten Tage führt die Spasimata erstaunlich wenig Wasser. Das habe ich nicht erwartet. Vielleicht waren die Gewitter wirklich nur lokal begrenzt, so dass schon das übernächste Tal nichts mehr davon abbekommen hat. Ich denke, das wird sich spätestens beim Anstieg zum Lac de la Muvrella herausstellen.

                                  Der Weg nach der Brücke ist bei diesem Wetter traumhaft zu gehen. Langsam baut sich vor mir das sich stetig verjüngende Tal auf. Steil und von vielen kleinen Wasserfällen gesäumt flirrt die Luft von den umherfliegenden Wassertropfen, Sprühnebeln und klaren Bächen. Es ist als käme ich heim. Vertrautheit. Du kannst die Berge nicht bezwingen, nicht beugen, aber sie sind wie sie sind, karg und gefährlich immer auch in der Lage dir einen solchen Tag zum Geschenk zu machen.


                                  Aufstieg durch das Spasimata-Tal

                                  Auf der orografisch linken Seite des Bachs zieht sich der Weg oberhalb der Spasimata mit wenigen Kehren recht linear bergan. Die teils verbauten Seilversicherungen haben durch den vergangenen schneereichen Winter noch mehr gelitten, als sonst üblich. Ich persönlich finde sie eher etwas hinderlich, aber bei Regen werden sie ihre Berechtigung haben, da es auf diesem Teilstück schon mehrere schwere und teils tödliche Unfälle gegeben hat. So wie sich jetzt aber die Stahlseile zerrissen und aufgesplissen über den Fels krangeln, mache ich lieber einen weiten Bogen um sie. Da ist noch einiges zu tun, bevor der Ansturm der Wanderer das Tal wieder mit seinem Lärm füllen wird. Andererseits konnte ich bisher noch keine Spuren der Guardians oder anderer Wanderer entdecken. Es ist zwar nicht mehr ganz früh im Jahr, aber das Tal scheint unbegreiflicherweise noch unberührt.


                                  Aufstieg durch das Spasimata-Tal

                                  Das Gegenlicht, welches über den Gipfel und die Kämme der Capu di a Marcia in das enge Tal hineinstreut, wirkt wie ein Weichzeichner, welcher den harten Kontrast des Gesteins mit den fließenden Formen der gerade erreichten Schneefelder vermischt. Der Weg liegt nunmehr unkenntlich verborgen unter dem vielen Schnee. An dieser Grenze zwischen warmem Fels und verharschtem Schnee mache ich Rast. Ich befinde mich auf etwa eintausendsechshundert Metern Höhe. Ruhe. Das ist das Thema dieses Tages. Kein fremdes Geräusch dringt in dieses Tal. Ich genieße diesen Augenblick, denke weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft, lasse mich treiben.


                                  Muvrella - Aufstieg zum See

                                  Erste kleine Mittagswolken treiben heran und verfangen sich an den Kämmen. Ich verstehe den Wink und breche auf. Noch vielleicht zwei, maximal drei Stunden und das in den Bergen übliche, tägliche Mittagsgewitter steht an. Dann sollte ich mich bereits auf dem Abstieg nach Haut Asco befinden.

                                  Nach etwa einhundert Höhenmetern muss ich anerkennen, dass der direkte Weg zum Lac de la Muvrella und von dort hinauf zur Bocca di Stagnu nicht gangbar ist. Der Untergrund des Wegs bis zum See ist sehr schwer einzuschätzen. Mit Hilfe der Schneeschuhe sind zwar die Schneefelder ohne einzubrechen gut zu gehen, das ständige Umrüsten an den Übergängen zu den vielen Felsstufen kostet aber Zeit und erfordert manch heikles Manöver. Ohne Schneeschuhe versinke ich wiederum öfters bis zur Hüfte im Schnee. Was mich aber wirklich eine Alternative zu diesem Weg suchen lässt, ist der mit frischem Schnee aufgeladene Nordhang oberhalb des Lac de la Muvrella, welchen ich von dieser Stelle aus gut erkennen kann. Mit dem Fernglas suche ich nach Bruchspuren im oberen Hangbereich und entdecke einige verdächtige Stufen im Schnee, welche sich etwas unterhalb des Kamms entlangziehen. Ich will mein Glück nicht überstrapazieren und höre auf mein Bauchgefühl, Finger weg.


                                  Bocca di Maghine in der Nähe des Lac de la Muvrella, mittags

                                  Als, nun ja, Ausweg aus diesem Dilemma bietet sich ein Umweg über die weiter westlich gelegene Bocca di Maghine mit anschließender Gratkletterei oberhalb des Lac de la Muvrella an. Der Weg führt zuerst über leicht zu kletternde Felsstufen zu einem sanft geneigten Buckel, welcher mit einem relativ festen Schneefeld überzogen ist. Hier komme ich selbst ohne Schneeschuhe problemlos und schnell voran. Etwas oberhalb des Sattels angekommen muss ich mir aber das ganze Ausmaß der Schwierigkeiten dieses Unterfangens eingestehen. Was ich insgeheim vermutet hatte, ist jetzt deutlich zu sehen. Wie bereits an der Bocca di Tartagine sind auch in diesem Gebiet die östlichen Hänge noch weitgehend unbereinigt, teil neu aufgeladen und vor allem aber stark überwächtet. Von meinem Rastplatz sieht der viele Schnee recht harmlos aus, wie er sich zuerst sanft, später stark neigend und mit Wächten verziert dem Tal entgegenwölbt.

                                  Es wird Zeit grundsätzlich mal über diese Tour nachzudenken. Um das Eingestehen des notwendigen Abbruchs noch etwas hinauszuzögern, vertrödele ich etwas Zeit mit technischem Firlefanz. Lege ein Schneeprofil an, wohl wissend, wie das Ergebnis aussehen wird. Taste die Berge mit dem Fernglas nach alternativen Wegen ab, wohl wissend, dass es sie nicht gibt. Rufe die aktuellen Wetterdaten ab, wohl wissend, wie hoch die Lawinenwarnstufe noch ist. Prüfe meine Ausrüstung, wohl wissend, dass ich hier keine Sicherung anlegen kann. Hole den Fotoapparat heraus, wohl wissend, dass ich gleich die letzten Bilder auf dieser Höhe schießen werde.


                                  Muvrella - Gipfelgrat

                                  Ich sollte jetzt die Beine hochlegen, das Wetter genießen und danach den Weg zurück zur Refuge antreten. Es ist aus. Und seltsamerweise bin ich nicht einmal mehr sauer darüber.
                                  Ich genieße den Rückzug aus dem menschenleeren Tal und atme tief die frische Luft des hier gerade beginnenden Frühlings ein. Ich drehe mich ein letztes Mal um und betrachte meine Spuren im Schnee. Das war es also. Hätte ich mir für das Scheitern einen schöneren Tag aussuchen können? Nein.

                                  Das Tal ist wie auf dem Hinweg noch genauso wunderschön. Nichts hat sich geändert. Als wäre die Zeit stehen geblieben. Das hier ist, für kurze Zeit, einer dieser magischen Orte auf dieser Welt geworden, welchen ich die Kraft meines Lebens verdanke. Beim nächsten Besuch wird der Zauber dieses Moments bereits verflogen sein. Er wird sich nicht wiederholen lassen, egal was ich tue. Aber in meiner Erinnerung wird dieser Moment für mich als einer der wenigen ganz hell leuchtenden Punkte bestehen bleiben. Das Kuriose daran ist, es lässt sich nicht erzwingen. Der Moment sucht dich. Das Glück diesen Tag geschenkt bekommen zu haben, ist umso überwältigender.


                                  Abstieg durch das Spasimata-Tal

                                  Wenn ich ehrlich bin, war ich heute auch ausgezogen, um mir meine wieder gewonnene Stärke zu beweisen. Und wurde belehrt, dass genau dies meine größte Schwäche war. Die Tour war zu ehrgeizig und trotz Reserven mit zu wenigen Reserven geplant. Und sie war von mir immer nur vom Ende her gedacht, nie vom Zwischendrin. Als Etappen und hinter-mich-bringen schon, aber nicht als Erleben. Oben in der Ruhe und angenehmen Kühle des Schnees fand ich meine Besinnung wieder. Genieße den Tag, immer wieder. Das Ziel liegt nie einige Kilometer weiter, es ist immer hier bei dir. Und du selbst bestimmst, wie es aussieht.

                                  Gelöst und in Gedanken versunken erreiche ich wieder die Brücke. Kein Mensch, nichts. Unachtsam verlaufe ich mich auf dem kurzen Weg zur Refuge de Carrozzu. Ich bin deutlich unterhalb des Weges, kurz vor dem Rand des Steilabbruchs in die Schlucht. Das ist nicht weiter schlimm, da ich direkt bis nach Bonifatu absteigen werde. Etwas konzentrierter setze ich meinen Weg fort und stehe plötzlich auf einer kleinen Lichtung vor einem dieser fast immer unsichtbaren, von mir noch nie so nah gesehenen Mufflons. Uns trennen etwa zehn Meter. Es wartet geduldig, bis ich im Zeitlupentempo den bereits verpackten Fotoapparat wieder herausgeholt und es fotografiert habe. Unglaublich aber wahr, ich werde hier auch noch in allen Ehren verabschiedet.


                                  Abschied im Spasimata-Tal


                                  01.05.2009 – Die Entscheidung oder wie ein neues Ziel entsteht
                                  Nach dem gestrigen Gewaltmarsch brennen mir etwas die Muskeln. Ich bin trotzdem guter Dinge. Den Plan, welchen ich gestern auf dem Rückweg gefasst habe, setze ich nach einem ausgiebigen Frühstück um. Ich kann mich jetzt für verschiedene Dinge entscheiden. Entweder ich laufe die nächsten fünf Tage ein Teilstück des Mare e Monti, lege mich an den Strand und genieße das Leben oder aber ich reise morgen Vormittag ab und nutze die restlichen Urlaubstage, um meinen Söhnen ihre lang gewünschte Kletterwand aufzubauen.


                                  ... Abstieg zum Weg der Briefboten

                                  Der MEM reizt mich gerade nicht besonders, obwohl er ein faszinierender Wanderweg ist, denn ich bin ihn erst zwei Jahre zuvor gelaufen. Das süße Leben am Strand ist auch noch nichts für mich, muss demzufolge noch etwas warten. Da ich das Ticket telefonisch umbuchen kann, fällt mir die Entscheidung nicht schwer. Es geht heimwärts.


                                  ... auf dem Weg der Briefboten

                                  Viel ist nicht mehr zu tun. In aller Ruhe das Lager abbauen, das Material verpacken und die letzte Wanderung nach Calenzana über den alten Weg der Briefboten antreten. Dieser Weg ist eine der Etappen des MEM, größtenteils abwechslungsreich aber im Mittelteil im Vergleich zu den Strecken der letzten Tage auch einschläfernd öd. Ich lasse mir viel Zeit, fotografiere und erreiche am frühen Nachmittag den Ausgangspunkt meiner Reise. Der Kreis hat sich geschlossen.

                                  02.05.2009 – Heimwärts



                                  PS: Im nächsten Frühjahr werde ich den nächsten Versuch starten.
                                  Zuletzt geändert von tah; 29.08.2009, 20:11. Grund: 3. Fortsetzung
                                  Schnee ist auch nur schick aufgemachtes Wasser.

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                                  • ArminiusF
                                    Erfahren
                                    • 19.07.2009
                                    • 137
                                    • Privat

                                    • Meine Reisen

                                    #18
                                    AW: [FR] Korsika - GR20 - Schöner Scheitern

                                    Toller Bericht! Auch wenn du es nicht an dein eigentliches Ziel geschafft hast, hast du glaube ich ein größeres Ziel erreicht

                                    Danke für's Schreiben!

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                                    • Nicki
                                      Fuchs
                                      • 04.04.2004
                                      • 1303
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                                      #19
                                      AW: [FR] Korsika - GR20 - Schöner Scheitern

                                      Hallo

                                      Schöner Bericht und sehr spannend, aber auch eine nicht ungefährliche Gechichte.

                                      PS: Im nächsten Frühjahr werde ich den nächsten Versuch starten.
                                      Nicht ein bisschen später....

                                      Gruß FS
                                      www.mitrucksack.de
                                      Ganz viel Pyrenäen ( HRP- Haute Randonnée Pyrénéenne - komplett) und ein bisschen La Gomera

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                                      • Mondsee
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                                        • 31.07.2008
                                        • 838
                                        • Privat

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                                        #20
                                        AW: [FR] Korsika - GR20 - Schöner Scheitern

                                        Wirklich gut geschilderter Bericht... als wäre man selbst dabei gewesen!

                                        Aber wo ist der Text zu dem "Flucht vor dem Wildschwein" Bild.
                                        --> Schreib doch bitte noch ein wenig mehr *grins*
                                        ... please be a traveler, not a tourist. try new things, meet new people, and look beyond what's right in front of you. those are the keys to understanding this amazing world we live in ...-andrew zimmern

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